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Christoph Biermeier

DIE WALDFÜCHSE

Das Geheimnis der Pfadfinder

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Für Romy und Lorenz

1. Auflage 2019

Ein image-Buch aus der

© Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsmotiv und Illustrationen:

Mirjam Zels, Hamburg

Satz: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

Hersteller gemäß ProdSG:

Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Lípová 1965,

737 01 Český Těšín, Czech Republic

Verlag: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH,

Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart

ISBN 978-3-96157-114-7
eISBN 978-3-96157-966-2

www.caminobuch.de

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Inhalt

DIE FANATSIEKRANKHEIT

DER UNFALL

DAS ZEITLOCH

AUF DER SPUR DER PFADFINDER

GEHEIME ERMITTLUNGEN

DER RÜCKSCHLAG

SELTSAME BEGEGNUNG

DER FREMDE JUNGE

DIE VERFOLGUNGSJAGD

DAS SCHUTZDINGS

IN SEENOT

GERETTET

GEHEIME TREFFEN

GUTE TAT NUMMER 1

EAZIM

DIE MUTPROBE

WO IST SAID?

DER NAME

DIE LILIE

PFADFINDERLEBEN

DER PLAN

VOR DEM AUFBRUCH

DAS GEHEIME ZELTLAGER

DAS GEWITTER

VERSCHWUNDENE KINDER

DIE SUCHE

DER TAG DANACH

DIE WALDFÜCHSEPARTY

Pfadfinderschaft St. Georg

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Die Fanatsiekrankheit

In Pauls Kopf brummte es. Das ist normal, wenn man mit einem Auto zusammengestoßen ist. Vielleicht lag es aber auch daran, weil im Krankenhaus alles weiß war. Die Betten, die Wände, der Schrank, alles weiß. Sogar die Ärzte waren weiß angezogen, die Krankenschwestern und die Krankenbrüder sowieso. Weiß, wohin du schaust! Pauls Bett war natürlich auch weiß. Auch sein Schlafanzug war weiß. Nur seine Haare waren rot. Ein kleiner farbiger Punkt in einer großen, weißen Welt.

„Ich glaube, ein Krankenhaus wäre besser, wenn alles bunt wäre“, flüsterte Paul und kniff die Augen zusammen. „Blaue Wände, gelbe Betten, grüne Bettwäsche und wenn die Ärzte lila Haare hätten, dann wäre das perfekt. Alles andere ist langweilig. Punkt. Aus. Amen.“

Da ging die Tür auf und seine kleine Schwester Neunmalnerv kam hereingestürzt. Natürlich hieß sie in Wirklichkeit nicht Neunmalnerv, sondern ganz anders. Aber weil sie Paul neunmal mehr nervte als andere Menschen, nannte er sie Neunmalnerv.

„Wie sie richtig heißt, habe ich vergessen“, sagte Paul immer, wenn jemand nach ihr fragte. „Naja, nicht ganz, Tine oder so ähnlich“, fügte er dann so leise hinzu, dass es niemand hören konnte.

Es ist ein Naturgesetz, dass jüngere Geschwister nerven. Und zwar ausnahmslos und immer! Dabei ist es ganz egal, ob man nun eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder hat. Sie nerven!

Mit Paulzwei hatte er sich oft darüber unterhalten, was schlimmer ist: ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwester. Paulzwei hatte behauptet, ein jüngerer Bruder ist viel schrecklicher als eine kleine Schwester. Paul glaubte das aber nicht, weil mehr nerven als Neunmalnerv, das geht nicht. Übler als kleine Geschwister waren nur Erdbeben und Hühnerfrikassee. Da waren Paulzwei und Paul sich einig.

Paulzwei hieß übrigens Paulzwei, weil er der zweite Paul in Pauls Klasse war. Er selbst war der erste Paul, aber hieß nur Paul, nicht Pauleins oder so. Nur Paul. Und neben ihm saß Paulzwei. Paulzwei war sein bester Freund. Genau genommen war es sein einziger wirklicher Freund, bis er von einem Tag auf den anderen umgezogen war. Trotz ihres großen Versprechens. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine traurige.

