Der Titel dieses Buches stammt aus einem Gedicht des türkischen Schriftstellers Ilhan Berk. Wir danken Ahmet Berk sowie Achim Wagner, dem Übersetzer des Gedichtes ins Deutsche, für die freundliche Erlaubnis, den Vers als Titel zu verwenden.
Mein Dank gilt dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft für die finanzielle Unterstützung im Rahmen des Autorenstipendiums des Landes Nordrhein-Westfalen.
„ONE OF US MUST LOSE“
Musik + Text: Glen James Hansard
© The Swell Season Publishing
Mit freundlicher Genehmigung der
Warner Chappell Musikverlag GmbH.
ISBN 978-3-7026-5942-4
eISBN 978-3-7026-5943-1
1. Auflage 2020
Einbandgestaltung: b3k
© 2020 Verlag Jungbrunnen Wien
Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria
Druck und Bindung: Buch Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Für Paula
Armin Kaster
wurde 1969 in Wuppertal geboren. Als Junge las er Weltliteratur, die er nicht verstand, und wünschte sich dennoch, Schriftsteller zu werden. Nach exotischen Ausflügen in den Groß- und Außenhandel sowie die Wirtschaftswissenschaft, bog er ab zur Pädagogik und danach zur Kunst. Jetzt arbeitet er als freier Autor und Künstler und lebt mit seiner Familie in Düsseldorf. Seit Jahren führt er literarisch-künstlerische Projekte mit Kindern und Jugendlichen im In- und Ausland durch. Dabei begeistern ihn vor allem die originellen Lebenswelten junger Menschen, die er am liebsten in Geschichten verwandelt.
This may be hard to swallow
This may be hard for us to do
This may be hard to swallow
That one of us must lose
(Glen Hansard One of us must lose)
Auftauchen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Nachlaufen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Wegfliegen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Der Himmel hat seine Vögel genommen und ist gegangen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Zwei Jahre später
Als wir das Meer zum ersten Mal sehen, schläft sie noch in unserem Zelt.
„Wie spät ist es?“, frage ich.
Jim hält mir sein Handy hin, es ist kurz nach acht. Das Display zeigt Regen. Allerdings zu Hause, hier soll es neunundzwanzig Grad heiß werden.
Jim sitzt vor einem großen Stein, neben dem unser Zelt steht. Ich liege in einem Schlafsack im Sand.
„Wie bin ich denn hier runter gekommen?“, frage ich und lasse meinen Blick über die von Felsen umsäumte Bucht schweifen. Die Morgensonne hat alles orange gefärbt.
„Wir haben dich getragen“, sagt Karl.
Ich drehe mich um. Karl krabbelt aus dem Zelt hinter mir. Er gleicht seinem Bruder Jim wie ein Stück Zucker dem anderen. Ich kann sie dennoch blind voneinander unterscheiden. Ich kenne sie mein Leben lang. Wir sind Frida, Karl und Jim. Das unzertrennliche Trio.
„Und dann?“, frage ich.
„Dann haben wir dich am Strand missbraucht“, sagt Jim.
Ich sehe die Zwillinge abwechselnd an.
„Wie habt ihr es diesmal angestellt?“
„K.-o.-Tropfen“, erklärt Jim.
Er streicht sich die dunklen Locken aus der Stirn. Seine Sommersprossen sind übers Gesicht verteilt. Wie bei Karl.
„Wir haben aber aufgepasst“, sagt Karl und streichelt meinen Arm.
„Und was ist mit Aids?“, frage ich. „Habt ihr mal an Aids gedacht?“
„Wir nehmen doch Gummis“, sagt Jim, als müsste ich das wissen. „Ihr seid Schweine!“, rufe ich übertrieben laut und muss über das Echo lachen, das zwischen den Felsen hin und her geht.
Wir sind allein hier, wie Schiffbrüchige, die an das Ufer eines fremden Landes gespült wurden. Zumindest denke ich das in diesem Moment.
„Mir war, als hättest du’s genossen“, ergänzt Jim.
„Ich habe geschlafen!“, sage ich.
„Wirklich?“
„Ja!“
Den Kopf im Nacken, sehe ich zum Himmel. Ein paar dünne Wolken hängen träge über der Bucht und werden von der aufgehenden Sonne beschienen. Gestern Nacht sind wir zum Strand gegangen. Wir saßen auf der Klippe und sahen auf das dunkle Meer. Ab da weiß ich nichts mehr, da bin ich wohl eingeschlafen nach der langen Autofahrt.
„Wir waren härter als sonst“, sagt Jim und krault meinen Nacken. Karl greift nach meiner Hand.
„Und jetzt, wo du schon mal wach bist, lass es uns vollenden!“, sagt er.
Ich atme tief ein und sehe aufs Wasser. Ich weiß, was kommt. So beginnt es immer. Nur frage ich mich, wie es diesmal sein wird. Denn in dem wilden Atlantik werden wir es kaum machen können. Dort würden wir sofort auseinandergetrieben, umgeben von sprudelnden Wellen und dem aufgewirbelten Sand. Wir brauchen stilles Meer, keine stürmische See.
Ich streife meine Pluderhose ab, ziehe den Hoodie über den Kopf und fröstele ein wenig in meinem Bikini. Da werde ich von den Zwillingen auch schon hochgehoben und über den Strand getragen. Ich komme mir wie eine Seejungfrau vor, die zurück ins Wasser gebracht wird. Doch kurz vor den ersten Wellen biegen sie nach links und laufen zu den zerklüfteten Felsen, die als riesiger Halbkreis die Bucht umsäumen. Davor liegen große, dunkle Steine, halb im Sand, halb an den mächtigen Felsen gelehnt, bedeckt mit Muscheln und Kalk. Es riecht nach Fisch und Salz, die tosenden Wellen schlagen ungebremst gegen die Felsen und zerbrechen in tausend kleine Wassertropfen.
Geschickt klettern Karl und Jim über die Steine. Sie halten mich fest, und ich schließe die Augen. Ich kann ihnen vertrauen. Sie werden mich nicht fallen lassen. Ich kenne die Zwillinge besser als alle, die meinen, sie zu kennen. Nur ich weiß, wer wer ist, und wer wie riecht, und welche Haut zu wem gehört. Seit es uns gibt, sind wir unzertrennlich, und solange das so ist, ist alles gut. Als die beiden stehen bleiben, öffne ich die Augen, und für einen Moment stockt mir der Atem, denn ich schwebe über dem Rand eines Wasserbeckens, das so groß ist wie ein kleiner Pool. Ich kann bis auf den Grund sehen. In dem klaren Wasser schwimmen kleine Fische umher. An den felsigen Seitenwänden hängen Algen und Seeanemonen, und hinter dem Becken lauert das wogende Meer, als würde es nur darauf warten, uns zu verschlingen. Wie ein Tier mit Schaum vorm Mund, unzähmbar wild und groß.
