Meiner Großmutter, allen weisen und weltoffenen Menschen.
Hannes Wirlinger, geboren 1970 in der Stahlstadt Linz, hatte eine behütete Kindheit in Niederösterreich. Danach Studium der Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft in Wien. Die Liebe zu Büchern und zu Geschichten begleitet ihn seit der Kindheit. Als Schüler dann erste Schreibversuche. Auslöser war das Erwachen der Liebe, was sonst? Kurzgeschichten, Gedichte, längere Texte entstehen. Später Besuch der Drehbuchschule Wien. Auseinandersetzung mit Struktur, Plots und Charakterentwicklung. Erste Erfolge und Honorare. Seit 2003 freier Drehbuchautor und Schriftsteller in Wien. Autor von zahlreichen Fernsehkrimis für die Serie SOKO Kitzbühel. In letzter Zeit widmet er sich Kinder- und Jugendbuchtexten. Für seinen ersten Jugendroman Der Vogelschorsch erhält er 2017 das Mira Lobe-Stipendium, die höchste Staatsförderung Österreichs.
Ein Roman
Bilder
von Ulrike Möltgen
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Epilog
Manche Menschen überfallen einen wie ein heftiger Sturm. Nach einem gemeinsamen Augenblick hasten sie Hals über Kopf weiter, so unverbindlich wie sie gekommen sind. Ihr Bild vergilbt nach und nach im Labyrinth der Erinnerungen.
Andere Menschen wehen sanft wie eine Wolke in ein Leben und verharren Tage, Monate, mitunter ein paar Jahre, ehe sie sich wieder weitertreiben lassen und in der Vergessenheit verloren gehen.
Die besonderen unter den Menschen suchen einen wie ein warmer Mairegen Tropfen für Tropfen heim. Sie graben sich wie kunstvolle Gravuren unauslöschlich in unser Gedächtnis. Solche Menschen vergisst man sein ganzes Leben nicht.
So ein herausragender Mensch war für mich der Vogelschorsch. Obwohl es schon einige Jahrzehnte her ist, seit er mir begegnete, sehe ich ihn noch so lebendig vor mir, als wäre er nur für einen Moment aus dem Zimmer gegangen. Noch heute spüre ich ein beunruhigendes Kribbeln in meinem Nacken, wenn ich an ihn denke. Und auch nach so vielen Jahren verfolgt mich immer noch die Frage, ob ich all das Traurige, das dem Vogelschorsch widerfahren ist, hätte verhindern können.
Als ich den Vogelschorsch zum ersten Mal sah, regnete es Fische. Glitschige, schuppige, bescheuert stierende Fische. Massenhaft. Hunderte. Tausende. Sie fielen aus dem verwitterten dicken Betonrohr oberhalb unseres Hauses. Soviel wie noch nie im Sommer zuvor. Nicht nur die winzigen Fischkinder, die sonst immer aus dem Rohr plumpsten, sondern auch deren Karpfen-Eltern, Wels-Brüder, Rotfeder-Schwestern, Barsch-Onkel, Zander-Tanten und Hecht-Großeltern. Sie wurden mit voller Wucht vom reißenden Wasser durch das vierzig Zentimeter breite Loch gepresst.
Das war vielleicht ein Tohuwabohu. Überall Fische. Und wir mitten drinnen. Der Mühltaler Max, der Lederer Lukas und ich. Die Fische flogen in ein langgestrecktes knietiefes Becken. Das Wasser darin gurgelte, schäumte und wirbelte wütend. Von dort bahnten sich viele den beschwerlichen Weg durch das seichte Rinnsal. Voller Hoffnung den Erlinger Bach zu erreichen, der einige Kilometer später in die Donau mündet. Die Schwachen und die Großen steckten aber in dem flachen Gewässer fest. Eingezwängt. Verloren. Dem Tode geweiht. Mit dem Mut der Verzweiflung sprangen sie über ihre Artgenossen, um den einen oder anderen Stein zu überwinden und landeten am Ufer. Im Trockenen. Zuckten, rangen nach Luft, linsten ins Leere. Sie blieben kraftlos im Gras liegen und würden innerhalb von Minuten jämmerlich ersticken.
