ALIX OHLIN
ROBIN UND LARK
Roman
Aus dem Englischen von
Judith Schwaab
C.H.BECK
Selbst bei einem «normalen» Film ist der Schnitt weniger ein Zusammenfügen als die Entdeckung eines Weges.
Walter Murch, In the Blink of an Eye
Rotkäppchen: Ein Wolf und ein Mensch können nicht ein und dasselbe sein.
Hexe: Frag mal eine Wolfsmutter.
James Lapine, Into the Woods
Mein Herz hat keine Angst vor tiefem Wasser.Es trägt seine Schwimmweste,dieses unsichtbare Kleidungsstück der Liebeund des Vertrauens,und es erzählt dir diese Geschichte.
Nancy Williams, Swimming Lessons
«Robin und Lark» ist die Geschichte zweier Schwestern, wie sie unterschiedlicher kaum sein können: die ältere klug, fleißig und still, die jüngere wild, impulsiv und eine begnadete Pianistin. Doch die ungleichen Mädchen verbindet ein starkes Band, nicht zuletzt entstanden durch die Nachlässigkeit der desinteressierten Mutter.
Als Lark Montreal verlässt, um in den USA aufs College zu gehen, verlieren sie jedoch beinahe vollständig den Kontakt – bis Robin eines Tages urplötzlich vor Larks Tür steht. Gemeinsam ziehen sie nach New York, wo Lark studiert und Robin das berühmte Musikkonservatorium Juilliard besucht. Sie wohnen zusammen, sind sich so nah wie lange nicht mehr. Bis wieder eine Schwester die andere verlässt: Robin verschwindet plötzlich von einer Konzertreise in Schweden. Fünf Jahre sehen sich die Schwestern nicht wieder …
Alix Ohlin erzählt atmosphärisch dicht von der Beziehung und dem Leben zweier Schwestern, von der unauflösbaren Verbundenheit dieser ungewöhnlichen, eigenwilligen Frauen. Ein Roman, in dem man versinkt, der einen in den Bann zieht und so schnell nicht wieder loslässt.
Alix Ohlin, 1972 in Montreal geboren, studierte an der Harvard University und am Michener Center for Writers in Austin, Texas. Sie hat zahlreiche Preise und Stipendien erhalten, unterrichtete am Lafayette College in Pennsylvania und lebt derzeit in Vancouver, wo sie Leiterin des Studiengangs für Kreatives Schreiben an der University of British Columbia ist. Ihr letzter Roman «In einer anderen Haut» ist 2013 bei C. H.Beck erschienen.
Judith Schwaab war viele Jahre Verlagslektorin für Belletristik und betreute Autoren wie Arundhati Roy, Salman Rushdie, Noah Gordon oder Michael Crichton. Seit 2003 hat sie u.a. Romane von Chimamanda Ngozi Adichie, Anthony Doerr, Robert Goolrick, Lauren Groff, Jojo Moyes, Maurizio de Giovanni, Daniel Mason und Carol O’Connell übersetzt. Sie lebt in München.
ERSTER TEIL: Davor
ZWEITER TEIL: Kindheit
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DRITTER TEIL: Mutterschaft
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VIERTER TEIL: Danach
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DANKSAGUNG
Für PTOR
ERSTER TEIL
Scotties Lebensgeschichte – die natürlich auch die meine ist – beginnt mit meiner Schwester Robin. Seltsam, wie wenig wir heute noch darüber reden. Von uns dreien bin ich die Einzige, die sich mit unserer Geschichte beschäftigt, wahrscheinlich, weil ich diejenige bin, die ihr eine Gestalt gegeben hat. Wenn ich auf jenen Tag in den Laurentinischen Bergen zurückkomme, sagt Robin, sie könne sich an fast nichts mehr erinnern. Das kann ich mir kaum vorstellen. Bei mir ist es genau das Gegenteil; jener Tag ist bis ins letzte Detail unverrückbar in meiner Erinnerung verankert, und ich kann selbst die winzigste Einzelheit davon abspulen wie einen Film.
Und das geht so: ein sonniger Tag im Juni, die blättrig grüne Hitze des Sommers in Kontrast zu meiner Schockstarre. Die Luft stickig und schwül, wie eine Wand vor Robins stoßweisem Atem.
Und die Wölfin, der meine Schwester den Namen Katharina gegeben hatte, stand vor uns und musterte uns beide mit ihren gelben Augen.
Robin war damals in der achtunddreißigsten Woche schwanger, und sie hatte mir gerade verärgert mitgeteilt, dass eine Schwangerschaft zehn Monate dauere und nicht etwa neun. Darüber war sie wütend, als hätte jemand sie absichtlich in Unkenntnis gelassen. Überhaupt war sie oft wütend, weil ihr heiß war, sie sich unförmig fühlte und nicht schlafen konnte. Wir gingen einen Wanderweg hinter ihrem Haus entlang, der zu einem Kiefernwäldchen führte, weil wir hofften, dort unter dem Baldachin der Nadelbäume würde es kühler sein. Robin wollte immer nur gehen, obwohl sie sich auch darüber beklagte: Die Hüften taten ihr weh, ihre Knie schmerzten, und ihre Rippen auch. Jammern war eigentlich nicht ihre Art, denn meine Schwester war ein Mensch, der alles stoisch und mit fast wilder Dickköpfigkeit ertrug, und genau das beunruhigte mich. Alle paar Meter blieben wir stehen, damit sie verschnaufen konnte, und ich sah, wie sie sich über den Bauch strich; eine zärtliche Geste, wie sie sie ansonsten weder dem Baby noch sich selbst zukommen ließ.
Sie runzelte die Stirn: «Was machst du?»
«Nichts.»
«Du berührst dich selbst», sagte sie.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich sie imitierte, als wollte ich ihr den Spiegel vorhalten. Meine Hand lag flach auf meinem Bauch, doch eigentlich gab es nichts zu streicheln. Ich wurde rot vor Verlegenheit, und meine Schwester lachte rau.
«Ist ja gut», sagte sie. «Hab schon verstanden.»
