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Kapitel 8

Nora ließ ihren Wagen waschen – innen und außen und ganz professionell. Sie ließ Öl wechseln und den Reifendruck messen. Sie tankte. Sie sprühte Sommerblumenduftspray auf die Fußmatten – und hoffte, dass niemand sie dabei beobachtete. Aber schließlich sollte John nicht denken, sie vernachlässigte die Wartung ihres Autos.

Sie wollten sich um neun an der Bibliothek treffen. Da sie inzwischen wusste, dass John immer zu früh kam, parkte sie ihren Wagen um 8:40 Uhr auf dem kleinen Parkplatz am Naturschutzmuseum. Dann erblickte sie Nikki hinter dem Steuer ihres in die Jahre gekommenen Wagens, und das Herz rutschte ihr in die Hose.

Nora war gezwungen gewesen, ihrer Mitarbeiterin ihre Reisepläne anzuvertrauen, weil sie Nikki als Vertretung brauchte, solange sie fort war. Nikki irgendetwas anzuvertrauen, barg allerdings ein unkalkulierbares Risiko in sich. Normalerweise war Nikki schon neugierig. Aber wenn sie den Verdacht hegte, ein ansehnliches Mannsbild könnte im Spiel sein, wurde sie unerträglich.

Nora ließ das Seitenfenster herunter.

Nikki tat es ihr nach. „Ich möchte mir deinen Navy-Helden nur mal ansehen“, erklärte sie. „Als er neulich im Museum war, hatte ich ja keine richtige Gelegenheit dazu.“

„Wenn ich mich recht erinnere, hast du ihn ununterbrochen angestarrt.“

„Aber er war ja kaum länger als eine Minute drinnen. Ich brauche heute ehrlich nur ein bisschen Aufmunterung, und der Anblick eines Navy-Ehrenmedaillenträgers ist ein guter Anfang.“

Nora stieg die Hitze in den Kopf. Sie wusste ohne jeden Zweifel, dass es ihr nicht gelingen würde, Nikki dazu zu bringen, das Feld zu räumen, bevor John eintraf. Das Beste war, zumindest ein paar Grundregeln festzulegen. „Nikki, meine liebe sensationshungrige, aber doch auch sehr intelligente Museumsführerin und Stellvertreterin!“

„Mhmm?“ Nikkis Pfirsichlippen verzogen sich zu einem vermeintlich unschuldigen Grinsen.

„Ich befehle dir hiermit, dich John gegenüber respektvoll zu verhalten. Wir machen eine Geschäftsreise. Und wag es nicht, irgendeinen Teil seiner Anatomie zu benennen.“

„Wer, ich?“

„Und frag ja nicht danach, ob er eine Freundin hat oder so was. Kein Beziehungsgequatsche, kapiert?“

„Nora! Jetzt tust du mir aber unrecht!“

„Und keine anzüglichen Bemerkungen, hast du mich verstanden …?“

Gute Güte! Johns glänzender Wagen erschien auf der Straße.

Es war ein schöner sonniger Frühlingsmorgen. Nikki und sie stiegen beide aus ihren Autos. Nikki hatte sich ausreichend mit Parfum eingenebelt, um ein Stinktier zu betäuben.

John hievte einen Seesack aus dem Kofferraum seines Wagens. Ein Mann, an den Nora sich vom Tag ihrer Pseudogeiselnahme vage erinnerte, saß hinterm Steuer. Er hob grüßend die Hand, bevor er davonfuhr.

„Guten Morgen.“ John kam auf sie zu. Er trug verwaschene Jeans und ein einfaches T-Shirt.

Mannomann. Es war immer der erste Anblick, der sie aus der Bahn warf, und sie würde eine oder zwei Minuten brauchen, um wieder sie selbst zu sein. Halbwegs sie selbst. Nie so ganz. „Morgen“, hauchte Nora und öffnete den Kofferraum ihres Autos.

Er hatte noch kaum sein Gepäck darin verstaut, als Nikki ihm schon ihre Hand entgegenstreckte.

