Philipp Probst

ALPSEGEN

Die Reporterin am Lauenensee

Philipp Probst

ALPSEGEN

Die Reporterin
am Lauenensee

orte Verlag

PROLOG

Dieser Geruch!

Res ging langsam durch den Stall. Er kontrollierte die Seile, die zum Anbinden der Kühe gebraucht wurden. Den Holzboden, den er im letzten Herbst kurz vor Wintereinbruch neu gezimmert hatte. Die Leitungen der Melkmaschine. Immer wieder schaute er nach oben zum Dach und war erleichtert, dass er keinen Schaden entdeckte. Der Stall hatte den Winter ebenso gut überstanden wie der Rest der Alphütte. Alles war bereit.

Dieser Geruch!

Bald würde es wieder so weit sein: Kühe, die von der Weide kamen, Stroh, Mist, frische Milch. Das erzeugte diesen speziellen Geruch. Ein Geruch, der nicht nur in die Kleidung drang, sondern in alle Poren.

Und in die Seele.

Es war dieser Geruch, den Res liebte. Aber auch hasste. Der Geruch von Liebe. Von Ablehnung. Liebe, als er als Bub im dunklen Stall des alten Familienbetriebs im Tal auf dem Schoss seines Vaters sass und die Euter der Kühe streicheln durfte. Ablehnung, als er das erste Mal auf einem einbeinigen Melkschemel sitzen sollte, ausrutschte und in den Mist fiel. Wie ihn der Vater aus dem Stall jagte. Und er auch keinen Trost bei der Mutter fand.

Warum nicht?

Ja, warum nicht? Es war eine von vielen Fragen …

Res passierte den Durchgang zur Hütte und schloss die Stalltüre. Dann schwenkte er den Holzarm, an dem das grosse Käsekessi hing, hin und her und stellte ein leises Quietschen fest. Er ging in die Scheune, holte die Ölflasche und schmierte das Scharnier. Jetzt war wirklich alles bereit.

Res verriegelte die Hütte und pfiff Kobi, dem schwarzen Labradormischling. Dieser kam nach einiger Zeit angetrottet. Allerdings eher ungern, denn er kaute an irgendetwas herum.

«Eine halbtote oder ganz tote Maus gefangen?», fragte Res. «Du bist ein echtes Raubtier.» Er strich Kobi mit seiner grossen, adrigen Hand über den Kopf. Dieser würgte das, was auch immer es war, herunter und wedelte.

«Na los, nach Hause oder Spaziergang?»

Kobi trabte auf dem schmalen Weg Richtung Tal.

«Faule Socke! Los, wir machen eine Runde.»

Res ging mit grossen Schritten den Trampelpfad der Kühe entlang. Der schmale Weg führte ihn über die Hochebene und über einen Hügel steil hinunter in den Wald. Kobi trabte voran, blieb immer wieder stehen, schnüffelte oder blickte zurück zu seinem Herrchen.

Res hörte tief unten in der Schlucht das Tosen des Bachs. Dann entdeckte er plötzlich die alte Waldhütte. Sie war ziemlich verfallen. Die Bretter hingen herunter, die Stürme und der Schnee hatten ihr in all den Jahren zugesetzt. Den nächsten Sturm würde sie kaum überstehen. Wie viele Stunden und Tage hatte er hier als Jugendlicher verbracht? Mit seinem Bruder, manchmal auch mit Schulfreunden.

Und mit Mädchen.

Wie geht es meinem Baum?, fragte er sich plötzlich. Res ging hinter die Hütte. Da bei der Feuerstelle stand er. Sein Vater hatte die Feuerstelle zusammen mit seinen Söhnen gebaut. Stein für Stein. Dann hatte sich der Vater an die grosse Tanne gelehnt, einen Stumpen angezündet, geraucht und zugeschaut, wie seine Buben Feuer machten. Oder es versuchten. Wie sie scheiterten und wie sie sich schliesslich stritten, weil es jeder besser wissen wollte, wie es geht.

Zu blöd, Feuer zu machen, hatte der Vater gemurmelt.

Res schluckte. Dann lächelte er. Später hatte er gelernt, Feuer zu entfachen. Es war ganz einfach. Und die Mädchen waren immer so beeindruckt. Ja, die Mädchen. Es war so unbeschwert damals.

Res betrachtete seinen Baum. Die Tanne. Er liess den Blick nach oben zur Baumspitze schweifen. Ein gesunder, starker Baum.

Erinnerungen. Viele Erinnerungen. Aber eine war ihm gerade ganz präsent. Er ging nochmals zur zerfallenen Hütte. Auf der Rückseite musste die Stelle sein. Die Holzwand war tatsächlich noch einigermassen intakt, durch die grosse Tanne war sie auch etwas geschützt. Res untersuchte die Bretter. Und er fand die Stelle. Er kratzte das Moos und den Dreck weg.

Da kam es zum Vorschein, das kleine Herz. Darunter war auch noch ein A und ein Plus-Zeichen zu erkennen. Doch der zweite Buchstabe fehlte. Er war verschwunden. Res untersuchte die Stelle ganz genau und stellte fest, dass jemand diesen Buchstaben herausgeschnitzt haben musste. Und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Die Schnitte sahen frisch aus. Oder war im Sturm vielleicht ein Ast dagegen geknallt?