Doch wie konnte sie es verstehen? Sie konnte sich ebenso wenig in meinen Körper hineinversetzen wie ich mich in ihren. So standen wir da, Körper an Körper, Schwester an Schwester, doch zwischen uns lagen Welten.
Um sie auf andere Gedanken zu bringen, erzählte ich ihr von einer Sammlung alter Filme, die in einer unterirdischen Müllhalde unter einer Eisbahn in Dawson City, Yukon, gefunden worden war. Sie stammte aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, die Filme hatten einem Kino gehört. Damals, so erzählte ich, hatten Filme oft eine lange Reise hinter sich; von Kalifornien kamen sie zuerst in größere Städte wie Calgary und Vancouver, dann nach Whitehorse, bis sie schließlich in der Goldgräberstadt Dawson City landeten, von wo aus es keinen Sinn mehr hatte, sie wieder an ihren Ursprungsort zurückzuschicken. Und so sammelten sie sich dort an, ein aus dem Zufall geborenes Filmarchiv. Die Streifen bestanden aus Zellulosenitrat, einem Material, das bekannt dafür ist, dass es sich auflöst, schmilzt, ja sogar in Brand geraten kann. Wäre es nicht unter jener Eisbahn begraben gewesen – zusammen mit Kaninchendraht, Holzstücken und anderem Unrat –, hätte es die ganze Stadt in Schutt und Asche legen können.
«Filme sind damals explodiert?», fragte Robin.
Ich nickte. Ich erzählte ihr, wie das Kino damals schließen musste und die Filme entsorgte, bis sie schließlich Jahrzehnte später von einem Baggerführer entdeckt wurden, der das Gelände umpflügte, als dort ein neues Freizeitcenter errichtet werden sollte. Die Geschichte faszinierte mich wegen dieser unfassbaren Mischung aus entzündbarem Film und ewigem Eis, aus Erhaltung durch Vernachlässigung, und wie eine Stadt ihre Geschichte ausgerechnet dadurch bewahrt hatte, dass sie sie vergaß. Die meisten Stummfilme aus jener Zeit waren verloren gegangen, weil sie verbrannten oder verrotteten, doch ausgerechnet diese weggeworfenen Filme hatten überlebt. Meine Schwester bekam schon seit Jahren solche Geschichten von mir zu hören – ich war Sammlerin obskuren Wissens, besonders, wenn es ums Kino ging –, und ich schätze, sie war daran gewöhnt. Jetzt lauschte sie mir so still, dass es eine Weile dauerte, bis ich merkte, dass etwas nicht stimmte.
Ihr Blick war auf einen Punkt hinter meinem Kopf gerichtet. «Schau mal», sagte sie.
Wir sahen die Wölfin, die aus dem Wald trottete wie ein Hund, der sich verirrt hat und nach seinem Zuhause sucht. An ihrem seltsamen Gang – sie hinkte auf einem Bein – erkannten wir, dass es sich um Katharina handelte. Ihr graubraunes Fell sah verfilzt und platt gedrückt aus, ihr Körper schmalhüftig und sehnig. Später kam uns der Gedanke, dass sie ja vielleicht auf der Suche nach ihrem Rudel war, was mir im Grunde egal ist, denn ihre Beweggründe gehen mich nichts an. Woran ich mich erinnere, ist nur ihr wenig anmutiges Humpeln, und wie schnell sie dennoch unterwegs war. Und dass ich, als sie so nah auf uns zulief, dass wir ihre Augen sehen konnten, nicht hätte sagen können, ob sie uns erkannte, ob die Bindung, die Robin zu ihr aufgebaut hatte, stabil oder bedeutsam genug war, oder ob sie im Denken dieses Tieres überhaupt eine Rolle spielte.
Was als Nächstes geschah, war meine Schuld.
Die Wölfin lief auf Robin zu, als wollte sie sie anspringen, und ich zog meine Schwester rasch zur Seite, weil ich sowohl um sie als auch um das Baby Angst hatte. Robin jedoch machte sich aus meinem Griff frei – ich schätze, weil sie Katharina begrüßen oder sie wenigstens aus der Nähe sehen wollte. Auf einmal war mir schwindelig, Himmel und Erde tauschten ihre Plätze, alles drehte sich um mich, Festes wurde flüssig. Ich klammerte mich an alles, was ich greifen konnte, während ein Schleier mir die Sicht vernebelte. In meinen Ohren rauschte es, die Wellen eines unsichtbaren Ozeans, die an einen Strand donnern. Ich glaube, ich packte Robin an der Schulter, doch es hätte auch ihr Bein sein können – so sehr hatte ich die Orientierung verloren. Bei all diesem Ziehen und Zerren zwischen uns geriet Robin aus dem Gleichgewicht und fiel zu Boden. Die Wölfin lief einfach weiter, an uns vorbei, als gäbe es uns gar nicht.
Langsam lichteten sich die Nebel vor meinen Augen, und der Boden unter mir fügte sich wieder zusammen. Wenn ein Schwindel vergeht, ist das wie ein Erdbeben in umgekehrter Reihenfolge: Teile fügen sich wieder zusammen, die Welt hört auf zu beben und kommt wieder zur Ruhe.
Neben mir stöhnte Robin, ein furchtbares Wimmern.
«Alles in Ordnung mit dir?»
Sie gab mir keine Antwort. Ihr Gesicht war aschgrau, eine Farbe, die ich noch nie an ihr gesehen hatte, und wieder drückte sie mit der Hand gegen ihren Bauch, doch diesmal war es kein Streicheln mehr.
Ich bettete den Kopf meiner Schwester auf meinen Schoß, doch sie schien mich kaum zu bemerken, noch weniger schien meine Geste sie zu beruhigen. Ihr Körper fühlte sich heiß an, ihr Haar klebte verschwitzt an meiner Hand.
