Dieses Buch ist Oliver und Emma gewidmet.
Ich fühle mich geehrt, eure Mutter zu sein.
Ihr inspiriert mich jeden Tag.
Vorwort
1
EINLEITUNG
Ein neuer Blick auf Kleinkinder
Was ich an Kleinkindern liebe
Was wir über Kleinkinder wissen müssen
Kleinkinder nach Montessori erziehen
Dieses Buch optimal nutzen
2
WAS IST MONTESSORI?
Eine kurze Geschichte der Montessori-Pädagogik
Herkömmliche Pädagogik und Montessori-Pädagogik im Vergleich
Einige Montessori-Prinzipien
3
MONTESSORI-AKTIVITÄTEN FÜR KLEINKINDER
Montessori-Aktivitäten für eine ganzheitliche Entwicklung
Was macht eine Montessori-Aktivität aus?
Wie man dem Kind eine Aktivität zeigt
Allgemeine Grundprinzipien
Wie man eine Aktivität vorbereitet
Arten von Aktivitäten
Eine Anmerkung zum Spielen im Freien und in der Natur
Montessori-Pädagogik und Spielzeug
4
DAS ZUHAUSE EINRICHTEN
Räume im Montessori-Stil gestalten
Raum für Raum
Allgemeine Grundprinzipien
Die Bedeutung der häuslichen Umgebung
Führung durch ein Montessori-Zuhause
5
EIN NEUGIERIGES KIND AUFZIEHEN, DAS SICH WAHRGENOMMEN FÜHLT
TEIL EINS
Bei unserem Kind Neugier fördern
TEIL ZWEI
Unser Kind so akzeptieren, wie es ist
6
KOOPERATION UND VERANTWORTUNG FÖRDERN
TEIL EINS
Kooperation fördern
TEIL ZWEI
Grenzen setzen
7
DIE PRAKTISCHE UMSETZUNG
TEIL EINS
Täglich wiederkehrende Abläufe
TEIL ZWEI
Mit Veränderungen umgehen
TEIL DREI
Nützliche Kompetenzen für unsere Kleinkinder
8
AUFGABEN DES ERWACHSENEN
Vorbereitung des Erwachsenen
Körperliche Selbstfürsorge
Eine lernorientierte Geisteshaltung fördern
Dem Tag einen Anfang und ein Ende geben
Präsenz üben
Beobachtung
Die emotionalen Batterien aufladen
Entschleunigen
Der Führer des Kindes sein
Unser Zuhause als Hilfe nutzen
Ehrlich sein
Verantwortung für unser Leben und unsere Entscheidungen übernehmen
Aus unseren Fehlern lernen
Feiern, wo wir stehen
Selbstwahrnehmung
Immer weiter üben
9
ZUSAMMENARBEITEN
Was ist mit allen anderen?
Eltern sind auch Menschen
Ein Elternteil wird bevorzugt
Der Schlüssel zur Kooperation in der Familie
Die Familie mit ins Boot holen
Für Großeltern und Betreuungspersonen
Konflikte in der Familie
Scheidung muss kein schmutziges Wort sein
10
SO GEHT ES WEITER
Auf Kindergarten/Schule vorbereiten
Die nächsten Jahre
Es ist Zeit für eine andere Pädagogik
Es ist Zeit für Frieden
BERICHTE AUS DER PRAXISEINBLICKE IN DAS LEBEN VON MONTESSORI-FAMILIEN
Australien
Mongolei
Kanada
USA
Meine Familie
Mein Gruppenraum
WEITERFÜHRENDE LEKTÜRE
Bücher und Vorträge von Maria Montessori
Bücher über Montessori-Pädagogik
Erziehungsratgeber
Bücher zur persönlichen Entwicklung
DANKSAGUNGEN
ANHANG
Nicht dies, sondern das sagen
Bezugsquellen für Montessori-Materialien und -Möbel
Über Montessori-Einrichtungen
Gefühle und Bedürfnisse
Liste von Montessori-Aktivitäten für Kleinkinder
Index
»Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen«, so hat Maria Montessori gesagt. Kinder auf ihrem Weg beim Aufwachsen begleiten zu dürfen gehört zu den spannendsten Erfahrungen unseres Lebens. Es erfüllt uns mit unglaublicher Liebe, unseren Säugling das erste Mal lächeln zu sehen. Voller Stolz halten wir unserem Kleinkind die Arme entgegen, um es nach den ersten wackeligen Schritten sicher aufzufangen. Das erste deutliche Wort ist für die meisten Eltern ein bewegender und unvergesslicher Moment. Das Leben mit Kleinkindern bietet jeden Tag ebenso viele Glücksmomente wie Abenteuer und Herausforderungen. Verzweifelt versuchen wir zu verstehen, warum unser Kind nicht schlafen will, warum es phasenweise immer wieder extrem anhänglich ist oder warum es schon wieder vollkommen verzweifelt in einem Wutanfall gefangen ist.
Dieses wunderbare Buch von Simone Davies wird dich auf ganz wundervolle Weise deinem Kleinkind näher bringen. Es begleitet Eltern in den ersten Lebensjahren und zeigt, wie wir auf liebevolle Weise die Entwicklung unserer Kinder unterstützen können, indem wir für sie ein anregendes Umfeld schaffen, ihre vollkommen natürliche Entwicklung begleiten und ihre Gefühle ernst nehmen. Die Montessori-Pädagogik basiert darauf, Kindern eine geeignete Lernumgebung zu bieten, in der sie ganz frei ihrem angeborenen Entdeckerdrang nachgehen können. In der sie abwechslungsreiche Möglichkeiten angeboten bekommen, sich mühelos Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen, ohne dass wir ihnen etwas aktiv beibringen müssten. Maria Montessori war der Auffassung, das Leben anzuregen – und es sich dann frei entwickeln zu lassen –, hierin liege die erste Aufgabe des Erziehens.
