Impressum
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016– 2020 unterstützt.
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Umschlagbild: Hans Schindler in seinem Büro im Verwaltungsgebäude der MFO, 1950. © Jakob Tuggener-Stiftung, Uster
Lektorat Stephanie Mohler, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-466-7
ISBN E-Book 978-3-03919-941-9
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz
www.hierundjetzt.ch
Einleitung
Die Reise nach China
Ein hoffnungsvoller Spross
Einstieg in die Firma
Die Moralische Aufrüstung
Verpflichtungen an jeder Ecke
Verlorene Wahl und USA-Abenteuer
Fehlende menschliche Wärme
Vaters Schatten
Die Ära Schindler geht zu Ende
Ein neues Leben
Quellen- und Literaturverzeichnis
Zeittafel
Führungspersonal der Maschinenfabrik Oerlikon, 1935–1957
Verflechtungen in den Verwaltungsräten
Abbildungsverzeichnis
Dank
Autor
«Ein angenehmer Abschluss meiner mannigfachen Kontakte in der Schweiz: ein Besuch bei Dir. Schindler von der Maschinenfabrik Oerlikon. Er hat seine bedrückende ‹Villa› aus der Jahrhundertwende verlassen und wohnt hoch über dem See in Zollikon. [...] Sch. hat, was mir noch nie zuteil geworden ist, an einer hohen Stange, die in peinlich gepflegtem Rasen steht, die Schweizerfahne eigens zu meinen Ehren hochgezogen. Sie ist allerdings in symbolischer Weise zunächst auf Halbmast steckengeblieben und wollte nachher nicht recht in Wallung geraten, doch hat sich schliesslich alles zum besten gewendet, und die aufgefahrene Zwetschgenwähe war so herrlich, wie die angeregte und mit menschlichen Affinitäten gewürzte Unterhaltung mit dieser liebenswürdigen und kultivierten Familie, zu der nur der Fontane fehlt, um literarisch verwertet zu werden.»
Emil Friedrich Rimensberger Tagebucheintrag, 10. August 1954
«Zum Thee kommen die Rimensbergers, er Sozialattaché bei unserer Gesandtschaft in Washington. Er macht etwas viel in Opposition, wird aber im Laufe des Gesprächs ganz nett.»
Hans Schindler Tagebucheintrag, 10. August 1954
«Seine grauen Augen blicken energisch und frisch, und es liegt ein Schimmer in ihnen, der gesunden Menschenverstand und Sinn für Humor verrät.» So beschreibt ein Journalist der Zürcher Woche im August 1954 den 58-jährigen Direktionspräsidenten der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), Dr. Hans Schindler-Baumann. Auf den ersten Blick entsprach der 1896 geborene Industrielle idealtypisch dem Bild eines Angehörigen der Schweizer Wirtschaftselite, wie es noch bis in die 1980er-Jahre vorherrschte. Er war männlich, Schweizer Staatsbürger, Chef eines Grossunternehmens, freisinnig, Milizoffizier, sass in mehreren Verwaltungsräten, hatte sich an der ETH zum Ingenieur ausbilden lassen und Lehrjahre im Ausland verbracht. Privat stammte er aus einer angesehenen Familie, trat die Nachfolge im Unternehmen des Vaters an, heiratete standesgemäss, hatte mehrere Kinder und einen repräsentativen Wohnsitz. Was nach einer erfüllten Berufskarriere, gesellschaftlichem Ansehen und befriedigendem Familienleben aussieht, erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als konfliktreicher persönlicher Weg. Dieser endete erst mit dem dramatischen Ausscheiden Hans Schindlers aus der operativen Führung der kriselnden MFO 1957 und der äusserst schmerzvollen Scheidung von seiner ersten Frau Ilda Schindler 1959 – zwei Ereignisse, die Hans Schindler rückblickend aber als «Befreiung» aus einem Zwangskorsett empfand.
In welchem Sinn musste sich Hans Schindler befreien? Was spielte sich in seinem Innern ab? Wie erklärte er sich die Schwierigkeiten in beruflicher und familiärer Hinsicht? Er war, so schrieb er später, bis zu einem eigentlichen Neustart im siebten Lebensjahrzehnt ein Gefangener seiner familiären Prägung: «In meinem Leben spielten die vom Elternhaus übernommenen Vorstellungen eine grosse Rolle. Sie hatten ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Auslandsaufenthalte, aktive Betätigung im Beruf, Militärdienst in allen Chargen vom Rekruten bis zum Bataillonskommandanten, Heirat, eigene Kinder, all das erweiterte zwar den Horizont, änderte aber wenig an den Vorstellungen über Pflichten, Stellung in der Welt, Erlaubtes und Verbotenes, Verteidigungswürdiges und zu Bekämpfendes. Parallel zum Beharrungsvermögen alter Vorstellungen geht eine akute Blindheit gegenüber Erscheinungen, die nicht zu den alten Vorstellungen passen. Was nicht sein darf, wird ignoriert, abgeleugnet, abgestritten. Ich sündigte in dieser Beziehung schwer, zum Erstaunen von wohlwollenden Leuten, deren Blick ungetrübt von familiären Vorurteilen war.» Erschwerend kam seine generelle Unsicherheit hinzu, die er erst im Alter ablegen konnte. Als veritables Handicap erwies sich aber seine Unfähigkeit, andere Menschen richtig einzuschätzen und sie mit ihren Stärken und Schwächen zu akzeptieren.
