Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2020
Copyright der Originalausgabe: © 2019 The Guilford Press
A Division of Guilford Publications, Inc.
Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel Attachment Theory in Practice: Emotionally Focused Therapy (EFT) with Individuals, Couples, and Families bei Guilford Press erschienen.
All rights reserved. Authorised translation from the English language edition published by arrangement with The Guilford Press.
Übersetzung: Elisabeth Vorspohl
Fachberatung: Christine Weiß, Hendrik Weiß, Erika Kliever; EFT Community Deutschland e. V. – https://www.eftcd.de
Coverfoto: © Iseo Yang – istockphoto.com
Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2020
ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-899-2
ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0087-1 (EPUB), 978-3-7495-0089-5 (PDF), 978-3-7495-0088-8 (MOBI).
Meinem Partner, John, dem größten Wunder in meinem Leben,
der mich jeden Tag ein sicheres Abenteuer erleben lässt,
das mein Herz und meine Seele erfreut und mich stark macht.
Und meinen Kolleginnen und Kollegen – den Pionieren der Wissenschaft von der Bindung im erwachsenen Leben,
Mario Mikulincer und Phil Shaver, sowie den herausragenden Therapeuten und Ausbildern, die Teil meiner EFT-Familie sind.
Wir wachsen gemeinsam.
„O Körper, zur Musik gewiegt, o Blick und Glanz,
Wo trennt man nur den Tänzer und den Tanz?“
– William Butler Yeats (Übers.: N. Hummelt)
Ich muss schreiben. Ich schreibe, um das chaotische Kaleidoskop unseres Lebens zu bändigen, damit es einen Moment lang stillsteht. Ich schreibe Notizen in meinen Therapiesitzungen. Ich schreibe, wenn ich mir etwas nicht erklären kann oder wenn ich etwas besonders wichtig oder schön finde. Ich muss aufschreiben, was meine Klienten1 mich in den Sitzungen lehren – und sie lehren mich immer etwas. Erstaunlicherweise sind nach wie vor jede Sitzung und jedes Nachdenken auf dem Papier ein Abenteuer, eine Chance, dieses Territorium, das Menschsein heißt, kennenzulernen. Was werde ich dort finden? Immer etwas, was ich noch nicht wirklich verstehe.
Als Psychologin bin ich auch ewige Studentin und habe die Chance, all den großen Namen der Psychologie und Psychotherapie zuzuhören, die ihre Einsichten und ihre Schlussfolgerungen darlegen und Vorschläge für die Weiterentwicklung unseres Feldes im 21. Jahrhundert formulieren. Ich bilde Therapeuten auf der ganzen Welt aus und höre zu, wenn sie ihre Sehnsüchte, ihre Enttäuschungen und ihre Schwierigkeiten schildern. Deshalb ist es nur natürlich, dass ich mir im Laufe des letzten Jahrzehnts eine eigene Vision des großen Abenteuers, das wir Psychotherapie nennen, erworben habe, von unseren Problemen und ihren Lösungen. Und ebenso natürlich ist es, dass ich über diese Vision schreiben muss.
Ich bin, was unsere Profession betrifft, voller Hoffnung. Wir haben so vieles in so kurzer Zeit gelernt – vor allem über enge Beziehungen und über den Einfluss, den sie im Guten wie im Schlechten auf uns und auf den Lauf unseres Lebens ausüben. Gleichzeitig erfüllt mich ein Entsetzen, dessen Gründe ich im 1. Kapitel erläutere.
Dringender als je zuvor braucht die Welt gute Therapeuten. Und gute Therapeuten brauchen ein klares Bild vom Menschen und seinen Schwierigkeiten, eine Landkarte gewissermaßen, die ihnen den Weg zeigt, auf dem sie ihre Klienten zu Ganzheit und Gesundheit geleiten können. Wenn wir uns sicher aufgehoben fühlen, zuversichtlich sind und klar, dann können wir auch unseren Klienten helfen, einen sicheren Ort zu finden, an dem sie zu Hause sind.
Dieses Buch enthält eine Synopse der Bindungstheorie als umfassende entwicklungsorientierte Perspektive auf die Persönlichkeit und die Affektregulation. Es zeigt zudem die Implikationen auf, die diese Theorie für die allgemeine psychotherapeutische Praxis besitzt, sowie die unverkennbaren Verbindungen zwischen der Bindungstheorie und einem erfahrungsorientierten humanistischen Interventionsmodell, nämlich der Emotionsfokussierten Therapie, EFT. Das Buch beschreibt außerdem einen integrativen Ansatz zum Assessment und illustriert, wie sich die Einsichten der Bindungstheorie in effektive Interventionen in der Einzel-, Paar- und Familientherapie übersetzen. Diesen verschiedenen Modalitäten sind jeweils spezielle Kapitel gewidmet, die um klinische Kapitel über die Interventionen in der Praxis ergänzt werden. Im ersten und – in kürzerer Form – im letzten Kapitel fasse ich das Versprechen der Bindungstheorie und -wissenschaft für die Praxis der Psychotherapie zusammen. Der Fokus der in diesem Buch beschriebenen Interventionen richtet sich auf Depression und Angst – auch als „emotionale Störungen“ bezeichnet.