Dann hörten wir den Rest des Rudels, ein silbriges, auf- und abschwellendes Heulen, auf und ab, das Katharina gelten mochte oder auch nicht. Ich fand es unheimlich, doch Robins Gesicht entspannte sich, und sie öffnete die Augen. Was mich verängstigte, schien sie zu trösten; das war immer schon der Unterschied zwischen uns gewesen.
«Wo ist Katharina?», fragte sie.
Ich sagte, ich wisse es nicht; die Wölfin sei verschwunden. Meine Schwester rappelte sich hoch, und ich sah, dass sie Schmerzen hatte, konnte sie aber nicht davon abhalten, aufzustehen. Ich hatte Robin noch nie von etwas abhalten können. Sie richtete sich auf, obwohl die Beine für einen Moment unter ihr nachgaben und sie sich auf mich stützen musste, während ich vergeblich versuchte, sie dazu zu bringen, ins Haus zurückzukehren.
Nur meine Schwester war dazu in der Lage, das Einsetzen ihrer Wehen zu ignorieren, um nach einer Wölfin zu suchen. Und nur meine Schwester fragte trotz ihrer Schmerzen: «Wo ist sie nur hin?»
ZWEITER TEIL
Rückblickend kann ich heute sagen, dass meine Schwester nie ganz zahm war. Als wir Kinder waren, verschwand Robin oft, eine Stunde, einen Nachmittag, einen Tag lang. Unsere Mutter, die nur selten zu Hause war, merkte es gar nicht, doch mir machte ihr Fehlen zu schaffen. Ich hegte eine Leidenschaft für alles, was mit Regeln zu tun hatte; feste Mahlzeiten und Tagesabläufe waren mir wichtig. So ging ich zum Beispiel jeden Mittwoch in die Pizzeria, die einen Block entfernt von unserer Wohnung lag, kaufte mir von dem Geld, das meine Mutter in zerknüllten Scheinen auf dem Küchentresen liegen ließ, eine Pizza, trug sie in einem weißen, vom Fett durchgeweichten Karton nach Hause und wartete. Das machte ich nur mittwochs. Dienstags besuchten wir mit meiner Schulklasse die Bibliothek, und am Donnerstag hatten wir Zeichnen. Ich mochte die Bibliothek und den Kunstunterricht, aber ich liebte es, immer zu wissen, was als Nächstes kommen würde. In meiner Vorstellung hatte jeder Wochentag eine andere Farbe – die Bibliothek war lila, Orange stand für Pizza, ein gelber Klecks für Zeichnen –, und die Woche wurde dadurch zu einem Regenbogen, sie bekam Struktur und einen Sinn. Schon damals war ich eine leidenschaftliche Sammlerin von Mustern, eine Elster, immer auf der Suche nach bunten Stoffresten.
Marianne, unsere Mutter, irritierte es, dass ich immer alles genau wissen wollte. Wenn ich sie fragte, wann sie nach Hause komme, gab sie mir keine Antwort; sie fand die Frage unsinnig. Sie fühlte sich eingeengt, wenn sie sagen sollte, wohin sie ging und warum, und ihr Leben als junge Mutter von zwei Kindern war einengend genug. Zumindest denke ich das heute. Damals hatte ich das Gefühl, wir seien ihr lästig und dass sie sich immer wieder Gründe dafür ausdachte, so viel wie möglich weg von uns zu sein. Was möglicherweise ja auch stimmte.
Marianne war schön. Sie hatte langes, glänzendes, schwarzes Haar, das sie entweder offen oder in einem tief im Nacken gebundenen Pferdeschwanz trug, beides Frisuren, die ihre hohe, bleiche Stirn und die dunkelbraunen Augen zur Geltung brachten. Jahre später, als ich in einem New Yorker Museum auf Giacomettis hohe, spindeldürre Bronzeskulpturen von Frauen stieß, brach ich in Tränen aus, denn sie erinnerten mich so sehr daran, wie Marianne gewesen war: dünn, aber nicht zerbrechlich, das Fleisch hart wie Metall, unmöglich zu umarmen. Sie mochte es nicht, berührt zu werden, wenigstens nicht von uns. Sie stammte aus einer streng katholischen Familie, in der sich irische und frankokanadische Traditionen zwangsweise vermischten, und ich hatte den Verdacht, ihr Vater hätte sich in ihrer Jugend mehr als einmal an ihr vergriffen. Auch ihre Mutter war streng. Als Marianne fünfzehn war, begannen die Streitereien; sie lehnte sich dagegen auf, dass ihren Brüdern Freiheiten und die Aussicht auf eine Zukunft gewährt wurden, die ihr selbst verwehrt blieben. Ihre Eltern wollten, dass sie so bald wie möglich heiratete; auf mehr könne sie nicht hoffen. Stattdessen zog Marianne aus der vollgestopften Wohnung ihrer Familie in der Nähe des alten Farine-Five-Roses-Flour-Schildes der Mehlfabrik aus und wohnte fortan bei einer Freundin, deren Eltern ihren Kindern mehr Spielraum ließen. Schließlich brach sie die Schule ab und fand einen Job in einem Plattenladen, wo sie jeden bezirzte, der hereinkam, um Musik zu hören. Sie kannte jede Band und jedes Album. Das muss ich Marianne wirklich lassen: Trotz all ihrer Fehler erfüllte sie unser Zuhause mit Musik. Sie hatte einen Plattenspieler von Magnavox und eine Sammlung von Platten, die sie angeblich vom Laden «ausgeliehen» hatte, in Wirklichkeit jedoch ihrer privaten Sammlung einverleibte, wodurch wir in unserer Kindheit von Félix Leclerc über Mahler bis zu den Rolling Stones alles zu hören bekamen.