„Wir sind uns offiziell noch nicht vorgestellt worden, aber ich bin Nikki, Noras Büromanagerin.“

John gab ihr die Hand. „Schön, Sie kennenzulernen.“

„Und … sollen wir gleich starten?“, fragte Nora in einem verzweifelten Versuch, der Situation zu entfliehen.

„Meine Güte, haben Sie einen kräftigen Händedruck“, säuselte Nikki. Sie betrachtete eingehend seinen Oberarm. „Muss an diesem beeindruckenden Bizeps liegen.“

Nikki hatte die erste Grundregel missachtet. Sie hatte seine Anatomie erwähnt.

John betrachtete Nikki leicht irritiert, aber auch amüsiert.

„Sie sind ein Prachtstück von einem Mann“, bemerkte Nikki jetzt ohne jede Verlegenheit. „Sie haben nicht zufällig ein paar Freunde, die ein wenig älter und alleinstehend sind, aber aussehen wie Sie und auch eine militärische Vergangenheit haben?“

Er warf den Kopf zurück und lachte.

Nora räusperte sich und begab sich demonstrativ zur Fahrertür ihres Wagens.

„Nun?“, beharrte Nikki. „Haben Sie solche Freunde?“

„Ich müsste darüber nachdenken.“

„Ich bin nämlich auf der Suche nach jemandem wie Ihnen“, sagte Nikki. „Aktiv auf der Suche.“

„Verstehe.“

„Sie haben eine feste Beziehung?“, bohrte Nikki weiter.

Es war nicht zu fassen! Nikki brach gerade Regel Nummer zwei und fragte ihn doch tatsächlich nach seinem Beziehungsleben!

„Ja“, sagte John. „Ich habe eine feste Beziehung.“

Noras Magen rebellierte bei diesen Worten. Und das brachte sie erst recht aus dem Konzept, denn ihr war doch ohnehin schon jede Sekunde ihres Daseins überdeutlich bewusst, dass er eine feste Beziehung hatte. Dass sie es jetzt aus seinem Mund hörte, sollte eigentlich keinen so großen Unterschied machen.

„Zu schade!“, blubberte Nikki und sah dabei aus wie eine Frau, die einen höchst appetitlichen Schokoladenkuchen entdeckt hatte, dann aber erfahren musste, dass ihr das letzte Stück gerade vor der Nase weggeschnappt wurde.

„Nun ja, zu schade, dass Sie nach jemandem suchen, der etwas älter ist“, konterte John. „Andernfalls, wenn Allie und ich uns mal trennen sollten …“

„Für Sie …“, unterbrach Nikki ihn, „… würde ich im Blick auf das Alter eine Ausnahme machen. Jederzeit. Überall.“

„John!“ Nora musste einschreiten, bevor Nikki auch noch Regel Nummer drei brach und anzüglich wurde. „Wir sollten uns jetzt besser auf den Weg machen.“ Sie schlüpfte auf den Fahrersitz und startete den Motor.

„Jederzeit!“, bekräftigte Nikki und verfolgte John beim Einsteigen mit ihren Blicken. „Überall!“

Er grinste. „War schön, Sie kennenzulernen, Nikki.“

„Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, John.“ Sie schwang ihre üppige Hüfte nach vorn und stemmte eine Hand hinein. „Kommen Sie doch bald mal wieder vorbei.“

Nora setzte zurück, bevor noch ein weiteres Wort gewechselt werden konnte. Kein einziges Wort mehr, Nikki! Von jetzt an würde sie ganz bestimmt jedes Treffen mit John vor Nikki Clarson geheim halten.

Ihre Gedanken wirbelten herum wie Wäsche in einem Wäschetrockner. Sie konnte es nicht fassen! Hatte Nikki tatsächlich Johns Bizeps bestaunt? Was sie ja eigentlich selbst nur zu gern tun würde, aber nicht konnte, weil sie eine Person mit guten Manieren war und weil er – wie er soeben aufs Deutlichste bekundet hatte – ein Mann war, der eine feste Freundin hatte. Und außerdem konnte sie mit jedem Atemzug Bergamotte riechen, nicht Sommerblumenduft! Bergamotte war ihr zwar bei Weitem lieber, keine Frage, aber … und außerdem … saß John neben ihr, ganz entspannt und mit seinem muskulösen Körper die ganze Breite des Beifahrersitzes beanspruchend.