„Paul, stell dir vor, ich weiß, was du für eine Krankheit hast“, sagte Neunmalnerv. „Ich habe nämlich heimlich gelauscht. Die Ärztin ist mit Mama und Papa in ein Zimmer gegangen. Mich haben sie vor die Tür geschickt, aber ich bin heimlich drinnen geblieben. Ich habe mich unter dem Tisch versteckt. Weil ich nicht doof bin, habe ich die Tür mit dem Fuß zugekickt, damit sie glauben, ich bin draußen. Rums hat es gemacht! Aber ich war drinnen. Das war irgendwie interessant, weil unter dem Tisch, also da, wo ich gesessen bin, da lagen ganz viele zusammengeknüllte Papiere. Die sahen aus wie Schneebälle, das war lustig.“

„Neunmalnerv, kannst du zum Punkt kommen?“, unterbrach Paul sie. „Ich habe Kopfweh und ich bin schwer verletzt. Dein Gequassel ist schlimmer als ein Autounfall, und wenn du so viel redest, dann komme ich nie mehr aus dem Krankenhaus heraus.“

Du hast richtig geraten! Einer der Gründe, warum Neunmalnerv nervte, war, dass sie zu viel redete.

„Sag einfach, was ich für eine Krankheit habe, das ist nur ein Wort und dann raus mit dir.“

„Du bist lustig!“ Schon wieder fing das ewige Gerede seiner Schwester an. „Du bist lustig, so einfach ist das nicht. Erstens haben sie wahnsinnig leise geredet. So Sachen, die ich nicht verstanden habe. Dann habe ich mich total darauf konzentrieren müssen, dass ich nicht niese. Weißt du, wie stark es gekitzelt hat in meiner Nase? Das kannst du dir nicht vorstellen, wie das gekitzelt hat! Hallo, Paul, schläfst du?“

Natürlich schlief er nicht. Er malte sich aus, wie er Neunmalnerv in einen Schrank einschloss. Wie sollte er auch schlafen, wenn er so zugequasselt wurde.

„Ich tu nur so. Weil, vielleicht verschwindest du dann endlich aus meinem Zimmer“, sagte er ganz leise zu sich und schnarchte laut los.

„Schade, sehr schade, dann kann ich dir ja nicht sagen, was du für eine Krankheit hast. Egal, tschüss.“

Endlich Stille. Das tat gut und fast hätte er wirklich einschlafen können. Hätte Neunmalnerv nicht die Tür zugeschlagen. Sie schlug Türen immer und grundsätzlich mit einem lauten Knall zu.

Nach kurzer Zeit öffnete sich die Türe nochmal und er hörte sie flüstern: „Fa-na-tsie, du hast Fanatsie, und zwar über-bord-ernd.“ Dann schloss sie sehr, sehr leise die Tür.

Alles war still. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören. Fanatsie, oh Gott!

„Was ist Fa-na-tsie? Und was bedeutet über-bord-ernd?“ Plötzlich hatte er so ein komisches Grummeln im Bauch.

„Habe ich Fieber?“ Ihm kam es vor, als tickte die Uhr immer lauter und schneller. „Ich zittere. Mein Kopf tut weh und ich weiß nicht, ist mir heiß oder kalt?“

Das hat man davon, wenn man sich eine Fanatsie eingefangen hat. Aber wo und wann?

Zum Glück öffnete sich die Tür und Mama und Papa kamen leise herein. Hinter ihnen leider auch Neunmalnerv, die die Türe schon wieder zuschlug.

„Tine“, flüsterte Papa streng, „dein Bruder ist krank.“

Paul schloss schnell wieder die Augen und versuchte, in Turbogeschwindigkeit einzuschlafen.

Aber könntest du schlafen, wenn du eine schlimme Fanatsie hättest?