Da schreit Karl: „Eins …“
Und Jim ruft: „Zwei …“
Und als ich „Drei!“ sage, werfen sie mich in die Luft.
Wie immer.
Und wie immer schreie ich, als ich in das kalte Wasser falle und durch die wirbelnden Blasen zum sandigen Grund sinke, auf dem die Sonne in gebrochenen Streifen tanzt. Ich spüre hinter mir Karl und Jim eintauchen, drehe mich um und sehe ihre dunklen Locken in dem klaren Wasser schweben. Sie strecken die Hände aus, und als wir uns berühren und einander festhalten, beginnt unser Spiel.
Das erst kurz vor unserem Tod endet, am Rande des Erstickens. Wenn wir uns mit letzter Kraft vom Boden lösen, um die Linie zwischen Wasser und Luft zu durchbrechen.
Wir spielen unser Spiel, solange wir tauchen, selbst wenn es unerträglich eng in unserer Brust geworden ist. So sind wir uns am nächsten, was einigermaßen riskant ist, schließlich könnte einer von uns ohnmächtig werden oder sich entschließen, sterben zu wollen.
Wir haben dieses Spiel schon überall gespielt, in den Pools unserer Freunde, den Schwimmbädern der Stadt oder in den Meeren der gemeinsamen Urlaube. Dieses Spiel können wir nur zu dritt spielen. Solange wir beisammen sind, gewinnen wir. Und wenn einer von uns im Wasser bleiben will, bleiben die anderen auch im Wasser. Das ist unsere Abmachung. Darin besteht unsere Freundschaft. Wir verlieren uns nicht. Denn wir sind bereit zu sterben.
Ich spüre, wie ein Fisch meine Wange streift, und ich drücke mich wie auf ein geheimes Zeichen zugleich mit Karl und Jim vom Boden ab. Wir springen in die Weite des Himmels, wo wir das Leben gierig in die Lungen saugen.
Aber das Leben sei vor uns gewarnt!
Wir sind bereit, es zu beenden!
Als ich sie zum ersten Mal sehe, liege ich am Strand und habe gerade einen Schwarm Möwen am Himmel beobachtet, der über die Bucht geflogen ist, ehe er sich über die Klippe ins Landesinnere verzogen hat. Jim ist neben mir und hat die Beine ausgestreckt, während Karl auf dem Bauch liegt und zu unserem Zelt sieht. Wir sind aus dem Wasserbecken zurück an den Strand gekraxelt, wo ich mir einen Schnitt auf der Fußsohle eingehandelt habe.
Links und rechts von mir sehe ich die dunklen Locken der Zwillinge im Sand. Sie erinnern mich an nasses Seegras, das von der Flut an Land gespült wurde. Keine Ahnung, wie Seegras aussieht, aber ich stelle es mir so vor, und ehe ich überlege, was ich tue, wickle ich mit ein paar Drehungen Karls Haar wie eine Hundeleine um meinen Finger und folge seinem Blick.
„Wir gucken da rüber?“, frage ich.
Karl reagiert nicht.
Ich sehe ein Mädchen, das neben unserem Zelt hockt und raucht.
Es hat blonde Haare, die zu einer Palme hochgesteckt sind, und trägt eine weiße Bluse.
„Rauchen tötet“, sage ich. „Weißt du schon?“
Mit Karls Locke am Finger warte ich, dass er etwas sagt. Tut er aber nicht. Also ziehe ich dran und knurre: „Stimmt, liebe Frida, Rauchen tötet, und es fügt Ihnen und den Menschen Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu. Außerdem verursacht es Lungenkrebs.“
Ich sehe Karl herausfordernd an.
Er dreht sich zu mir und fragt: „Und das erzählst du mir, weil …?“ „Weil da ein Mädchen ist, das ich nicht kenne“, denke ich, und Karl grinst, weil er meine Gedanken lesen kann.
Dann springt er auf, wobei mir seine Locke vom Finger rutscht, und ich sehe ihn mit großen Schritten über den Strand zum Meer laufen.
„Habt ihr ein Geheimnis?“, frage ich Jim, der unverändert neben mir liegt.
„Wieso?“
„Weil da jemand Fremdes vor unserem Zelt sitzt.“
Ich hebe das Kinn und deute zu dem Mädchen, das aufs Meer sieht, dahin, wo Karl gerade in die Wellen springt.
„Das ist Lilli“, sagt Jim.
„Und wer ist Lilli?“, frage ich.
Jim blinzelt gegen die Sonne, wie nur Jim blinzeln kann.
„Willst du Kekse zum Frühstück?“, fragt er, zieht seine Beine an den Oberkörper, tritt in die Luft und schnellt wie eine Sprungfeder auf die Füße.
„Meinetwegen …“, sage ich und folge ihm zu unserem Zelt, das kurz vor den Steinen am Fuße der Felsen im Sand aufgebaut ist. Dahinter führt eine Holztreppe steil nach oben auf den Rand der Klippe.
Ich ziehe den Hoodie über, der sofort an meiner Haut klebt, und spüre, wie Sand in die Schnittwunde dringt. Aber Sand ist okay, denke ich, und als ich an dem rauchenden Mädchen vorbeigehe, fällt mir auf, dass sein linkes Bein komplett tätowiert ist, und dass seine Augen in der Morgensonne blau wie der Himmel sind. „Seit wann ist die hier?“, flüstere ich in Jims Nacken.
„Seit wann bist du da?“, ruft Jim.
Ich senke meinen Kopf und tue so, als würde ich den Sand unter meinem Fuß abstreichen. Das Mädchen hebt den Kopf und scheint zu überlegen. Aber sie schweigt, und ich folge Jim ins Zelt.
„Hat sie hier geschlafen?“, flüstere ich.
„Ja“, sagt er. „Und ich habe dich in den Schlafsack gesteckt, damit du nicht frierst.“
„Und missbraucht, ich weiß.“
Ich stelle mir vor, wie diese Lilli bei den Zwillingen war. In unserem Zelt, mit dem wir schon so gut wie überall geschlafen haben. „Lag sie in der Mitte?“, frage ich.