Wir wateten mit nackten Füßen in dem Rinnsal und klaubten so viele Fische wie wir konnten auf. Sachte setzten wir sie in den Bach und ließen sie weiterschwimmen. Der Mühltaler Max war der geschickteste. Er rettete den meisten Fischen das Leben. Ihm war es egal, ob sie klein oder groß, dick oder dünn waren. Der Lederer Lukas hatte sich auf die Prachtexemplare spezialisiert. Für die unter einem Kilogramm machte er sich erst gar nicht die Hände schmutzig. Ich hatte nicht so hohe Ansprüche, sondern kümmerte mich um die, die übrig blieben. Die von den anderen übersehen wurden. Obwohl ich schon damals ahnte, dass ich nicht alle retten konnte. Weder alle Fische noch alle Menschen und schon gar nicht den Vogelschorsch.
In einer Verschnaufpause strich mein Blick an einem Haselnussstrauch entlang, am Blätterdach der Buche vorbei, und plötzlich entdeckte ich den Vogelschorsch. Vom ersten Augenblick an war mir klar, dass er anders war. Anders als die Burschen, die ich bisher gesehen hatte. Schon damals hatte ich ein beunruhigendes Gefühl. Denn wenn man anders als die anderen ist, bezahlt man oft einen hohen Preis. Vor dem Anderssein haben die meisten Menschen Angst. Deshalb ist es bequemer wie alle zu sein, sich einzufügen und nicht aufzubegehren. So lassen sie einen zumindest in Ruhe. Das Unglück war: Der Vogelschorsch war wirklich vollkommen anders. Hätte er sich nur ein winziges, klitzekleines Stückchen angepasst, hätte alles ein besseres Ende nehmen können. Und nicht so ein schrecklich trauriges.
Er trug eine Frisur, als hätte ihm jemand einen Topf schräg auf den Kopf gesetzt, und dann mit der Schere rundherum am Rand entlang die Haare abgeschnitten. Keinen anderen Jungen habe ich mit so einer Frisur gesehen. Sein Gesicht war oval wie ein Ei. Er hatte große blaue Augen, über denen zündholzdicke Augenbrauen verliefen. Seine Lippen ruhten schmal im unteren Drittel seines Gesichts und waren eine Spur heller als die vom Mühltaler Max. Die Nase verlief gerade. Seine helle Haut erschien mir fast durchsichtig wie Pauspapier. Meist lag ein eigentümliches Lächeln auf seinen Lippen. Sogar noch, als ihn der Lederer Lukas mit einem Stein traf. Das war ein paar Tage, nachdem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
Jetzt hockte der Vogelschorsch so wie wir in der Runse. Nur nicht barfuß, sondern in klobigen braunen Schuhen. Seine Socken waren wasserdurchtränkt wie seine weite braune Hose aus grobem Stoff mit einer Bügelfalte in der Mitte. Zwei dreifingerbreite Hosenträger hielten sie an seiner Hüfte fest. Darunter trug er ein weißes Hemd, dessen oberster Knopf zugeknöpft war. Nicht um viel Geld hätte ich je so eine Hose oder so ein Hemd oder solche Schuhe angezogen. Am meisten überraschte mich aber, dass der Vogelschorsch, obwohl es bereits Sommer war und es etwa dreißig Grad hatte, über seinem Hemd und seiner Hose einen grünen dicken Lodenmantel mit fünf Hirschgeweihknöpfen trug. Der Saum des offenen Mantels reichte bis zu den Schuhen und war schon ganz braun und dreckig vom Wasser und dem Schlamm. Er hatte den Blick gesenkt und griff nach einem Fisch, der im Gras lag. Er hielt das Rotauge in den Händen, aber das rutschige Tier glitt ihm zwischen den Fingern hindurch und fiel ins Gras. Er packte das Rotauge und wieder entschlüpfte es ihm und fiel weiter denn je vom rettenden Wasser entfernt auf den Erdboden.