Wahrscheinlich werde ich nie mehr wieder schlafen können, dachte Paul, und öffnete die Augen wieder.

„Du zitterst ja, mein Schatz!“, sagte Mama.

Normalerweise hasste er es, wenn sie ihn Schatz nannte. Er war doch schon elf Jahre alt und zu einem Elfjährigen sagt man nicht mehr Schatz. Höchstens, mein Großer oder noch besser: Paul!

Klar, für sein Alter war er etwas klein. Aber das verwächst sich, sagte Papa immer. Manche hielten ihn für neun Jahre, andere aber glaubten, dass er schon zwölf war.

„Das liegt an seinen Augen, die machen ihn älter“, meinte Papa. „Klug, irgendwie. Das hat er von mir.“

Paul selber war es egal, er war, wie er war. Ein zu großer Neunjähriger oder ein zu kleiner Zwölfjähriger. Richtig passend war beides nicht. Außerdem hatte er einen störrischen roten Haarschopf.

„Die Bürste, die deine Haare bändigen kann, muss erst noch erfunden werden“, seufzte seine Mama oft.

Aber jetzt war nichts mehr normal und deswegen war er froh, dass sie das sagte, sich neben ihn setzte und seine Hand nahm.

Ein klitzekleines bisschen peinlich war es ihm, weil Neunmalnerv es sah. Aber krank ist krank. Da darf man ausnahmsweise wieder klein sein.

„Mama, stimmt es, dass ich Fanatsie habe?“ Seine Stimme hörte sich ganz komisch an. Irgendwie so hoch und mädchenmäßig. Kein Zweifel, das kommt von der Angst. Das ist doch Angst, oder, wenn man Bauchweh hat? Wenn man am liebsten heulen und ganz weit weglaufen möchte? Bis auf die andere Seite der Welt und noch weiter.

Das wird natürlich nicht besser, wenn die eigene Familie zu lachen anfängt. Was sie tat. Und wie!

„Ist das bitteschön lustig, dass euer einziger Sohn schwer fanatsiekrank ist. Und zwar so über-bord-ernd, dass niemand weiß, ob ich lebend aus diesem Krankenhaus rauskomme!“, schrie Paul und kämpfte mit den Tränen.

Das fanden die anderen noch lustiger. Sein Papa kriegte einen Lachanfall, der nahtlos in ein Hustenchaos überging. Das hörte überhaupt nicht mehr auf. Als dann sogar Neunmalnerv zu lachen begann, spürte Paul, wie sich die ersten Tränen bereit machten.

„Neunmalnerv“, zischte Paul seiner Schwester zu, „du siehst so neunmaldoof aus und verstehst wieder nichts!“

Tine fand das ziemlich gemein, weil sie ja nichts dafür konnte, dass Paul im Krankenhaus liegen musste.

„Aber es stimmt doch, ich habe es doch ganz genau gehört, wie die Ärztin zu Mama und Papa gesagt hat: Paul hat Fanatsie – und zwar über-bord-ernde. Das hat sie gesagt“, schniefte sie und begann jetzt auch zu weinen.

Und was taten Mama und Papa? Sie prusteten schon wieder los. Das heißt, Mama prustete und Papa hustete und Neunmalnerv nervte und weinte gleichzeitig.

„Und ich?“, dachte Paul. „Ich beginne ganz sicher nicht zu weinen. Ich doch nicht! Es ist nur so, dass mir plötzlich Wasser aus den Augen tropft.“

Wenn man aber ganz genau hinsah, dann sah man es nicht tropfen. Es schoss aus Pauls Augen heraus. Es lief wie ein Wasserfall an seinen Wangen herunter und wurde nur getoppt von einer Riesenrotznase.

„Hört auf zu lachen“, schrien Paul und Tine fast gleichzeitig.

Mit einem Mal waren die Eltern still und schauten sich erschrocken an.