Egal. Es war nur eine Erinnerung. Aber eine wunderschöne. Eine an ein ganz besonderes Mädchen …

«Los, Kobi, weiter!»

Der Labradormischling trabte Richtung Tal. Doch Res pfiff ihn zu sich. Er wollte noch nicht zurück, er wollte zum Bach und dann den Berg hinauf. Er krempelte die Ärmel seines Flanellhemdes hoch und ging los. Aber er kam nur langsam vorwärts, weil er immer wieder über Stämme steigen musste, die am Boden lagen. Kobi hüpfte darüber und robbte manchmal auch unten durch.

Der Sturm hat ordentlich gewütet, stellte Res fest. Doch plötzlich kam ihm die Sache seltsam vor. Die Bäume lagen nicht alle in der gleichen Richtung am Boden, sondern kreuz und quer. Res betrachtete die Abbruchstellen. Und entdeckte Einschnitte einer Säge. Sie waren deutlich zu erkennen. Andere waren nur geritzt. Res wunderte sich. Was war hier los? Hatte er nicht kürzlich bei einem Bier im Pub von Kollegen gehört, dass in einigen Wäldern Bäume angeschnitten worden seien? Sie hatten dem keine grosse Bedeutung zugemessen. Darüber gelacht. Und spekuliert, dass Ausserirdische geheime Botschaften hinterlassen hätten …

Res durchquerte den Wald und erreichte den Bach. Das Wasser glitzerte, sprudelte über die Steine, Tausende Tropfen flogen in regelmässigen Bahnen durch die Luft. Weiter. Jetzt wieder steil bergauf. Res erreichte die Baumgrenze, ging immer weiter und war bald viel höher als die Alp. Hier oben lag zum Teil noch Schnee. Kobi rannte los und wälzte sich in einem Schneefeld. Res kam hinterher, stapfte durch den nassen Schnee, sank immer wieder ein. Er atmete schwer, aber es tat gut.

Immer weiter.

Dann stand er vor der Geröllhalde. Sie war nur zum Teil als Steinwüste zu erkennen, denn auf ihr lag noch sehr viel Schnee. Res ging weiter. Und Kobi hüpfte ihm hinterher. Hechelnd.

Res gönnte sich erst eine Pause, als er vor der Wand stand. Wieder viele Erinnerungen. Die Klettereien mit seinem Bruder. Der Unfall! Wie Stefan heruntergefallen war, sich am Bein verletzt hatte. Ein Donnerwetter vom Vater, eine Salbe von der Mutter, das war alles, was es gegeben hatte. Keinen Trost, keine Umarmung.

Warum nicht …?

Res liess sich in den Schnee fallen. Kobi kam zu ihm und leckte ihm übers Gesicht. Res drückte ihn an sich. Er spürte den schnellen Herzschlag des Hundes. Nach einiger Zeit wurde er ruhiger. Res wollte sich nur etwas ausruhen und dann nach Hause gehen. Er schloss die Augen. Nur kurz …

Als er aufwachte, war es schon ziemlich dunkel. Res fror. Er rollte die Ärmel seines Hemdes hinunter. Er hatte Durst und schob sich etwas Schnee in den Mund. Er stand auf und blickte um sich. Kobi war viel weiter unten, rannte jetzt aber zu ihm herauf.

Res wollte ihm entgegengehen, doch dann entdeckte er Skispuren. Sie stammten wohl von den letzten Tourenfahrern dieses Frühlings. Res folgte ihnen. Sie führten der Felswand entlang zur Krete. Dort verloren sie sich. Die Stürme hatten den Schnee weggetragen. Wahrscheinlich hatte sich auf der Krete eine gefährliche Wächte gebildet, ein gefährlicher Überhang aus Schnee. Trotzdem ging Res weiter.

Nicht nach Hause. Er konnte nicht. Es trieb ihn weiter bergauf.

Auf der anderen Seite des Bergkamms musste dieser Couloir sein – der Eiskanal. Dieser enge Korridor zwischen den Felsen, im Winter ein Adrenalinkick für gute Skifahrer.

Am Himmel funkelten die ersten Sterne. Die Venus strahlte hell. Die schmale Sichel des Mondes erhob sich über dem Horizont. Wind kam auf. Res ging weiter Richtung Krete. Kobi blieb vor dem nächsten Schneefeld stehen, liess Res vorbei und machte keinen Schritt weiter.

«Los, komm, wir gehen da lang!», rief Res.

Doch Kobi bewegte sich nicht mehr. Er bellte. Wedelte. Bellte erneut. Drehte sich um und trabte den Berg hinunter. Blieb wieder stehen und kläffte. Er streckte dabei die Vorderpfoten aus und duckte sich.

Res stapfte durch das Schneefeld. Weiter Richtung Krete und dann diesen Kanal hinunter! Nein, unmöglich! Der Eiskanal war viel zu steil, fast senkrecht. Er würde ihn schon gar nicht erreichen. Denn jetzt erkannte er deutlich die mächtige Wächte. Wenn er sie betreten würde, würde er einbrechen, eine Lawine aus Eis, Nassschnee und Steinbrocken auslösen.