Wer meine Veröffentlichungen kennt, wird von meinen Argumentationsgängen oder Schlussfolgerungen nicht überrascht sein. Der Weg nach vorn besteht darin, sowohl das Beziehungsherz der psychotherapeutischen Praxis und die Weisheit unserer Emotionen anzuerkennen als auch die Bindungswissenschaft als Orientierungshilfe bei der Ausübung unseres Handwerks zu nutzen. Die Bindungswissenschaft handelt von der Biologie, aber auch von all dem, was uns die Vernunft und unsere tiefsten Intuitionen seit jeher lehren. Vor allem aber handelt sie von dem, was uns zu Menschen macht – von unseren Beziehungen. Ein positives Verbundenheitsgefühl ist die beste, vielleicht sogar die einzige realistische Möglichkeit, Menschen zu helfen, einen sicheren Hafen und eine sichere Basis zu finden.
1 Im gesamten Text wird zwischen der männlichen und weiblichen Form gewechselt, um unschöne Formulierungen zu vermeiden und den Lesefluss nicht zu stören.
Die aufregendsten Durchbrüche des 21. Jahrhunderts werden nicht durch die Technologie erfolgen, sondern durch ein erweitertes Verständnis dessen, was Menschsein bedeutet.
– John Naisbitt
Die Nähe zu sozialen Ressourcen reduziert den Preis, den es kostet, sowohl die realen als auch die metaphorischen Berge zu erklimmen, weil das Gehirn soziale Ressourcen als bioenergetische Ressourcen, vergleichbar mit Sauerstoff oder Glukose, betrachtet.
– James A. Coan und David A. Sbarra (2015, S. 87)
Es gibt heute mehr als 1000 verschiedene Namen für psychotherapeutische Verfahren und 400 speziell beschriebene Interventionsmethoden (Garfield 2006; Corsini & Wedding 2008). Es gibt auch zahlreiche „Therapiestämme“ mit jeweils eigener Realitätssicht. Zwischen den Verfahren und Methoden bestehen erhebliche Unterschiede, was ihre Spezifizierung, die Tiefe ihrer zugrunde liegenden Theorie und den Grad an empirischer Validierung angeht. Darüber hinaus gibt es buchstäblich Hunderte spezifischer Interventionen für jedes Problem, über das Klienten klagen mögen. Diese Interventionen werden häufig als rasche Behandlungen für komplexe Störungen angepriesen. Ihr Fokus richtet sich auf die Symptomlinderung, nicht jedoch auf die ganze Person und den Kontext, in dem die Symptome entstanden sind. All diese Methoden und Techniken, die sich, so ist zu hoffen, zumindest auf ein Minimum an Stringenz stützen, sind für das Chaos in unserem Feld perfekte Voraussetzungen.
Angesichts der steigenden Zahl von „Störungen“ (die sich mit jeder Neuauflage der Klassifikationssysteme, etwa des DSM, vermehren), Modellen und Interventionen ist die Notwendigkeit, klare, generelle und ökonomische Wege der Ausbildung und Intervention zu finden, offensichtlich. Vier Wege erscheinen mir vielversprechend. Der erste ist der Pfad der gründlichen Empirie. Gewissenhafte Therapeuten sind gehalten, den Pfad der Wissenschaft einzuschlagen, sich über die empirische Forschung zu informieren und dann die beste Perspektive, das beste Modell und die beste Intervention für das Problem, das der Klientin zu einem bestimmten Zeitpunkt zu schaffen macht, auszuwählen. In der Realität ist dies selbst für den hingebungsvollsten Therapeuten eine furchteinflößende, unmöglich zu lösende Aufgabe, zumal die manualisierten Behandlungsprotokolle an Anzahl, Komplexität und Schwierigkeitsgrad zunehmen. Wenn Psychotherapeuten sich der Empirie vorbehaltlos ergeben, folgen sie vorgegebenen kognitiven Anleitungen und werden in erster Linie zu Technikern.
Der zweite Pfad hängt mit der Fokussierung auf den Veränderungsprozess in der Therapie zusammen. Der konkreteste Versuch, ökonomisch vorzugehen, ist meiner Ansicht nach der Vorschlag, sich lediglich auf die modellübergreifenden gemeinsamen Faktoren des therapeutischen Veränderungsprozesses zu konzentrieren, ganz gleich, was oder wen sie zu verändern versuchen. Begründet wird diese Sichtweise damit, dass alle Behandlungen sich in groß angelegten Ergebnisstudien als gleichermaßen effektiv erwiesen hätten und die spezifischen Modelle und Interventionen infolgedessen austauschbar seien. Diese Verallgemeinerung trifft in Wirklichkeit nicht zu. Sie kam zustande, indem man viele verschiedene Studien unterschiedlicher Qualität zu einer Suppe namens Metaanalyse zusammenrührte und Mittelwerte errechnete, die häufig bedeutungslos sind. Die gesamte Idee der austauschbaren Effekte verschiedener Therapieverfahren ist offensichtlich ein Artefakt der Evaluationsmethodik (Budd & Hughes 2009); unterschiedliche manualisierte Therapien haben oft eine große Anzahl aktiver Bestandteile gemeinsam. Zudem gibt es einige Bereiche, in denen spezifische Behandlungen sich für spezifische Störungen als besser geeignet und effektiver erwiesen haben (Chambless & Ollendick 2001; Johnson & Greenberg 1985), auch wenn nicht klar ist, ob solche Unterschiede bei Follow-up-Untersuchungen Bestand haben (Marcus, O’Connell, Norris & Sawaqdeh 2014).