Dort in dem Plattenladen lernte sie auch meinen Vater Todd kennen, der aus Vermont nach Montreal gekommen war; obwohl in den USA bereits seit zwei Jahren keine Soldaten mehr für den Vietnamkrieg eingezogen wurden, hatte er den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen verweigert und war vor der amerikanischen Kriegstreiberei nach Kanada geflohen. Laut Marianne war er sehr gut aussehend und nicht besonders hell im Kopf. Bilder, die sie mir hätte zeigen können, besaß sie nicht, sodass ich mir nach ihren Beschreibungen zusammenreimen musste, wie er ausgesehen hatte: ein neunzehnjähriger Frischling mit Lockenkopf, der karierte Hemden und eine Lammfelljacke trug, die er trotz der Kälte niemals zuknöpfte. Die meiste Zeit verbrachten sie mit seinen Freunden. Ihr gefiel das Gefühl, fernab von ihrer eigenen Familie zu leben und alle Brücken zur Vergangenheit abzubrechen, ohne dafür die Stadt verlassen zu müssen. Als sie schwanger wurde, sei Todd überglücklich gewesen, erzählte sie mir, und ich habe keinen Grund, dies anzuzweifeln; sie log niemals, um mich zu schonen.
Die beiden heirateten nicht; sie hielten die Ehe für eine korrupte Institution der Bourgeoisie, ein verblichenes Überbleibsel der alten Ordnung, und ließen den Nachnamen meiner Mutter, Brossard, in meine Geburtsurkunde eintragen. Todd blieb lange genug in Montreal, um mir die amerikanische Staatsbürgerschaft zu übertragen und eine Sammlung seltener Münzen zu vererben, die er mit dem Gedanken aus Vermont mitgebracht hatte, sie zu verkaufen und uns damit zu unterstützen. Doch sie waren weniger wert, als er gedacht hatte, und das galt vermutlich auch für uns. Eines Tages wachte Marianne auf, und er war fort; er hinterließ nur eine knappe und dahingekritzelte Nachricht, die meine Mutter verärgert zerriss, deren Inhalts sie sich jedoch Jahre später nicht mehr entsinnen konnte.
Ich habe nie nach meinem Vater gesucht. Mir gefällt der Gedanke, dass er es bereut und manchmal des Nachts aufwacht und glaubt, jemand habe zu ihm gesprochen, eine Stimme, die er nicht kennt, die ihm aber trotzdem bekannt vorkommt; und dass er, wenn er eine Frau meines Alters erblickt, überlegt, wie seine Tochter wohl aussieht oder was für einen Gang sie hat. Es ist mein gutes Recht, ihn mir so vorzustellen, wie es mir passt, denn er war nie da, um mir zu widersprechen.
Nachdem er weg war, blieben wir beide allein zurück. Ein anderes Mädchen in jener Zeit, das blutjung und verlassen worden war, hätte sich an seine Familie gewandt und sie um Hilfe gebeten, doch nicht Marianne. Auf einmal alleinerziehende Mutter zu sein, entfernte sie endgültig von der Welt, aus der sie kam, und bekräftigte nur ihre Verweigerungshaltung gegenüber deren Ansichten und Werten. Ihre Eltern, Cathleen und Jean-Louis, wussten nicht einmal, dass Marianne ein Baby hatte, bis sie ihr eines Samstagsnachmittags auf der Sherbrooke Street begegneten, wo sie meine Wenigkeit in einem Kinderwagen spazieren fuhr. Marianne trug das, was sie mit der liebevollen Sehnsucht nach Vergangenem, die sie sich selbst entgegenbrachte, einen «aufsehenerregenden Fummel» nannte, ein kurzes Kleid im Stil der Zwanzigerjahre, mit Perlen am Saum, die klirrten, wenn sie sich bewegte, dazu Sandalen mit Plateausohlen und eine Feder im Haar. Damals betrachtete sie das Leben schon seit einer Weile als Theaterstück, in dem sie selbst die Hauptrolle spielte. In aller Seelenruhe küsste sie die beiden auf die Wangen. Jean-Louis klappte stumm den Mund auf und zu, während Cathleen in Tränen ausbrach. Offenbar hatte ihre Reaktion ebenso viel mit dem Aufzug ihrer Tochter zu tun wie mit der Anwesenheit eines Babys.
Marianne hob die Ecke der Babydecke hoch, die eine ihrer Freundinnen für sie gehäkelt hatte, und erklärte, der Vater sei Amerikaner, und meinen Namen hätten sie mir in Erinnerung an die Sommertage gegeben, die sie im La Fontaine Park verbracht hatten, als sie schwanger gewesen war und sie dem Vogelgezwitscher gelauscht hätten. Demnach hätte es viel schlimmer kommen können – statt Lark, Lerche, hätte ich am Ende auch Amsel oder Taube heißen können –, doch der Name machte Mariannes Eltern dennoch wütend, womit sie wahrscheinlich gerechnet hatte. Die Tatsache, dass die französische Bezeichnung des Vogels, alouette, auch der Name der Montrealer Fußballmannschaft war, schlug dem Fass den Boden aus.
Das war Marianne egal. «Jedenfalls heißt sie so», verkündete sie dort auf der Straße, «ob es euch nun gefällt oder nicht.»
Die Geschichte gehörte zu ihren Lieblingsstorys, und ich bettelte immer darum, dass sie sie mir erzählte, wenn sie mich zu Bett brachte, denn ich wusste, dass sie Marianne zärtlich stimmte; manchmal strich sie mir sogar mit dem Finger über die Wange.
«Mais qu’est-ce ça veux dire, alouette?», schrie ihr entsetzter und wütender Vater. «Was ist das denn für ein Name – Lark?»
Um ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben, übernahm Marianne eine ganze Reihe von Jobs: Sie arbeitete als Friseurin, Kellnerin, Garderobiere. Da sie mit Leuten gut umgehen konnte, bekam sie auch viel Trinkgeld. Weniger gut stand es um ihre Pünktlichkeit, und sie ließ sich nur ungern sagen, was sie zu tun hatte. Manchmal, wenn sie gerade keinen Job hatte, aßen wir in einer öffentlichen Suppenküche oder zu Hause bei Freunden. Wurde das Geld ganz knapp, verkaufte sie ihren Modeschmuck an einem Stand auf dem Flohmarkt und ging mit dem verdienten Geld postwendend in den nächsten Diner, wo wir uns die Bäuche mit überbackenen Sandwiches vollschlugen und sie sich die Gratispackungen Oyster Crackers oder Jelly Beans in die Handtasche stopfte. Doch Marianne war nur selten lange ohne Job; mit ihrem Charme fand sie immer schnell etwas Neues.