Trotzdem trieb es ihn weiter.

Hier war es also passiert. Hatte seine Mutter wirklich nur den Adrenalinkick gesucht? Sie war eine ausgezeichnete Skifahrerin, sie kannte jede Abfahrt, jede Route, jeden Stein, jeden Baum. Auch den Eiskanal.

«Dieser verdammte Eiskanal», murmelte Res.

Tanze mit dem Schnee, hatte seine Mutter immer gesagt. Und war über den Schnee geschwebt, hatte ihre langen Haare im Wind herumwirbeln lassen und vor Freude laut gejauchzt und gesungen.

Hatte sie geschrien, als sie in den Tod stürzte?

Res zog es weiter. Kobi war ihm jetzt doch gefolgt, bellte ihn aber immer wieder an.

«Du findest den Weg nach Hause auch ohne mich», rief Res dem Labradormischling zu. Dieser kauerte im Schnee und kläffte nun ununterbrochen.

Doch Res ging weiter. Er sank immer tiefer ein. Manchmal bis zu den Oberschenkeln. Hier lag deutlich mehr Schnee. Res spürte Felsen unter seinen Füssen. Noch stand er also nicht auf der Wächte, nicht über dem Abgrund. Er machte vorsichtig einen Schritt. Sank erneut ein. Fand aber wieder Halt.

Er hörte ein leises Grollen. Dann Steine aufschlagen. Sie stürzten auf der anderen Seite des Kamms den Eiskanal hinunter. Die Aufschläge wurden immer leiser, aber sie waren noch lange zu hören. Die Furche war tief.

Noch einen Schritt. Noch immer fester Boden unter dem Schnee.

Weiter! Weiter! Res hörte das Bellen des Hundes nicht mehr.

Plötzlich eine Frauenstimme. Sie rief seinen Namen, seinen Taufnamen. «Andres!» Die Stimme kam ihm bekannt vor. Er schaute sich um. Aber niemand war zu sehen.

«Andres!»

Res blieb stehen. Keuchte. War es die Stimme seiner Mutter? Er war sich nicht sicher. War es möglich, dass er sich nicht an ihre Stimme erinnern konnte? Egal. Er ging weiter. Er musste weitergehen. Jetzt. Der Wind wurde stärker. Es war ein eiskalter Wind.

«Andres!»

Noch ein Schritt. Wieder spürte er festen Boden. Weiter! Der nächste Schritt …

Kein fester Boden mehr.

«Andres!»

1

Selma wollte gerade den Spachtel mit der roten Farbe auf ihrer Leinwand ansetzen, als sie im Treppenhaus ein Poltern hörte. Sie ignorierte den Lärm und strich mit dem Spachtel schwungvoll von links nach rechts über die aufgespannte Fläche. Dann kniff sie die Augen zusammen und stellte zufrieden fest, dass zumindest der Anfang vielversprechend wirkte.

Es polterte erneut im Treppenhaus. Selma seufzte und wartete. Sie ahnte, was jetzt kommen würde.

«Mon dieu!» Es war die Stimme ihrer Mutter. Solange ihre Mutter noch «Mon dieu» rufen konnte, war alles halb so schlimm. Selma blieb ruhig und wartete auf den nächsten Einsatz ihrer Mama.

«Selmeli!»

«Voilà», murmelte Selma und verdrehte die Augen. Sie konnte es nicht leiden, wenn ihre Mutter sie mit «Selmeli» ansprach. Der Kosenamen erinnerte sie zu sehr an das alte Basler Stadtoriginal Selmeli – jene gute Seele, die immer an der Herbstmesse Popcorn verkauft und Geld für benachteiligte Kinder, Jugendliche und Senioren gesammelt hatte.

«Selmeli!», rief Mutter erneut. Selma legte den Spachtel auf die Farbpalette. Sie kniff noch einmal die Augen zusammen und stellte sich nun den nächsten Strich auf der Leinwand vor. Er müsste dieses Mal von rechts nach links führen. Und nach oben …

«Selmeli!» Und einige Sekunden später ein energisches: «Selma!»

Das war nun das entscheidende Stichwort. Selma wischte sich die Hände am Schurz ab, öffnete die Türe des Malateliers im Dachgeschoss, schaute ins Treppenhaus hinunter und rief: «Mama? Alles in Ordnung?»

Keine Antwort. Was Selma aber nicht erschreckte. Es war schliesslich nicht der erste Treppensturz ihrer Mutter. Selma kletterte die steile Holztreppe bis zu ihrer Wohnung im dritten Stock hinunter. Hier begann das eigentliche Treppenhaus mit Handlauf. Selma setzte sich auf den Handlauf und rutschte gekonnt zum zweiten Stock hinunter.

«Charlotte! Was ist passiert? Bist du verletzt?» Das war Leas Stimme, der Coiffeuse aus dem Erdgeschoss, die dort ihren Salon hatte.

Selma rutschte vom zweiten in den ersten Stock.