John. John, den sie nach Oregon kutschierte. Sie. Sie fuhr. Ihn.

„Sie haben da ja eine nette Mitarbeiterin“, bemerkte er.

„Es tut mir sehr leid.“

„Was denn?“

„Na ja, dass Nikki Sie so unverblümt angemacht hat.“

„Oh, damit kann ich umgehen.“

„Es war unangebracht.“

„Ich mag sie.“

„Wirklich?“

„Ja. Kann ich den Sitz nach hinten schieben?“

„Ja, sicher.“

Er schob den Sitz ein gutes Stück zurück und verstellte anschließend noch die Rückenlehne.

An einer Ampel nutzte sie die kleine Pause, um einen Blick auf ihn zu werfen. Er setzte sich gerade eine Sonnenbrille auf. Nora seufzte innerlich. Diese unwiderstehliche Anziehungskraft, die von ihm ausging, brachte sie fast zum Verzweifeln. Sie fühlte sich, als hätte sie Fieber und würde sich gleich in Dampf auflösen. Und wenn das passierte, wäre es die Sache absolut wert. Eine gute Weise, sich von dieser Welt zu verabschieden …

Sie räusperte sich, heftete ihren Blick starr auf die Straße, umklammerte das Lenkrad und bemühte sich verzweifelt, nicht zu verglühen.

„Wollen Sie den ganzen Weg bis Oregon mit ihrer Nase so an der Windschutzscheibe kleben?“, fragte er.

„Was? Oh, nein.“ Sie lachte nervös und lehnte sich zurück. Die Ampel wurde grün.

Sie war unterwegs mit John Lawson. Unterwegs nach Blakeville, dem möglichen Geburtsort von Deborah Thompson. Sie wollten dort herausfinden, was sie über Johns Familie eventuell erfahren könnten.

Reiß dich zusammen, Mädchen!

In ihrem Koffer befanden sich ein neues Outfit, neue Schuhe und eine überquellende Kulturtasche mit neuen Kosmetika. Seit ihrem Ausflug mit Willow nach Seattle hatte diese sie ständig bequasselt, jetzt auch Phase vier der Optimierung der Nora Bradford einzuläuten: eine neue Frisur. Nora war sich aber noch nicht sicher, ob sie Phase vier tatsächlich umsetzen wollte. Ihr leuchtend rotes Haar und ihre diversen Knotenfrisuren waren ihr Markenzeichen. Ohne diese könnte sie vielleicht wirklich zum Paradebeispiel eines mittleren Kindes werden, nämlich unsichtbar.

„Hören Sie gern Musik?“, fragte sie jetzt. „Wir könnten ein bisschen Musik anstellen. Oder einfach entspannen. Ich möchte nicht, dass Sie mich für eine dieser anstrengenden Zeitgenossinnen halten, die von einem Mitfahrer erwartet, jede Minute einer Fünf-Stunden-Fahrt mit Konversation zu füllen. Vielleicht haben Sie ja auch noch was zu arbeiten, während ich fahre. Also, machen Sie es sich bequem. Ich bin ganz entspannt.“

„Nora?“

„Mhmm?“

„Ihre Nase klebt schon wieder an der Windschutzscheibe.“

Einen Großteil der Fahrt verbrachte John damit, Nora anzuschauen. Sie klebte immer noch mit der Nase an der Windschutzscheibe. Von seinem zurückgeschobenen Sitz aus konnte er sie ungestört betrachten, ohne dass sie es merkte.

Sie hatte zierliche Handgelenke, schlanke Finger und kurze, dunkelgrau lackierte Fingernägel. Ihr Profil zeichnete eine leicht geschwungene Nase aus und einen Mund, der, wenn man sich die Zeit nahm, genau hinzusehen, perfekt geformt war. Nicht zu dünn und nicht zu kräftig. Und immer waren ihre Mundwinkel leicht nach oben gebogen.

Am Nacken nahm er die gerade nach unten verlaufenden Erhebungen der Halswirbel wahr. Winzige Ohrringe mit scheinbar echten Diamanten schmückten ihre Ohren.