Nachdem Todd sich abgeseilt hatte, bekam sie nach einigem Zureden eine Stelle als Sekretärin bei einer Bank im Zentrum, und genau dort lernte sie auch Bob Johnson aus Fox Run, Minnesota, kennen, der ihr Ehemann und Robins Vater wurde. Bob war älter als meine Mutter – mit dreißig wirkte er bereits wie ein alter Mann – und das Gegenteil von Todd. Ein Gewohnheitstier, aß er jeden Tag ein Sieben-Minuten-Ei und eine Scheibe gebutterten Toast ohne Kruste zum Frühstück. Ich schaute fasziniert dabei zu, wie das perfekt getrimmte, rechteckige Brot zwischen seinen perfekten, rechteckigen Zähnen verschwand. Er sah ziemlich gut aus, hatte dickes, welliges braunes Haar und hohe Wangenknochen, von denen meine Mutter behauptete, sie gingen auf seine indianischen Vorfahren zurück, die dem Stamm der Dakota Sioux angehört hatten. Obwohl sie sich im Jahre 1979 kennenlernten, kleidete Bob sich wie ein Filmstar aus den Fünfzigerjahren und trug schmal geschnittene Stoffhosen und Hemden mit Kragen, deren Ärmel er bis zu den Ellbogen hochkrempelte.
Nach ihrer eher bescheidenen standesamtlichen Trauung im Palais de Justice zogen wir in ein winziges, gepflegtes Apartment in Rosemount. Eigentlich hätte ich glücklich sein sollen, denn aus unerfindlichen Gründen hatte meine Mutter einen Mann erwählt, der noch mehr an Routine hing als ich. Er aß jeden Sonntag Braten. Wenn er die Abendnachrichten im Fernsehen schaute, trank er jedes Mal ein Glas Whiskey. Er mochte den Gedanken, dass er uns vor der Armut bewahrt hatte. Er mochte Dankbarkeit.
Nur mich mochte Bob nicht. Ich bin der Überzeugung, dass allein meine Existenz ihn beunruhigte, denn sie erinnerte ihn daran, dass meine Mutter sowohl sexuell als auch sonst schon ein Leben geführt hatte, bevor sie sich kennengelernt hatten. Er behandelte mich mit schmallippiger Höflichkeit, die noch unangenehmer war, als es offener Hass gewesen wäre. Ich tat mein Bestes, ihn nicht gegen mich aufzubringen. Ich schlich auf Zehenspitzen durchs Haus, räumte mein Spielzeug weg, zog mich ordentlich an und kämmte mein Haar, doch seine Liebe zu gewinnen, gelang mir nicht.
Ein Kind, das weiß, dass es nicht gemocht wird, entwickelt rasch die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Ich lernte, so viel Zeit wie möglich in der Schule zuzubringen, und legte den Hin- und Rückweg so langsam zurück, wie es nur möglich war, Block für Block. An Wochenenden stibitzte ich Kleingeld aus Bobs Jackentaschen, mein einziges Vergehen, und kaufte mir davon eine Eintrittskarte für das Kino in unserer Straße, wo ich heimlich sitzen blieb, wenn eine neue Vorstellung begann. Viele dieser Filme waren für Erwachsene, und ich konnte der Handlung kaum folgen, reagierte jedoch intuitiv auf ihre Rhythmen, auf die flackernden Bilder, das Auf- und Abschwellen der Musik. Ich saß im Schneidersitz auf meinem Platz und blickte gebannt auf die Leinwand, doch niemand – andere Zeiten damals – fragte mich, was ich dort allein zu suchen hatte. Ich lernte meine Unsichtbarkeit zu schätzen und jeden Strohhalm der Freiheit zu ergreifen, der sich mir bot. Ich beobachtete Pärchen, die sich im Dunkeln küssten, Mütter, die ihre Kinder mit einem «Pst» zum Schweigen brachten, eine ältere Frau, die den Kopf an die Schulter ihres Begleiters legte und einschlief. Dort im Zuschauerraum gab es mehr zu sehen als auf der Leinwand.
Nachdem Robin auf die Welt gekommen war, hörte Marianne auf zu arbeiten. Vielleicht war es seltsam bei einer Frau, die früher so viel Wert auf Rebellion und ihre Unabhängigkeit gelegt hatte, doch es schien ihr nichts auszumachen, zu Hause zu bleiben. Sie und Bob waren vernarrt in meine Schwester, ein unkompliziertes Baby mit speckigen Beinchen und eine begeisterte Esserin, die sich nach ihrer Mahlzeit an die Brust meiner Mutter kuschelte und ohne Murren einschlief. Auch in Bob war Marianne vernarrt; sie empfing ihn jeden Nachmittag mit einem frisch gemixten Drink an der Haustür. Heute begreife ich, dass sie sich auf ihre Darbietung als Hausfrau mit der gleichen Intensität stürzte wie auf jede andere Rolle, die sie spielte.
Ich weiß nicht, wie lange ihr diese Rolle geblieben wäre. Unwahrscheinlich, dass sie das ein ganzes Leben lang oder eine ganze Ehe lang durchgehalten hätte. Doch sie musste es gar nicht erst versuchen. Sie und Bob waren fünf Jahre verheiratet, als er sich eines Nachts im Bett aufsetzte, kreidebleich im Gesicht, und sich an den Bauch fasste. Offenbar hatte er schon seit Monaten Schmerzen, diese jedoch auf Verdauungsstörungen und Stress zurückgeführt. Als er die Diagnose Krebs bekam, hatte die Krankheit bereits gestreut und sein Lymphsystem befallen, und zwei Monate später starb er im Queen Elizabeth Hospital. Er gab Marianne die Anweisung, ihn nicht in Montreal zu bestatten. «Ich will nach Hause zu meiner Familie», sagte er und meinte damit Minnesota und seine Eltern.