Mit diesem Buch wird uns Eltern auf einfache und anschauliche Art und Weise die faszinierende Welt der Montessori-Pädagogik für Kleinkinder eröffnet. Wir erfahren, wie eine ideale Lernumgebung geschaffen werden kann und wie wir die sogenannten sensiblen Phasen, in denen Kinder besonders empfänglich für bestimmte Lernbereiche sind, erkennen und unterstützen können. Dabei geht es nicht darum, Kinder bestmöglich zu fördern, um schnell eine hohe Leistungsfähigkeit zu erreichen, sondern vielmehr ihre natürliche Entwicklung angemessen zu begleiten. Simone Davies eröffnet eine positive Sicht auf das Kind, auch bei Wutanfällen und anderen Herausforderungen, und bietet eine Fülle von Tipps und Informationen für eine liebevolle Förderung der natürlichen Kompetenzen unserer kleinen Entdecker.
Kinder haben ein ganz natürliches inneres Streben nach Unabhängigkeit; gleichzeitig ist es ihnen wichtig, ein wertvolles Mitglied für die Gemeinschaft zu sein. In diesem Buch findest du zahlreiche Ideen und Vorschläge, wie du diese Grundbedürfnisse erfüllen kannst. Es enthält außerdem zahlreiche Anregungen für Spiele und gemeinsame Interaktionen, mit denen du die natürliche Lust deines Kindes am Lernen erhältst. Dies gelingt am besten, wenn wir Eltern wissen, an welchen Gegenständen und Aktivitäten unsere Kinder in welchem Alter am meisten Interesse haben. In einem anregenden Umfeld können Kinder so ihre Fähigkeiten kreativ, künstlerisch und spielerisch entfalten. Dabei steht immer das Kind selbst im Mittelpunkt, denn Maria Montessori war der Meinung: »Eine unnötige Hilfe ist nur eine Hürde für die Entwicklung.«
Ebenso wichtig wie ein anregendes Umfeld ist die Art und Weise, wie Eltern mit ihrem Kind umgehen. Ein Kind will bedingungslos geliebt werden. Das bedeutet, dass wir unser Kind so annehmen, wie es ist. Dass wir ihm das Gefühl geben, wichtig für uns zu sein, und dass es dazugehört. Simone Davies macht bewusst, wie wichtig es ist, den Umgang mit Gefühlen zu begleiten.
Sie gibt zahlreiche Anregungen, wie wir die Kooperationsbereitschaft unserer Kinder fördern, und erklärt, warum eine gewaltfreie Kommunikation dazu beiträgt, zu einer gemeinsamen Problemlösung zu finden. Auch wenn eine Erziehung von förderlicher Freiheit geprägt ist, wird es doch immer wieder notwendig sein, Kindern Grenzpunkte zu setzen. Diese ohne Strafen und Drohungen deutlich zu machen ist eine der größten erzieherischen Herausforderungen. Das Durchsetzen dieser Begrenzungen kann bei kleinen Kindern immer wieder zu Wutanfällen führen, und oft genug bei größeren auch. Nicht nur für diese Situationen bekommen Eltern praktische Tipps an die Hand, auch für alle anderen wichtigen Themen der Kleinkindphase finden sie Anregungen, gelassen im Alltag zu bleiben.
Auf dich wartet ein kunterbunter Bausteinkasten mit vielfältigen Anregungen, Ideen und Lösungen, die das Leben mit deinem Kleinkind bereichern werden – genieße die unvergessliche und wunderbare Kleinkinderzeit!
Und denke immer daran: »Erziehung ist Vorbild sein und sonst nichts als Liebe« (Maria Montessori).
Danielle Graf und Katja Seide
1
Kleinkinder sind missverstandene Menschen. Sie gelten als schwierig. Es gibt wenige gute Beispiele für einen liebevollen, geduldigen und konstruktiven Umgang mit ihnen.
Sie fangen an zu laufen und die Welt zu sondieren; sie lernen gerade erst, mit Sprache zu kommunizieren, und sie haben noch nicht allzu viel Impulskontrolle. Es fällt ihnen schwer, in Cafés und Restaurants still zu sitzen – sie sehen einen großen, offenen Platz und rennen los. Sie haben Trotzanfälle, oft zu den ungünstigsten Zeitpunkten und an den ungünstigsten Orten, und sie fassen alles an, was interessant aussieht.
Sie werden als die »terrible twos« bezeichnet. Sie hören nicht auf uns. Sie werfen alles durch die Gegend. Sie schlafen nicht/essen nicht/benutzen nicht die Toilette.
Als meine Kinder klein waren, hat es sich nicht richtig angefühlt, sie durch Drohungen, Bestechungen und Auszeiten zur Kooperation zu bewegen, aber es war schwierig, Alternativen zu finden.
Als mein erstes Kind noch sehr klein war, hörte ich im Radio ein Interview. Der Gast sprach über die negativen Auswirkungen von sogenannten Auszeiten: Das Kind werde entfremdet, wenn es Unterstützung brauche, es entwickle ungute Gefühle in Bezug auf den Erwachsenen, statt Hilfe dabei zu erhalten, Dinge wiedergutzumachen. Ich wartete gespannt darauf, dass der Gast Empfehlungen geben würde, was wir stattdessen tun könnten. Aber das Interview endete an diesem Punkt. Seither sehe ich es als meine Aufgabe an, meine eigenen Antworten zu finden.
Als junge Mutter betrat ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Montessori-Einrichtung in Sydney – und verliebte mich sofort. Die Umgebung war so sorgfältig eingerichtet, die Betreuerinnen waren so zugewandt und sprachen so respektvoll mit unserem Baby (und uns), dass wir uns in die Warteliste für die Kleinkindgemeinschaft eintrugen und am Eltern-Kleinkind-Unterricht teilnahmen.
In diesem Unterricht lernte ich sehr viel über das Montessori-Konzept und unsere toddler, unsere Kleinkinder im Alter zwischen einem und drei Jahren. Sie gedeihen in einer Umgebung, die sie herausfordert. Sie wollen verstanden werden, sie nehmen ihre Umgebung auf wie ein Schwamm. Ich stellte fest, dass es mir leichtfiel, mit Kleinkindern eine Beziehung aufzubauen. Ich verstand ihren Blickwinkel, und ihre Art zu lernen faszinierte mich. Es war ein Glück für mich, dass ich den Unterricht als Assistentin der Montessori-Pädagogin Ferne van Zyl begleiten durfte.