Die Mitte ist mein Platz. Da liege ich, wenn wir im Zelt schlafen. In dem Zelt schlafen wir, seit wir das Zelt haben. Und das Zelt haben wir ein Leben lang.
Ich sage: „Mein Platz …“
Jim wühlt in seiner Tasche und zieht die Kekse hervor.
„Und wenn schon?“, sagt er.
Dabei kommt er mir so nahe, dass sich unsere Nasen berühren. Ich sage: „Das ist …“
Jim fragt: „Ja?“
Ich drehe meinen Kopf und krieche aus dem Zelt, sehe aufs Meer und sage: „Keine Ahnung …“
Karl schwimmt gegen die Wellen, und ich setze mich neben Lilli. „So, ich bin Frida“, sage ich.
„Lilli“, sagt sie.
Sie lächelt, was man so tut, wenn man sich nicht kennt, und ich frage: „Woher kommst du?“
„Aus Düsseldorf.“
„Echt, wir auch!“
Lilli sagt: „Cool“, und ich sage: „Ja, cool.“
Jim setzt sich zu uns.
„Hier, die Kekse. Hab ich aus dem Restaurant.“
Ich erinnere mich. Das Restaurant, wo wir gestern Abend saßen und Muscheln mit unendlich viel Knoblauch aßen. Unsere Eltern waren schwer angetütert, und wir flüchteten zum Meer, wo wir uns auf die Klippe setzten und auf den Atlantik schauten. Von Lilli war da noch keine Rede. Und auch nicht von unserem Zelt und den Schlafsäcken, die die Zwillinge wohl aus dem Bus holten, als ich längst schlief.
Lilli zündet sich die nächste Zigarette an, und ich frage mich, ob ihre langen, schwarzen Wimpern echt sind.
„Seid ihr allein hier?“, fragt sie.
„Wir sind zu dritt“, antworte ich. „Und du?“
Bevor sie etwas sagen kann, verrät Jim: „Unsere Eltern sind auch mit“, und zeigt zu den Häusern auf der Klippe, die wie eine Reihe schiefer Zähne am Felsen hängen. Eins davon haben wir für zwei Wochen gemietet.
Lilli bläst den Rauch der Zigarette in den Morgen, während Jim sich einen Keks in den Mund schiebt.
„Der Atlantik ist krass“, sagt Lilli. Sie zieht an ihrer Zigarette und sieht aufs Wasser, wo Karl in den Wellen treibt. Lillis Mundwinkel zucken etwas, während sie den Rauch ausbläst.
„Hier ertrinken jeden Sommer einige Menschen“, erklärt sie.
Ich stelle mir vor, wie es sein muss, alleine unter Wasser zu sein und zu ertrinken. Wenn wir tauchen, sind wir immer ganz nahe dran. Aber wirklich sterben ist einfach unvorstellbar. Zugleich hoffe ich, dass Karl bald aus dem Meer zurückkommt.
„Es gibt doch Lifeguards“, sagt Jim und sieht Lilli fragend an. „Und du bist allein hier?“, wiederhole ich meine Frage.
Lillis Blick huscht über mein Gesicht. Sie schiebt ihre Beine nach vorne und vergräbt die Füße im Sand. Auf ihrer linken Wade erkenne ich etwas Rot-Blaues, mit Blättern und Zähnen, das sich bis zum Rand ihrer kurzen Shorts nach oben schlängelt.
Dann springt sie auf und reckt sich zum Himmel. Ich folge Jims Blick, der Karl beobachtet, der von einer Welle ans Ufer getragen wird. Er hat die Arme nach vorne gestreckt und hält den Kopf nach unten. Als er auf dem Strand zum Liegen kommt, sieht er wie ein Toter aus, der vom Atlantik an den westlichsten Punkt Europas gespült wurde.
Ich werfe Jim einen vielsagenden Blick zu, doch der zuckt nur mit den Schultern und sagt: „Keks?“
Lilli scheint ihn nicht zu hören.
„Ihr wohnt da oben?“, fragt sie.
„Und du?“, stelle ich die Gegenfrage.
Karl ist aufgestanden und schüttelt seine nassen Haare, während Lilli den Keks nimmt und auf ihn zugeht.
„Woher kommt die?“, frage ich, und Jim sagt: „Aus heiterem Himmel.“
Da bleibt Lilli vor Karl stehen und steckt ihm den Keks in den Mund.
Als ich Lilli zum zweiten Mal sehe, sitzen wir auf der Terrasse und frühstücken.
Zuvor hat mir Mama ein Pflaster auf die Schnittwunde geklebt, die sie mit etwas desinfiziert hat, das höllisch brannte. Und dann sind wir wie junge Hunde durch das Haus gerannt und haben bei jedem Zimmer vor Begeisterung geschrien. Keine Ahnung, wer sowas baut, aber das Haus ist so schön, dass ich hier sofort einziehen würde. Allein die Panoramascheibe im Wohnzimmer hat mich sprachlos gemacht, was nur selten geschieht.
„Hast du sowas schon mal gesehen“, fragte Jim, der ähnlich fassungslos war, aber noch reden konnte. „Ich dachte, die hätten nur so abgerissene Hütten.“
Karl lachte.
„Paps hat doch was von einem ‚kleinen Fischerdorf‘ erzählt.“
Ich stand noch immer ohne Worte vor der riesigen Fensterscheibe, die doppelt so breit war wie unser Garagentor. Der Boden davor war aus schwarzem Stein, und rechts im Raum befand sich ein Kamin, in dem ich locker hätte stehen können.
Als wir den Frühstückstisch decken wollten, fanden wir zuerst kein Geschirr, weil kein Schrank zu sehen war. Chris, der Vater von Karl und Jim, kam schließlich auf die Idee, gegen die Wand zu drücken, und schon kam eine Schublade hervor, deren Front mit den Steinen beklebt war, von denen wir dachten, sie wären eine massive Wand.
Und jetzt sitzen wir auf der ovalen Terrasse, in deren Mitte ein prächtiger Orangenbaum steht.
„Ihr habt am Strand geschlafen?“, fragt Katharina.
Ich sehe mich in ihrer Sonnenbrille gespiegelt und stelle fest, dass ich ein Zombie bin. Nach der langen Autofahrt durch Frankreich, Spanien und Portugal bin ich völlig platt.