Mama sagte ganz leise, mit dieser ganz bestimmten Stimme, die nur Mamas haben und die Paul so mochte, weil sein Magenweh sofort davon wegging: „Die Ärztin hat lediglich gesagt, du hast eine überbordende Fan – ta – sie! Du bist ein Träumer, mein Schatz.“

„Ach so“, antwortete Paul. „Was heißt das jetzt? Ist das ansteckend?“

„Das heißt“, sagte Papa, aber seine Stimme war nicht so gut wie die von Mama. Man merkte, dass er immer noch fast lachen musste: „Das heißt, dass du ein kluger Kerl bist. Wir müssen uns keine Sorgen um dich machen. Du denkst dir eben einfach immer Dinge aus, die es nicht gibt. Das ist keine Krankheit, sondern eine ganz großartige Fähigkeit. Das kann nicht jeder. Du bist etwas Besonderes.“

Mama aber sagte mit diesem Oh-je-ich-hab-ein-Problem-kind-Ton, dass Paul die Wirklichkeit und das Ausgedachte oft nicht richtig auseinanderhalten kann und dass das schon gefährlich ist. Jedenfalls im Straßenverkehr.

Papa hatte sie aber gleich unterbrochen und mit seinem Jetzt-nicht-Inge-Ton weitergeredet: „Dann hat die Ärztin noch gesagt, dass du bald wieder auf dem Damm bist!“

„Das ist ausnahmsweise mal eine gute Nachricht!“, seufzte Paul.

„Ich weiß auch schon, was ich als Allererstes mache, wenn ich wieder zu Hause bin“, sagte Paul, nachdem Neunmalnerv die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. „Ich vergrabe Neunmalnervs Schlafbär im Sandkasten. Sie hat mich mit ihrer Dummheit zum Heulen gebracht. Das schreit nach Rache.“

Andererseits, das wusste Paul, es stimmte schon, das mit der Träumerei. Aber Paul konnte nicht anders. Immer wenn es ihm langweilig wurde – und ihm war oft langweilig –, begann es in seinem Kopf zu rattern und er dachte sich Sachen aus.

Zum Beispiel hatte er vor Kurzem auf die Zahlen in seinem Matheheft gestarrt. Paul hatte keine Lust auf Rechnen. Rechnen ist die reinste Qual!

Auf einmal wurden aus den Zahlen winzig kleine Indianer. Sie liefen über das Papier und jagten die Acht, die sich in einen Bären verwandelt hatte. Aus den Zweien wurden schnelle Pferde. Und die Einser waren die Pfeile der Indianer.

Dreimal darfst du raten, wer der Häuptling war! Paul natürlich, wer sonst!

Paul konnte einfach nichts dagegen machen. Das passierte eben. Blöd nur, dass die Hausaufgaben am Abend nicht gemacht waren. Mama schimpfte. Papa schüttelte den Kopf. Neunmalnerv zeigte Paul die Zunge.

„Es ist ganz schön schwer, wenn man eine überbordende Fantasie hat. Holla, die Waldfee!“

Der Unfall

Paul erzählt die Sache mit dem Unfall Paulzwei. Also nicht dem echten Paulzwei, der war ja nicht mehr da. Paul erzählte Paulzwei oft Sachen, die wichtig waren. Paul war ganz sicher, dass Paulzwei ihn hörte. Sie hatten es sich in ihrem ersten Sommer feierlich versprochen. Ehrenwort und für immer. Das war Pauls Geheimnis. Niemand, aber auch gar niemand wusste davon. Nicht einmal Mama und die kriegte sonst alles heraus.

„Die Ärztin hat gesagt, das sieht ja schon wieder ganz gut aus mit der Gehirnerschütterung und dass ich bald wieder nach Hause darf. Dass ich mich aber noch schonen muss und nicht herumspringen darf und auf keinen Fall Fahrradfahren!