Meine eigentliche Montessori-Ausbildung erhielt ich dann 2004 in Amsterdam bei der Association Montessori Internationale, und als wir Sydney den Rücken kehrten und uns ganz in Amsterdam niederließen, stellte ich überrascht fest, dass es an unserem neuen Wohnort keinen Montessori-Unterricht für Eltern und Kinder gab. Also gründete ich bald mein eigenes Kinderhaus, Jacaranda Tree Montessori, wo ich Eltern-Kind-Klassen leite und Familien helfe, ihre Kleinkinder auf eine neue Art zu sehen und den Montessori-Ansatz in ihren Alltag zu integrieren.
Ich lerne immer noch von den fast tausend Kleinkindern und Eltern, die mir in den vielen Unterrichtsjahren begegnet sind. Ich habe an einem Lehrertraining zu positiver Disziplin teilgenommen und gewaltfreie Kommunikation gelernt. Ich lese immer noch unzählige Bücher, spreche mit Lehrkräften und Eltern und höre mir Radiosendungen und Podcasts an. Und ich habe von meinen eigenen Kindern gelernt, die von Kleinkindern zu Teenagern herangewachsen sind.
Ich möchte das, was ich gelernt habe, mit allen Eltern teilen, die einen intensiven und anderen Umgang mit ihren Kindern suchen. Ich möchte das Montessori-Konzept in eine einfache, leicht verständliche Sprache übersetzen. Durch den Kauf dieses Buchs hast du auf deiner Reise hin zu einem neuen Umgang mit deinem Kleinkind den ersten Schritt getan – unabhängig davon, ob dein Kind später eine Montessori-Schule besuchen wird oder nicht.
Ich gebe dir die Werkzeuge an die Hand, die dir helfen werden, mit deinem Kind zusammenzuarbeiten, es anzuleiten und zu unterstützen, besonders wenn es gerade Schwierigkeiten hat. Du lernst, dein eigenes Zuhause einzurichten, das Chaos zu beseitigen und Ruhe in dein Familienleben zu bringen. Einen »Ja«-Raum einzurichten, den dein Kind frei auskundschaften kann. Und du wirst am Ende selbst in deinem Zuhause Montessori-Aktivitäten anbieten können, die genau richtig für deinen toddler, für dein Kleinkind sind.
Das alles geschieht nicht innerhalb eines Tages. Und es geht auch nicht darum, einen kompletten Montessori-Gruppenraum in deinem Heim nachzubauen. Du kannst klein anfangen – mit dem arbeiten, was schon vorhanden ist, ein paar Spielsachen wegräumen und sie abwechselnd anbieten, die Kinder beobachten, während sie ihren Interessen nachgehen.
Ich hoffe, dir zeigen zu können, dass es eine andere, friedvollere Möglichkeit gibt, mit Kleinkindern umzugehen. Ich möchte dir helfen, den Grundstein für das Aufziehen eines neugierigen und verantwortungsvollen Menschen zu legen, ich möchte dir helfen, an einer Beziehung zu deinem Kind zu arbeiten, auf der du noch jahrelang aufbauen kannst, und ich möchte dir helfen, die Gedanken und Ideen der Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori jeden Tag umzusetzen.
Es ist Zeit, zu lernen, die Welt mit den Augen unserer Kinder zu sehen.
Die meisten Montessori-Lehrkräfte arbeiten am liebsten mit einer bestimmen Altersgruppe. Für mich ist es das Kleinkindalter, also das Alter zwischen einem und drei Jahren. Viele Leute wundern sich über diese Vorliebe. Kleinkinder können harte Arbeit mit sich bringen. Sie sind emotional und hören nicht immer auf uns.
Ich möchte ein neues Bild von unseren Kleinkindern zeichnen.
Kleinkinder leben im Hier und Jetzt. Mit einem Kleinkind die Straße entlangzugehen kann etwas Herrliches sein. Während wir in Gedanken auflisten, welche Besorgungen wir noch machen müssen und was wir zum Abendessen kochen wollen, bleiben sie in der Gegenwart und entdecken die Pflänzchen, die aus den Ritzen des Asphalts wachsen.
Wenn wir Zeit mit einem Kleinkind verbringen, zeigt es uns, wie wir in der Gegenwart bleiben können. Es ist auf das Hier und Jetzt konzentriert.
Kleinkinder nehmen Dinge mühelos auf. Maria Montessori stellte fest, dass Kinder unter 6 Jahren alles mühelos aufnehmen – so wie ein Schwamm Wasser aufnimmt. Sie bezeichnete das als den absorbierenden Geist.
Wir müssen einem Einjährigen nicht Grammatik oder Satzbau beibringen. Als Dreijähriger hat er schon einen erstaunlichen Wortschatz und lernt, einfache (und manchmal schon komplizierte) Sätze zu konstruieren. Im Vergleich dazu ist für uns Erwachsene das Erlernen einer Fremdsprache sehr anstrengend.
Kleinkinder sind sehr kompetent. Wie kompetent sie von klein auf sind, wird uns oft erst klar, wenn wir selbst Eltern geworden sind. Mit ungefähr 18 Monaten bemerken sie vielleicht schon lange vor der Ankunft, dass wir auf dem Weg zu Oma sind, weil sie unterwegs Dinge wiedererkennen, auf die wir nicht geachtet haben. Wenn sie in einem Buch einen Elefanten sehen, laufen sie zum Spielzeugkorb und suchen einen Elefanten.
Wenn wir unser Zuhause kleinkindgerechter einrichten, übernehmen sie eifrig, kompetent und voller Freude Aufgaben. Sie wischen Verschüttetes auf, holen die Windel füs Baby, werfen ihren Abfall in den Mülleimer, helfen uns bei der Essenszubereitung und ziehen sich gern allein an.