Die Details ihrer Erscheinung stimmten mit dem überein, was er bereits von ihrer Persönlichkeit kennengelernt hatte. Nora war einerseits ein Hightech-Typ, aber andererseits auch wirklich altmodisch. Hightech-Uhr, nostalgische Frisur. Sie war kompetent und verletzlich zugleich. Die Art, wie sie fuhr, wie sie jedes Straßenschild beachtete und sanft abbremste, war kompetent. Aber das mädchenhafte Shirt mit den kleinen Puffärmeln ließ sie verletzlich erscheinen. Sie war intelligent und konnte ironisch sein. Realistisch und vorsichtig. Und für all das fand man Hinweise an Ihrer äußeren Erscheinung, wenn man genau genug hinschaute.

Seit wann war Nora eigentlich so hübsch? Er erinnerte sich sehr gut, dass sie ihm eher unscheinbar vorgekommen war, als er ihr das erste Mal begegnet war. Aber jetzt? Jetzt war sie außergewöhnlich schön.

Verwirrt kniff er die Augen zusammen. Erschien sie ihm jetzt nur schöner, weil er sie besser kennengelernt hatte, weil er mehr davon gesehen hatte, wer sie war? Würden andere – auch Menschen, die sie gar nicht gut kannten – auch sagen, dass sie hübscher geworden war?

Er wusste es nicht.

Wenn sich irgendetwas an ihr verändert hatte, er hätte es nicht benennen können. Außer – Moment. Sie trug nicht mehr diese weiten, formlosen Klamotten. Bei der Katastrophenübung und auch noch bei ihren ersten Treffen hatte sie immer unförmige, weite Pullover getragen. Er hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr in solchen Pullovern oder in ihren wadenlangen Röcken gesehen. Oder doch?

Es war ja jetzt auch wärmer als vor ein paar Wochen. Vermutlich hatte sie einfach ihre Wintergarderobe weggepackt und würde sie erst im Herbst wieder hervorholen. Aber falls sie das täte, wäre es ein Verbrechen, denn die weiten Pullis und die Glockenröcke hatten eine ansehnliche Figur verhüllt.

Er lehnte den Kopf an die Nackenstütze und drehte ihn Richtung Seitenfenster. Der wolkenverhangene Mai war einem sonnigen Juni mit blauem Himmel, einem leichten Wind und milden Temperaturen gewichen. Es war Sommer geworden.

Ihre Fahrt würde sie durch Portland und durch einige größere Waldgebiete führen. Er kannte die Gegend und wusste, dass sie größtenteils durch hinreißende Landschaften fahren würden. In dieser Umgebung und mit Nora an seiner Seite, die ihn zum Schmunzeln brachte, erschien ihm seine Zukunft plötzlich nicht mehr ganz so düster.

Er war glücklich. Das wurde ihm ganz plötzlich bewusst. Und ihm wurde auch bewusst, dass es schon eine ganze Weile her war, seit er dieses Gefühl zum letzten Mal empfunden hatte. Um genau zu sein: Er hatte sich nicht mehr so glücklich und unbeschwert gefühlt, seit er an jenem Tag im Sprechzimmer seines Arztes gesessen hatte. In einem Raum mit gerahmten Urkunden an den Wänden, Bücherregalen und einem Miniaturglobus auf dem Schreibtisch. Und mit dieser Art von um Verzeihung bittender Direktheit seines Arztes, die John gehasst hatte.

Aber nichts davon hatte heute die Macht, ihn zu beherrschen. Heute – heute war er glücklich.

Blakeville lag im Schatten von Mount Bachelor, einem vulkanischen Dreitausender an der Ostseite der Bergkette der Kaskaden. Mount Bachelor – der „Junggeselle“ – war er genannt worden, weil er sich in einiger Entfernung zu drei als die „Drei Schwestern“ bekannten Gipfeln befand.

John dirigierte Nora mithilfe des Navis auf seinem Handy durch den historischen Teil von Blakeville zum Gerichtsgebäude. Nora steuerte den Wagen nach seinen Anweisungen. Aber es war nicht zu übersehen, dass es ihr nicht leichtfiel, den Anweisungen eines anderen zu folgen.

„Jetzt links“, sagte er.