«Danke, Lea, sehr nett. Meine Tochter kann oder will mich nicht …»

«Ich bin da, Mama!», rief Selma und rutschte noch eine Länge Richtung Erdgeschoss. Lea half Charlotte gerade beim Aufstehen. Auf der Steintreppe lag eine Tasche mit Einkäufen. Zwei Brötchen und einige Kartoffeln waren herausgepurzelt. Eine Stufe höher lag ein Bund Pfingstrosen.

«Endlich», bemerkte Charlotte trocken und schaute Selma finster an.

«Hast du dir weh getan?»

«Natürlich nicht», sagte Charlotte geistesabwesend, denn sie war ganz darauf konzentriert, ihre langen, bordeauxrot lackierten Fingernägel zu begutachten. «Glück gehabt, meine Nägel sind heil geblieben. Aber meine Frisur sitzt wohl nicht mehr korrekt.»

Lea strich einige der weissen Strähnen von Charlotte Legrand-Hedlunds Haaren zurecht: «Alles bestens, Charlotte. Obwohl, wir müssten deine Bob-Frisur mal wieder ein bisschen in Schuss bringen.»

«Hach, Lea», meinte Charlotte in einem deutlich höheren Tonfall. «Was bist du doch für ein geschäftstüchtiges Fräulein.» Sie warf Selma einen strengen Blick zu: «Da könntest du von deiner Freundin etwas lernen.»

«Mama, ich arbeite! Ich war am Malen.»

«Ja, ja, die brotlose Kunst.»

Selma sammelte die Brötchen und die Kartoffeln ein, legte sie in die Tasche und schnappte sich dann die Pfingstrosen.

«Die sind übrigens für dich», sagte Charlotte lakonisch. «Damit wenigstens ein bisschen Farbe in dein Leben kommt.»

«Meine schwarze Phase ist längst vorbei. Ich male jetzt wieder mit allen möglichen Farben.»

«Aha, schön, gratuliere. Ich habe aber nicht die Farben auf der Leinwand gemeint, sondern die Farben in deinem Leben.»

Selma verkniff sich jeden Kommentar, weil sie keine Lust hatte, die immer gleichen Diskussionen zu führen. Vor allem nicht vor ihrer Freundin Lea. Stattdessen fragte sie ihre Mutter, ob sie Doktor Werner anrufen solle.

«Nicht nötig, François hat sicher Wichtigeres zu tun, als sich um eine alte Schachtel zu kümmern. Im Übrigen ist nur meine Strumpfhose am Knie etwas lädiert.»

Selma führte ihre Mutter in deren Wohnung im ersten Stock und setzte sie aufs alte und etwas abgewetzte Biedermeier-Sofa. Das Sofa passte so gar nicht in Charlottes Wohnung mit all den weissen Möbeln im schwedischen Landhausstil. Und sonderlich bequem war es auch nicht. Aber es war halt ein Erbstück der Legrands.

Selma begutachtete das linke Knie. Aus dem Badezimmer holte sie einen Wundspray und ein Pflaster und behandelte die kleine Schürfung. «Die Strumpfhose ist futsch, aber das Knie ist so weit in Ordnung», diagnostizierte Selma.

«Die Strumpfhose kann man doch noch flicken», räsonierte Charlotte.

«Sie ist gerissen, Mama. Aber zum Glück ist dir nichts passiert. In einigen Tagen sollte die Wunde verheilt sein.»

«In meinem Alter dauert das Wochen, Liebes. Jetzt kann ich wieder nur schwarze Strumpfhosen anziehen und sehe aus wie eine alte Tante.»

«Du kannst ja auch Hosen anziehen. Aber nicht die engen! Du musst halt mal die weiten aus der Kommode ausgraben, okay?»

Charlotte warf ihrer Tochter nur einen grimmigen Blick zu.

«Und Mama», fuhr Selma fort, «wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst keine schweren Taschen die Treppe hinaufschleppen? Und dann noch in diesen Schuhen! Du bist doch schon einige Male gestolpert.»

«Was ist denn mit meinen Schuhen?», fragte Charlotte empört, stellte ihren rechten Fuss schräg und betrachtete lächelnd ihre schwarzen Pumps.

«Das sind High-Heels!», sagte Selma.

«Aber, aber, Liebes. Ich bitte dich!»

«Für eine ältere Dame sind fünf Zentimeter hohe Absätze High-Heels.»

Charlotte Legrand-Hedlund zog ihren Fuss zurück, erhob sich mit einem leisen Stöhnen und zog ihren enganliegenden, hellblauen Jupe nach unten. Energisch meinte sie zu ihrer Tochter: «Keine Diskussion. Und nein, ich werde niemals ins Altersheim gehen. Nur falls du beabsichtigst, dies in deiner Ansage noch zu erwähnen. Das Altersheim ist zu teuer. Zudem müssten wir dann diese Wohnung neu streichen, um sie überhaupt vermieten zu können.»

«Einfach die Wände anpinseln hilft nicht, Mama. Wir müssten eigentlich das ganze Haus sanieren.»

«Eben.»

Charlotte zog ihre Pumps aus und humpelte in die Küche. Selma holte die Einkäufe und half ihr beim Einräumen.