Zu seinem 70. Geburtstag schrieb der ehemalige Nationalrat Hermann Häberlin, sein langjähriger Weggefährte im Arbeitgeberverband schweizerischer Maschinen- und Metall-Industrieller (ASM), in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), dass der ehemalige Präsident des Verbandes, Hans Schindler, «aus weicherem Holz geschnitzt» gewesen sei als sein Vater, der in streng patronaler Manier genau das Gegenteil verkörpert habe. Kurz vor seinem unfreiwilligen Ausscheiden aus der aktiven Unternehmensführung stellte Hans Schindler selbst fest, dass er als Unternehmer wohl zu wenig Härte an den Tag gelegt habe. Was er als scharfe Abgrenzung zu seinem strengen Vater praktizierte, wurde mit der Zeit zu einer schweren Hypothek. Seine Anordnungen wurden im Betrieb mit der Zeit immer weniger ernst genommen, und es mangelte ihm an Durchsetzungskraft und Entscheidungsfreude. Dazu kam das selbst diagnostizierte Fehlen des «Unternehmer-Gens», was die MFO fast ungebremst in eine schwere Krise schlittern liess. Die Reparatur gelang zwar halbwegs ab 1958 unter neuer Führung, doch für ein Überleben im internationalen Markt war der spätere Zusammenschluss der MFO mit der Brown, Boveri & Cie. (BBC) schliesslich unumgänglich.
Was in Künstlerbiografien gerne und oft ausführlich beschrieben wird, ist bei Abhandlungen über die Wirtschaftseliten kaum ein Thema: die Auswirkungen der familiären Situation auf die Karriere. Hans Schindler ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich seine alles andere als idealen privaten Verhältnisse auch auf seine berufliche Tätigkeit auswirkten. Sein Cousin Rudolf Huber-Rübel, der mit ihm zusammen die MFO leitete, brachte es in seinen Lebenserinnerungen klar zum Ausdruck: «Schindler […] machte auch seine Familie schwer zu schaffen.» Er sei im Betrieb oft unausgeglichen gewesen. Die fehlende Liebe zwischen Hans Schindler und seiner Frau lastete schwer auf dessen Seele. Dazu kam, dass seine Frau als praktizierende Ärztin und passionierte Bergsteigerin in keiner Weise dem vorherrschenden Bild einer Industriellengattin entsprach. Mit der häufigen Abwesenheit ihrer Eltern und den gleichzeitig hohen Ansprüchen an ihr wohlgeratenes Gedeihen konnten auch die sechs Kinder kaum umgehen. Entsprechend problematisch gestalteten sich ihre Beziehungen zu den Eltern.
Die Verflechtung von Familien- und Firmengeschichte und der persönliche Einblick in das Denken und Fühlen eines Zürcher Wirtschaftsführers aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ist vor allem aus einem Grund möglich: Hans Schindler hat von 1945 bis 1957 detailliert Tagebuch geschrieben. Die überlieferten 25 Hefte sind handschriftlich geführt, umfassen insgesamt knapp 3000 Seiten und weisen von wenigen Ausnahmen abgesehen zu jedem einzelnen Tag einen Eintrag auf. Sie erlauben einen fast schon intimen Blick in das Innenleben von Hans Schindler und zeigen seine Sorgen und Nöte auf – in geschäftlicher wie auch in privater Hinsicht. Da das 25. Heft bis zur letzten Seite gefüllt ist und seine Kinder auch spätere Tagebücher gesehen haben wollen, kann man annehmen, dass Hans Schindler im Oktober 1957 nicht aufgehört hat, Tagebuch zu führen. Die späteren Tagebücher sind aber nicht mehr auffindbar. Vermutlich vernichtete sie seine zweite Frau Dora Loppacher nach Hans Schindlers Tod. Sie nahm ab 1958 eine zentrale Rolle in seinem Leben ein und wurde ab diesem Zeitpunkt wohl auch sehr häufig im Tagebuch erwähnt.
Erhalten sind weiter seine Memoiren mit dem bezeichnenden Titel «Überprüfungen» und dem Zusatz «Als Kind und Jugendlicher anfangs des Jahrhunderts im Industriellen-Milieu Zürichs und spätere Erlebnisse». Interessanterweise räumt Hans Schindler der problembeladenen Zeit ab dem Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Ausscheiden aus der aktiven Leitung der MFO 1957 nur sehr wenig Platz ein. Ausführlich beschreibt er seine Jugend, seine ersten Jahre bei der MFO und dann wieder die Zeit nach 1958. Zudem unterzieht er sein Leben ganz im Sinne der titelgebenden Überprüfung einer ziemlich schonungslosen Bewertung. Das privat gedruckte Büchlein mit einem Umfang von 69 Seiten gab er «tropfenweise» an Familienangehörige und Freunde ab. Als Gegenstück zu den persönlichen Aufzeichnungen von Hans Schindler standen mir auch Briefe seiner ersten Ehefrau Ilda Schindler zur Verfügung, die sie an ihre Freundin Suzanne – genannt Sus – Öhman-Schwarzenbach, die in Schweden wohnte, geschrieben hatte. Hans Schindler spielt darin allerdings im Gegensatz zur ausführlich geschilderten Entwicklung der Kinder eine Nebenrolle.
Aufgrund der sehr persönlichen und offenen Tagebucheinträge, die thematisch von schweren Auseinandersetzungen mit Familienmitgliedern und Arbeitskollegen über scharfe Selbstanklagen und psychiatrische Behandlungen bis hin zu unerfülltem sexuellem Begehren reichen, stellt sich eine wichtige Frage: Darf man ein Tagebuch, das der Verfasser im Prinzip nur für sich geschrieben hat, als Quelle für eine Publikation benutzen und so den Inhalt der Öffentlichkeit zugänglich machen? Im vorliegenden Fall sprachen einige gewichtige Gründe für die Verwertung des Materials. Hans Schindler ist seit über 35 Jahren tot, ebenso (fast) alle Hauptpersonen, die im Tagebuch genannt werden. Er und sein Umfeld stehen damit nicht mehr persönlich im Fokus, sondern fungieren als zeittypische Vertreter einer heute in dieser Form untergegangenen Elite. Und hätte Hans Schindler nicht gewollt, dass auch unschöne Dinge aus seinem Leben an die Öffentlichkeit gelangen, hätte er in seiner Autobiografie gewisse Probleme nicht so schonungslos geschildert. Der wichtigste Grund für die Veröffentlichung ist aber sicherlich die Bereitschaft seiner noch lebenden Kinder, dieses einmalige Zeitdokument – auch auf Empfehlung der Wirtschaftshistorikerin Dr. Margrit Müller von der Universität Zürich – interessierten Kreisen zugänglich zu machen. 2017 haben sie die Tagebücher dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel übergeben und mir im Jahr darauf den Auftrag zum Schreiben dieser Biografie erteilt.