„Links?“, fragte sie zweifelnd. „Okay.“

„Hinter der Ampel geradeaus.“

„Ist es das dort?“ Sie wies auf ein zweistöckiges Gebäude in einiger Entfernung. Ziegelornamente verzierten die Kanten, eine breite Treppe führte zum Eingang und davor flatterte eine Flagge im Wind.

„Ja, das ist es. Aber hier gibt es viele Einbahnstraßen, wir müssen jetzt erst mal geradeaus fahren.“

„Aha“, sagte sie, als hätte er ihr gerade eine unverschämte Lüge serviert. Als ob es für ihn ein Problem wäre, das Gerichtsgebäude von Blakeville zu finden. Als ob er nicht den größten Teil des dritten Ausbildungsabschnitts seines Navy-Trainings damit verbracht hätte, seine Navigationskünste zu Lande unter Beweis zu stellen.

„Sind Sie sonst immer die Kartenleserin?“, fragte er.

„Nein.“

„Doch, sind Sie.“

„Ja“, gestand sie zu. „Woher wissen Sie das?“

Zehn Minuten später hatten sie den Wagen geparkt und bereits Verzeichnisse in die Hand gedrückt bekommen, die darüber Auskunft gaben, was in welchen Gängen im Keller des Gerichtsgebäudes archiviert war. Noras Annahme hatte sich bewahrheitet. Sie befanden sich in den „Innereien“ des Gebäudes.

Sie erreichten die Ebene B2, und John hielt die Fahrstuhltür für Nora auf. Vor ihnen erstreckten sich weiß getünchte Betonwände und ein fleckiger robuster Bodenbelag. Metallregale beherbergten alles Mögliche – von Pappschachteln bis hin zu rostigem Abfall, den Nora vermutlich „Antiquitäten“ genannt hätte. Es roch staubig.

Dem Verzeichnis zufolge mussten sie an der Rückwand des Kellergeschosses suchen. Verblichene Schubladenschränke erhoben sich vom Fußboden bis zu einer hüfthohen Theke. Darüber befanden sich Ablagefächer mit Akten, Papierrollen und Stapeln von Dokumenten, deren Inhalt und Zweck man nur erahnen konnte.

Sie trennten sich und begannen, die Fächer zu durchsuchen.

„Hier!“, rief Nora nach einer Weile.

Er kam zu ihr.

Sie wies auf ein paar gebundene Aktenverzeichnisse mit schwarzer Beschriftung.

Auf der Fahrt hatten sie besprochen, wie sie vorgehen wollten. Zuerst würden sie nach Einträgen suchen, die etwas über alle Thompsons besagten, die zum Zeitpunkt von Deborahs Geburt, also vor etwa siebenundsiebzig Jahren, in Blakeville gewohnt hatten.

John überschlug kurz die Jahreszahlen und griff nach dem entsprechenden Aktenband. Nora kam von der anderen Seite, und als sie neben ihm stand, konnte er sich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Er nahm viel zu bewusst wahr, wie sie atmete. Spürte ihre Anwesenheit, spürte die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte. Plötzlich erschienen ihm diese Kellergänge unerträglich still. Nur die Neonleuchten über ihnen summten entsetzlich laut.

Der Index des Bandes informierte sie darüber, wie der Inhalt der Dokumente geordnet war. Es gab ein alphabetisches Einwohnerverzeichnis, eine Liste mit Straßennamen und Adressen, ein Verzeichnis aller Firmen und öffentlichen Einrichtungen sowie diverse Straßenkarten.

„Wollen Sie mir nicht sagen, was ich tun soll?“, fragte er Nora.

„Wie bitte? Ich soll Sie wie ein Schulkind behandeln?“ Sie lächelte. „Nicht im Traum.“

Er schlug das alphabetische Einwohnerverzeichnis auf und fuhr mit dem Daumen daran entlang bis zum Buchstaben T. In dem entsprechenden Jahr hatte es vier männliche Einwohner namens Thompson in Blakeville gegeben. John kniff die Augen zusammen und versuchte, zu verstehen, wie die Informationen angeordnet waren. Bei verheirateten Männern war der Geburtsname der Frau in Gedankenstrichen daneben notiert. Danach kam die Adresse.