Mariannes Trauer war für mich ebenso unergründlich wie ihre Ehe. Sie wirkte eher nervös als traurig; sie rauchte Kette, und ihre Hände zitterten. Nachts schlief sie meistens in einem Lehnstuhl im Wohnzimmer ein, während der Fernseher lief. Bobs Kollegen schickten ihre Frauen mit Eintopfgerichten vorbei, die sie in den Kühlschrank stellten, um sich anschließend mit Marianne zu betrinken und Stunden später aus der Wohnung zu torkeln, von einer Mischung aus Zigarettenmief und Weinfahne umweht; doch nach einer Weile kamen sie nicht mehr. Marianne hatte man gesagt, sie könne wieder in der Bank arbeiten, doch als sie sich bewarb, sagte der Geschäftsführer, es sei nichts frei. Vielleicht sollten Sie zu Hause bei Ihren Kindern bleiben, schlug er vor, und Marianne spuckte ihm auf den Schreibtisch und ging. Zumindest erzählte sie mir das so, doch ich wusste schon damals, dass ihre Version der Ereignisse nicht immer glaubwürdig war.
Sie fand einen anderen Job bei einer Firma, die Vollkornkekse aus England importierte. Jede Woche kam sie mit «Ausschuss» nach Hause – Schachteln, die heruntergefallen waren, wodurch die Plätzchen zerbrachen, oder bei denen die Etiketten schief aufgeklebt waren –, den wir so lange zum Frühstück, Mittagessen und zwischendurch verzehrten, bis mir allein von dem Geschmack schon schlecht wurde. Bis zum heutigen Tag kann ich keinen Vollkornkeks mehr essen. Wenn sie zur Arbeit ging, heuerte sie Babysitter an, die auf mich und Robin aufpassten, und überließ uns zunehmend unserem Schicksal. Während Bob im Krankenhaus lag und sie oft bei ihm war, hatte ich mich schon daran gewöhnt, mich um meine Schwester zu kümmern. Ich gab das Kino und den langen Schulweg auf und fütterte sie mit Keksen und Milch, ich zog sie an und spielte mit ihr. Ich brachte ihr das Lied Au Clair de la Lune bei und zeigte ihr, wie man einen Purzelbaum über die Couchkissen macht. Ich beschloss, dass sie nun mir gehörte.
Meine Schwester wuchs zu einem zarten, verträumten Mädchen mit Bobs hohen Wangenknochen heran, ob sie nun von den Sioux stammten oder nicht, und sie hatte das glänzende schwarze Haar meiner Mutter. Robin wirkte immer ein bisschen so, als habe sie sich verirrt, auch wenn sie genau wusste, wo sie sich befand. Sie war jemand, dem die Leute gerne etwas schenkten; manchmal kam sie mit einer Schachtel Plundertaschen aus der Bäckerei oder mit einem ganzen Käselaib in einer Tüte nach Hause, die ihr jemand in die Hand gedrückt hatte. Da wir normalerweise immer Hunger hatten, war ich froh über diese Geschenke. Meine Mutter traf sich wieder mit Männern und kam oft erst nach Hause, wenn wir bereits schliefen. Am Morgen, wenn sie sich für die Arbeit zurechtmachte, erzählte sie uns dann, wo sie gewesen war: ein Restaurant, eine Party, eine Theatervorstellung. Ihre Geschichten waren mit Glamour und Boshaftigkeit gewürzt; wenn sie von Leuten erzählte, die sie kennengelernt hatte, ließ sie oft kein gutes Haar an ihnen. Sie wollte uns zeigen, dass sie alle durchschaute und man ihr nichts vormachen konnte.
Ab und zu lud sie einen Mann zu uns zum Essen ein, und Robin und ich kämmten uns, zogen Kleidchen an und deckten den Tisch. Manche der Männer waren zu Scherzen aufgelegt und zeigten uns Tricks, bei denen unsere Nasen wie durch Zauber verschwanden und wieder auftauchten, andere hatten rote Gesichter, waren beschwipst und kniffen Marianne in den Hintern, wenn sie sich an ihnen vorbeiquetschte, um Lamm oder Rind zu servieren. Nach dem Essen machten wir uns fürs Bett fertig und kamen im Schlafanzug und mit geputzten Zähnen zurück, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen.
In unserem gemeinsamen Zimmer flüsterten wir. Während ich ansonsten still und unsichtbar war, tat ich meiner Schwester gegenüber immer gern meine Meinung kund.
«Der war bis jetzt der Allerschlimmste», sagte ich zum Beispiel.
«So schlecht war er doch gar nicht.»
«Sein Atem roch nach Limburger.»
«Was ist Limburger?»
«Der stinkigste Käse der Welt.»
«Aber er sieht besser aus als der Letzte.»
«Das will nicht viel heißen. Der Letzte sah aus wie ein Walross.»
Der Vergleich brachte Robin zum Lachen. «Stimmt!»
Eigentlich liefen die Abendessen immer gut, doch keiner der Männer kam wieder, und ich nahm an, das lag an uns, weil wir ein Klotz am Bein waren. Marianne ging von einem Mann zum nächsten. All ihre Freundinnen ließen sich scheiden, und sie erklärte: «Endlich macht ihr es mir nach.» Wir wiesen sie nicht darauf hin, dass sie ja genau genommen nie geschieden worden war. Doch ihr gefiel der Gedanke, eine Pionierin zu sein.
Marianne besorgte uns zu essen und kaufte uns Kleider, doch für alles andere waren wir selbst verantwortlich. Wenn wir mehr Aufmerksamkeit von ihr wollten, schenkte sie sie uns manchmal, oder sie wurde böse und schimpfte uns aus, stieß in ihrer Wut sogar Möbel um. Einmal geriet sie derart in Rage, dass sie all unsere Spielsachen einsammelte, in eine Mülltüte steckte und sie wegwarf. Ein anderes Mal stand sie vom Abendessen auf, stürmte hinaus, und wir sahen sie zwei Tage lang nicht wieder. Doch es kam auch vor, dass sie uns in die Arme nahm und uns zu Superstition oder C’est pour toi im Wohnzimmer herumwirbelte. Wir wussten nie, mit welcher Marianne wir zu rechnen hatten, und so lernten wir, nichts zu erwarten und nichts zu verlangen.