Natürlich stellt sich weiterhin die Frage, ob man allzu Privates nicht weglassen sollte, ob man nicht Gefahr läuft, einem gewissen Voyeurismus Vorschub zu leisten. Doch Schindlers Aufzeichnungen sind so vielseitig und offen, dass es schade wäre, sie zu zensurieren. Der Unternehmer, der in historischen Abhandlungen oft stark hagiografisch gezeichnet wird, erhält hier ein komplexeres Gesicht – Zaudern, Zweifel, gar Verzweiflung gehören dazu, und auch privates und geschäftliches Scheitern werden thematisiert.
Auf den ersten Blick spiegeln die Geschehnisse zwischen 1945 und 1957 ein Bild von Hans Schindler wider, das von einigen Misserfolgen im Unternehmen und persönlichen Schwierigkeiten geprägt ist. Beeindruckend ist aber sein unbändiger Wille, sich selbst und die MFO zu verändern, seine Offenheit, sein Sinn für Humor und seine scharfe Beobachtungsgabe. Immerhin gelang ihm im Alter der Übertritt in eine glücklichere Lebensphase, was seine Krisenjahre in einem versöhnlichen Licht erscheinen lässt – auch im Hinblick auf die zuvor sehr schmerzlichen Konflikte in der Familie, die damals teilweise beigelegt werden konnten. Faszinierend ist seine unmittelbare Zeitzeugenschaft in der Nachkriegszeit. So begegnete er etwa dem sehr erschöpften Winston Churchill bei dessen berühmtem Besuch in der Aula der Universität Zürich, 1949 trat er im Kampf um einen Ständeratssitz gegen Gottlieb Duttweiler an, er machte Bekanntschaft mit der immer stärker in einen sektiererischen Antikommunismus abdriftenden christlichen Bewegung der Moralischen Aufrüstung, er lernte bei seinen vielen Geschäftsreisen in die USA den freizügigen American Way of Life kennen und zimmerte als Arbeitgeberverbandspräsident zusammen mit den grossen Gewerkschaftsführern wie Konrad Ilg insgesamt drei Verlängerungen des Friedensvertrags in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Besondere Kühnheit verlangte aber 1945 eine Reise nach China, das sich immer noch im Kriegszustand mit Japan befand. Dieser riskante Besuch zur ersten Anbahnung von Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und der Schweiz war für Hans Schindler der Anlass, mit dem Schreiben eines Tagebuchs zu beginnen, und soll auch hier dazu dienen, in das turbulente Leben dieses Zürcher Industriellen einzutauchen.
«8.07 Uhr Abfahrt des Zuges nach Neuenburg. Die ganze Familie ohne die beiden Kleinsten, und die Grosseltern waren auf dem Bahnhof. Jedermann war etwas traurig.» So beginnt der erste Tagebucheintrag von Dr. Hans Schindler-Baumann am 2. Mai 1945. Da stand er also, der Ehemann, Vater, Schwiegersohn, 48 Jahre alt, ein stattlicher Mann mit nachdenklichem, aber wachem Blick, und verabschiedete sich im Zürcher Hauptbahnhof von seinen Schwiegereltern, seiner Frau Ilda und von vier seiner sechs Kinder. Ziel der Zugfahrt war Paris, von wo aus er in mehreren Etappen in amerikanischen Militärmaschinen nach China weiterreisen wollte.
Die bevorstehende Reise in den Fernen Osten war offensichtlich der Anlass, um von nun an Tag für Tag über sein Leben Buch zu führen und die wichtigsten Erlebnisse, Gedanken und Taten festzuhalten. Die Ungewissheit einer Reise durch die halbe Welt, die sich nach wie vor im Kriegszustand befand, löste auch bei der Familie spezielle Gefühle aus. Sohn Peter, damals zehn Jahre alt, erinnert sich, dass sich Vater und Mutter beim Abschied in der Bahnhofshalle das einzige Mal in der Öffentlichkeit einen Kuss gaben. Die Kinder waren tief beeindruckt.
In China wollte Hans Schindler zusammen mit einer kleinen Delegation von weiteren Vertretern aus wichtigen Schweizer Industriefirmen den Boden für die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder bereiten. Man erwartete, gute Beziehungen zu massgeblichen Persönlichkeiten der Regierung und der Privatwirtschaft knüpfen zu können. Im Stillen hoffte die Delegation natürlich, bereits erste Bestellungen für ihre Firmen oder zumindest für Schweizer Unternehmen einholen zu können. China befand sich immer noch im Krieg mit Japan. Die chinesische Regierung unter Chiang Kai-shek hatte sich nach dem Massaker in der alten Hauptstadt Nanking von 1937 in Chongqing installiert und empfing in Erwartung der baldigen Kapitulation Japans erste ausländische Besucher, die beim Wiederaufbau mithelfen wollten.