Der Vogelschorsch stieg aus dem Bächlein, griff nach dem Fisch, aber das tragische Schauspiel begann von neuem. Hilflos ließ er das Tier liegen, drehte sich um und fischte einen Karpfen aus dem Rinnsal. Doch auch der Einkilofisch entkam zappelnd seinen Händen und klatschte auf einen Stein. So erging es ihm mit jedem weiteren Fisch, den er retten wollte.
Entmutigt und verzweifelt richtete sich der Vogelschorsch auf und überließ die herumliegenden Tiere ihrem Schicksal. Ich spürte plötzlich eine riesengroße Wut in mir aufkeimen. Er konnte doch nicht einfach all die unschuldigen Tiere sterben lassen. Ich ballte die Fäuste und war knapp davor, ihn anzubrüllen, doch dann hob er plötzlich den Blick. Ich hatte noch nie in ein so trauriges Gesicht geschaut. Riesengroße Tränen rollten über seine Wangen. Er weinte lautlos, aber mit so einer Inbrunst, als hätte er den Schmerz jedes Menschen und jedes Tiers auf der Welt in sich vereint. Gleich darauf passierte etwas Wunderbares und zugleich Seltsames. Ein Spatz tänzelte übermütig über ihn hinweg und zog die Aufmerksamkeit vom Vogelschorsch auf sich. Obwohl er abgrundtief schluchzte, hob er seine Mundwinkel zu dem wärmsten, reinsten und zärtlichsten Lächeln, das ich je bei einem Menschen beobachtet hatte, als er dem Vogel hinterherschaute.
Noch heute, Jahrzehnte danach, denke ich an dieses einzigartige Lächeln mit den vielen Tränen. Wie angewurzelt blieb ich damals stehen. Bis ich Motorenlärm hörte. In einiger Entfernung wurden Autotüren aufgerissen und wieder zugeschlagen. Aufgeregte Männerstimmen schnitten wie Messerklingen in das Rauschen des Wassers. Die Stimmen wurden lauter und hektischer. Sie sprachen davon, dass im Teich oberhalb unseres Hauses das Abflussgitter des Mönchs gebrochen war. Deshalb flossen das Wasser und die zahlreichen Fische ungehindert durch das Rohr. Nun galt es so viele Fische wie möglich in Plastiktröge zu werfen und zurück in den Teich zu setzen.
Durch die im Wind wiegenden Blätter konnte ich Schatten erkennen. Nur noch Sekunden, bis die Männer das Waldstück erreichten. Ich schreckte blitzschnell herum, um dem Vogelschorsch eine Warnung zuzurufen. Ich kannte ihn zwar nicht, aber unter uns Gleichaltrigen gab es einen Pakt: Wir halfen uns gegen die Erwachsenen. Der galt für den Vogelschorsch wie für alle anderen. Mein Schrei verstummte aber in meinem Hals. Der Platz, an dem der Vogelschorsch Sekunden vorher noch gestanden hatte, war leer. Zuerst dachte ich, ich hätte ihn mir nur eingebildet. Wie konnte er sich sonst so schnell in Luft auflösen? Er musste ein Geist sein. Oder ein Troll. Oder ein Elf. Oder sonst irgendeine Gestalt aus der Fantasiewelt. Darum beschloss ich, weder dem Mühltaler Max noch dem Lederer Lukas vom Vogelschorsch zu erzählen. Plötzlich packte mich der Mühltaler Max an der Hand und zog mich aus dem Wasser.
„Lauf, Leni! Lauf! Sie dürfen uns nicht entdecken! Sie glauben sicher, wir haben Fische gestohlen.“
Wir schnappten unsere Schuhe und hetzten barfuß zwischen den Baumstämmen hindurch, als wäre ein Dämon hinter uns her. Der Lederer Lukas an der Spitze mit seinen flinken dünnen Beinen. Er war der Schnellste in der Klasse. Der Mühltaler Max hastete ihm als Zweiter hinterher. Er hatte längst meine Hand losgelassen. An letzter Stelle versuchte ich, nicht zu viel Abstand zu den beiden zu verlieren. Irgendwann mitten im Wald blieb der Lederer Lukas zum Glück stehen. Er wirkte ganz ruhig, im Gegensatz zum Mühltaler Max und zu mir. Wir schnaubten wie zwei alte Dampflokomotiven und stützten uns auf die Knie. Da meine Füße schmerzten, setzte ich mich einfach ins Moos und beschloss, keinen einzigen Schritt mehr zu gehen.