Die Variablen, die von Studien über allgemeine Veränderungsfaktoren vielleicht am häufigsten untersucht wurden, sind die Qualität des Bündnisses mit dem Therapeuten und das Engagement des Klienten im Therapieprozess. Man hofft, dass sich die Aufgabe der Therapie – die Herbeiführung von Veränderung – ohne Weiteres lösen lässt, wenn wir nur diese allgemeinen Faktoren zufriedenstellend handhaben. Ein positives Bündnis und die sorgsame Beachtung der Qualität des Engagements unserer Klienten sind wahrscheinlich für jede Art der Veränderung unentbehrlich; sie sind zweifellos entscheidende Variablen, die dem Veränderungsprozess zugutekommen. Doch wenn wir die Intervention in den Blick nehmen, können wir es dabei nicht bewenden lassen. Man hat den Anteil an Ergebnisvarianz, der auf das therapeutische Bündnis zurückzuführen ist, auf rund 10 Prozent geschätzt (Horvath & Symonds 1991; Horvath & Bedi 2002). Darüber hinaus zeigt sich im Behandlungszimmer, dass vermeintlich gemeinsame Faktoren keineswegs von allen geteilt werden. Wird das Bündnis von einem erfahrungsorientierten humanistischen Therapeuten auf gleiche Weise operationalisiert wie von einem Verhaltenstherapeuten? Das Konzept des Klientenengagements scheint mehr zu versprechen. In der Depressionsstudie des National Institute of Mental Health (NIMH) fanden Castonguay und Kollegen, dass ein höherer Grad an emotionalem Engagement / Erleben der Klienten positive Behandlungsergebnisse vorhersagte, und zwar ungeachtet des jeweiligen Therapiemodells (Castonguay et al., 1996), während eine (zum Beispiel von der klassischen Kognitiven Verhaltenstherapie [KVT] praktizierte) Fokussierung auf verzerrte Gedanken und ihren Zusammenhang mit negativen Emotionen tatsächlich ein höheres Maß an depressiven Symptomen nach der Therapie voraussagte. Freilich wird der Grad des Engagements, der für Veränderung ausreicht, je nach den Zielen des jeweiligen Behandlungsmodells variieren.
Ein dritter Weg zur Klarheit und Effizienz in unserem Feld besteht vermeintlich darin, auf die Gemeinsamkeiten der Probleme abzuheben, mit denen unsere Klienten zu uns kommen. Man verspricht sich davon, Interventionsbereiche, die sich auf die sogenannte latente Struktur etwa der emotionalen Störungen (der Panikstörung, der Generalisierten Angststörung und der Depression) konzentrieren, integrieren und all diese Probleme als ein allgemeineres negatives Affektsyndrom betrachten zu können. Unter diesen Umständen hätten Therapeuten lediglich eine kleine Anzahl empirisch beschriebener Schlüsselsymptome einer solch allgemeinen Beeinträchtigung zu bearbeiten. So kann man zum Beispiel das Syndrom des negativen Affekts als eine hyperaktive Gefahrensensibilität definieren, als habituelles Vermeiden beängstigender Situationen und als automatisches negatives Reagieren oder Agieren (Barlow, Allen & Choate 2004). Veränderung bedeutet, Klienten dabei zu helfen, solche Bedrohungen neu zu beurteilen und ihr Katastrophendenken unter Kontrolle zu bringen. Dies ermöglicht es ihnen, ihr habituelles Vermeiden gefürchteter Situationen (das ihre Angst paradoxerweise aufrechterhält und sie daran hindert, Neues zu lernen) zu modifizieren. Dann sollte es auch möglich sein, sie dahin zu bewegen, auf die Konfrontation mit einem negativen Trigger anders als gewohnt zu reagieren. Wie die besten Wege zum „Dahinbewegen“ und „Neubeurteilen“ aussehen, ist freilich weiterhin unklar.
Ein vierter Pfad besteht darin, auf zugrunde liegende Prozesse zu fokussieren, und zwar nicht nur bezüglich der Entwicklung einer Störung, sondern auch der Art, wie Menschen funktionieren, wenn es ihnen gut geht bzw. wenn sie leiden. Im Grunde geht es um die Frage, wie Menschen ihr Selbstgefühl fortlaufend konstruieren, wie sie Entscheidungen treffen und wie sie ihren Umgang mit anderen gestalten. Unter diesem Blickwinkel betrachtet verstehen wir, warum sich die Psychotherapie nicht nur in Form spezialisierter evidenzbasierter Interventionen entwickelt hat, die allgemeine, gemeinsame Elemente der Therapie erfassen und Beschreibungen der Probleme unserer Klienten katalogisieren – was durchaus nützlich ist –, sondern weshalb sie sich auf allgemeine Modelle des menschlichen Funktionierens stützt, das heißt auf Versuche, zu identifizieren und zu beschreiben, welche Art von Geschöpf der Mensch ist. Solche Modelle geben Therapeuten allgemeine Definitionen der Gesundheit, des positiven Funktionierens, der Dysfunktionen und Beeinträchtigungen an die Hand, die weit über die in formalen Klassifikationssystemen (zum Beispiel im DSM oder in der ICD) beschriebenen Störungen hinausgehen. Die gebräuchlichsten und robustesten dieser Modelle verlangen, dass die Therapie den ganzen Menschen in seinem Lebenskontext in den Blick nimmt. Sie fordern, die therapeutische Agenda zu erweitern, das Werden der Persönlichkeit und ihre optimale Entwicklung miteinzubeziehen, statt sich lediglich auf die Linderung spezifischer Symptome zu konzentrieren. Ein breites konzeptuelles Modell ermöglicht es uns, Beschreibungen von Störungen und zentralen, verändernd wirkenden Elementen in einen integrierten Erklärungsrahmen einzufügen, mit dessen Hilfe wir beurteilen können, wo die Stärken und Schwächen unserer Klienten liegen und wie wir mit ihnen arbeiten können. Unter diesen Umständen können wir auch beurteilen, welche Veränderungen wirklich wichtig sind und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie von Dauer sein werden. Alle Therapiemodelle beruhen auf irgendeinem impliziten Modell des menschlichen Funktionierens, das aber häufig vage bleibt und nicht hinterfragt wird. Zum Beispiel stützt sich die Kognitive Verhaltenstherapie für Paare auf ein rationales ökonomisches Beziehungsmodell, dem zufolge kompetentes Verhandeln Zufriedenheit in der Beziehung voraussagt. Die Emotionsfokussierte Therapie für Paare beruht hingegen auf einem Beziehungsmodell, dass der Emotion und den Bindungsprozessen Priorität einräumt und die emotionale Responsivität als entscheidenden Faktor der Zufriedenheit und Stabilität betrachtet.