Sehr witzig, die hat vielleicht Nerven, Paulzwei! Zwei Wochen! Weiß die eigentlich, wie lange zwei Wochen sind, wenn du Ferien hast, aber nicht ins Schwimmbad kannst, weil du dich schonen musst? Wenn du zu Hause hockst, während die anderen mit dem Fahrrad unterwegs sind? Wenn deine kleine Schwester dich den ganzen Tag nervt, weil du nicht davonlaufen kannst? Wenn deine Eltern dich ständig fragen, ob du etwas brauchst? Oder wenn dein Vater meint, er muss mit dir Übungen machen, weil du ja so schlecht in Mathe bist, während die anderen Fußball spielen?“

„Alles nur wegen dieser Gehirnerschütterung!“, sagte Paulzwei und schüttelte den Kopf. „Armer Paul!“

„Früher hat man Verrätern Beton über die Füße gegossen und wenn der Klumpen hart geworden ist und sie nicht mehr weglaufen konnten, hat man sie in den Fluss geworfen. Genauso geht es mir! Das Gemeine ist nur, dass ich kein Verräter bin! Ich hatte bloß einen kleinen Unfall. Gut, eine Gehirnerschütterung hab ich auch und ziemlich viele Abschürfungen. Vielleicht bleibt sogar eine Narbe zurück. Das ist aber nicht schlimm, sagt Papa, weil das zur Kindheit gehört. Papa sagt, er hat auch eine Narbe, und zwar oberhalb vom Knöchel. Da hat er sich mit fünf Jahren an einem scharfen Blech geschnitten und die Wunde musste zugenäht werden. Das sieht man heute noch. Er hat mir die Narbe gezeigt, aber sie sieht überhaupt nicht schrecklich aus. Das war vor 35 Jahren. Ganz schön lang. Fast so lang wie die zwei Wochen, die ich zu Hause sitzen muss! Eine Ewigkeit!“

„Du hast ganz schön Glück gehabt, weißt du das eigentlich? Das Auto hat dich nur gestreift. Wärst du nur eine halbe Sekunde früher über die Kreuzung gefahren, wäre der Wagen voll in …“ Paulzwei klatschte in die Hände.

„… mich rein gekracht!“, sagte Paul. „Ich weiß. Ist er aber nicht, weil ich ein Radrennfahrer bin. Das ist zwar ein großes Geheimnis und die Ärztin hat mir versprochen, dass sie es niemandem verrät. Es ist nämlich so: Wenn ich vom Fußball nach Hause fahre, dann ist das ziemlich weit. So ungefähr drei Kilometer, sagt Papa. Meistens ist mir langweilig, weil du, Paulzwei, nicht mehr neben mir herfährst. Und dann passiert es. Ich fahre plötzlich ein berühmtes Radrennen und der Weg nach Hause ist die letzte Etappe. Ich muss die Etappe unbedingt gewinnen, weil ich sonst das ganze Rennen verliere. Das ist doch klar!

So war es auch vor dem Unfall. Ich lag ganz schön weit hinten, weil ich eine Reifenpanne hatte. Ich hatte natürlich nicht wirklich eine, aber ich habe an der Bushaltestelle ein paar Minuten gewartet, damit die anderen einen Vorsprung haben. Dann habe ich eine Aufholjagd gestartet.

Beim großen Kaufhaus, wo es den Berg hochgeht, war ich dann Fünfter und oben am Berg war ich schon Zweiter. Ich war ganz schön außer Puste, aber ich wollte unbedingt noch den Amerikaner vor mir überholen.“

„Und dann bist du ohne Bremsen den Berg auf der anderen Seite runtergesaust, stimmt’s?“

„Stimmt! Aber der Amerikaner war auch nicht schlecht. Endlich hatte ich ihn fast überholt, da ist die Ampel auf Rot gesprungen. Wenn ich jetzt anhalte, habe ich das Rennen verloren! Deswegen musste ich bei Rot über die Kreuzung fahren …“

„… und dann war da das Auto! Wahnsinn!“

„Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr. Der Amerikaner hat wahrscheinlich das Rennen gewonnen.“