Im Februar 1945 hatte sich Schindler nach einer Besprechung mit Fritz Respinger entschlossen, sich der Delegation anzuschliessen. Respinger war früher Direktor der Aluminium-Walzwerke in Schaffhausen und sass aktuell im Verwaltungsrat der Aluminium Industrie Aktiengesellschaft (AIAG). Er hatte unter anderem ein Folienwerk in Schanghai aufgebaut. Weitere Mitglieder waren der Prokurist Dr. Willy Corti von der AIAG, Ingenieur Allemand von der MFO sowie Ingenieur Winkler von Escher Wyss, der in Kairo zur Gruppe stossen wollte. Als Verbindungsmann diente der chinesische Ingenieur Miao Chung-wa, der bei Sulzer ein langes Praktikum gemacht hatte und deshalb auch Deutsch sprach. In Schindlers Tagebuch taucht er in alter Schreibweise als «Herr Miau» auf.
Die Abreise im Frühling 1945 hatte sich immer wieder verzögert, weil keine Diplomatenpässe bewilligt worden waren. Für die normalen Dienstpässe wurden nicht weniger als elf Visa benötigt, um den Transit durch verschiedene Länder nach China zu bewerkstelligen. Auf das Visum aus China wartete die Delegation zweieinhalb Monate. Es zeigte sich, dass gewisse Kreise der Mission feindlich gesinnt waren. Später erfuhr Schindler, dass insbesondere ein wichtiger Wirtschaftsberater von Chiang Kai-shek den Verlust von Einfluss und Geschäftsmöglichkeiten fürchtete und deshalb den Schweizern möglichst viele Steine in den Weg legte. General Kwei Yun-chin, der die Delegation zur Reise nach Chongqing ermuntert hatte, pochte jedoch trotz der Schwierigkeiten auf die sofortige Abreise. Er war in der Regierung von Chiang Kai-shek offiziell Chef der chinesischen Militärmission in Deutschland und bekleidete weitere hohe militärische Ämter.
Kaum mit dem Schlafwagen in Paris angekommen, erwartete sie schon die nächste Komplikation. Respinger erfuhr in der schweizerischen Gesandtschaft, dass der chinesische Botschafter in Frankreich aufgrund von Meldungen aus Chongqing von einer Weiterreise nach China abriet. Offenbar waren die Chinesen beleidigt, dass die offizielle Schweiz noch keinen Gesandten nach Chongqing geschickt hatte. Trotz eines Briefs von Bundesrat Walther Stampfli an den chinesischen Wirtschaftsminister, in dem er eine baldige Entsendung versprach, gab der chinesische Botschafter nicht nach. Die Delegation habe den Charakter einer rein wirtschaftlichen Mission. Man könne sie jetzt nicht gut empfangen. Dies sei ein Befehl von Chiang Kai-shek, und General Kwei müsse gehorchen.
In diese Ungewissheit platzte am 7. Mai 1945 die Kapitulation Deutschlands. Schindler notierte: «Im Gare St Lazare ist das Publikum freudig erregt, aber nicht enthusiastisch. Abends durchziehen Gruppen von jungen Leuten singend die Boulevards. Man sieht Ehepaare auf der Strasse sich küssen. Gelegentlich wird die Marseillaise gespielt und jedermann steht entblössten Haupts und salutierend. Gedämpfte Freude, aber doch richtige Freude.» Am darauffolgenden Tag beobachtete er, wie Jeeps und militärische Fahrzeuge mit Frauen und Soldaten durch die Strassen fuhren und mit grossem Jubel begrüsst wurden. «US Soldaten, die zuviel getrunken haben, stürzen sich auf jede Frau, die in ihre Nähe kommt und nicht gerade uralt ist, und küssen sie schmatzend ab. Sie lassen sich das lachend gefallen, auch die Ehemänner der abgeküssten Frauen. Wenn man viel durchgemacht hat, versteht man andere Leute besser und nimmt kleinere Unarten weniger tragisch.»
In den nächsten Tagen trafen unterschiedlich lautende Meldungen ein. Es zeigte sich aber bald, dass die Delegation erst später im Jahr in China empfangen werden sollte. «Es ist schwierig, die Wahrheit zu erfahren. Wenn sich die Chinesen getäuscht haben, so wollen sie es nicht zugeben.» Da man weiter auf die offizielle Meldung von General Kwei wartete, blieb die Delegation vorerst in Paris. Schliesslich kaufte sich Schindler Rückreisetickets, um gleichentags zu erfahren, dass doch noch Hoffnung auf eine Weiterreise nach Chongqing bestand. «Ich wäre am Samstag wirklich gerne nach Hause gereist. Die neue Umstellung ärgert mich genau wie mich als kleiner Bub die Umstellung der Ferienpläne der Familie geärgert hat», notierte er entnervt. Zum Trost ging die Delegation ins Casino de Paris. Doch Schindler fand nicht sonderlich Gefallen daran: «Viel amerikanisches Militär, das bei besonderen Nacktheiten oder Anzüglichkeiten tierische Laute von sich gibt. Wenig Witz und Kunst, viel Kitsch und im zweiten Teil déshabillage [Striptease] in Serie.» Schon am nächsten Tag wurde der Delegation von chinesischer Seite erneut geraten, nun doch in die Schweiz zurückzukehren und nicht weiter darauf zu insistieren, jetzt in Chongqing empfangen zu werden. Neben den internen Machtkämpfen um Einfluss in wirtschaftlichen Belangen, der auf dem Rücken der Schweizer Delegation ausgetragen wurde, gab es einen weiteren Grund für die Verzögerung der Reise: Im Frühling 1945 fand in Chongqing der 6. Nationalkongress der Kuomintang, der Regierungspartei von Chiang Kai-shek, statt, sodass die Unterkünfte in der Stadt knapp und die Vertreter der Behörden mit wichtigeren Dingen beschäftigt waren.