Eines Tages kam ein Handwerker zu uns, um etwas zu reparieren. Ich werde nie seinen Gesichtsausdruck vergessen, als er sah, wie unsere damals knapp zweijährige Tochter an ihm vorbei ins Schlafzimmer ging, sich umzog, schmutzige Kleider in den Wäschekorb steckte und dann zum Spielen ging. Es überraschte ihn offensichtlich, was sie schon alles alleine tun konnte.
Kleinkinder sind unschuldig. Ich glaube nicht, dass irgendein Kleinkind auch nur eine bösartige Faser im Leib hat. Wenn Kinder ein anderes Kind mit einem Spielzeug spielen sehen, denken sie vielleicht einfach: Ich möchte jetzt damit spielen, und nehmen es dem anderen Kind weg. Sie tun Dinge, um eine bestimmte Reaktion zu erzielen, werfen zum Beispiel einen Becher hinunter, um die Reaktion der Eltern zu sehen, oder sind frustriert, weil etwas nicht nach ihren Wünschen gelaufen ist.
Aber sie sind nicht boshaft, tückisch oder rachsüchtig. Sie sind einfach impulsiv und folgen ihren spontanen Bedürfnissen.
Kleinkinder sind nicht nachtragend. Man stelle sich ein Kleinkind vor, das auf dem Spielplatz bleiben will, obwohl es Zeit zum Gehen ist. Es rastet aus, und der Wutanfall kann sogar eine halbe Stunde dauern. Aber sobald es sich, manchmal mit Unterstützung, wieder beruhigt hat, ist es wieder fröhlich und neugierig – im Gegensatz zu Erwachsenen, die mit dem falschen Fuß aufstehen und den ganzen Tag schlecht gelaunt sein können.
Kleinkinder sind auch erstaunlich versöhnungsbereit. Manchmal tun wir das Falsche – wir verlieren die Beherrschung, vergessen, eine Zusage einzuhalten, oder sind einfach schlecht gelaunt. Wenn wir uns bei unserem Kleinkind entschuldigen, geben wir ihm ein Vorbild in Bezug auf Wiedergutmachung, und wahrscheinlich umarmt es uns oder überrascht uns mit einem besonders freundlichen Wort. Wenn wir diese solide Basis mit unseren Kindern haben, sorgen sie für uns, wie wir für sie sorgen.
Kleinkinder sind authentisch. Ich verbringe sehr gerne Zeit mit Kleinkindern, weil sie direkt und ehrlich sind. Ihre Authentizität ist ansteckend. Sie sagen, was sie meinen. Sie tragen das Herz auf der Zunge.
Wer schon einmal Zeit mit Kleinkindern verbracht hat, weiß, dass sie imstande sind, im Bus auf jemanden zu zeigen und laut zu sagen: »Der Mann hat keine Haare.« Während wir am liebsten im Erdboden versinken würden, zeigt unser Kind keinerlei Anzeichen von Verlegenheit.
Diese Direktheit macht es sehr einfach, mit ihnen zusammenzusein. Es gibt keine Psychospielchen, keine verborgenen Motive, keine Strategien.
Sie sind einfach sie selbst, zweifeln nicht an sich und urteilen nicht über andere. Wir täten gut daran, von ihnen zu lernen.
Kleinkinder müssen »Nein« sagen. Eine der wichtigsten Entwicklungsphasen, die ein Kleinkind durchläuft, ist die »Krise der Selbstwahrnehmung«. Zwischen 18 Monaten und drei Jahren erkennen Kinder, dass ihre Identität sich von der ihrer Eltern unterscheidet. Sie beginnen, sich mehr Eigenständigkeit zu wünschen. Gleichzeitig fangen sie an, »Nein« zu sagen und das Personalpronomen »ich« zu verwenden.
Diese Entwicklung in Richtung Unabhängigkeit ist nicht einfach. An manchen Tagen stoßen sie uns weg und wollen alles allein tun, an anderen Tagen weigern sie sich ebenso vehement, irgendetwas allein zu tun, oder klammern sich an uns.
Kleinkinder müssen in Bewegung sein. Wie Tiere nicht in Käfige eingesperrt sein wollen, sitzen auch unsere Kleinkinder nicht lange still. Sie wollen die Bewegung beherrschen. Sobald sie stehen können, wollen sie auch schon gehen und klettern. Sobald sie gehen können, wollen sie rennen und schwere Gegenstände bewegen – je schwerer, desto besser. Es gibt sogar einen Namen für den Wunsch, sich selbst in höchstem Maße herauszufordern, zum Beispiel durch das Tragen großer Gegenstände, schwerer Taschen oder Möbelstücke: maximale Anstrengung.
Kleinkinder müssen ihre Umgebung erkunden und entdecken. Die Montessori-Pädagogik empfiehlt uns, diesen Forscherdrang zu akzeptieren und die Räume so einzurichten, dass unsere Kinder sie sicher erforschen können, sie in Alltagsaktivitäten einzubeziehen, die alle Sinne ansprechen, und ihnen zu erlauben, die freie Natur zu erkunden. Sie in der Erde graben, im Gras die Schuhe ausziehen, mit Wasser spritzen und im Regen herumlaufen lassen.
Kleinkinder brauchen Freiheit. Diese Freiheit hilft ihnen, voller Neugier zu lernen, Dinge selbst zu erfahren, Entdeckungen zu machen und das Gefühl zu haben, dass sie die Kontrolle über sich selbst besitzen.
Kleinkinder brauchen Grenzen. Diese Grenzen sorgen für ihre Sicherheit, lehren sie, andere und ihre Umgebung zu respektieren, und helfen ihnen, verantwortungsvolle Menschen zu werden. Grenzen helfen auch dem Erwachsenen, einzuschreiten, bevor eine Grenze überschritten wird, um allzu vertraute Phänomene wie Brüllen, Zorn und Schuldzuweisungen zu vermeiden. Die Montessori-Pädagogik ist weder permissiv noch autoritär. Vielmehr lehrt sie Eltern, ruhige Führer für ihre Kinder zu sein.