„Gewisse Leute durften im Zelt schlafen“, sage ich, „während andere in den Sand gelegt wurden.“
Zur Bekräftigung meiner Worte trete ich Karl unterm Tisch gegen das Bein.
„Wurdest du?“, fragt er träge.
„Verbannt und geschändet!“, jammere ich und werfe Mama einen mitleiderregenden Blick zu. Doch sie lächelt nur und sagt: „Mein armes Kind“, und tätschelt meinen Arm. Pünktlich zum Urlaubsbeginn trägt sie ihren Strohhut und den gelben Bikini.
Papa ist leider noch in Japan. Aber er kommt in ein paar Tagen nach. Dann sind wir komplett: Mama, Papa und ich, sowie Jim, Karl, Katharina und Chris, der abseits in der Sonne sitzt und eine Kaffeetasse in der Hand hält. Er hat die gleichen Locken wie seine Söhne, nur in blond. Die dunklen Haare haben die Zwillinge von Katharina, ihrer Mutter, und auch die Sommersprossen sind von ihr. Die Zwillinge sind die schönsten Jungs, die es gibt. Weltweit!
„Ich will euch keinesfalls so früh am Mittag mit Fragen belästigen“, sagt Chris. „Aber kommt ihr mit zum Strand oder gibt es andere Pläne?“
„Andere Pläne“, sagt Karl und gähnt.
„Andere Pläne?“, fragt Jim.
Ich sehe über die Terrasse, die von den Blättern des Orangenbaums beschattet ist. Von hier oben kann ich die ganze Bucht überblicken. Am frühen Morgen war das Meer noch grau, wie eine Platte aus Blei, und jetzt ist es grün und hat dunkle Flecken, wo die kleinen Felsen von den Flutwellen überspült werden.
„Es war bestimmt total schön am Strand“, schwärmt Mama.
Ich sage: „Frag die Zwillinge, ich hab ja geschlafen.“
Karl sieht mich aus den Augenwinkeln an, und Jim erklärt: „Wir fürchten, Frida wurde von einer Tsetsefliege gestochen und leidet an der Schlafkrankheit.“
„Hallo?!“, rufe ich. „Wir sind quer durch Europa gefahren. Da darf man wohl mal müde sein!“
„Seht ihr?!“, sagt Jim. „Phase eins bricht durch: Grundlose Aggressivität und Leugnung der todbringenden Krankheit.“
Ich strecke Jim die Zunge heraus und trete Karl erneut gegen das Bein.
„Sag mal …!“, protestiert er. Und lächelt.
„Als Arzt kann ich dich beruhigen“, sagt Chris. „Wer von einer Tsetsefliege gestochen wird, leidet mehr an Schlaflosigkeit.“
„Da habt ihr’s!“, rufe ich und sehe ein Büschel hochgesteckter Haare hinter der kleinen Mauer vorbeigehen. Es ist Lilli, die durch die Gasse neben unserem Haus läuft.
„Und das Zelt steht noch am Strand?“, fragt Katharina.
„Das Zelt ist wieder im Bus“, antwortet Karl seiner Mutter.
„War das Lilli?“, fragt Jim, und Karl fragt: „Wo?“, und springt auf. „Ist schon vorbei“, sage ich. „Aber vom Wohnzimmer aus kannst du sie noch sehen.“
Karl läuft ins Haus, und ich rufe: „Noch wer Kaffee?“, und folge ihm.
Im Haus ist es angenehm kühl. Neben der großen Wohnküche führt eine breite Treppe auf die Empore, wo die Schlafzimmer sind. Karl steht vor der großen Panoramascheibe und sieht nach draußen. Ein paar Menschen gehen durch die schmale Gasse zum Meer. Lilli hüpft gerade über die Treppe nach unten, und Karl stellt sich auf die Zehenspitzen, um ihr nachzusehen. Dabei erinnert er mich an den kleinen Karl, den ich nie vergessen werde. Etwas an diesem Bild trifft mein Herz so sehr, dass ich lachen muss. Wenn mich etwas berührt, lache ich, auch wenn es völlig unpassend ist. Das hat vor einigen Tagen angefangen. Genauer gesagt, nach dem Festival, als ich mir die Haare vom Kopf geschnitten habe und mein Handy bis auf Weiteres verbannt habe. Aber darum geht es jetzt ja nicht, denn Karl dreht sich zu mir um und betrachtet mich mit einer Mischung aus Überraschung und Ekel.
„Nerv nicht!“, sagt er gereizt.
Ich zucke mit den Schultern, und er rauscht an mir vorbei nach draußen. Mein Herz schlägt noch immer warm und weich, obwohl der kleine Karl wieder verschwunden ist.
Und dann sehe ich über dem Meer den gleichen Möwenschwarm, der am Morgen über die Bucht geflogen ist, kurz nachdem wir aus dem Becken an den Strand gekommen sind. Die Möwen gleiten am Himmel und vollführen plötzliche Wenden, schnell und elegant. Und während ich ihren Flug bewundere, engt sich meine Brust und es fühlt sich an, als würde ich aus allen Wolken zu Boden stürzen.
Nach dem Frühstück gehen unsere Eltern zum Strand. Es ist mittlerweile fast Mittag und wir sitzen noch am Tisch. Ich höre das Meer und rieche die salzige Luft, die sich mit dem Duft von gegrilltem Fleisch und Fisch mischt.
„Was für Pläne haben wir eigentlich?“, fragt Jim.
„Andere halt“, sagt Karl.
„Und konkret?“, frage ich.
Karl zuckt mit den Schultern und sieht zum Strand.
Ich entdecke eine verschimmelte Orange im Baum über uns. Darunter hängen einige, die noch unreif sind.
Ich sage: „Entweder kommen die Dinge zu früh oder zu spät, was meint ihr?“, und zeige in den Orangenbaum mit den unreifen und verschimmelten Früchten.
Ich weiß nicht, warum ich das sage. Für mein Leben stimmt der Satz nicht, bisher war alles richtig und zur passenden Zeit, und, wie es aussieht, gilt das auch für die Zwillinge.
„Spanien war voll heiß“, sagt Jim, den mein philosophischer Beitrag nicht zu interessieren scheint. „Aber eigentlich fand ich Frankreich schlimmer. Allein von der Grenze bis Paris war es so schwül.“
Karl nickt. Aber er schaut gedankenverloren in den Orangenbaum.