Robins Lehrer waren voll des Lobes für sie, sie ließen sie in Theaterstücken auftreten und schickten Briefe mit dem Vorschlag, sie solle Gesangsunterricht nehmen, weil sie eine so hübsche Stimme habe. Ich war die bessere Schülerin, schnitt oft als Klassenbeste ab, doch meine Schüchternheit machte mich stumm, und ich kann mich nicht erinnern, während der Grundschule auch nur einmal die Hand gehoben zu haben. Manchmal drehte sich meine Lehrerin um und schien überrascht zu sein, dass ich überhaupt im Raum war, doch darüber freute ich mich eher, als dass es mich ärgerte, denn ich übte mich in der Kunst des Verschwindens, wann immer die Situation es erlaubte. Was Robin tat – zum Beispiel bei einer Schulversammlung Greensleeves zu singen, als sie in der ersten Klasse war –, wäre für mich ganz unmöglich gewesen. Lieber wäre ich gestorben. Ich war stolz auf Robin und überhaupt nicht neidisch. Wenn mich Jahre später jemand auf unsere unglückliche Kindheit ansprach – mit genau diesen Worten –, erschrak ich; so hatte ich das niemals gesehen. Ja, sie war seltsam gewesen, in dem Sinne, dass wir uns sozusagen selbst großgezogen hatten, doch als unglücklich würde ich unsere Kindheit nicht bezeichnen. Meine Schwester und ich hatten einander, wir waren ein Bündnis von getrennten und doch vereinten Kräften. Wir waren die Vogelschwestern Lark und Robin, Lerche und Rotkehlchen; die eine war gut in der Schule, und die andere konnte singen.
Wenn ich darüber nachdenke, welchen Verlauf Robins Leben später nahm, wofür sie sich entschied und was sie verwarf, so fällt mir ein Jahr ein, in dem sie sieben und ich elf war. In der Schule hatte die Lehrerin von Marie-Angélique Le Blanc gesprochen, dem Wolfskind aus Songy, das im achtzehnten Jahrhundert zehn Jahre lang in Frankreich in den Wäldern gelebt hatte, ehe es von Leuten aus dem Dorf entdeckt worden war. Die Historiker glauben, das Mädchen habe dem Stamm der Meskwaki angehört, die heute in Wisconsin leben, und sei unter mysteriösen Umständen von einer älteren Kanadierin nach Frankreich gebracht worden. Manche mutmaßten, sie habe während ihrer Zeit im Wald mit Wölfen zusammengelebt, andere, sie habe diese mit selbst gebauten Waffen abgewehrt. Nach ihrer Ergreifung hatte Marie-Angélique sich wieder in die Gesellschaft eingegliedert, erfolgreich Lesen und Schreiben gelernt und war im Alter von dreiundsechzig Jahren in Paris gestorben.
In der Kombination einiger Elemente aus dieser Geschichte – der Abstammung aus dem Mittelwesten, der geheimnisumwitterten, elternlosen Herkunft, den frühen Jahren in Freiheit und Isolation – muss meine Schwester etwas von sich selbst wiedererkannt haben. Robin war fasziniert von diesem Mädchen; sie freundete sich mit allen wilden Tieren an, derer sie in unserer Nachbarschaft habhaft werden konnte – meistens Eichhörnchen, streunende Katzen, ab und zu auch ein Hund, der von zu Hause ausgebüxt war –, und beschäftigte sich mit der Frage, ob sie wohl mit ihnen zusammenleben könne, wenn sich die Gelegenheit böte. Sie pflückte Beeren von Büschen und knabberte an ihnen, während sie bei rauem Wind draußen saß. Zu Hause bestand sie darauf, dass ich ihr das Essen auf den Boden stellte, wo sie davor kauerte, wie vor einem Napf, und aß, ohne die Hände zu benutzen.
Ich machte mir keine Gedanken über ihr Verhalten. Damals war ich mit der Lektüre einer Biografie von Mackenzie King beschäftigt, der Séancen veranstaltet hatte, um sich mit seiner verstorbenen Mutter über Alltagsfragen zu beraten. Da ich vorhatte, dies selbst einmal zu probieren, legte ich mich neben meine Schwester auf den Boden, das Buch aufgeschlagen vor mir, und notierte mir, wie jene Séancen den schmalen Grad zwischen Lebenden und Toten überwunden hatten. Unglücklicherweise war der einzige Tote, den ich kannte, Bob, und ich bezweifelte, dass er erpicht darauf war, von mir zu hören. Irgendwann stieg Marianne dann kopfschüttelnd über uns beide hinweg und verließ die Wohnung.
Wenn Robin in der Nachbarschaft unterwegs war, um Freundschaft mit Tieren zu schließen, begleitete ich sie manchmal, weniger aus dem Wunsch heraus, sie zu beschützen, als vielmehr, weil ich selbst keine anderen Freunde hatte. Ein paar Straßen weiter stand ein kleines Haus, das mit seinem verblichenen Anstrich und der schmutzverkrusteten Verkleidung halb verlassen wirkte. Manchmal schlichen wir uns heran und spähten durch die Fenster in das von Spinnweben durchzogene Innere. Drinnen war eine Reihe von Möbelstücken zu erkennen, deren Nutzen uns eher schleierhaft war – ein paar verstreute Stühle und Hocker, ein Lehnstuhl, ein hoher Tisch mitten im Raum. Manchmal waren diese Möbelstücke verrückt worden, doch wir hatten niemals Anzeichen menschlichen Lebens gesehen, bis wir eines Tages durchs Fenster hineinschauten und vor uns das Gesicht einer Hexe auftauchte.