Kleinkinder brauchen Ordnung und Einheitlichkeit. Kleinkindern ist es am liebsten, wenn alles jeden Tag gleich ist – wenn es jeden Tag dieselben Abläufe gibt, alles am selben Ort zu finden ist und täglich dieselben Regeln gelten. Das hilft ihnen, zu verstehen, ihre Welt zu interpretieren und zu wissen, was sie zu erwarten haben.
Wenn Grenzen nicht verlässlich sind, testen Kleinkinder sie aus, um herauszufinden, wie wir uns heute entscheiden. Wenn sie feststellen, dass Quengeln oder Wutanfälle funktionieren, versuchen sie es wieder. Das wird als intermittierende Verstärkung bezeichnet.
Wenn wir dieses Bedürfnis verstehen, können wir geduldiger und verständnisvoller sein. Und wenn wir nicht jeden Tag dasselbe bieten können, können wir vorhersehen, dass sie möglicherweise zusätzliche Unterstützung brauchen. Wir halten sie nicht für dumm, sondern können ihre Perspektive verstehen, aus der die Dinge nicht so sind, wie sie es sich erhofft haben. Wir können ihnen unsere Hilfe anbieten, um sich zu beruhigen und eine Lösung zu finden.
Kleinkinder machen es uns nicht schwer. Sie durchlaufen selbst eine schwierige Zeit. Mir gefällt die Vorstellung, die der Pädagogin Jean Rosenberg in einem Artikel der New York Times zugeschrieben wird: »Trotzanfälle als Notsignal, nicht als Widerstand sehen.« Wenn wir uns klarmachen, dass ihr schwieriges Verhalten ein Hilfeschrei ist, können wir uns fragen: Wie kann ich in diesem Augenblick helfen? Wir fühlen uns nicht mehr angegriffen, sondern suchen nach einer Möglichkeit, sie zu unterstützen.
Kleinkinder sind impulsiv. Der Teil des Gehirns, in dem unsere Zentren für Selbstkontrolle und Entscheidungsfindung angesiedelt sind, der präfrontale Kortex, entwickelt sich noch, und zwar über die nächsten zwanzig Jahre hinweg. Das bedeutet, dass wir unsere Kinder führen müssen, wenn sie wieder auf den Tisch klettern oder jemandem etwas aus der Hand reißen, und geduldig sein müssen, wenn sie emotional werden. Ich formuliere es gerne so: »Wir müssen ihr präfrontaler Kortex sein.«
Kleinkinder brauchen Zeit, um das, was wir sagen, zu verarbeiten. Statt unseren Kindern immer wieder zu sagen, dass sie ihre Schuhe anziehen sollen, können wir im Geiste bis zehn zählen, um ihnen Zeit zu geben, unsere Aufforderung zu verarbeiten. Oft fangen sie an, zu reagieren, wenn wir bei acht sind.
Kleinkinder müssen kommunizieren. Unsere Kinder versuchen auf viele Arten, mit uns zu kommunizieren. Babys glucksen und wir können zurückglucksen. Jüngere Kleinkinder brabbeln und wir können Interesse daran zeigen. Ältere Kleinkinder lieben es, Fragen zu stellen und zu beantworten, und wir können schon mit diesen kleinen Kindern in einer natürlichen Sprache kommunizieren. Sie werden sie wie ein Schwamm aufsaugen.
Kleinkinder lieben es, Dinge zu beherrschen. Kleinkinder lieben es, Dinge so lange zu wiederholen, bis sie sie beherrschen. Wir können sie dabei beobachten und feststellen, woran sie arbeiten. Normalerweise ist es etwas, was schwierig genug ist, um eine Herausforderung zu sein, aber nicht so schwierig, dass sie daran scheitern. Sie wiederholen es immer wieder, bis sie es perfektioniert haben. Sobald sie es beherrschen, wenden sie sich etwas anderem zu.
Kleinkinder lieben es, etwas beizutragen und Teil der Familie zu sein. Sie scheinen sich mehr für die Gegenstände, die ihre Eltern verwenden, als für ihre eigenen Spielsachen zu interessieren. Sie arbeiten wirklich gern mit uns zusammen, wenn wir das Essen zubereiten, die Wäsche machen, uns auf Gäste vorbereiten und Ähnliches. Wenn wir mehr Zeit einplanen, alles so vorbereiten, dass sie es bewältigen können, und unsere Erwartungen in Bezug auf das Ergebnis reduzieren, lehren wir unseren Kindern eine Menge darüber, was es heißt, ein aktives Familienmitglied zu sein. Darauf bauen sie auf, wenn sie ins Schulalter und in die Pubertät kommen.
Als mein Interesse an der Montessori-Pädagogik erwachte, hätte man es vielleicht für oberflächlich halten können. Ich fühlte mich zu den Montessori-Umgebungen und -aktivitäten hingezogen. Und ich wollte meinen eigenen Kindern schöne, anregende Materialien und Räume bereitstellen. Damit lag ich nicht falsch, denn das ist der einfachste Ausgangspunkt. Jetzt, Jahre später, ist mir klar geworden, dass Montessori ein Lebensstil, eine Haltung ist. Noch mehr als die Aktivitäten oder Räume hat Montessori meinen Umgang beeinflusst: den Umgang mit meinen eigenen Kindern, den Kindern, die in meinen Unterricht kommen, und den Kindern, die mir im Alltag begegnen. Es geht darum, die Neugier eines Kindes zu fördern, ein Kind wirklich so, wie es ist, zu sehen und zu akzeptieren, ohne Urteile zu fällen, und mit dem Kind auch dann verbunden zu bleiben, wenn wir es daran hindern müssen, etwas zu tun, was es wirklich gern tun will.
Es ist nicht schwer, Montessori-Prinzipien zu Hause anzuwenden, es kann sich aber deutlich davon unterscheiden, wie wir selbst erzogen wurden und wie andere in unserem Umfeld ihre Kinder erziehen.