«Danke», sagte Charlotte schliesslich. «Und vergiss die Pfingstrosen nicht, Selmeli.»

«Ja, Mama. Danke. Und bitte, zum tausendsten Mal, nenn mich nicht Selmeli, vor allem nicht vor anderen Leuten. Es nennt mich niemand mehr Selmeli.»

«Ach was, Liebes.»

Ja, es gab tatsächlich noch jemand, der Selma Legrand-Hedlund Selmeli nannte. Und sie auch durchaus wie ein kleines Mädchen behandelte. Aber von dem hatte sie schon länger nichts mehr gehört.

2

Gedankenverloren stieg Selma die Treppe hinauf. Im zweiten Stock blieb sie kurz stehen, legte ihr Ohr an die Wohnungstüre. Es war nichts zu hören.

Wie viele Jahre waren vergangen, als sie das letzte Mal in dieser Wohnung war? Wie es da drin wohl aussah? Hatte ihre Mutter sie jemals wieder betreten? Selma wusste es nicht. Und getraute sich auch nie, danach zu fragen. Das war ein schwieriges Thema. Ein ganz, ganz schwieriges. Elin, Selmas jüngere Schwester, hatte an einem Heiligen Abend einmal gefragt. Ausgerechnet am Heiligen Abend!

Charlotte Legrand-Hedlund hatte danach kein Wort mehr gesprochen. Dafür hatte sie im Wandtresor nachgeschaut, ob der einzig bekannte Schlüssel zu dieser Wohnung noch dort lag. Zuvor hatte sie einen Hofknicks gemacht, denn der Tresor war hinter einem Gemälde von Gustav IV Adolf versteckt, dem abgesetzten schwedischen König, der anfangs des 19. Jahrhunderts für einige Zeit in Basel im Exil gelebt hatte.

Selma ging hinauf zu ihrer Wohnung, stellte die Pfingstrosen in eine Vase und schaute zum Fenster hinaus auf den Rhein. Ihre Gedanken rotierten. Irgendwann würde ihre Mutter schon einsichtig werden. Es pressierte zwar nicht, Charlotte war gesund und mobil und würde eigentlich auch nicht stolpern. Wenn sie statt Pumps endlich flache Schuhe tragen würde. Aber die High-Heels konnte man ihr nicht wegnehmen, schliesslich war Charlotte Legrand-Hedlund eine Dame. Ja, sie war wirklich eine.

Und auch wenn sie durchaus noch viele Jahre in ihrem geliebten Haus «Zem Syydebändel» würde leben können – für Selma war es höchste Zeit, sich zumindest um eine Alterswohnung oder ein Altersheim zu kümmern und vielleicht sogar einen Platz zu reservieren. Im Alter konnte immer etwas passieren. Selma oder Lea waren nicht immer im Haus und konnten helfen. Natürlich würde man Betreuung und Hilfe organisieren können, trotzdem: Selma war es einfach nicht wohl. Aber da kämpfte sie nicht nur mit ihrer Mutter, auch ihre Schwester Elin sträubte sich. Eine Legrand-Hedlund geht niemals in ein Altersheim, lautete Elins Devise.

«So ein Blödsinn», murmelte Selma. «Dieser falsche Familienstolz! Nur weil unser Grossvater und unser Vater in diesem Haus gestorben sind.»

Sie drehte sich um und ging langsam auf und ab. Das alte Parkett knarrte. Welche Geheimnisse sind wohl in dieser Wohnung im zweiten Stock versteckt?, fragte sie sich. Und vor allem: Woher kommen die seltsamen Geräusche, die Schritte, die sie nachts manchmal hörte?

Plötzlich hatte Selma das Bedürfnis, an die frische Luft zu gehen.

«Warte!», rief Lea, als Selma bereits draussen war. «Willst du den Malschurz nicht mit einer Jacke tauschen?»

Selma bemerkte ihren Fauxpas erst jetzt und kam zurück.

«Aber Madame», sagte Lea schnippisch und lachte. «Eine Legrand-Hedlund im Malschurz in der Öffentlichkeit!»

«Ein Skandal», gab Selma zurück. «Ein Fasnachtssujet!»

«Und nimm die Haarklammer ab, Süsse.»

«Oh! Ich brauch eh eine neue Frisur. Wann hast du Zeit?»

«Für dich immer. Wenn es sein muss, jeden Tag.»

Die beiden Frauen lachten. Dann spurtete Selma die Treppe hinauf, schlüpfte aus der Malschürze, schnappte sich ihre Jeansjacke, nahm die Haarklammer ab, wuschelte ihre dunkelbraunen Haare und rutschte wieder die Geländer hinunter.

Sie machte von ihrem Haus «Zem Syydebändel» einen Spaziergang über die Mittlere Rheinbrücke ins Kleinbasel. Von dort schlenderte sie flussaufwärts in Richtung Wettsteinbrücke. Ihre Gedanken waren immer noch bei ihrer Mutter und der ganzen Familiengeschichte. Als sie gerade unter der Wettsteinbrücke durchging, erhielt sie ein Whatsapp von Marcel. Er fragte sie, ob sie Zeit und Lust für einen Kaffee hätte.