Keine Perspektive und kein Modell sind imstande, für sich genommen den Reichtum und die Komplexität eines menschlichen Lebens zu erfassen. Wie schon Einstein sagte: „Alas, our theory is too poor for experience!“ [„Ach, unsere Theorie kann doch mit dem Erleben nicht mithalten!“] Trotzdem benötigen wir als Therapeuten, um möglichst effizient und effektiv arbeiten zu können, eine schlüssige, wissenschaftlich fundierte Theorie über die wesentlichen Aspekte des menschlichen Funktionierens – eine Theorie, die emotionale, kognitive, behaviorale und interpersonale Dysfunktionen zu erklären vermag. Diese Theorie muss ungeachtet der Behandlungsmodalitäten – Einzel-, Paar- und Familientherapie – anwendbar sein und die drei Grundmerkmale wissenschaftlichen Arbeitens aufweisen: Systematische, auf Beobachtung beruhende Beschreibung und Darlegung von Mustern; Vorhersagen, die Faktoren miteinander verknüpfen; und schließlich einen allgemeinen, durch eine große Anzahl von Forschungsarbeiten erhärteten Erklärungsrahmen. Dieser muss, was die Darstellung des optimalen Funktionierens, der Resilienz, der Entwicklung und des Wachstums eines Menschen, seiner Dysfunktion und der sie aufrechterhaltenden Faktoren sowie der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für bedeutungshaltige, langfristige Veränderung angeht, überzeugend und falsifizierbar sein.
Die Psychotherapie bedarf insbesondere einer Theorie (oder eines Wegweisers oder einer Landkarte), die uns aufzeigt, wie wir Menschen dabei helfen können, Veränderungen auf der Ebene zentraler organisierender Variablen herbeizuführen. Dies betrifft beispielsweise ihre habituelle Emotionsregulation, die Strukturierung und Verarbeitung zentraler, das Selbst und andere betreffender Kognitionen sowie die Gestaltung maßgeblicher Verhaltensweisen und zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese Theorie muss über das Intrapsychische hinausreichen; sie muss Selbst und System, intrapsychische individuelle Realitäten und Interaktionsmuster auf ökonomische und systematische Weise miteinander verbinden. Sie muss mit der neuen, führenden neurowissenschaftlichen Forschung im Einklang stehen und der Tatsache, dass wir mehr als alles andere soziale Wesen und als solche auf unsere Verbundenheit mit anderen fixiert sind, Genüge tun.
Ich vertrete die These, dass es lediglich einen einzigen Kandidaten gibt, der die oben aufgeführten Kriterien zu erfüllen vermag, nämlich jene Entwicklungstheorie der Persönlichkeit, die von John Bowlby (1969, 1988) konzipiert wurde und uns unter der Bezeichnung Bindungstheorie bekannt ist. Ursprünglich als Theorie der frühen Kinderentwicklung beschrieben, wurde sie vor allem in den letzten Jahren auf Erwachsene und deren Beziehungen erweitert. So schreiben Rholes und Simpson (2015): „Nur wenige Theorien und Forschungsgebiete waren im vergangenen Jahrzehnt erfolgreicher als das Feld der Bindungstheorie. […] Die Flut an Studien, die die Kernsätze der Bindungstheorie bestätigen, zählen zu den wichtigsten Beiträgen der modernen psychologischen Wissenschaften“ (S. 1). Darüber hinaus ist die Bindungswissenschaft vereinbar mit der modernen Forschung auf den Gebieten der Neurowissenschaften, der Sozialpsychologie, der Gesundheitspsychologie und der klinischen Psychologie, deren zentrale Botschaft lautet, dass wir in allererster Linie eine soziale, in Beziehungen lebende, auf Bindung angewiesene Spezies sind. Lebenslang prägt das Bedürfnis, sich anderen verbunden zu fühlen, unsere neurale Architektur, unsere Reaktionen auf Stress, unser Gefühlsleben im Alltag sowie die interpersonalen Dramen und Dilemmata, die das Leben ausmachen.