Am 19. Mai 1945 traten sie die Rückreise an. Doch kaum wieder in Zürich, berichtete General Kwei, dass Chang Kai-shek nun doch signalisiert habe, dass sie in Chongqing willkommen seien. Schindler schickte die Pässe der Delegation erneut an das Politische Departement zur Erneuerung der Visa. Am 18. Juni 1945 starteten sie den zweiten Versuch. Respinger gehörte allerdings nicht mehr zur Delegation, weil sich das Verhältnis zwischen ihm und Schindler in Paris zusehends verschlechtert hatte. Unter anderem hatte sein ständiges Nörgeln an der Qualität seines Hotelzimmers beinahe zu einer diplomatischen Eskalation geführt. Schindler hatte der AIAG deshalb mitgeteilt, dass die Mitglieder der Delegation nicht unglücklich wären, wenn Respinger bei der zweiten Reise nicht dabei wäre. Die AIAG kam dem Wunsch nach und informierte den in Rom weilenden Respinger erst, als die Delegation bereits unterwegs war.
In Paris willigte die amerikanische Botschaft rasch in die Zuteilung von Flugplätzen ein. Nach Erhalt der nötigen Formulare flogen Schindler, Allemand und Miao in einer kleinen amerikanischen Militärmaschine nach Kairo. Die drei wurden in Armeebaracken mitten in der Wüste einquartiert. Schindler lobte die Betten und die Qualität der WC-Anlage («besser als im Ritz»), die allerdings für vier Personen ausgelegt war: «Man ist gezwungen, Handlungen des täglichen Lebens in [der] Öffentlichkeit durchzuführen, die man sonst sein Leben lang allein gemacht hat. […] Was würde wohl Herr Respinger dazu sagen?» Die Reise von Paris nach Kairo mit der amerikanischen Luftwaffe und das Leben auf dem US-Militärflughafen beeindruckten Schindler. Es scheine sich eine neue Art von Reisen auszubilden. Geschwindigkeit, Zweckmässigkeit sowie Sauberkeit zur Vermeidung von Krankheiten würden dabei eine ausschlaggebende Rolle spielen, meinte er. Mit Dr. Willy Corti und Ingenieur Winkler stiessen bei einem Mittagessen auch die restlichen Mitglieder zur Delegation, die beiden Herren wollten aber erst später weiterreisen. In der Folge gelang es Schindler, Plätze bis Karatschi in Britisch-Indien zu buchen. Am 26. Juni landeten er und Miao in der Hafenstadt, die zwei Jahre später Hauptstadt des neuen Staates Pakistan werden sollte. Untergebracht waren sie wiederum auf der US-Luftwaffenbasis.
Da vorerst die Bewilligung zur Einreise in China fehlte und auch Winkler und Corti auf sich warten liessen, sassen Miao, Schindler und der mittlerweile nachgereiste Allemand im heissen Karatschi fest. Während mithilfe von Telegrammen an alle möglichen Adressaten weiterhin versucht wurde, endlich die Bewilligung für den Weiterflug nach China zu bekommen, war Schindler mit Dingen beschäftigt, die ansonsten nicht in das Alltagsleben eines Grossindustriellen passten: Er las seit Jahren wieder einmal einen Kriminalroman, philosophierte mit seinen Begleitern über die Schwierigkeiten junger Ingenieure zu heiraten, wusch mithilfe von Miao eigenhändig seine Taschentücher und kaufte einen Tropenhelm in einem Laden, dessen Besitzer entweder unter einem Ventilator schlief oder die Kundschaft nur widerwillig und mit nackten Füssen bediente. Und selbst mit der Tatsache, dass hier niemand Schweizer Franken wechseln wollte, fand er sich nach anfänglichem Ärger ab.
Nachdem die Delegation bereits wieder drei Wochen unterwegs gewesen war, gelangte sie nach Chabua im Assam-Tal. Ein Überflug des Himalaja mit einer US-Maschine wurde ihnen aber definitiv verweigert. Mithilfe einiger chinesischer Funktionäre erhielten sie letztendlich Tickets der chinesischen Fluggesellschaft und konnten so nach Kunming weiterreisen.
Am 12. Juli 1945 betrat die Schweizer Delegation endlich chinesischen Boden. Von den ersten Eindrücken war Hans Schindler überwältigt: «Die Fahrt auf den rickshaws durch Kunming war wie ein Traum. Camions, Jeeps, Limousinen, rickshaws, Frauen mit schlafenden Kindern auf dem Rücken, uralte Männer mit Bärten, viel Volk, Soldaten, Gerüche.» Die nächsten Tage waren gefüllt mit Treffen mit den wichtigsten Industriellen in Kunming und einigen Fabrikbesichtigungen. Schindlers allgemeiner Eindruck war, dass die Chinesen mit einfachen Mitteln und in primitiven Einrichtungen sehr brauchbare Waren produzierten. Weitere Zusammenkünfte mit offiziellen Würdenträgern und üppige Essen rundeten das strenge Besuchsprogramm ab. Das ungewohnte Essen und der hohe Alkoholkonsum forderten bei Schindler ihren Tribut: «Mir war elend zumute und ich konnte knapp eine Magenexplosion vermeiden.» Die Delegation verschob deshalb die Reise nach Chongqing, weil Schindler dort nicht mit Fieber eintreffen wollte. Auch Miao war einverstanden, da er so endlich wieder einmal die Gelegenheit hatte, seine Eltern zu sehen. Nach der Genesung und einem Besuch beim Coiffeur reisten sie schliesslich in die chinesische Hauptstadt weiter.