Nach dem Montessori-Konzept sehen wir Kinder als eigenständige Personen auf ihrem eigenen Weg. Wir unterstützen sie als Ratgeber und sanfte Führer. Sie sind nicht etwas, was wir zu dem formen, was wir für ihr Potenzial halten, oder was dazu dient, unsere eigenen Erfahrungen oder unerfüllten Wünsche zu kompensieren.
Als Gärtner säen wir Samen, schaffen die richtigen Bedingungen und geben genügend Nahrung, Wasser und Licht. Wir beobachten die Samen und passen bei Bedarf unsere Pflege an. Und wir lassen sie wachsen. Und so können wir auch unsere Kinder aufziehen. Das ist das Montessori-Prinzip. Wir säen Samen (unsere Kleinkinder), bieten ihnen die richtigen Bedingungen, passen bei Bedarf an und beobachten, wie sie wachsen. Welche Richtung sie in ihrem Leben einschlagen, entscheiden sie selbst.
»In den moderneren, besseren Schulen […] verhalten sich die Erzieher nämlich gegenüber den Kindern wie gute Gärtner oder Bauern gegenüber ihren Pflanzen.«
Maria Montessori Über die Bildung des Menschen
KLEINKINDER SIND GENIAL
Was wie mangelnde Flexibilität aussieht: »Ich kann nicht ohne meinen Lieblingslöffel frühstücken!«, IST TATSÄCHLICH Ausdruck eines starken Ordnungssinns.
Was wie ein Kampf aussieht, bei dem es darum geht, seinen eigenen Willen durchzusetzen, IST TATSÄCHLICH ein Lernprozess, bei dem das Kleinkind lernt, dass nicht immer alles nach seinem Willen geht.
Was wie eine endlose Wiederholung desselben nervtötenden Spiels aussieht, IST TATSÄCHLICH der Versuch des Kleinkindes, eine Fähigkeit zu meistern.
Was wie ein explosiver Trotzanfall aussieht, IST TATSÄCHLICH die Art des Kleinkindes, auszudrücken: »Ich liebe dich so sehr, dass ich das Gefühl habe, alles herauslassen zu können, was ich den ganzen Tag zurückgehalten habe.«
Was nach absichtlicher Langsamkeit aussieht, die uns verärgern soll, IST TATSÄCHLICH die Art des Kleinkindes, alles zu erkunden, was es um sich herum sieht.
Was uns in der Öffentlichkeit sehr in Verlegenheit bringen kann, IST TATSÄCHLICH die Unfähigkeit des Kindes, zu lügen – seine vorbildliche Aufrichtigkeit.
Was wie eine Unterbrechung unseres Nachtschlafs aussieht, IST TATSÄCHLICH eine Liebeserklärung des Kindes, das uns mitten in der Nacht umarmen möchte.
Du kannst dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite lesen. Oder einfach ein Kapitel aufschlagen, das dich interessiert, und praktische Hinweise finden, die du heute schon umsetzen kannst. Manchmal kann es sehr schwierig sein, zu entscheiden, wo man anfangen soll. Um dir die Entscheidung zu erleichtern, habe ich am Ende eines jeden Kapitels Fragen aufgelistet, die dir helfen sollen, die Montessori-Prinzipien in dein Zuhause und deinen Alltag zu integrieren. Mit vielen übersichtlichen Listen und Bildern ist mein Buch zugleich ein Nachschlagewerk und mit dem Anhang »Nicht dies, sondern das sagen« zugleich eine Anleitung für den Alltag. Du kannst diese Liste vielleicht kopieren und irgendwo aufhängen.
Neben all meinem Montessori-Wissen stütze ich mich auf viele ergänzende Quellen (Bücher, Podcasts, Schulungen), die ich im Lauf der Jahre entdeckt habe und die mir helfen, den Kleinkindern in meinem Unterricht und meinen eigenen Kindern eine freundliche und klare Anleitung zu geben.
Lass dich von diesem Buch inspirieren. Letztlich geht es nicht darum, jede einzelne Idee für eine Aktivität umzusetzen oder jegliche Unordnung zu vermeiden oder perfekte Eltern zu sein, sondern darum, zu lernen, Kleinkinder neu zu sehen und zu unterstützen. Freude am Zusammensein mit ihnen zu haben. Ihnen zu helfen, wenn sie sich schwertun. Und daran zu denken, zu lächeln, wenn man anfängt, alles zu ernst zu nehmen. Es geht um die Reise, nicht um das Ziel.
2
Maria Montessori war Ende des 19. Jahrhunderts eine der ersten Ärztinnen in Italien. Sie arbeitete in einer Klinik in Rom, wo sie Arme und deren Kinder betreute und ihnen über die medizinische Versorgung hinaus auch Fürsorge zuteil werden ließ.
Darüber hinaus besuchte sie andere Einrichtungen, u. a. eine Anstalt für Kinder mit emotionalen und geistigen Einschränkungen, die in einer extrem reizarmen Umgebung lebten. Dort beobachtete sie, wie sich die Kinder nach einer Mahlzeit auf die Krümel stürzten und sie vom Boden auflasen – nicht, um sie zu essen, sondern um ihren Berührungssinn anzuregen. Was diese Kinder brauchten, laut Montessori, war weniger medizinische als pädagogische Betreuung.
Sie ging nicht von einer abstrakten Methode aus, die sie über die Kinder stülpte, sondern nutzte die objektiven und wissenschaftlichen Beobachtungspraktiken ihrer medizinischen Ausbildung, um herauszufinden, was die Kinder ansprach, wie sie lernten und wie sie ihnen das Lernen erleichtern konnte.
Sie vertiefte sich in Bildungsphilosophie, Psychologie und Anthropologie und experimentierte mit pädagogischen Materialien für diese Kinder. Am Ende bestanden die meisten dieser Kinder die staatlichen Prüfungen mit besseren Noten als Kinder ohne Behinderungen. Maria Montessori wurde als Wundertäterin gepriesen.