Ich erinnere mich an den Donnerstag, als wir losfuhren. Da wusste ich noch nicht, dass wir zwei Tage im VW-Bus verbringen würden, wovon die Zwillinge die meiste Zeit gepennt haben und ich stundenlang aus dem Fenster gesehen habe, weil ich im Auto nicht schlafen kann.
Noch immer habe ich die Bilder in mir, die Autobahnen und Straßen, die Sonnenblumen in Frankreich, die verregneten Berge hinter der Grenze oder die endlos weiten Felder in Spanien, staubtrocken und braun. Kurz vor dem Ziel dann ein blutroter Sonnenuntergang, als ich dachte, es brennt.
„Was sagt ihr eigentlich zu den Brötchen in Spanien?“, fragt Jim. „Die waren doch voll ekelhaft, oder?“
„Besser spanische Brötchen als Kakerlaken in der Toilette“, sagt Karl.
„Habt ihr die Schinken in dem Restaurant gesehen? Da hingen noch die Hufe dran.“
Jim macht eine Bewegung, als wolle er einen Schinken in die Luft malen.
„Ich habe nur die Trucker in dem Restaurant gesehen“, sage ich. „Könnt ihr euch das vorstellen, ich halb nackt beim Pinkeln und auf der anderen Seite diese Typen, die sich vorstellen, wie ich halb nackt auf der Toilette sitze und pinkle?“
Karl nickt verständnisvoll.
„Die Kakerlaken waren aber auch ekelig“, sagt er.
„Und an dem Schinken hingen noch Haare!“ Jim schüttelt sich, als bekäme er Ausschlag.
„Tiere haben Fell“, verbessert Karl seinen Bruder.
„Aber Schamhaar ist Schamhaar“, erklärt Jim. „Und außerdem sind Haare an toten Tieren definitiv belästigend.“
„Wie Kakerlaken, die dich beim Pinkeln beobachten?“, fragt Karl.
Jim sieht seinen Bruder an und nickt bestätigend. Er zieht sein Handy aus der Hose und sagt: „Ich hätte ein passendes Video zum Thema ‚Belästigung durch Tiere‘.“
Jim hält das Handy hoch und ich versuche, es ihm wegzunehmen, da ich Youtube-Videos fast noch schlimmer finde, als beim Pinkeln beobachtet zu werden. Außerdem detoxe ich gerade digital, was eine Idee von Papa war, da er meine Bildschirmzeiten etwas zu viel fand. Doch seit dem Festival ist Papas Idee auch zu meiner Idee geworden. Ich war echt genervt von den ganzen Leuten, die ständig meckerten, dass kein Netz da war, während gerade die besten Bands spielten. Jim meinte, ich hätte neuerdings einen fiesen Röntgenblick.
„Das ist ein Stierkampf in Portugal“, erklärt Jim. „Hab ich gestern auf der Fahrt gesehen. Das ist sowas von belästigend!“
Das Video zeigt einen festlich gekleideten Mann mit grüner Zipfelmütze, der in einer Arena steht. Am Rand tritt ein schwarzer Stier mit verbundenen Hörnern auf der Stelle, und hinter dem Mann sind sechs weitere Männer mit Zipfelmützen wie an einer Kette aufgereiht. Als der Mann einen Schritt nach vorne macht, rast der Stier los und der Mann springt zwischen dessen Hörner. Doch das mächtige Tier schüttelt den Mann wie eine Fliege ab. Zugleich stürzen die anderen Männer vor und klammern sich von allen Seiten an dem Stier fest. Einer schnappt sich sogar den Schwanz, während sich die anderen Männer immer enger an den Stier drücken. Zum Schluss ist der Stier ganz ruhig und sie lassen ihn wieder los.
„Und wer belästigt da wen?“, fragt Karl.
„Jeder jeden“, behauptet Jim und klickt das nächste Video an.
Ich sage: „Mach das aus!“, weil einem Stier gleich zu Beginn eine Lanze in den Rücken gerammt wird und das Blut in einer kleinen Fontäne aus seinem Nacken sprudelt.
Die Zwillinge starren auf das Handy, während mir schlagartig schlecht ist.
„Mach aus!“, schreie ich.
„Ja, Moment …“, sagt Jim. „Das ist sowieso ein spanischer Stierkampf.“
Doch anstatt das Video zu stoppen, zieht er den Balken nach rechts, und ich sehe, wie der Torero dem Stier einen kleinen Dolch in den Nacken rammt und das mächtige Tier zusammenbricht, mit steifen Beinen in den Sand fällt und am ganzen Körper zuckt.
Ich fange an zu weinen, was ich nicht will, aber auch nicht verhindern kann, und Jim legt mir seine Hand auf die Schulter und sagt: „Dann doch lieber behaarte Schinken auf dem Herren-Klo.“ „Ich esse eh kein Fleisch mehr“, behaupte ich und wische mir die Tränen weg.
„Genau!“, ruft Jim. „Lasst uns vegan werden!“
„Papa bringt euch um, mit seinem Grill-Tick!“, sage ich und wünsche ihn mir in diesem Moment herbei.
„Und unsere Mutter therapiert uns sofort“, verspricht Jim.
„Therapie braucht ihr sowieso“, behaupte ich, denn Jim macht seltsame Geräusche und rudert mit den Armen, während Karl seine Augen verdreht, als hätte er den Verstand verloren.
Um die beiden zu toppen sage ich: „Leckt mich!“, und lasse etwas Spucke aus meinem Mund laufen. Dabei stöhne ich wie unter Schmerzen.
Als der Speichel über mein Kinn läuft, wendet Jim sich ab, und Karl kommt meinem Gesicht ganz nahe.
„Ich soll dich lecken?“, fragt er und streckt seine Zunge raus.
„Kommt schon, das ist widerlich!“, ruft Jim und springt von seinem Stuhl. Er stellt sich lachend vor die kleine Mauer, die das Nachbarhaus von unserem Haus trennt.
Ich werfe Jim einen kurzen Blick zu, ehe ich auf Karls Zunge starre, die feucht glänzt und porös ist und eine längliche Falte in der Mitte hat. Ihre Spitze ist ein wenig nach oben gerollt, und dann nuschelt Karl: „Sag Feigling!“, und ich sage: „Feigling!“, und er leckt mir übers Kinn.
Jim schreit auf und verbirgt sein Gesicht hinter den Händen.