Am Flughafen in Chongqing empfing ein kleines Empfangskomitee des Wirtschaftsministeriums die Delegation. Man verfrachtete sie ins neu erbaute Demonstration Hostel und überliess ihr einen ganzen Bungalow samt drei Dienern. Im Empfangszimmer hingen eine chinesische und eine Schweizer Flagge unter dem Bild von Chiang Kai-shek. «Ich bin zum Heulen gerührt», schrieb Schindler. Die Delegation war froh, endlich einmal die Koffer auspacken zu können und sich neben modernen Ventilatoren gemütlich aufs Bett zu legen. Bei einem ersten Treffen mit Vizewirtschaftsminister Tann, zuständig für wirtschaftspolitische Fragen, erläuterte Schindler den Zweck der Mission. Man wolle sich mit Fabrikbesuchen und Besprechungen einen Überblick über die Lage in China verschaffen. In erster Linie gehe es um Vorschläge für Kraftwerke, die Bahnausrüstung und die Papierherstellung. Bei Bedarf nach weiteren Industrieprodukten könnte er nach Rücksprache in der Schweiz ebenfalls Vorschläge machen oder sogar weitere Personen aus der Werkzeugmaschinenindustrie, der Textilmaschinenindustrie, der chemischen Industrie und der Uhrenindustrie kommen lassen. Weiter gebe es viele Sachverständige für Technik, Medizin, Hygiene und Landwirtschaft, die gerne nach China kämen und im Auftrag der Regierung Fragen des Fachgebiets bearbeiten könnten. Auch die MFO würde falls gewünscht ihr Wissen beim Aufbau einer elektrotechnischen Fabrik zur Verfügung stellen. Und schliesslich, meint Schindler, müsse ja auf lange Sicht der Import und Export Chinas ins Gleichgewicht gebracht werden, was Gespräche mit Handelsexperten nötig mache.
Die Delegation liess es sich nicht nehmen, zur Zerstreuung auch den Alltag in Chongqing besser kennenzulernen. Schindler engagierte für sich einen Chinesischlehrer, sie erkundeten mit Rikschas selbstständig die Stadt («geht glatt, nur kleine Überbezahlung») und vergnügten sich – mit Einschränkungen – an einer Tanzveranstaltung: «Die Chinesinnen sind schon sehr klein und ich schwitze vor Angst, ihnen auf die Füsschen zu treten. Nach drei Tanzversuchen gebe ich es auf. Allemand und Miau sind etwas erfolgreicher, kommen aber auch vor 11 Uhr zurück.»
Am 7. August trafen auch Corti und Winkler ein. Die Stimmung unter den fünf Herren war gut, auch wenn Schindler einige Tage zuvor von Miao verlangen musste, ihm alle Telegramme in die Schweiz vorzulegen, sofern sie nicht komplett privater Natur waren. Offensichtlich vermutete er, dass Miao nicht nur für die Delegation arbeitete, sondern auch noch für weitere Leute in der Schweiz Erkundigungen einholte. Namentlich stand er in Kontakt mit seinem Freund Tang, der bei der BBC, dem Hauptkonkurrenten der MFO, arbeitete. Nachdem die Delegation endlich komplett war, fing man zusammen mit der staatlichen National Resource Commission (NRC) an, konkrete Projekte auszuarbeiten. Im Mittelpunkt stand ein Projekt für ein Kraftwerk am Jangtsekiang. Die NCR verlangte in erster Linie Vorschläge zur Finanzierung, die Delegation aus der Schweiz erwartete Grundlagen zur Ausarbeitung einer technisch einwandfreien Offerte. Statt Detailpläne erhielten die Schweizer vorerst Daten über den Fluss und einen groben Situationsplan – viel konnte man damit nicht anfangen.
Erfreuliche Nachrichten verbreiteten sich in den Abendstunden des 10. August: Japan hatte bedingungslos kapituliert. «Mein Chinesisch-Lehrer führte einen Freudentanz auf und jedermann ist sehr glücklich. Feuerwerk, viel Volk auf der Strasse.» Doch was bedeutete das Kriegsende für die Mission der Schweizer Delegation? Erlangte sie eine erhöhte Bedeutung aufgrund der grösseren Aktualität eines friedlichen Aufbaus? Oder war die Delegation gar nicht mehr erwünscht? Weiter war nun auch ungewiss, wie lange die einflussreichen Leute überhaupt noch in Chongqing bleiben und wann die Regierung wieder in die Hauptstadt Nanking ziehen würde.
Trotz Siegesfeierlichkeiten gingen die Fabrikbesuche und die Besprechungen mit privaten Industriellen und mit Staatsvertretern weiter. Es kristallisierte sich immer mehr heraus, dass die Chinesen grundsätzlich bereit waren, in der Schweiz zu bestellen, jedoch nur zu sehr grosszügigen Zahlungsbedingungen. Ein Wirtschaftsführer fasste die Situation so zusammen: Die chinesischen Industriellen würden gerne kaufen, hätten aber die nötigen Barmittel nicht; die europäischen und amerikanischen Industriellen möchten verkaufen, geben aber die nötigen Kredite nicht. Immerhin signalisierten Bankenvertreter eine gewisse Bereitschaft, Zahlungsgarantien abzugeben, auch in US-Dollars.