Sie erhielt bald die Gelegenheit, ihre Ideen ins italienische Bildungssystem zu integrieren, als sie gebeten wurde, in den römischen Armenvierteln eine Einrichtung ins Leben zu rufen, in der Kinder während der Arbeitszeiten ihrer Eltern betreut wurden: Im Januar 1907 eröffnete sie die erste Casa dei Bambini, das Haus der Kinder.
Es dauerte nicht lange, bis ihre Arbeit international Interesse weckte und Verbreitung fand. Heute gibt es auf allen Kontinenten Montessori-Kurse und -Schulen, weltweit sind es 20 000, davon finden sich 4 500 Schulen allein in den USA. In Amsterdam, wo ich lebe, gibt es für etwa 800 000 Einwohner 20 Montessori-Einrichtungen, die Kinder vom Säuglingsalter bis zum Alter von 18 Jahren betreuen. Die Google- und Amazon-Gründer Larry Page, Sergey Brin und Jeff Bezos besuchten die Montessori-Schule genauso wie Jacqueline Kennedy Onassis oder Gabriel García Márquez.
Maria Montessori arbeitete weiter im pädagogischen Bereich und entwickelte Konzepte für Kinder jedes Alters. Sie lebte in verschiedenen Ländern (unter anderem während des Zweiten Weltkriegs in Indien) und starb schließlich 1952 in den Niederlanden. Sie bezeichnete ihre Arbeit als »Bildung fürs Leben«. Nicht für die Schule, sondern für unser tägliches Leben sollen die Kinder gerüstet sein.
Bei der herkömmlichen Pädagogik steht die Lehrkraft normalerweise vor der Klasse, entscheidet, was die Kinder lernen müssen, und lehrt die Kinder, was sie wissen müssen – ein von oben nach unten orientierter Ansatz.
Außerdem beschränkt sich die herkömmliche Pädagogik auf ein für alle gleiches Einheitskonzept. Beispielsweise entscheidet die Lehrkraft, dass alle am selben Tag bereit sind, den Buchstaben A zu lernen.
Bei der Montessori-Pädagogik besteht eine dynamische Beziehung zwischen dem Kind, dem Erwachsenen und der Lernumgebung. Das Kind entwickelt sein eigenes Lernen und wird dabei vom Erwachsenen und von der Umgebung unterstützt.
Die Lernmaterialien sind in Regalen nach Schwierigkeitsgrad (aufsteigend von leicht nach schwer) angeordnet. Jedes Kind arbeitet mit ihnen in seinem eigenen Tempo und folgt dabei seinen aktuellen Interessen. Die Lehrkraft beobachtet das Kind und führt es zum nächsten Material, wenn es das eine zu beherrschen scheint.
In der vorangehenden Grafik zur Montessori-Pädagogik zeigen die Pfeile in je zwei Richtungen. Umgebung und Kind interagieren miteinander. Die Umgebung zieht das Kind an und das Kind lernt von den Materialien in der Umgebung. Auch der Erwachsene und die Umgebung beeinflussen einander. Der Erwachsene bereitet die Umgebung vor, beobachtet und nimmt gegebenenfalls Anpassungen vor, um die Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen. Und schließlich herrscht auch zwischen dem Erwachsenen und dem Kind eine dynamische Beziehung, die auf gegenseitigem Respekt basiert. Der Erwachsene beobachtet das Kind und gibt nur so viel Hilfestellung wie nötig, bevor er sich wieder zurückzieht, damit das Kind seinen selbstständigen Lernprozess fortsetzen kann.
In ihren Schriften betont Maria Montessori immer wieder, dass das Ziel der Montessori-Pädagogik nicht darin besteht, ein Kind mit Fakten zu füllen, sondern seinen eigenen, natürlichen Wunsch, zu lernen, zu fördern.
Diese Prinzipien gelten nicht nur für die Schule, sondern auch für unseren Umgang mit unseren Kindern im familiären Umfeld. Wir unterstützen unsere Kinder dabei, selbstständig Entdeckungen zu machen, wir geben ihnen Freiheiten und setzen Grenzen, und wir schaffen die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen, indem wir unser Zuhause so einrichten, dass sie an unseren Alltagsaktivitäten teilnehmen können.
Ich halte am Jacaranda Tree Montessori Kinderhaus acht Unterrichtsstunden pro Woche. Ein Großteil meiner »Arbeit« findet statt, bevor die Kinder eintreffen. Ich bereite die Umgebung mit großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit vor.
Ich bereite Aktivitäten vor, die genau den richtigen Schwierigkeitsgrad für die Kinder haben – fordernd, aber nicht so schwierig, dass sie aufgeben.
Ich sorge dafür, dass die Kinder die erforderlichen Werkzeuge zur Verfügung haben – Tabletts zum Umhertragen von Dingen, Tücher zum Aufwischen von Verschüttetem, Künstlerbedarf zum Üben, kindgerechte Utensilien wie Buttermesser zum Aufstreichen von Belägen auf Cracker und die kleinsten Gläser für Getränke.
Ich setze mich auf den Boden, um herauszufinden, wie es auf ihrer Höhe aussieht. Ich hänge Gemälde, die sie betrachten und an denen sie sich erfreuen können, weit unten an die Wand, und Pflanzen, die sie versorgen sollen, stehen auf dem Boden oder auf niedrigen Tischen.
Ich schaffe eine einfache, schöne Umgebung. Ich beseitige Unordnung. Ich bereite einige gut gewählte Aktivitäten vor und achte darauf, dass alles dazu Erforderliche vorhanden ist, sodass die Kinder selbstständig arbeiten können.
Diese Arbeit fühlt sich nie an, als ob ich den Gruppenraum »aufräumen« würde. Der Zweck dieser Vorbereitung besteht darin, alles so attraktiv wie möglich zu gestalten und den Kindern die Freiheit zum Erkunden und Lernen zu geben.
Jeder Raum, den wir für unsere Kinder einrichten, kann eine vorbereitete Umgebung sein: ein Klassenzimmer, unser Zuhause, ein Ferienhaus, ein Bereich im Freien.