„Du willst mein Bruder sein?“
„Ich hatte keine Wahl“, sagt Karl.
Mir ist nicht klar, auf wen sich die Bemerkung bezieht, ob auf meine Spucke oder auf Jim, jedenfalls versuche ich möglichst cool, mein Kinn mit dem Ärmel zu trocknen.
„Von mir aus können wir jetzt zum Strand“, sage ich.
Es ist still. Aber es ist eine gute Stille. Eine, die mir zeigt, dass wir zusammen sind.
„Nicht alles ist zu früh oder zu spät“, sagt Karl.
Er zeigt auf eine makellose Orange im Baum, die weder unreif noch verschimmelt ist. Ich strecke meine Hand danach aus, und als ich an der Orange ziehe, raschelt es in den Blättern. Ich entdecke in der Baumkrone eine Taube, die mit ihren Flügeln wild umherschlägt, ehe sie davonfliegt.
„Was geht hier ab?“, ruft Jim.
Er ist mit einem Mal ganz aufgekratzt und sieht mich an, während ich vor Schreck die Orange loslasse, weil mir gerade Taubenscheiße auf den Arm gefallen ist.
Gleich am ersten Tag ertrinkt Karl. Zumindest denkt das der Lifeguard, der den ganzen Tag am Strand sitzt und darauf achtet, dass niemandem was passiert. Und dann lernen wir Lilli näher kennen, was dazu führt, dass Karl wirklich ertrinkt, also mehr so symbolisch. Wenn man immer wüsste, was passiert, würde man vielleicht alles anders machen.
Meine Tasche auf der Schulter, stehe ich am Ende der Holztreppe und sehe zu der Stelle, wo wir am Morgen noch im Sand lagen. Die Flut hat die Bucht zur Hälfte überspült, und da, wo ich das Becken vermute, entdecke ich nur einen dunklen Fleck, eine Art Schatten im Wasser. Auch die großen Steine mit den Muscheln sind verschwunden. Allein die hohen Felswände ragen weit in den Himmel und werden in regelmäßigen Abständen von den heranwogenden Wellen getroffen, die wie ein wütender Schlag dagegenkrachen und als weißer Schaum in die Luft fliegen.
Und schon träume ich mich zurück ins Meer.
Und sehe uns in dem dunklen Becken, wo wir seit dem frühen Morgen sitzen und uns noch immer an den Händen halten. Durch das gestiegene Wasser dringt die Sonne nur als schwaches Schimmern zu uns durch, und der Himmel scheint unendlich weit entfernt zu sein. Aber wir brauchen keine Luft mehr zum Atmen, wir sind ein Teil des Meeres geworden und werden für immer unter Wasser bleiben, zu dritt im Dunklen, weit unter dem strahlend hellen Himmel verborgen mit seinen Winden und den Vögeln. Wir verbringen unser Leben in menschlichen Körpern, im luftfreien Meer, ganz ohne Angst, weil wir zusammen sind.
„Das sind Scheißwellen“, sagt Karl und beendet meinen Tagtraum.
Ich stakse durch den Sand und rufe gegen das laute Meeresrauschen: „Wärst du ein Fisch, bräuchtest du keine Wellen.“
Doch Karl schweigt, und da ich weiß, dass alles einen Grund hat, folge ich Karls Blick und sehe sie zum dritten Mal an diesem Tag. „Lilli …“, stöhne ich, was niemand hört, und zeige nach vorne, was niemand sieht, da die Zwillinge vor mir durch den Sand laufen.
Lilli liegt auf einem Strandtuch, und vermutlich hat auch Karl sie entdeckt, denn er bleibt nur wenige Meter vor ihr stehen und legt seine Sachen in den heißen Sand.
„Ich kann damit leben, genau hier zu bleiben“, schnappe ich und lasse meine Tasche von der Schulter rutschen.
Lilli ist nur wenige Meter von uns entfernt, aber sie bleibt unverändert liegen, und ich ziehe mein Shirt über den Kopf und bringe mich in Stellung.
„War klar“, sagt Jim, als ich ihm die Sonnencreme in die Hand drücke.
„Hautkrebs soll sehr qualvoll sein“, sage ich. „Frag deinen Vater.“ Ich habe meinen Oberkörper nach unten gebeugt und berühre den Sand mit dem Kinn. Dabei halte ich Lilli fest im Blick. Ihr Körper ist kindlich und zugleich sehr sinnlich, wie der eines Mädchens, das sich als Frau verkleidet und schon richtige Brüste hat. Jim sagt: „Paps ist Kardiologe, nicht Dermatologe“, und spritzt die Sonnencreme auf meinen Rücken. Er verteilt sie mit fester Hand. Man könnte sagen, er presst sie in meine Haut.
„Ob sie auch genügend Sonnenschutz hat?“, überlege ich.
„Wer ‚sie‘?“, fragt Jim.
„Na sie“, sage ich und deute auf Lilli. „Helle Hauttypen sollen besonders schnell verbrennen.“
Karl dreht sich um.
„Du sorgst dich ja richtig.“
Ich denke an heute Morgen, als sie rauchend vor unserem Zelt saß und ich über Lungenkrebs sprach.
„Ich bin so scheinheilig“, sage ich und lasse mich auf die Knie fallen. Dann tapse ich wie ein Hundebaby auf Karl zu und drücke mich an seine Beine, wobei ich leise winsele. Er lächelt gequält, tritt zur Seite und schlüpft in seinen Neoprenanzug.
„Schön ist sie ja“, flüstere ich und denke an eine Meerjungfrau und dass ich mir am Morgen auch wie eine vorkam, als mich Karl und Jim zu dem Becken trugen. Aber Lilli entspricht mit ihren langen blonden Haaren diesem Bild viel mehr, und ich erinnere mich an die letzte Woche, als ich meine Haare abgeschnitten habe. Mit der Schere, die schon immer in der Küchenschublade liegt und nie benutzt wird, zumindest nicht von mir, schnitt ich, ohne groß zu zögern, alle Haare von meinem Kopf.
Mama kam in die Küche und fing an zu weinen, als sie meine Haare auf dem Boden sah.
„Du bleibst trotzdem meine Tochter!“, sagte sie und wischte sich die Tränen mit einem gequälten Lächeln weg, ehe sie mich in den Arm nahm.