Am Vorabend der grossen Dinner-Party, zu der die Delegation als Schlusspunkt ihrer Mission eingeladen hatte, besprachen die Mitglieder in ihrem Bungalow nochmals die kleine Ansprache, die Schindler halten sollte. Es war für eine Teamsitzung gesetzter Geschäftsherren ein eher ungewöhnliches Setting: «Wir fünf sitzen mit nackten Oberkörpern, shorts oder langen Hosen und slippers im schlecht erleuchteten Zimmer (die Spannung ist bis zehn Uhr abends immer miserabel, so dass man zum Schreiben fast nichts sieht) und jeder trägt seinen Senf zur Ansprache bei.» Am nächsten Tag waren 71 Gäste an dem Galadinner anwesend, darunter auch der Wirtschaftsminister, Vizeminister Tann und weitere Regierungs-, Rüstungs-und Bankenvertreter. Schindler empfand seine Rede, die er nach dem Essen hielt, als wenig gelungen, weil er mehrmals gestockt habe und der Ton gepresst gewesen sei. Nach einer freundlichen Replik des Wirtschaftsministers wurden noch drei Filme über die Aluminiumherstellung, die MFO und über Schweizer Sanatorien gezeigt. Beim letzten Film fragte sich Schindler, ob hier nicht zu viel Luxus gezeigt worden sei und dies auf die chinesischen Gäste protzig gewirkt haben könnte: «Schon nach zwei Monaten Abwesenheit von der Schweiz erscheinen die Bilder von Zürich-Stadt, von den Kliniken etc. wie eine Erzählung aus einem technischen Paradies.» Gegen Ende des Abends unterhielt er sich unter vier Augen mit dem Wirtschaftsminister. Dieser erzählte ihm von einem sehr weitgehenden Handelsvertrag, der mit den Amerikanern geplant sei und viele Ressourcen beanspruche. Den Handelsbeziehungen mit der Schweiz könne man sich dann wieder zuwenden, wenn dieser Vertrag abgeschlossen sei. Dennoch wurde am nächsten Tag ein chinesisch-schweizerischer wirtschaftlicher Verein gegründet, der die Wirtschaftsbeziehungen der beiden Länder vertiefen sollte. Der Besitzer einer chinesischen Zementfabrik wurde zum Präsidenten ernannt, Schindler zum Vizepräsidenten. Es wurde geplant, zusammen mit dem chinesischen Gesandten in Bern eine Schweizer Gruppe dieses Vereins zu gründen. Alle am Export nach China interessierten Firmen sollten diesem Ableger beitreten.
Das Fazit einer letzten Besprechung mit den Chinesen fiel ernüchternd aus. Man war übereinstimmend der Meinung, dass man unter den herrschenden Verhältnissen nicht mehr erreichen konnte. Die Regierungsprojekte für hydraulische und thermische Kraftanlagen waren noch nicht reif für eine Auftragserteilung. Auf Schweizer Seite haperte es abgesehen vom Fehlen eines Schweizer Gesandten mit der Kreditvergabe. Weitere Verhandlungen wurden als zwecklos erachtet, da die Regierungsstellen allesamt mit dem Umzug nach Nanking beschäftigt waren. Auch den Geschäften der MFO war kein Erfolg beschieden: Die Offerte für fünf Motoren für eine Getreidemühle war wesentlich höher als die einer englischen Firma. Trotz Rabatten ging der Auftrag verloren. Und ein anderer Industrieller schlug im letzten Moment auch noch eine Transformatorenofferte aus.
Am Abend vor dem Abflug war die Delegation noch zu einem sogenannten schwarzen Kaffee beim Vorsteher der Politischen Abteilung des Ministerpräsidenten eingeladen. «Der schwarze Kaffee besteht aus etwa 5–10 kalten Platten, darunter Rieseneier, die mit Zucker gegessen werden, normalen Hühnereiern und präparierten (sog. faulen) Eiern. Nachher kommt eine Schicht süsser Platten, das ganze übergossen von sehr viel süssem und daneben sehr starkem liqueurartigem Wein.» Doch auch die üppigste Platte konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mission im Grunde kaum zählbare Resultate hervorgebracht hatte.
Am 12. September flog die Delegation vorerst nach Kunming, wo Miao verabschiedet wurde. Er wollte in Schanghai ein Import-Export-Geschäft aufziehen oder für Ingenieurarbeiten in die Mandschurei oder nach Taiwan reisen. Er gab zu, oft gereizt gewesen zu sein, aber das seien alle Chinesen. Er sei nur mit Mühe auf seinem Posten geblieben. Schindler und die übrigen Mitglieder bedankten sich für seine Dienste und anerkannten seinen guten Willen und seinen Einsatz. Der gesamten Delegation hatten das feuchtheisse Klima in Chongqing, der grenzenlose Dreck auf den Strassen, die gleichgültige Bedienung und Mahlzeitenzubereitung, die prekäre Strom- und Wasserversorgung sowie das Fehlen von europäischen Zeitungen und Radionachrichten zugesetzt. Mit der Landung in Dinjan im Assam-Tal endete der zweimonatige Aufenthalt auf chinesischem Territorium.
In Kalkutta verpasste die Delegation den Weiterflug mit einem britischen Flugzeug und verbrachte sechs Tage in der indischen Metropole. Schindler nutzte die Zeit zum Ordnen und Vernichten von Akten und machte eine Aufstellung über die Kosten der China-Mission. Für die MFO rechnete er mit Ausgaben von 4800 Franken (entspricht heute rund 25 000 Franken). In Kairo wohnte Schindler dann wieder auf der Luftwaffenbasis. Er blieb noch ein paar Tage in der ägyptischen Hauptstadt, um MFO-Kunden zu besuchen. Die übrige Zeit nutzte er zum Besichtigen einiger Sehenswürdigkeiten. Er sah unter anderem die Grabbeigaben für Tutanchamun und lobte die schönen kunstgewerblichen Gegenstände. Doch das ganze «Mumienzeugs» sei recht makaber und «eine grosse Verirrung des menschlichen Geistes».
Am 29. September flog Schindler über Athen nach Neapel. Einen Tag später ging die Flugreise weiter über Marseille nach Paris. Für die letzte Etappe nahm er den Zug und kam am 1.Oktober 1945 endlich wieder zu Hause in Zürich an. Seine Ehefrau Ilda schrieb in einem Brief an ihre Freundin Sus Öhman, dass ihr Ehemann Hans alles erstaunlich gut ausgehalten habe und blühend aussehe, obwohl die ganze Reise sehr strapaziös gewesen sei. Jedenfalls sei alles hochinteressant gewesen, so ihr Eindruck.