Maria Montessori erkannte, dass Kinder eine innere Lernmotivation besitzen. Babys lernen, nach einem Gegenstand zu greifen; sie lernen, aufzustehen, indem sie es immer und immer wieder versuchen, und sie lernen laufen – alles selbstständig in einer unterstützenden Umgebung. Dasselbe gilt, wenn sie sprechen, lesen, schreiben und rechnen oder etwas über ihre Umwelt lernen.
Die Entdeckungen, die Kinder selbstständig – insbesondere innerhalb einer vorbereiteten Umgebung – machen, erfüllen sie mit Staunen und fördern ihre Lust am Lernen. Sie müssen nicht angewiesen werden, die Umgebung zu erforschen.
In einer Montessori-Klasse sitzen Kinder unterschiedlichen Alters. Jüngere Kinder können daraus lernen, dass sie ältere beobachten, und ältere Kinder können das Erlernte verfestigen, indem sie jüngeren helfen.
Die Arbeit eines Kleinkindes ist Spiel. Es ist von Natur aus neugierig und lernbereit – wenn wir es zulassen.
SENSIBLE PHASEN BEI KLEINKINDERN
Der genaue Zeitpunkt, zu dem diese sensiblen Phasen auftreten, ist individuell verschieden.
SPRACHE
Eine sensible Phase für die gesprochene Sprache. Sie schauen uns auf den Mund, brabbeln, fangen an, uns nachzuplappern. Bald danach gibt es eine Sprachexplosion. Interesse am Schreiben kann ab einem Alter von 3,5 Jahren auftreten, Interesse am Lesen ab 4,5 Jahren.
Abwechslungsreiche Sprache verwenden.
Alles mit dem richtigen Namen benennen.
Bücher vorlesen.
Gespräche mit dem Kleinkind führen, Zeit zum Reagieren geben.
Den Interessen des Kindes folgen.
ORDNUNG
Kleinkinder lieben Ordnung. Maria Montessori beobachtete einmal ein Kind, das beim Spaziergang mit der Mutter sehr aufgeregt wurde, als diese ihren Mantel auszog. Der Grund war, dass die »Ordnung« (wie die Dinge ursprünglich waren) verändert wurde. Als die Mutter den Mantel wieder anzog, beruhigte sich das Kind.
Rituale verwenden, damit das Kind weiß, was es als Nächstes zu erwarten hat.
Einen »Ort für jedes Ding und alles an seinem Ort« haben.
Verständnis zeigen, wenn das Kind darüber beunruhigt ist, dass etwas nicht jeden Tag auf dieselbe Weise passiert
WINZIGE DETAILS
Im Alter zwischen 18 Monaten und 3 Jahren werden Kinder auf die kleinsten Gegenstände und winzigsten Details aufmerksam.
Besondere Gegenstände in der Wohnung bereitstellen: Kunst, Blumen, kunsthandwerkliche Gegenstände.
Überprüfen, was das Kind aus seiner Perspektive sehen kann, und diesen Bereich attraktiv gestalten.
Unvollständige Gegenstände entfernen, etwa ein Puzzle, bei dem ein Teil fehlt.
ERWERB MOTORISCHER FÄHIGKEITEN
Das jüngere Kleinkind erwirbt grob- und feinmotorische Fähigkeiten: Es lernt zu gehen und seine Hände zu nutzen. Das ältere Kleinkind verfeinert diese Fähigkeiten und beginnt, mehr Koordination zu entwickeln.
Verschiedenen Möglichkeiten zum Üben grob- und feinmotorischer Fähigkeiten anbieten.
Zeit für Bewegung vorsehen.
SENSORISCHE ERKUNDUNG
Kleinkinder sind von Farben, Geschmack, Gerüchen, Berührung und Geräuschen fasziniert, die sie beim Erkunden der Umgebung wahrnehmen. Das ältere Kleinkind beginnt, diese Eindrücke zu klassifizieren und zu strukturieren.
Zugang zu einer vielfältigen Umgebung im Haus und im Freien geben, die mit allen Sinnen erkundet werden kann.
Zeit für freies Erkunden vorsehen.
Gemeinsam Entdeckungen machen.
MANIEREN UND HÖFLICHKEIT
Die sensible Phase für Manieren beginnt mit etwa 2,5 Jahren. Davor kann der Erwachsene als Vorbild dienen.
Vertrauen, dass sich Manieren und Höflichkeit beim Kind allmählich entwickeln, ohne es zu bedrängen, sie anzuwenden.
In Bezug auf Manieren und Höflichkeit zu Hause, im Alltag und gegenüber Fremden Vorbild sein.
»Wir können das folgendermaßen ausdrücken: Die Intelligenz des Kindes erreicht ein bestimmtes Niveau, ohne sich der Hand zu bedienen; mit der manuellen Tätigkeit erreicht es ein höheres Niveau; und das Kind, das sich der eigenen Hände bedient hat, hat einen stärkeren Charakter.«
Maria Montessori Der absorbierende Geist
Die Hand nimmt konkrete Informationen auf und gibt sie an das Gehirn weiter. Wir können etwas nur hören oder beobachten, aber wenn wir das Gehörte oder Gesehene mit dem Gebrauch unserer Hände zusammenführen, lernen wir auf einer tieferen Ebene. Wir gehen vom passiven zum aktiven Lernen über.
Die Materialien in einem Montessori-Klassenzimmer sind so schön vorbereitet und so attraktiv, dass die Kinder sich zu ihnen hingezogen fühlen, um selbstständig, mit ihren Händen, Entdeckungen zu machen.
Wir ermöglichen Kleinkindern taktile Lernerfahrungen. Sie halten einen Gegenstand in der Hand, während wir ihn benennen. Wir bieten ihnen verschiedene schöne Kunstmaterialien zur Erkundung an. Wir stellen interessante Verschlüsse (von Klettverschlüssen bis hin zu Knöpfen) bereit, die sie öffnen und schließen können. Und sie helfen uns, in der Küche Essen zuzubereiten – und stecken dabei ihre Finger in den Teig oder schneiden mit einem Buttermesser eine Banane.