Deborahs Eltern dürften zum Zeitpunkt ihrer Geburt verheiratet gewesen sein. John konzentrierte sich daher auf die Namen der drei verheirateten Thompsons und ihrer Frauen. Albert und Virginia Thompson. George und Ruth Thompson. Homer und Mary Thompson.

Nora beugte sich tiefer über die Akte, und dabei streifte ihr Arm kurz den seinen. Nichts. Es war doch gar nichts passiert.

Und doch spürte er eine Wärme von der Stelle ausgehen, an der Noras Arm ihn berührt hatte. Er atmete tief ein und langsam wieder aus.

Sie zog Notizblock und Stift aus ihrer Tasche. „Wollen Sie nicht der sein, der die entscheidende Entdeckung macht?“ Sie hielt ihm Block und Kuli hin.

„Wie wär’s, wenn ich suche und Sie schreiben?“, schlug er vor.

„Gute Idee.“

Er fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang, diktierte ihr die Namen und Adressen und Berufe, sodass Nora sie notieren konnte.

„Kinder sind nicht aufgeführt“, bemerkte John, als er fertig war. „Heißt das, dass all diese Leute keine Kinder hatten? Oder dass hier nur die Erwachsenen registriert wurden?“

„Dass nur die Erwachsenen registriert wurden.“ Nora lehnte sich an die Regale. „Nur alle zehn Jahre gibt es eine Volkszählung, die auch Kinder einbezieht.“ Sie kaute gedankenverloren auf ihrem Kugelschreiber. „Und die dabei erhobenen Daten werden zweiundsiebzig Jahre später für die Öffentlichkeit freigegeben. Die jüngste Volkszählung wurde vor etwa fünf Jahren offengelegt.“

„Sie wollen sagen, dass die Daten, die vor fünf Jahren öffentlich zugänglich gemacht wurden, etwa aus der Zeit um Deborahs Geburt stammen?“

Sie begegnete seinem Blick. „Ja. Wenn wir Glück haben, können wir Deborahs Daten finden, wo wir doch jetzt wissen, wonach wir suchen müssen.“ Sie wies auf die Namen, die sie auf ihrem Notizblock festgehalten hatte.

„Dann sollten wir uns das ansehen.“

„Haben wir hier unten Handyempfang?“ Beide zogen ihre Handys raus.

„Nicht mal einen einzigen Balken“, sagte er.

„Meins auch nicht. Kommen Sie.“ Sie griff nach ihrer gigantischen Tasche.

„Ernsthaft, Nora. Die sollten Sie nicht schleppen. Ich trage sie für Sie.“ Und das tat er auch, obwohl er sich jedes Mal, wenn er sich die Tasche mit den grün abgesetzten Nähten und dem grell pinkfarbenen Monogramm über die Schulter warf, wie ein Weichei vorkam. Sie stiegen ins Erdgeschoss des Gebäudes hinauf.

„Ich habe wieder Empfang.“ Nora ging zu einer Sitzbank vor der Wand der Eingangshalle. Der beigefarbene Marmorboden war so blank geputzt, dass John sein Spiegelbild darin betrachten konnte.

Sie setzten sich. Nora holte ihr Laptop hervor, stellte es auf ihre Knie und machte sich daran, die Daten der Volkszählung aufzurufen.

„Okay“, sagte sie, als sie die Namen des ersten der drei möglichen Thompson-Paare in das Suchfenster eingegeben hatte. „Wow. Irgendwie bin ich auf einmal nervös.“

„Warum?“

„Vielleicht trifft ,nervös‘ es nicht ganz. Aufgeregt wäre zutreffender. Dies ist ein großer Moment. Sind Sie bereit?“

„Bereit.“

Sie klickte auf Suche. John konzentrierte sich auf die Ergebnisse, die der Bildschirm anzeigte: seitenweise handschriftliche Einträge in vorgegebenen Formularen. Nora scrollte durch die Seiten, bis sie den gesuchten Eintrag fand: Albert und Virginia Thompson. Keine Kinder.

Sie startete eine neue Suche: George und Ruth Thompson. Die hatten fünf Kinder. John las die Namen des Erstgeborenen, Nora stimmte in die der restlichen vier Kinder mit ein.