Vor einigen Jahren wurde die Bindungstheorie von Magnavita und Anchin (2014) explizit als Grundlage eines vereinheitlichten Psychotherapieverständnisses postuliert. Die Autoren vertreten die Ansicht, dass diese Theorie den seit Langem gesuchten „heiligen Gral“ repräsentiere, der eine schlüssige Konzipierung mannigfaltiger psychischer Störungen ermögliche und charakterliche Veränderung sowie dauerhafte Symptomlinderung erkläre. Andere Forscher machten geltend, dass die Bindungstheorie als solide Basis für eine ganze Reihe von Therapiemodalitäten dienen könne, zum Beispiel für die Psychotherapie individueller Klienten (Costello 2013; Fosha 2000; Wallin 2007), für die Paartherapie (Johnson & Whiffen 2003; Johnson 2002, 2004) und für die Familientherapie (Johnson 2004; Furrow, Palmer, Johnson, Faller & Palmer-Olson, im Druck; Hughes 2007). All diese Autoren betonen den von Grund auf integrativen Charakter der Bindungswissenschaft und -theorie und weisen darauf hin, dass diese Perspektive uns ermöglicht, Kompartmentalisierung und Fragmentierung zu überwinden, um zu einer Einheit des Wissens – zur Konsilienz, um mit E. O. Wilson (1998) zu sprechen – zu gelangen. Der Begriff „Konsilienz“ ist griechischen Ursprungs und leitet sich von der Überzeugung her, dass der Kosmos geordnet sei und dass diese Ordnung entdeckt und in einer Reihe interagierender Regeln und Prozesse systematisch dargelegt werden könne. Diese Regeln ergeben sich aus der Konvergenz der empirischen Beobachtungen unterschiedlichster Phänomene und können uns als realistische Blaupausen unserer Welt und unserer selbst dienen.
Wie lauten die basalen Lehrsätze der modernen Bindungstheorie, die sich von dem ersten Modell, das John Bowlby (1969, 1973, 1980, 1988) auf so brillante Weise formulierte, und von dessen Weiterentwicklungen durch die Sozialpsychologen Cassidy, Mikulincer und Shaver herleiten (vgl. Cassidy & Shaver 2008; Mikulincer & Shaver 2016)? Ich werde zehn Grundsätze formulieren. Zunächst aber sind drei generelle Punkte zu beachten. Die Bindungstheorie ist eine von Grund auf interpersonale Theorie, die das Individuum im Kontext seiner engsten, intimsten Beziehungen zu anderen Menschen sieht; sie nimmt an, dass der Mensch nicht nur von Natur aus sozial ist, sondern betrachtet ihn als Homo vinculum – als denjenigen, der sich bindet. Die Bindung an andere gilt demnach als alles entscheidende, bedeutendste menschliche Überlebensstrategie. Zweitens handelt diese Theorie von Emotionen und ihrer Regulation und gibt der Angst einen besonders hohen Stellenwert. Unter Angst werden hier nicht nur unsere alltäglichen Ängste verstanden; vielmehr geht es auch um existenzielle Erfahrungen wie Hilflosigkeit und Vulnerabilität. Das heißt, in der Angst spiegeln sich überlebenswichtige Erfahrungen wie Tod, Isolation, Einsamkeit und Verlust wider. Von zentraler Bedeutung für unser psychisches Wohlergehen ist die Frage, ob wir mit diesen Faktoren auf eine Weise umgehen können, die unserer Lebendigkeit und Resilienz zuträglich ist. Drittens ist die Bindungstheorie eine Entwicklungstheorie, das heißt, sie handelt von der Entwicklung und flexiblen Anpassungsfähigkeit sowie von den Faktoren, die sich dieser Anpassungsfähigkeit entgegenstellen oder sie verbessern. Die Bindungstheorie beschreibt die enge Verbundenheit mit anderen, denen wir vertrauen, als die ökologische Nische, in der das menschliche Gehirn, das Nervensystem und die maßgeblichen Verhaltensmuster sich entwickelt haben, und als den Kontext, in dem sich unser Selbst optimal entfalten kann.
Die zehn Grundsätze der Bindungstheorie und -wissenschaft lauten, einfach formuliert, wie folgt:
Eine dritte Form des sekundären Modells hängt mit der Traumatisierung durch eine Bindungsperson zusammen. Der Betroffene befindet sich dann in der paradoxen Situation, dass sein Liebesobjekt zur Quelle seiner Angst wird und er zugleich Trost bei ihm sucht. Unter diesen Umständen kommt es oft zu einem ständigen Schwanken zwischen Sehnsucht und Furcht, einem Verlangen nach Verbundenheit und einer darauffolgenden Distanzierung oder gar eines Angriffs. Diese Art der Reaktion wird bei Kindern als desorganisierte Bindung bezeichnet, bei Erwachsenen aber als ängstlich-vermeidende Bindung (Bartholomew & Horowitz 1991). In Beziehungen Erwachsener verursacht sie erhebliches Leid.
Die psychodynamischen Konzepte der inneren Ambivalenz, des Konflikts und der defensiven Blockaden sind für das Verständnis der oben beschriebenen sekundären Modelle (und unsicheren Strategien) von zentraler Bedeutung. Vermeidend gebundene Kleinkinder können ruhig und gefasst wirken, entwickeln aber in Reaktion auf Trennungen von ihrer Mutter einen hohen Grad an Erregung. In ähnlicher Weise geben erwachsene Partner emotionalen Stress oder ein Bedürfnis nach anderen kaum direkt zu erkennen; aber auf einer tieferen oder weniger bewussten Ebene empfinden sie bei drohendem Bindungsverlust nachweislich erhebliches Leid (Shaver & Mukulincer 2002). Menschen mit vermeidendem Bindungsstil haben Schwierigkeiten, anderen zu vertrauen und von der reichsten Ressource zu profitieren, die uns zur Verfügung steht, um mit unserer Anfälligkeit für Stress und Gefahr fertig zu werden: die sichere Verbundenheit mit besonderen anderen (Selchuk et al. 2012).