Am Abend kam Papa nach Hause. Vermutlich hatte Mama ihm bereits geschrieben, was geschehen war, denn er sagte gleich beim Hereinkommen: „Das wird dir nicht gelingen!“
Ich fragte: „Was denn jetzt schon wieder?!“, da ich ziemlich genervt war von den Reaktionen der Leute, die mich den ganzen Tag mit ihren Kommentaren belästigt hatten.
„Dich hässlich zu machen“, sagte Papa und nahm mich in den Arm.
Normalerweise mag ich Papas dicken Bauch und dass er mir Küsse auf die Stirn gibt und über den Rücken krault und so.
Nur an dem Tag mochte ich das alles nicht.
„Du kannst anstellen, was du willst“, sagte er, „aber hässlich wirst du nicht.“
„Darum gehts doch gar nicht“, pampte ich ihn an.
„Worum dann?“, fragte er.
Ich hatte keine Idee, wie ich Papa erklären konnte, warum ich meine Haare abgeschnitten hatte. Es war halt so, dass ich am Morgen nach dem Festival vor dem Badezimmerspiegel stand und ein Mädchen sah, das ich in den letzten Tagen auf dem Festival tausendfach gesehen hatte.
Begonnen hatte es im Wald, als wir nach dem letzten Konzert ums Feuer saßen und Wein tranken. Jim wollte nicht, dass ich so viel trinke, und ich wollte nicht, dass er mir sagt, was gut für mich ist. Natürlich hatte Jim recht, denn ich vertrage keinen Wein, aber er hatte kein Recht, mir zu sagen, was ich machen soll. Und dann begann ich die Leute zu beobachten, die mit uns ums Feuer saßen. Vor allem beobachtete ich ein Mädchen, das Jim die ganze Zeit ansah. Auch wenn ich nicht eifersüchtig war, fand ich es nervig, wie Jim zu ihr hinüberstarrte. Und dann musste ich auf einmal über das Mädchen lachen, weil es mir so lächerlich erschien, in seiner Art, genauso auszusehen wie alle anderen hier, als wären sie der Teil einer Armee mit ihren Frisuren und der Kleidung und der Art zu stehen und zu reden und ständig auf ihre Handys zu sehen. Das Mädchen sah aus wie jede hier, während ich immer mehr trank und immer lauter lachte, bis mich Jim am Arm fasste und ins Zelt brachte, wo ich sofort einschlief.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich Kopfschmerzen, und als ich am Montag vor dem Badezimmerspiegel stand, sah ich dieses Mädchen, das ich auf dem Festival gesehen hatte. Ich begriff, dass ich aussah wie sie, und dass ich lachte wie sie, und dass ich das gleiche Handy hatte wie sie, also war ich auch nur ein Teil dieser Armee der Alles-gleich-Macher. Ich ging in die Küche, nahm die Schere und schnitt mir die Haare vom Kopf, was ziemlich krank aussah, da es völlig ungleichmäßig wurde. Aber ich war nicht länger eine, die wegen ihrer Haare schön gefunden wird. In diesem Moment war ich ein Mädchen mit abgeschnittenen, ungleichmäßigen Haaren, mehr nicht. Und darüber musste ich lachen, weil es eigentlich total blöd war, mir die Haare wegen eines Mädchens abzuschneiden, das ich überhaupt nicht kannte. Und während ich lachte, spürte ich, wie meine Laune besser wurde, und dann schaltete ich mein Handy aus und legte es in meinen Schreibtisch, was sich auch ziemlich geil anfühlte. „Deshalb!“, sage ich zu Papa, der gerade in Japan ist und mich nicht hören kann, und merke zugleich, dass ich Lilli genauso anstarre, wie ich das Mädchen auf dem Festival angestarrt habe. Doch im Unterschied zu der scheint es Lilli egal zu sein, wie sie angesehen wird. Sie hat sich auf die Ellenbogen gestützt und sieht aufs Wasser, als gehöre ihr das Meer.
Und Karl steht wie ein Krieger hinter ihr, der in wenigen Sekunden mit dem Bodyboard in See stechen wird, um für sie ein Königreich zu erobern.
„Du könntest auch mal meinen Rücken eincremen“, reißt mich Jim aus den Gedanken.
Ich drehe mich um und sehe ihn im Sand sitzen. In seinen Händen hält er die Sonnencreme.
„Findest du mich eigentlich schön?“, frage ich, rolle durch den Sand, hocke mich vor Jim und schnappe mir die Sonnencreme. „Wunderschön“, sagt Jim.
„Die Frage war ernst gemeint!“
Ich sehe Jim eindringlich an. Aber er sieht zur Seite und lächelt. „Du bist ein schönes Mädchen“, sagt er. „Aber hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen, da ist eine, die ist tausendmal schöner als Ihr.“
Er hebt den Kopf.
Und dann sagt er: „Du hast ein Problem mit Lilli.“
„Ich habe … nein!“
„Doch!“
„Spinnst du?“
Ich öffne die Sonnencreme und quetsche die Tube zusammen. Als die weiße Creme Jims Brust trifft, zuckt er ein wenig. Ich springe auf und werfe mich über ihn. Jim versucht, mich wegzuschieben, doch ich schlinge meine Beine um seine Beine und drücke ihn fester in den Sand.
„Du willst eingecremt werden, also wirst du’s“, knurre ich und verteile die Sonnencreme mit meinem Bauch auf seinem Oberkörper.
Jim stemmt die Hände gegen meine Schulter, was dazu führt, dass ich auch noch meine Arme um seinen Hals schlinge.
Da schließt er die Augen und wehrt sich nicht mehr.
„Du gibst auf?“, schreie ich.
„Ich habe nie gekämpft“, stöhnt er.
Ich lockere meine Umklammerung, bleibe aber auf ihm liegen und spüre seine glitschige Haut an meiner. Dass wir so nah zusammen sind, fühlt sich vertraut und zugleich fremd an. Wir kennen uns ein Leben lang, doch so, wie wir hier liegen, ist es seltsam, fast schäme ich mich.
„Ich habe kein Problem mit ihr“, sage ich.
Meine Finger wühlen sich durch Jims Locken und ich halte mich daran fest. Zugleich schaue ich aufs Meer, wo Karl in den Wellen treibt. Er ist ziemlich weit draußen, und im Gegensatz zu sonst sehe ich nur seinen Kopf und nicht das Bodyboard, auf dem er liegt.
Schlagartig richte ich mich auf.
„Karl …“, stammele ich und taste mit der Hand nach Jim.