Aber keines der Kinder hieß Deborah. Nur noch ein Paar blieb übrig. Vielleicht hatte Sue sich aber auch geirrt und Deborah stammte gar nicht aus Blakeville? Oder Deborahs Familie war erst nach der Volkszählung in die Stadt gezogen. Oder Sue hatte Deborahs Alter nicht mehr richtig in Erinnerung gehabt …

Nora gab die Namen des letzten Paares ein: Homer und Mary Thompson. Es gab drei Kinder: „Lukas“, lasen John und Nora. „Kenneth und Deborah.“

Johns Blick war auf den Bildschirm von Noras Laptop fixiert. Genauer gesagt auf die ordentlichen kursiv geschriebenen Buchstaben, die klar und deutlich Deborah zu erkennen gaben.

„Uff!“, seufzte Nora, und ihre Anspannung löste sich zunehmend.

John starrte weiter auf den Bildschirm.

„Wochenlang sind wir überhaupt nicht weitergekommen“, bemerkte Nora. „Aber jetzt! Das hier … das ist bahnbrechend. Solche Entdeckungen sind das, was ich an meinem Job am meisten liebe.“

„Ich kann noch gar nicht glauben, dass wir sie tatsächlich gefunden haben.“

„Glauben Sie es ruhig.“ Sie strahlte ihn an.

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, hielt inne, strich dann das Haar ganz zurück. „Erinnern Sie sich noch an die Geburtsurkunde und daran, welchen Namen Sherry mir gegeben hatte?“

„Mark Lukas Thompson, oder?“

„Lukas ist der Name von Deborahs Bruder.“

Nora warf einen Blick auf den Eintrag. „Ja, stimmt.“

Sie ließen diese Information auf sich wirken.

„Mütter geben ihren Kindern oft Namen, die ihnen selbst etwas bedeuten“, sagte Nora.

„Dann ist Lukas möglicherweise Sherrys Vater. Was bedeuten würde, dass Deborah tatsächlich Sherrys Tante ist.“

„Vielleicht. Könnte sein. Möglicherweise. Kommt natürlich ganz darauf an, was die Daten sagen.“ Auf Noras Wangen zeigte sich ein kleines Grübchen. „Zum Zeitpunkt dieser Volkszählung war Homer Thompson sechsundzwanzig, Mary fünfundzwanzig, Lukas war fünf und Kenneth drei. Und Deborah war zehn Monate alt. Homer war Uhrmacher.“ Sie fügte die neuen Details der Liste auf ihrem Notizblock hinzu.

Sie wussten noch immer nicht sicher, in welcher Beziehung Sherry zu all diesen Menschen gestanden hatte. Aber allmählich ergab sich ein Bild, das es immer wahrscheinlicher machte, dass John mit diesen Menschen verwandt war. „Die Adresse von Homer und Mary ist hier dieselbe, die auch in den Verzeichnissen des Stadtarchivs stand“, bemerkte John. „Unter der Spalte ,Eigentümer/Mieter‘ ist ein M notiert. Dann waren sie vermutlich Mieter.“

„Ja, sieht so aus.“

„Würde ein Blick ins Grundbuch uns hier weiterhelfen?“

„Wenn sie Mieter waren, eher nicht. Ich denke, wir sollten lieber noch mal ins Archiv gehen und versuchen, Mary und Homer in den dortigen Unterlagen zu verfolgen. Dann wissen wir, ob sie in Blakeville geblieben sind. Und hoffentlich werden wir auch Spuren ihrer Kinder entdecken, als diese erwachsen waren.“

John trug Noras Tasche zurück in die Innereien des Gerichtsgebäudes.

Die Einwohnerverzeichnisse von Blakeville deckten den Zeitraum zwischen 1936 und 1960 ab. John und Nora fingen an, sich durch die Unterlagen durchzuarbeiteten. Homer und Mary waren in jedem entsprechenden Jahrgang vertreten. Sie waren ein paarmal umgezogen, aber sie hatten Blakeville nie verlassen. John und Nora waren nach dem fünfzehnten Band nun bei dem Zeitraum angekommen, als Lukas Thompson alt genug gewesen wäre, um im Einwohnerverzeichnis erwähnt zu werden. Aber da kündigte eine Stimme aus dem Lautsprecher an, dass das Gerichtsgebäude in zehn Minuten schließen würde.