10. Verglichen mit der Mutter-Kind-Beziehung sind die Bindungen zwischen Erwachsenen in höherem Maß wechselseitig und weniger auf körperliche Nähe angewiesen; Erwachsene können sich ihre kognitiven Repräsentationen einer Bindungsfigur erfolgreich vergegenwärtigen, um eine symbolische Nähe herzustellen. Neben der Bindung identifizierte Bowlby überdies zwei weitere Verhaltenssysteme in intimen Beziehungen (speziell in Beziehungen zwischen Erwachsenen), nämlich Fürsorge und Sexualität. Er beschrieb sie als separate Systeme, die aber mit der Bindung, die er als primär betrachtete, interagieren. Das heißt, Bindungsprozesse bereiten diesen beiden anderen Systemen die Bühne und organisieren ihre Schlüsselmerkmale. Eine sichere Bindung und die aus dieser Sicherheit hervorgehende emotionale Balance sind mit einer besser eingestimmten Aufmerksamkeit für einen anderen Erwachsenen und einer besonders responsiven Fürsorglichkeit assoziiert. Freilich ist diese Sicherheit kein fixer Zustand, sondern variiert auf einem Kontinuum in spezifischen Beziehungen und Situationen.
Sicherheit hängt auch mit höheren Graden des Arousals, der Intimität und Lust und mit höherer sexueller Befriedigung in Beziehungen zusammen (Birnbaum 2007). Sex, eine menschliche Bindungsaktivität, hat eine emotionale Signatur, die je nach Bindungsstil und abhängig von den entsprechenden Strategien variiert, die zur Verarbeitung von Emotionen und im Umgang mit anderen eingesetzt werden. Menschen mit eher vermeidendem Bindungsstil neigen dazu, Sex und Liebe voneinander zu trennen. Sie legen vor allem Wert auf körperliches Empfinden bei sexuellen Kontakten und auf sexuelle Leistungsfähigkeit, während eher ängstlich Gebundene Zärtlichkeit und Sex als einen Liebesbeweis verstehen und nicht als erotische Aspekte der Sexualität (Mikulincer & Shaver 2016; Johnson 2017a).
Der sichere Bindungsstil wurde in systematischen wissenschaftlichen Untersuchungen mit beinahe jedem der in den Sozialwissenschaften beschriebenen Indizes psychischer Gesundheit und allgemeinen Wohlbefindens in Verbindung gebracht (Mikulincer & Shaver 2016). Auf einer individuellen Ebene führen diese Indizes Resilienz angesichts von Stress auf sowie Optimismus, stabiles Selbstwertgefühl, Zuversicht und Neugierde, Toleranz für menschliche Verschiedenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, die Fähigkeit, sich jemandem zu offenbaren und anzuvertrauen, die Fähigkeit zur Selbstbehauptung, die Toleranz von Mehrdeutigkeit sowie die Fähigkeiten der Emotionsregulation, der reflexiven Metakognition und des Perspektivenwechsels (Jurist & Meehan 2009). Die wesentlichen Elemente dieses Bildes sind die Fähigkeit, Affekte effektiv so zu regulieren, dass das emotionale Gleichgewicht erhalten bleibt, eine Fähigkeit, Informationen zu einem kohärenten, integrierten Ganzen zu verarbeiten, und eine Fähigkeit, sich ein Gefühl der Zuversicht zu bewahren, das einem entschiedenen Handeln zugutekommt. Selbst angesichts von Traumata wie den Ereignissen des 11. Septembers scheint eine sichere Bindung nicht nur die Auswirkungen einer solchen Erfahrung zu lindern, sondern auch das posttraumatische Wachstum zu fördern (Fraley et al. 2006).
Auf einer interpersonalen Ebene beinhalten diese Indizes die Fähigkeit, sich feinfühlig auf andere einzustimmen, die empathische Responsivität, Mitgefühl, Offenheit für Menschen, die als „anders als man selbst“ wahrgenommen werden, und eine Tendenz zu altruistischem Handeln. Wenn wir unser emotionales Gleichgewicht wahren können, gelingt es uns nachweislich besser, die Signale anderer Menschen und ihre Hilfsbedürftigkeit sensibel wahrzunehmen und auf eine fürsorgliche, für sie akzeptable Weise zu reagieren. Wenn wir sicher gebunden sind, können wir aufmerksamer auf andere fokussieren und sind besser in der Lage, ihnen zu helfen. Ängstlich gebundene Menschen hingegen sind vor allem mit ihrem eigenen Leid beschäftigt oder stimmen ihre Hilfsbereitschaft und Fürsorge nicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse anderer ab. Vermeidend gebundene Menschen wiederum setzen sich über ihre eigenen und die Bedürfnisse anderer hinweg und bringen weniger Empathie sowie wechselseitige Unterstützung zum Ausdruck. Sie wenden sich von der eigenen Verletzlichkeit und der anderer Menschen ab.
Wenn wir in unseren Liebesbeziehungen einen sicheren Hafen und eine sichere Basis haben, können wir mit Schwierigkeiten und Konflikten besser umgehen. Menschen mit sicherer Bindung sind ausgeglichen und realitätsangepasst, und sie haben bessere Beziehungen zu geliebten Mitmenschen und Freunden. Diese Beziehungen wiederum fördern ihre psychische Gesundheit und Anpassung sowie ihre sozialen Fähigkeiten.