Sie hatte Zeit. Und mit Marcel käme sie wenigstens auf andere Gedanken. Also drehte sie um und ging zurück.

Selma und Marcel trafen sich in der Confiserie Seeberger an der Schifflände, ganz in der Nähe des Hauses der Legrand-Hedlunds am Totentanz. Marcel biss gerade in einen Buttergipfel, als Selma auftauchte. Schnell schluckte er und wischte sich den Mund sauber, um Selma mit drei Küsschen zu begrüssen.

«Was macht die Kunst?», fragte Marcel.

«Was macht die Linie 16?», fragte Selma zurück. Marcel arbeitete bei den Basler Verkehrs-Betrieben als Wagenführer und Chauffeur. Da Marcel an der Schifflände seine Pause verbrachte, ging Selma davon aus, dass er gerade auf der Linie 16 gewesen war. Schliesslich war hier Endstation dieser Linie, und die Fahrerinnen und Fahrer machten hier oft den Schichtwechsel.

«Bin heute mit dem Bus unterwegs. Komme von der Linie 36. Aber nun erzähle! Ich spüre es: Dich bedrückt etwas.» Marcel verschlang gierig den Rest des Croissants.

«Mein lieber Hobby-Psychologe …»

Marcel hob den Zeigefinger, kaute, schluckte und meinte dann: «Diese Croissants! Herrlich. Aber …», er klopfte sich auf seinen wirklich nicht dicken Bauch, «sie machen dick. Okay, Selma. Ich bin kein Hobby-Psychologe, sondern Psychologe ausser Dienst.» Marcel lächelte und nippte an seiner Kaffeetasse. «Das macht einen sehr grossen Unterschied.»

Selma bestellte sich einen Latte Macchiato und löffelte genüsslich den Milchschaum ab.

«Na los, was ist?», hakte Marcel nach.

«Nichts. Alte Familiengeschichte. Meine Mama ist heute Morgen gestürzt. Sie hat sich nicht wirklich verletzt, veranstaltete aber das übliche Tamtam.»

«Hast du heute schon gemalt?»

«Ich hatte gerade angefangen, als …»

«Mit welcher Farbe?», unterbrach Marcel.

«Rot.»

«Rot?» Marcel runzelte die Stirn und wollte gleich noch etwas sagen.

«Stopp, stopp!», intervenierte Selma. «Wenn du jetzt den dämlichen Spruch ‹Rot wie die Liebe› bringst, nenn ich dich wirklich nur noch Hobby-Psychologe.»

«Ich könnte dir jetzt einen längeren Vortrag halten. Über Goethes Farbenlehre und deren Bedeutung für den Menschen.»

Selmas dunkelbraune Augen funkelten. Sie mochte Marcel einfach. Sie mochte ihn sogar sehr. Seinen feinen Humor, seine Empathie, seinen Intellekt. Auch wenn er manchmal ein kleiner Klugscheisser sein konnte. Wie damals, als sie ihn im Tram kennengelernt hatte.

Selma lächelte. Plötzlich hob sie ihre Hand und hielt sie an ihre rechte Wange, tat so, als wollte sie sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch abstützen. Doch Marcel ergriff ihre Hand und zog sie weg. Selma versuchte ihr Lächeln zu unterdrücken, was ihr aber nicht gelang. Sie prustete laut drauflos.

«So gefällst du mir.»

Selma beruhigte sich und sagte: «Du weisst, dass ich das blöde Grübchen in meiner Wange nicht mag.»

«Und du weisst, dass ich es liebe. Es macht dein Lächeln einzigartig.»

«Du alter Charmeur», meinte Selma und strich Marcel über die Wange. Sie spürte winzige Stoppeln: «Oh, hat es heute Morgen für die Rasur nicht mehr gereicht?»

«Frühdienst. Musste um …»

«Entschuldige», unterbrach ihn Selma und kramte ihr Handy aus der Jackentasche. Sie betrachtete das Display und sagte: «Da muss ich rangehen.» Sie stand auf und rückte ihren Stuhl beiseite.

«Du kannst auch hier telefonieren», meinte Marcel erstaunt. «Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander.»

«Das nicht. Aber du kennst ja den Typen, der anruft. Der schreit so laut ins Telefon, dass alle Gäste mithören können.»

Marcel verdrehte nur die Augen.

3

«Selmeli, was für eine Freude!», schrie der Kerl im breitesten Berner Dialekt ins Telefon. «Mein Mäuschen! Oder Myysli, wie man bei euch in Basel sagt. Wie geht es dir?»

«Jonas! Schön von dir zu hören, wie immer laut und deutlich. Warte bitte kurz.» Selma schaute nach rechts und links, überquerte den Fussgängerstreifen und ging zur kleinen Plattform oben an der Treppe, die zu den Rheinschiffen hinunterführte. «Voilà, da bin ich. Wie geht es dir?»

«Ach, Selmeli, wie soll es einem alten, verbrauchten Kerl schon gehen? Meine Zeit ist vorbei. Mir fehlt eine Muse, ein Mäuschen! Eines wie du.»