Jetzt schon? John warf einen Blick auf seine Armbanduhr und stellte überrascht fest, dass es schon zehn vor fünf war. Die verbleibenden zehn Minuten würden sie brauchen, um die Akten wieder in die entsprechenden Fächer zu bringen.

„Wenn wir morgen wiederkommen, können wir die restlichen Dokumente durchsehen“, sagte Nora.

„Gut, dass ich Zimmer für uns gebucht habe.“

„Weise Voraussicht, John.“

„Oh, vielen Dank, Nora.“ Sie reichte ihm die Unterlagen, und er platzierte sie in den richtigen Fächern. „Haben Sie Hunger?“

„Mächtig.“

„Sobald wir im Hotel eingecheckt haben, organisiere ich etwas zu essen für uns.“

Ich hab das nicht gesagt, weil ich noch länger mit ihr zusammen sein will, sagte er sich selbst. Nein, das konnte überhaupt nicht der Grund sein. Sie zum Essen einzuladen, war schließlich das Mindeste, was er tun konnte. Es war nicht mehr als angemessen und höflich.

Sie drehte sich zu ihm und sah ihn an. Der Blick traf ihn mit der Wucht eines Stromschlags, dessen Energie sich jedoch gut anfühlte.

„Hört sich gut an“, sagte sie.

•••

Facebook-Nachricht von Duncan an Nora:

DUNCAN: Arbeitest du noch? Du weißt doch, dass es heißt: „Arbeit allein macht auch nicht glücklich.“

NORA: Ich möchte dich wissen lassen, dass ich gerade mitten in einem Abenteuer stecke! Ich sitze in meinem Auto – an einer Tankstelle irgendwo in den Randbezirken von Blakeville, Oregon. Mein Navy-Held besteht darauf vollzutanken, bevor wir gleich zu unserem Hotel fahren. Dabei ist der Tank noch gar nicht leer. Das ist eben seine Art von Charme.

DUNCAN: Ist diese Spritzfahrt beruflich oder privat? Ich meine, mich erinnern zu können, dich gewarnt zu haben: Verguck dich nicht in einen Navy-Typen.

NORA: Spritzfahrt ist rein beruflich. Wir verfolgen nur eine heiße Spur in einer Familienangelegenheit.

DUNCAN: Wenn du mich jetzt sehen könntest, wüsstest du, dass ich die Stirn runzele.

NORA: Ich bin nicht nur auf einer Spritztour, ich stecke auch mitten in den Vorbereitungen für den achtzigsten Geburtstag meiner Großmutter. Muss eine Einladung entwerfen. Und diese Einladung muss absolut makellos sein. So viel dazu, werter Publikumsliebling! Ich bin sehr gefragt. Was sagst du dazu?

DUNCAN: Bin zutiefst beeindruckt. Mail mir ein Bild der Einladung, wenn du sie fertig hast. Ich bewundere gern deine Makellosigkeit.

NORA: Dein Wunsch ist mir Befehl! Jetzt mach ich besser Schluss. Mein Navy-Held ist zurück.

DUNCAN: Noch kurz: Hast du auf meiner Webseite gesehen, dass ich in der Folge am nächsten Dienstag dabei bin?

NORA: Oh, danke für den Hinweis! Du kannst auf mich zählen, Duncan. Ich bin dabei. Und ich werde so viele Fans rantrommeln, wie ich nur kann. Cheerio!

•••

Zitat aus Uncommon Courage:

„Ich habe begriffen, dass ich ehrlich mit mir selbst sein muss. In der Grundausbildung für die Elitetruppe gab es keinen Raum fürs Ego oder für Vermutungen, Wünsche oder Selbsttäuschung. Wenn ich das durchstehen wollte, musste ich es aufgrund dessen tun, was von meinem wirklichen Charakter übrig war, wenn man all die oberflächlichen Schichten dessen, was ich für mich selbst gehalten hatte, entfernt hatte.“