„Und du hast eine Gehirnerschütterung. Holla, die Waldfee!“, rief Paulzwei voller Bewunderung. „Ich hätte auch nicht gebremst.“

„Nur blöd, dass ich die Geschichte vom Radrennen der Ärztin erzählt habe … Ich glaube, die halten mich jetzt alle für verrückt.“

Die letzten Worte hallten durch das leere, weiße Krankenzimmer, in dem Paul mutterseelenalleine lag und an die Decke starrte, bis er tief und fest schlief. Natürlich träumte er von ganz wichtigen und absolut schwierigen Radrennen. Gott sei Dank kamen in dem Traum keine Autos und Ampeln vor!

Das Zeitloch

Als Paul aufwachte, war er immer noch allein in seinem Krankenzimmer. Alles war still, nur die neunmalnervige Uhr tickte. Er stieg auf einen Stuhl, hängte die Uhr von der Wand und fummelte die Batterien raus. Es war gerade 11 Uhr, 59 Minuten und 59 Sekunden.

Paul kletterte wieder zurück in die weißen Bettlaken. Da sah er das Bild auf seinem Nachttisch. Es war ein vergilbtes Foto, das sein Vater immer als Lesezeichen benutzte und das in jedem Buch steckte, das er gerade las.

„Typisch Papa“, dachte Paul, „er vergisst ständig immer alles.“ Dann erinnerte sich Paul, wie sie Neunmalnerv im Supermarkt stehen gelassen hatten.

Da war sie noch ganz klein und lag im Kinderwagen und hatte ausnahmsweise geschlafen. Sein Vater ging mit den Einkaufstüten in der einen Hand und Paul an der anderen nach Hause. Der Kinderwagen mit Tine stand aber noch beim Regal mit den Konserven. Zum Glück erkannte Frau Reutter von nebenan Tine und brachte sie zurück nach Hause, wo sie noch gar nicht vermisst wurde. Papa schrie kurz auf, als Frau Reutter mit Tine vor der Tür stand, dann kaufte er Paul eine Woche lang jeden Tag ein Eis, weil er Mama nichts verraten hatte.

„Neunmalnerv war noch zu klein zum Petzen“, sagte Paul zu Paulzwei, weil er gerade an ihn denken musste.

Pauls Blick fiel auf Papas Bild, das er noch nie wirklich angesehen hatte.

„Holla, die Waldfee!“ Vor Schreck lässt Paul das Bild fallen. Da war er! Darf ich vorstellen: der Schock seines Lebens.

Wie immer in solchen Momenten, dachte er an seinen Freund Paulzwei, bis der ganz da war. Das war so wie Telepathie und Telefon.

„Paul an Paulzwei, Alarmstufe Rot!“

„Paulzwei an Paul, was ist passiert?“

„Paul an Paulzwei, ich habe ein Bild gefunden und auf dem Bild bin ich, aber mit Schnauzbart!“

„Paulzwei an Paul, du bist verrückt! Over und Ende!“

Wie konnte das sein? Wie kam Paul auf das Foto, das sicher zehnmal so alt war wie er selbst? Er trug ein hellbraunes Hemd, auf dem Rücken einen roten Rucksack. Außerdem war er ganz schön groß. Viel größer als jetzt! Neben ihm stand ein kleiner Junge, den er noch nie gesehen hatte. Auch er hatte das gleiche hellbraune Hemd an und auf dem Kopf einen Hut. Um den Hals trug er ein gelb-blau gestreiftes Halstuch. Damit sah er fast aus wie ein Cowboy. An der Seite hatte er eine große Trinkflasche hängen. Unter dem Arm hielt er einen Schlafsack. Beide hatten so seltsame Abzeichen auf dem Hemd.