«Lass gut sein, Jonas. Erstens bist du nicht alt, zweitens bin ich nicht jung, drittens bin ich kein Mäuschen und viertens heisse ich Selma.»

«Selmeli, Kleines …»

«Und klein bin ich auch nicht.»

«Du weisst, dass ich auf grosse Frauen stehe. Ha! Wir wären ein grossartiges Paar, Selmeli. Entschuldige, Selma natürlich, Madame Selma Legrand-Hedlund, alte schwedische Königsdynastie, veredelt mit französischem Adel und im noblen Basler Daig sess- und fresshaft geworden.» Jonas Haberer lachte. Er lachte so laut und unangenehm, dass Selma ihr Handy vom Ohr nehmen musste. Einige Passanten schauten irritiert zu ihr, lächelten dann aber. Selma lächelte verlegen zurück. «Wie geht es der Frau Mama?», wollte Jonas Haberer wissen, nachdem er sich beruhigt hatte.

«Danke der Nachfrage, alles bestens.»

«Sie nennt dich ja auch Selmeli.»

«Jonas, was kann …»

«Grüsse deine Mama ganz lieb. Eine wirklich entzückende Dame. Und so attraktiv.»

«Ich werde es ausrichten. Was kann ich für dich tun?»

«Ja, du hast recht, Selmeli, lassen wir den Quatsch mit den Nettigkeiten. Ich habe Arbeit für dich.»

«Lass hören.»

«Keine grosse Sache, bringt aber ordentlich Kohle. Und dir wird der Job Spass machen.»

«Ich steige weder in die Gosse, noch mache ich eine Recherche im Milieu. Diese Zeiten sind vorbei.»

«Das waren aber schöne Zeiten. Nein, Selmeli. Die Gesellschaft ‹Service Versicherungen› will für ihr Kundenmagazin eine Reportage über ein Schweizer Alpwirtschaft. Berner Oberland. Romantik. Alles gut. Alles schön. Tolle Fotos, himmelblau, einige Filme dazu, Clips – Bewegtbilder, wie man das heute nennt. Bewegtbilder, was für ein dämlicher Ausdruck!» Wieder prustete Jonas Haberer los, diesmal aber nur kurz. «Eben. Bewegtbilder. Und natürlich einen literarisch-geschwollenen Schönwettertext, wie nur du ihn schreiben kannst, Kleines.»

«Klingt gut.»

«Ha! Der alte Haberer wusste, dass dir das gefällt. Vielleicht verkaufe ich die Reportage später noch einem deutschen Hochglanzmagazin. Landluft, Landmist und wie diese Heftli alle heissen. Sennen sind hipp, das Alpleben liegt im Trend. Wird toll! Bist du dabei?»

Vor ihrem fotografischen Auge stellte sich Selma bereits die schönen Bilder vor, die sie machen würde. Also sagte sie zu.

«Wunderbar. Nächste Woche geht es los. Wenn das Wetter mitspielt. Du musst nichts machen. Der alte Haberer hat das Konzept bereits zusammengeschustert und wird es dir übergeben, wenn du mit dem Zug von Basel ins Berner Oberland tuckerst. Ich nehme an, du weigerst dich noch immer, mit dem Auto zu fahren, du grüne Gutmenschin.»

«Du kannst mir das Konzept auch mailen.»

«Papperlapapp! Ich bin nicht so digital, ich mag nicht immer e-mailen.» Er sprach das Wort absichtlich deutsch aus: e-mailen. «Der persönliche Austausch ist mir halt noch wichtig. Alte Schule, mein Mäuschen.»

Obwohl sie nicht wirklich begeistert war, sagte Selma zu. Schliesslich war Jonas Haberer ihr Auftraggeber. Und zudem war er es gewesen, bei dem sie das journalistische Handwerk gelernt hatte.

Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie nach dem Fotostudium an einer Akademie in Vevey am Genfersee auf dem Boden der Realität gelandet war. Da Werbung nicht ihr Ding war, wagte sie den Schritt in den Journalismus und träumte davon, eine weltbekannte Fotoreporterin zu werden. Auch wenn es nicht die ganz grosse Karriere wurde – Selma konnte sich in der Landschafts- und Porträtfotografie einen Namen schaffen. Und da sie dank Haberer und seinem damaligen Team auch eine gute Texterin und Rechercheurin geworden war, hatte sie heute den Vorteil, grosse Reportagen aus einem Guss abzuliefern.

«Schickst du mir wenigstens die Koordinaten per Mail, Jonas?», fragte Selma schliesslich. «Damit ich weiss, wann ich wo sein muss. Und ich mich auch noch ein wenig vorbereiten kann.»

«Geht klar, Selmeli. Geht klar, pass auf …» Haberer schien plötzlich abgelenkt zu sein, «… ich muss. Bonne journée.» Weg war er.

«Einen schönen Tag», wünschte auch Selma, obwohl die Verbindung bereits unterbrochen war. Typisch Haberer, sagte sich Selma, wenn er hat, was er will, ist man nicht mehr wichtig. Sie lächelte und liess den Blick über die Mittlere Brücke schweifen.