Ihre Nase war rund und knollig, die Augen hell und wässrig und unheimlich; das graue Haar hatte sie zu einem langen Zopf gebunden, der sich um ihren Hals ringelte und wie eine zahme Schlange über ihre Schulter hing. Sie trug baumelnde Ohrringe aus verstaubt aussehendem Strass und einen langen Rock mit Volants, die an einigen Stellen zerrissen waren und sich selbstständig machten. Sie sah aus, als hätte sie sich schon vor Jahrzehnten für eine schicke Party zurechtgemacht und nie wieder umgezogen.
Sie lächelte uns zu und winkte uns standesgemäß mit gekrümmtem Finger zu sich herein.
Wie sich herausstellte, handelte es sich nicht um eine Hexe, sondern um eine Klavierlehrerin namens Mrs. Gasparian. Sie führte uns in ein Seitenzimmer mit einem Klavier, einem Teppich und einer verwelkten Topfpflanze. In der Schule hatte man uns beigebracht, Fremden mit Vorsicht zu begegnen, doch Mrs. Gasparian war so wenig bedrohlich, wie man es nur sein konnte. Sie saß da, die Beine unter dem langen Rock gekreuzt, hörte uns zu und nickte, als wir ihr sagten, wie wir hießen. Dann bot sie uns ein paar Vollkornkekse an, die wir dankend ablehnten.
Mrs. Gasparian stellte uns jede Menge Fragen, doch keine davon war persönlich. Sie wollte wissen, was wir an diesem Tag in der Schule gelernt hatten, welche Bücher wir mochten, was wir von dem Gemälde an der Wand dort drüben hielten und ob wir lieber nach Paris oder nach London fahren würden. Mit anderen Worten: Sie sprach mit uns, als seien wir keine Kinder, sondern Erwachsene, und das war aufregend. Ihre leise, etwas heisere Stimme war sehr angenehm zu hören; eines ihrer Augenlider hing herunter, wodurch sie zwar ein wenig krank, aber auch spitzbübisch wirkte, als würde sie uns permanent zuzwinkern.
In einem seltenen Moment der Extrovertiertheit erzählte ich Mrs. Gasparian von einem meiner Lieblingsfilme, Tschitti Tschitti Bäng Bäng, schilderte ihr detailliert seine verzwickte Handlung, während Robin sich von ihrem Stuhl gleiten ließ und sich das Klavier genauer anschaute. Sie klimperte auf den hohen Tönen herum und begann dann zu singen, wobei sie die Töne ihrer Stimmhöhe anpasste. Während ich immer noch am Reden war, sah ich, wie sich Mrs. Gasparians Gesichtsausdruck veränderte und jegliche Aufmerksamkeit daraus verschwand, obwohl sie nickte und den Blick auf mich gerichtet hielt. Dann verstummte ich, und wir beobachteten beide, wie Robin den Zeigefinger auf die Tasten legte und sich zu dem, was sie sang, selbst begleitete, vollkommen in dem versunken, was sie da tat. Es fühlte sich an, als würde man bei einem privaten, sehr intimen, ja, beinahe peinlichen Gespräch an der Tür lauschen, und es war mir sehr unangenehm, obwohl ich nicht hätte sagen können, warum. Ich rutschte auf meinem Stuhl herum.
Robin drehte sich um. «Was ist denn?», fragte sie.
«Nichts, Liebes», erwiderte Mrs. Gasparian. «Mach weiter.»
Doch Robin schien mein Ungemach zu spüren und schaute mich an, den Kopf geneigt. Wir kommunizierten über eine ganz eigene Sprache aus Zeichen und Gesten miteinander, und das hier bedeutete: Lass uns abhauen.
Schon bald waren es Robin und ich, die in Mrs. Gasparians Haus herumspukten. Nie bat sie darum, mit unserer Mutter sprechen zu können, und es schien ihr auch gleichgültig zu sein, ob sie für die Klavierstunden, die sie meiner Schwester gab, bezahlt wurde. Sie sagte zu Robin, sie könne so oft kommen, wie sie wolle, um zu üben, und oft begleitete ich sie. Mrs. Gasparian besaß einen grauen Kater namens Marcel, der auf groteske Weise fett war und sich nur selten rührte, obwohl er doch irgendwie im Haus herumkommen musste, denn Katzenhaare lagen überall wie Flaum und sammelten sich in seidigen Wollmäusen zwischen den Möbeln. Einen Mr. Gasparian schien es nicht zu geben, und sie sprach nie über ihre Vergangenheit, wenigstens nicht über jenen Teil. Stattdessen hörten wir von einem Konzert, bei dem sie einmal als Mädchen gewesen war und wo eine Liszt-Sonate sie zu Tränen gerührt hatte; wir erfuhren, dass Kafka der große Dichter der Einsamkeit war und dass Mrs. Gasparian bei kaltem Wetter immer Lust auf eine bestimmte Art Suppe bekam, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann. Die alte Frau steckte voller Erinnerungen, die uns nichts bedeuteten, doch sie hielt uns dennoch damit in ihrem Bann. Ich glaube, das hatte damit zu tun, dass sie so überzeugt wirkte; offenbar ging sie davon aus, dass wir begriffen, wie wichtig Kultur war, und auch ihre exotische Kleidung spielte eine Rolle. Wie Marianne war es ihr egal, was andere von ihr dachten, doch im Gegensatz zu ihr hatte sie Zeit für uns und war immer zu Hause. Obwohl Mrs. Gasparians Hauptaugenmerk meiner Schwester galt, lagen immer Bücher für mich im Wohnzimmer oder alte Wandkalender, die sie aufgehoben hatte, weil ihr die Bilder so gut gefielen, und so setzte ich mich dort auf den Boden und war beschäftigt. Manchmal kehrte ich zu meiner alten Gewohnheit zurück, ins Kino zu gehen, aber ebenso oft zog ich es vor, dort im Wohnzimmer zu sitzen, während Robin und Mrs. Gasparian spielten und murmelten. So war es mir damals am allerliebsten: in einem Zimmer zu sitzen und zuzuhören, was im anderen Zimmer vorging. Während dieser langen, staubigen Stunden war ich glücklicher als je zuvor.