Da Hans Schindler erst am 18. Dezember 1945 nach einem dreimonatigen Unterbruch wieder mit dem Tagebuchschreiben anfing, ist über die Nachbearbeitung der Chinareise relativ wenig bekannt. Die Mission fand jedenfalls im offiziellen Bern Widerhall, als es darum ging, in China endlich die versprochene Gesandtschaft zu errichten. In der Botschaft des Bundesrats vom 7. September 1945 heisst es zur handelspolitischen Bedeutung einer offiziellen Vertretung: «Das grosse Interesse, das unsere Exportkreise an der Wiederbelebung und am Ausbau unserer Handelsbeziehungen mit China haben, geht schon aus der Tatsache hervor, dass Mitte Juli dieses Jahres eine private Abordnung schweizerischer Industrieller sich trotz aller Unzukömmlichkeiten und Schwierigkeiten auf den Weg nach China begeben hat, um mit den massgebenden dortigen Kreisen Fühlung zu nehmen.» Aus weiteren offiziellen Dokumenten geht hervor, dass Hans Schindler als Berater der Behörden in Sachen Wirtschaftsbeziehungen zu China sehr gefragt war. Und auch als Vortragsredner tourte er offenbar durch die Schweiz. Beim Vortrag über die Chinareise an der Generalversammlung der Neuen Helvetischen Gesellschaft im Dezember 1945 wunderte er sich auf jeden Fall, der wievielte seiner Vorträge über China dies wohl gewesen sei. Im März 1946 entsandte die Schweiz mit Henri de Torrenté schliesslich einen Gesandten nach Nanking.
Die Reise nach China machte auf Hans Schindler einen sehr nachhaltigen Eindruck. In seinen Memoiren bezeichnet er seinen Aufenthalt als beträchtliche Horizonterweiterung. Er erlebte, wie man sich als Fremdling fühlt, und begriff gleichzeitig, wie grenzenlos schwierig es ist, das Leben und Denken der anderen Kultur zu verstehen. In wirtschaftlicher Hinsicht blieb die Mission von bescheidener Wirkung. Der erneut aufgeflammte Bürgerkrieg in China band fast alle Ressourcen, der Wiederaufbau stockte. Mit der Vertreibung der Kuomintang-Regierung unter Chiang Kai-shek nach Taiwan durch die Kommunisten gingen ab 1949 auch die Vorteile persönlich geknüpfter Beziehungen ins Reich der Mitte verloren. Es sassen nun Mao Zedong und seine Leute an den Schalthebeln der Macht. An fruchtbare Wirtschaftsbeziehungen mit dem kommunistischen Regime war vorerst nicht mehr zu denken.
Wer war dieser Mann, der mutig, aber wohl auch etwas voreilig noch mitten im Krieg nach China aufbrach, um für die Schweizer Exportindustrie eine erste Türe zu diesem riesigen Absatzmarkt aufzustossen? Der jüngere Stammbaum von Hans Schindler liest sich wie ein «Who’s who» der einflussreichen Zürcher Familien. Stammvater der Schindler-Familie war allerdings ein Glarner, der erst 1842 nach Zürich kam und hier das Landgut Kreuzbühl erwarb. Dietrich Schindler-Schindler wurde 1795 in Mollis geboren, studierte Recht in Deutschland und war Teilhaber der Textilfirma Jenny & Schindler in Hard bei Bregenz. Bekannt wurde er allerdings in seiner Heimat als Politiker, der massgeblich an der Ausarbeitung der Glarner Verfassung beteiligt gewesen war. Er plädierte als Liberaler insbesondere für die Aufhebung der konfessionellen Landesteilung. 1837 wurde er zum Landammann gewählt und musste zuerst den katholischen Widerstand brechen. Auf Ausgleich bedacht feindeten ihn nun die radikalen Kräfte an, weil er angeblich gegenüber der katholischen Geistlichkeit zu nachgiebig war. Zermürbt stellte er sein Amt schliesslich zur Verfügung und ging nach Zürich. Sein Sohn Kaspar, der Grossvater von Hans Schindler, heiratete 1853 mit Elise Escher, der Tochter von Martin Escher (vom Glas), eine Angehörige des Zürcher Patriziats. Frei von finanziellen Sorgen betätigte sich der studierte Agronom Kaspar Schindler als Philanthrop für gemeinnützige Institutionen und Hilfsaktionen bei Katastrophen. Er sah in der Wohlfahrt breiter Volksschichten die Lösung der sozialen Frage und regte unter anderem Arbeitereigenheime als Grundlage eines gesunden Familienlebens an. Zu seiner Ehre wurde eine Strasse in Zürich Unterstrass nach ihm benannt. Seine Frau Elise war die geborene Gutsherrin: selbstsicher, energisch, intelligent. Sie betonte stets, dass die Seidenbeuteltuchfabrikation, die ihr Mann nebenher betrieb, eigentlich ihr «Gwerb» sei, da von ihrem Vater Martin Escher übernommen.
Das Paar hatte fünf Kinder, die wiederum standesgemäss heirateten und sich mit den Familien Syz, von Schulthess und weiteren Escher-Zweigen verknüpften. Der Zweitälteste unter den fünf Geschwistern, (Samuel) Dietrich Schindler, heiratete 1888 in eine angesehene Familie aus Zürcher Industriellenkreisen ein. Seine Frau Anna Barbara Huber war die Tochter von Peter Emil Huber-Werdmüller, der mit der Gründung der Maschinenfabrik Oerlikon und der Aluminium Industrie AG Neuhausen als einer der wichtigsten Pioniere der Metall- und Maschinenindustrie in der Schweiz gilt.