«Jonas Haberer, der Kotzbrocken», murmelte sie und musste lachen. So hatten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen damals bei der Gratiszeitung «Aktuell» ihren Chef heimlich genannt: «Kotzbrocken Haberer.»

Selma ging zurück in die Confiserie. Marcel war aber bereits gegangen und bezahlt hatte er auch. Vielleicht musste er ja zu seiner zweiten Schicht. Also versuchte sie ihr Glück an der Eisengasse, der Bushaltestelle an der Schifflände. Und tatsächlich: Marcel richtete sich gerade im Cockpit eines Busses der Linie 33 ein.

«Excusez», sagte Selma, «hat etwas länger gedauert. Danke für den Kaffee.»

«Wenn dein Berner Schreihals Haberer anruft, geht es immer etwas länger. Kommst du mit?»

«Klar, eine Station, zum Totentanz.»

Marcel fuhr los und musste sich vorsichtig einen Weg durch die vielen Radfahrer erkämpfen. «Die Haltestelle beim Totentanz heisst übrigens Universitätsspital», korrigierte er Selma kurz darauf. «Aber du hast recht, früher war es tatsächlich die Haltestelle Totentanz.»

Selma erinnerte sich gerade an ihr erstes Zusammentreffen mit Marcel. Es lag schon gut zwei Jahre zurück, Selma hatte von der Schifflände zum Marktplatz mit ihrer schweren Fototasche einen 100-Meter-Sprint zurückgelegt, um das 8er-Tram zum Bahnhof noch zu erreichen, das an der Schifflände gerade losgefahren war. Sie war damals in eleganten Lackpumps mit ziemlich hohen Hacken unterwegs, weil sie im Kultur- und Kongresszentrum in Luzern an einer Musikgala die Solisten porträtieren musste. Am Marktplatz hatte der «8er» dann auf sie gewartet. Und Selma war nach vorne zum Fahrer gegangen und hatte sich bedankt. Der Fahrer war Marcel. Er hatte zu ihr gesagt, dass ihre Leistung, in High-Heels zu rennen, zwar beeindruckend, ihrer Gesundheit aber wenig förderlich sei. Klugscheisser!, hatte Selma gedacht. Doch bei der zweiten und dritten zufälligen Begegnung in einem Tram oder Bus hatte sich Marcel als durchaus charmant erwiesen. Und erst recht, als sie sich ebenso zufällig in der Confiserie Seeberger getroffen und das erste Mal einen Kaffee zusammen getrunken hatten.

«Für mich ist die Haltestelle Universitätsspital immer noch der Totentanz», sagte Selma jetzt. «Ist mir schleierhaft, warum man diese Haltestelle umgetauft hat. Schliesslich ist und bleibt das der Totentanz.»

«Ja, aber beim Totentanz liegt halt auch das Universitätsspital. Und ganz ehrlich, Selma: Möchtest du in ein Spital einrücken, dessen Bushaltestelle Totentanz heisst?»

«Du philosophischer Psychologe», foppte ihn Selma.

Marcel stoppte und öffnete die Türen: «Hast du von Haberer einen neuen Fall erhalten?»

Selma lächelte nur.

«Okay, wann geht’s los?»

«Bald. Ich melde mich.» Selma stieg aus und warf Marcel wie immer eine Kusshand mit den immer gleichen Worten zu: «Pass auf dich auf, mein Liebster.»

«Pass auf dich auf, meine Liebste.»

Selma ging durch den kleinen Park zu ihrem Haus am Totentanz und betrat Leas Coiffeursalon.

«Kannst du etwas machen?», fragte sie ihre Freundin und zupfte an ihren Haaren herum.

«Der Anlass?»

«Fotoreportage auf einer Alp.»

«Hm? Kurzhaarfrisur?»

Selma zog entsetzt die Luft ein.

«Na, dann kürze ich hinten und auf der Seite ein bisschen, so dass du einen schönen Schnitt hast, die Haare aber gut zusammenbinden oder hochstecken kannst. Falls du Kühe melken musst.»

«Kühe melken?»

«Das macht man doch auf einer Alp. Und käsen.»

«Ich fotografiere aber.» Noch einmal fuhr sie mit ihren Händen durch die langen Haare. «Also gut. Schneiden. Aber nicht zu kurz.»

«Keine Angst. Wie immer. Aber du musst noch ein bisschen warten. Habe gerade eine andere Kundin. Geniess in der Zwischenzeit die Kopfmassage.»

Eine Auszubildende wusch Selma die Haare und massierte gekonnt Selmas Kopf. Die Reporterin schloss die Augen und dachte an die wunderschöne Bergwelt und freute sich immer mehr über den Auftrag.

Ihr vibrierendes Handy holte sie in die Realität zurück. Nach dem die Auszubildende ihre Behandlung beendet hatte, warf Selma einen Blick auf ihr Smartphone. Haberer hatte ihr tatsächlich das Mail geschickt.

Die Alpwirtschaft, die sie besuchen sollte, lag bei Gstaad, oberhalb des Lauenensees. Selma spürte, wie ihr Puls schneller wurde.

Haberer hatte auch den Namen der Bauernfamilie geschickt.

Selma bekam Herzrasen.