In diesem Buch gilt es, dem Einfluss der sicheren Bindung auf die Emotionsregulation, die soziale Anpassung und die psychische Gesundheit besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Ihnen maß Bowlby vorrangige Bedeutung bei. Was die psychische Gesundheit betrifft, so ist klar, dass unsichere Bindungen die Anfälligkeit für die beiden Probleme erhöht, mit denen unsere Klienten uns am häufigsten aufsuchen, nämlich Depression und Angst. Wie sich dieser Prozess entwickelt, hängt natürlich vom individuellen Klienten ab, doch für Bindungswissenschaftler beginnt er in der Regel mit der Emotionsregulation. Sicher gebundene Menschen können schmerzvolle Gefühle besser tolerieren und damit verbunden bleiben, ohne zu fürchten, die Kontrolle zu verlieren oder überwältigt zu werden. Sie müssen diese Gefühle nicht verändern, blockieren oder verleugnen, sondern können sie adaptiv nutzen, um sich in ihrer Welt zu orientieren, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Ziele zu erreichen. Sie erholen sich auch rascher von negativen Gefühlen wie Traurigkeit und Wut (Sbarra 2006). Ich stelle mir die erfolgreiche Affektregulation gern als einen Prozess vor, in dem man sich mit einer Emotion und durch sie hindurch bewegt, um sie als Richtungsweiser für das eigene Leben zu nutzen, und nicht als reaktives Intensivieren bzw. Unterdrücken des Gefühls.
Andererseits steht außer Frage, dass Bindungsunsicherheit das Risiko der Fehlanpassung signifikant erhöht. Insbesondere die ängstliche und die desorganisierte Bindung sind mit einer Anfälligkeit für Depressionen sowie verschiedenen Formen der Belastungs- und Angststörungen assoziiert, einschließlich der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), der Zwangsstörung und der Generalisierten Angststörung (Ein-Dor & Doron 2015). Der Schweregrad depressiver Symptome wurde in mehr als 100 Studien mit einer unsicheren Bindung in Verbindung gebracht. Wenn wir die verschiedenen Formen der Depression betrachten, so hängt die ängstliche Bindung mit eher interpersonalen Formen zusammen, die durch Verlust- und Einsamkeitsgefühle, Verlassenheit und Hilflosigkeit charakterisiert sind, während die vermeidende Bindung mit den leistungsorientierten Depressionsformen assoziiert ist, die sich durch Perfektionismus, Selbstkritik und zwanghafte Selbstgenügsamkeit zu erkennen geben (Mikulincer & Shaver 2016, S. 407–415). Bindungsunsicherheit geht auch mit zahlreichen Persönlichkeitsstörungen einer: Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist insbesondere mit einem extrem ängstlichen Bindungstyp assoziiert, die schizoiden und vermeidenden Persönlichkeitsstörungen eher mit der vermeidenden und desorganisierten Bindung. Unsichere Bindungen wurden auch mit externalisierenden Störungen in Verbindung gebracht, etwa mit Verhaltensstörungen in der Adoleszenz und mit antisozialen Tendenzen sowie Suchterkrankungen im Erwachsenenalter (Krueger & Markon 2011; Landau-North, Johnson & Dalgleish 2011).
Die Literatur, die Bindungsprozesse und PTBS korreliert, ist besonders faszinierend. Der Schweregrad von PTBS-Symptomen bei Patienten nach Herzoperation (Parmigiani et al. 2013), bei israelischen Kriegsveteranen und Kriegsgefangenen (Dekel et al. 2004; Mukulincer et al. 2011) und bei Menschen, die als Kinder sexuell missbraucht und / oder körperlich misshandelt wurden (Ortigo et al. 2013), wurde mit einer hohen Bindungsunsicherheit in Verbindung gebracht. Eine prospektive Studie wies vor etlichen Jahren einen klaren Kausalzusammenhang zwischen Bindungsprozessen und der Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach (Mikulincer, Shaver & Horesh 2006). Im Anschluss an den Irak-Krieg der USA 2003 wurde gezeigt, dass der Schweregrad der für die PTBS typischen Intrusions- und Vermeidungssymptome von der vor Ausbruch der Feindseligkeiten gemessenen Bindungssicherheit entscheidend beeinflusst wurde. Ängstlich gebundene Menschen wiesen mehr intrusive Symptome auf, vermeidend gebundene hingegen mehr kriegsbedingte Vermeidungssymptome. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass eine bindungsorientierte Paartherapie Traumaüberlebenden – und zwar auch solchen, die als Kinder von Bindungspersonen missbraucht wurden – helfen kann, befriedigende Beziehungen aufzubauen (Dalton et al. 2013). Dieser therapeutische Zugang hilft nachweislich, die Traumasymptome zu lindern (Naaman 2008; MacIntosh & Johnson 2008). Drachen, denen man gemeinsam gegenübertritt, unterscheiden sich von Grund auf von Drachen, denen man ganz allein gegenübersteht!
Sowohl John Bowlby (1969) als auch Carl Rogers (1961) – eine zentrale Persönlichkeit in der Geschichte der Psychotherapie und der Entwicklung des humanistischen Interventionsmodells – waren von einem inneren Streben ihrer Klienten in Richtung Gesundheit überzeugt. Das Gesundheitsverständnis, das sich aus der Bindungswissenschaft ergibt, stimmt besonders gut mit dem von Rogers sogenannten existenziellen Leben überein, das heißt, mit der Offenheit für den Erfahrungsstrom und mit dem vollen Ausschöpfen eines jeden Moments im Leben. Die wichtigsten Eigenschaften einer voll funktionierenden Persönlichkeit sind laut Rogers das organismische Vertrauen, das unter anderem bedeutet, die Validität des eigenen inneren Erlebens als gerechtfertigt anzuerkennen und es als Orientierungshilfe beim Handeln zu benutzen; die Freiheit der Erfahrung, das heißt die Fähigkeit, aktiv zwischen unterschiedlichen Handlungsweisen zu wählen und Verantwortung für die eigene Entscheidung zu übernehmen; und schließlich die Kreativität, das heißt die Flexibilität und Offenheit für neue Entwicklungen. Rogers zog den Schluss, dass einem „voll funktionierenden Menschen“ die Erfahrung größerer Vielfalt und größeren Reichtums im Leben zuteilwird, weil er „dieses grundlegende Vertrauen in sich selbst als verlässliches Instrument, um dem Leben entgegenzutreten, besitzt“ (S. 195). Dieses Vertrauen ist das Geschenk, das wir der sicheren Verbundenheit mit anderen verdanken. Deren weitreichende positive Auswirkungen sind ebenso überzeugend belegt wie die Gefahren chronischer Unverbundenheit.