„Wenn ich bloß eine Lupe hätte!“, murmelte Paul. „Ich glaube, das sieht fast so aus wie eine lila Blume.“

Im Hintergrund standen große Zelte herum. Da passten mindestens zehn Leute rein, wenn nicht mehr. Was war das im linken Eck? Ein Lagerfeuer! Drumherum saßen Leute, die alle diese Hemden anhatten. Alle auf dem Foto lachten. Am breitesten lachte der Junge, der wie Paul aussah. Nur eben mit Bart. Dieser Junge schien die beste Laune der Welt zu haben.

„Wie komme ich bloß auf dieses Bild, Paulzwei?“ Paul kann es einfach nicht fassen. „Wieso wachsen mir Haare im Gesicht? Und wieso bin ich so groß?“

Paul starrte auf die angehaltene Uhr: 11 Uhr, 59 Minuten, 59 Sekunden.

Es knisterte in der telepathischen Leitung und in Pauls Kopf tauchte die Antwort auf: „Ich hab’s!“ Auf Paulzwei war einfach Verlass. „Du bist in ein Zeitloch gefallen! Das Bild kommt aus der Zukunft, weil du ja viel älter aussiehst. Sogar einen Bart hast du schon. Auch wenn der recht armselig aussieht.“

„Du hast recht!“ Paul fiel es wie Schuppen von den Augen. „Das Bild muss in der Zukunft gemacht worden sein, weil die Kleider, die die Menschen anhaben, so fremd aussehen. Alle haben diese schönen Tücher um den Hals. Gelb-blau, blau, grau, orange. So muss es gewesen sein!“, Pauls Augen glänzten. „Der Zusammenstoß mit dem Auto hat mich in ein Zeitloch geschubst. Mich hat ein Zeitwirbel erfasst. Der hat mich in die Vergangenheit zurückgeworfen. Da bin ich nun!“

„Da bist du nun!“, wiederholte Paulzwei. „Schrecklich!“

„Ich muss die Zeit wieder vordrehen“, sagte Paul und kramte in seiner Nachttischschublade nach den Batterien der Krankenhausuhr. Er stieg wieder auf den Stuhl und setzte sie ein. Für einen Moment schien die Zeit noch still zu stehen, dann machte es tick und alle Zeiger bewegten sich gleichzeitig auf die 12.

„Heda, was machst du denn da?“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich.

Paul wäre beinahe vom Stuhl gefallen, kann sich aber in letzter Sekunde noch festhalten. „Holla, die Waldfee, kann man vielleicht anklopfen, wenn man in ein Zimmer kommt? Ich bin total erschrocken. Erst die Geschichte mit der Fanatsie, dann auch noch dieses verdammte Zeitloch“, fuhr Paul die Krankenschwester an.

„Geht es dir gut, Paul?“ Sie stützte ihn und begleitete ihn zum Bett.

„Sie ist ja ganz nett“, dachte Paul und schämte sich ein bisschen. Vor lauter Bildern und Zeitlöchern hatte er überhaupt nichts mehr gehört.

„Zeig mal“, sagte sie. Schon nahm sie ihm das Bild aus der Hand. „Schau mal einer an, das ist ja dein Papa. War dein Papa bei den Pfadfindern?“

„Hä? Hä? Hä?“, sagte Paul, als sie ihm das Bild zurückgab. Und noch dreimal: „Hä? Hä? Hä?“ Wieder stierte er darauf. Da erkannte er es. Klar, das war sein Papa als Jugendlicher!

„Ich bin’s nochmal, Paulzwei. Nur dass du Bescheid weißt: Das auf dem Bild ist mein Papa. Ich sehe nicht aus wie er, sondern er sah früher aus wie ich. Als er noch nicht so alt war. Zeitloch! Was für ein Schwachsinn! Wahrscheinlich ist das Bild einfach aus Papas Buch gefallen. So sieht’s aus!“

„Mit wem sprichst du denn da, Paul?“, fragte die Krankenschwester verwundert.

„Mit niemanden, ich telefoniere nur mit meinem besten Freund!“, antwortete Paul schnell.