Im selben Moment rennt ein Typ an uns vorbei, zieht sich ein paar Flossen über und stürzt sich ins Wasser.
Es dauert keine fünf Minuten, da ist Karl zurück an Land.
Katharina läuft ihm durchs Wasser entgegen.
„Was ist passiert?“, ruft sie.
Karl sagt: „Nichts!“, und schüttelt ihren Arm ab.
„Und dein Board?“, fragt Chris.
Der Lifeguard stellt sich neben uns und zeigt auf die Leine, die an Karls Arm hängt.
„The leash is broken“, sagt er. „But he wasn’t in danger.“
„Und deshalb hast du mich rausgeholt, ja?!“, blafft ihn Karl an und schleudert die Flossen von seinen Füßen.
Der Lifeguard zuckt mit den Schultern, während Karl zu unserem Schirm geht und den Neoprenanzug vom Körper streift.
Mama fragt: „Was ist denn passiert?“
„Die Leine ist gerissen“, erklärt Jim. „Und das Board ist weg. Und jetzt ist Karl sauer, wie man sieht.“
Ich schaue abwechselnd von Mama zu Jim, dann gehe ich zu Karl und setze mich neben ihn. Er sieht aufs Meer und hat Tränen in den Augen. Aber sein Gesicht ist hart und abweisend.
Chris kommt rüber und hockt sich hin, und als Katharina wenig später da ist und seinen Kopf streichelt, faucht Karl: „Lass das!“, und dreht sich weg.
Sie nimmt ihre Hand zurück, und ich fühle mich schlecht, weil ich es schwer ertrage, wenn Karl wütend ist.
„Brauchst du was?“, fragt Katharina.
Karl sagt: „Nein …“, und nach einer Weile fügt er hinzu: „Lasst mich einfach in Ruhe.“
Da steht Katharina auf und sieht mir in die Augen, als wolle sie mich bitten, bei Karl zu bleiben, ehe sie zu Mama geht, die mit dem Lifeguard spricht.
„Warum hat mich der Arsch rausgeholt?“, fragt Karl.
„Weil es seine Aufgabe ist, Menschen vor dem Ertrinken zu retten“, sagt Chris.
„Aber Karl hatte Flossen“, sagt Jim, der jetzt auch da ist.
„Das hat der Lifeguard wohl nicht gesehen“, versucht Chris, seine Söhne zu beschwichtigen.
Ich denke, dass Lilli auch gesehen hat, wie Karl aus dem Meer geholt wurde.
„Schon uncool“, sage ich.
Karl lächelt gequält.
„Ich spreche mal mit ihm“, sagt Chris.
„‚Ihm‘ heißt Luis“, sagt Jim.
„Dann spreche ich mal mit Luis und sage ihm, dass es Karl nicht so gemeint hat.“
„Wieso?!“, fragt Jim. „Karl hat es so gemeint!“
„Ich spreche trotzdem mit ihm“, beharrt Chris.
Und Karl sagt: „Ich hatte eine richtig gute Welle und dann bin ich vom Board gerutscht.“
Jim klatscht in die Hände.
„Das ist so demütigend, wenn man deswegen gerettet wird“, ruft er lachend.
„Ach, leck mich …“, sagt Karl, schlingt seine Arme um die Beine und starrt aufs Meer.
„Nicht schon wieder lecken“, sage ich und lasse mich nach hinten fallen. Ich sehe in den Himmel, der vor lauter Sonne kaum zu sehen ist.
Bis zum Abend bleiben wir am Strand. Ab und zu gehen wir ins Wasser, aber die meiste Zeit liegen wir in der Sonne oder unterm Schirm, hören Musik und lesen. Ich kritzele was in mein Notizheft, und zugleich kommt das immer gleiche Bild zurück, wie Karl in den Wellen treibt und Luis an uns vorbeirennt, um ihn zu retten. Ich habe noch immer Angst um Karl, obwohl es keinen Grund dazu gab. Und wenn doch, dann ist es längst vorbei.
Später packen unsere Eltern ihre Sachen und gehen langsam zu der Holztreppe, die zu den Häusern auf der Klippe führt.
„Sollen wir auch gehen?“, fragt Jim.
Ich sehe ein paar Leute bei den Felsen, die komische Verrenkungen machen. Anscheinend soll das Yoga sein. Ansonsten ist die Bucht fast leer.
„Können wir nicht am Strand bleiben und hier schlafen?“, fragt Karl.
„Ich will nach Hause“, sagt Jim.
„Und ich brauche eine Dusche!“, sage ich.
Im Augenwinkel sehe ich Luis, der aus Karls erstem Tag am Strand ein peinliches Desaster gemacht hat. Er sieht zu uns herüber, aber Karl beachtet ihn nicht.
„Dann lasst uns gehen“, sagt er.
In dem Moment steht Lilli neben uns. Sie ist fast einen Kopf kleiner als ich und trägt ein dünnes Tuch über den Schultern, was sie ziemlich elegant aussehen lässt.
„War das wegen der Strömung?“, fragt sie.
„Das war wegen akuter Blödheit“, sagt Karl.
Lilli sieht Karl an, als würden sie sich schon Jahre kennen. Keine Ahnung, warum, aber ich fühle mich so, als stünde ich hinter einer trennenden Glasscheibe.
„Karl kann froh sein, dass er noch lebt“, sage ich mit einer Stimme, die im Hals zu stecken scheint.
Karl sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren, und Jim erklärt: „Er hatte Flossen an, da konnte nichts passieren.“
Lilli hat den Blick auf Karl geheftet, so wie er auf sie. Sie sehen sich an und lächeln.
Da sagt Karl: „Willst du mit mir am Strand schlafen?“
Als wir die Terrasse betreten, sitzen unsere Mütter auf der kleinen Mauer und sehen uns an, als könnten sie nicht glauben, dass es uns gibt. Karl lässt seinen Neoprenanzug auf den Boden fallen, und Katharina umarmt ihn.
„Wie geht es dir?“, fragt sie.
„Ich wäre fast ertrunken“, sagt Karl, „aber zum Glück gibt es ja die Lifeguards, die ziehen einen raus, ob man will oder nicht.“
Katharina küsst ihn auf die Wange.
„Wir können froh sein, dass jemand am Strand ist, der auf uns aufpasst“, sagt sie.
Niemand geht darauf ein, da Chris aus der Küche kommt und mit einem großen Messer durch die Luft wedelt.
„Seht euch das mal an!“