Ich bin daher mitnichten überrascht, als ich eine drastische Veränderung bei Adam, meinem Klienten in einer Familientherapie, beobachte. Nur drei Sitzungen zuvor wirkte Adam auf mich wie die Verkörperung eines feindseligen, vermeidenden, delinquenten Jugendlichen. Doch einen Augenblick, nachdem Steve, sein Vater, einen Schritt auf ihn zugetan und über sein Verlustgefühl und seine tiefe Sorge, als Vater gescheitert zu sein, geweint hat, wendet Adam sich mit folgenden Worten an ihn:
„Na ja, ich war ständig wahnsinnig wütend. Ich habe mich nutzlos gefühlt, als mitleiderregenden Loser, und ich habe geglaubt, dass du mich genauso siehst. Deshalb war mir alles egal. Was kümmert’s mich? Aber wenn wir so wie jetzt miteinander sein können, einander vielleicht noch näherkommen, dann kann ich mir vorstellen, dass ich der Sohn bin, den du dir wünschest. Das hilft mir irgendwie, mit meinen Gefühlen umzugehen und nicht völlig überwältigt zu werden. Dann muss ich nicht ständig wütend sein. Es verändert einfach alles. So, als ob ich dir wichtig wäre. Gestern habe ich zu Mama gesagt, dass ich jetzt vielleicht die Kurve kriege. Vielleicht kann ich lernen und die Person sein, die ich sein möchte.“
Dass es so häufig zu Missverständnissen kommt, wenn Psychotherapeuten, Psychologen usw. über Bindungsbeziehungen im Erwachsenenleben sprechen, ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Bindungstheorie im Laufe von Jahrzehnten entwickelt und immer wieder verbessert wurde und die ersten Studien die Mutter-Kind-Bindung betrafen. Die Missverständnisse betreffen vier allgemeine Bereiche.
Abhängigkeit: konstruktiv oder destruktiv?
Als Merkmale des Übergangs zum Erwachsenenalter hat die Entwicklungspsychologie viele Jahre lang die Überwindung des Bedürfnisses nach anderen Menschen und die Fähigkeit beschrieben, das Selbst eigenständig zu definieren und eigenständig zu handeln. In therapeutischen Kreisen hat man Abhängigkeit bedauerlicherweise mit zahlreichen dysfunktionalen Verhaltensweisen assoziiert, die von Bindungstheoretikern als extreme Formen der ängstlichen Bindung charakterisiert und auf einen Entstehungskontext zurückgeführt wurden, in dem fortwährend Ängste vor Bindungsverlust geweckt werden. Bezeichnungen wie Verstrickung, Ko-Abhängigkeit und fehlende Individuation wurden und werden in der klinischen Praxis benutzt, um alle erdenklichen Verhaltensweisen zu beschreiben. In Wirklichkeit postuliert die Bindungstheorie, dass Menschen sich mit anderen anstatt in Abgrenzung von anderen definieren, und dass die Verleugnung des Bedürfnisses nach hilfreicher Verbundenheit keine Stärke ist, sondern vielmehr Wachstum und Anpassung behindert.
Ein maßgeblicher Beitrag zur Bindungstheorie ist das Konzept, dass eine sichere Basis mit anderen ein starkes Selbstgefühl, die Selbstwirksamkeit und die Widerstandsfähigkeit gegen Stress stärkt. Sichere Verbundenheit ermöglicht die Entwicklung einer effektiven, konstruktiven Abhängigkeit; das heißt, andere werden als Ressource wertgeschätzt, die ein positives, klares und kohärentes Selbstgefühl fördert. Zahllose Studien zu Mutter-Kind-Bindungen und Bindungsbeziehungen im Erwachsenenalter bestätigen die Zusammenhänge zwischen der Verbundenheit mit verlässlichen anderen und der Fähigkeit, das Selbst in diesem Sinn zu definieren (zum Beispiel Mikulincer 1995). Sowohl ängstlich als auch vermeidend gebundene Menschen verhalten sich anderen gegenüber häufig kontrollierend. Die Ängstlichen haben unter Umständen Schwierigkeiten, sich auf direkte Weise zu behaupten, und neigen deshalb zu scharfer Kritik oder zu Beschwerden. Die Vermeidenden wiederum vertreten zumeist eine direktere dominante Haltung (siehe Mikulincer & Shaver 2016, S. 273 f., für eine Zusammenfassung der Studien über Bindung im Erwachsenenalter).
Mikulincer und Shaver (2016) schreiben in ihrem wegweisenden Buch über die Bindung Erwachsener:
„Wenn man leidet oder Sorgen hat, ist es hilfreich, Trost bei anderen zu suchen; wird das Leiden gelindert, kann man anderen Aktivitäten nachgehen und andere Prioritäten setzen. Wenn Bindungsbeziehungen zufriedenstellend funktionieren, macht man die Erfahrung, dass sich Distanz und Autonomie hervorragend mit dem Verlass auf andere und der Nähe zu ihnen vereinbaren lassen.“
Entscheidend ist hier, dass zwischen Autonomie und Bezogenheit keine Spannung besteht.