Der Lederer Lukas holte sein altes Taschenmesser heraus, brach einen geraden Ast von einem Haselnussstrauch und schnitzte das dickere Ende zu einer Spitze. Der Mühltaler Max kletterte auf eine Buche, weil er schauen wollte, ob er die Männer von oben sehen konnte. Die vielen Baumkronen verwehrten ihm den Blick. Ich streckte einfach nur schweigend meine Füße aus und fragte mich, ob der Vogelschorsch nun echt war oder ob ich völlig verrückt geworden war. Der Lederer Lukas schoss seinen Holzspeer zwischen Baumstämmen weit in den Wald. Wir haben ihn danach nicht mehr gefunden. Der Mühltaler Max sprang vom Ast, rutschte auf dem Moosboden aus und landete auf dem Hintern. Der Lederer Lukas und ich zerkugelten uns vor Lachen darüber.
Sogar der Mühltaler Max lachte mit, hielt sich dabei aber mit einer Hand den Hintern. Wahrscheinlich, weil er ihm ziemlich wehgetan hat. Geklagt hat er aber nicht.
Obwohl ich mir geschworen hatte, keinen Schritt mehr zu machen, bin ich trotzdem irgendwann aufgestanden und nach Hause gegangen. Natürlich gemeinsam mit dem Lederer Lukas und dem Mühltaler Max. In der Nacht habe ich dann von einem gewaltigen Fischschwarm im Meer geträumt. Mitten drin trieb der Vogelschorsch wie schwerelos. Er trug ein Lächeln auf seinen Lippen.
Eigentlich habe ich es meinem Vater nicht geglaubt, als er mir vom Nachbarhaus erzählt hat. Wer zieht schon in so ein windschiefes Haus. Niemand. Niemand, der klar bei Verstand war. Spätestens als der Kleinlastwagen am Nachmittag an unserem Haus vorbeiratterte, wurde ich mir meines Irrtums bewusst. Ich saß gerade auf der Betonmauer davor und spuckte Kirschkerne soweit ich konnte. Die Kirschen hatte ich meiner Mutter aus dem Kübel stibitzt, die auf einer Leiter neben unserem mächtigen Kirschbaum im Garten stand und dunkelrote Kirschen pflückte. Ich sollte ihr dabei helfen, hatte aber so überhaupt keine Lust dazu. Deshalb verkrümelte ich mich mit einer Handvoll Kirschen zur Hausmauer.
Mit einem Auge hatte ich die Schotterstraße im Blickfeld. Ich hielt nach entferntem Metallblitzen in der Sonne Ausschau. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Lederer Lukas und der Mühltaler Max auf ihren Fahrrädern anrollten. Gewöhnlich kamen sie gleich nach dem Mittagessen. Nur heute verspäteten sie sich schon über eine Stunde. Der Mühltaler Max wohnte mehr als zwei Kilometer von meinem Haus entfernt. Zum Haus vom Lederer Lukas waren es exakt zwei Kilometer und achthundertachtundreißig Meter von unserer Hausmauer bis zu ihrer Garage.
Das wusste ich deshalb so genau, weil der Lederer Lukas vor drei Tagen von seinem Vater einen Tachometer mit Kilometermesser bekommen hatte. Die genaue Entfernung vom Hof zum Mühltaler Max hat er nicht gemessen. Darüber hatte sich der grün und blau geärgert. Er hat zwei Tage kein Wort mit dem Lederer Lukas gewechselt.
Mittlerweile redeten sie wieder miteinander, aber nur, weil der Lederer Lukas dem Mühltaler Max den Tachometer geborgt hat. Er wollte die Fahrtstrecke von seinem Hof zu mir genau abmessen. Umso ungeduldiger erwartete ich ihre Ankunft.
Just in dem Moment schaukelte der Kleinlaster auf mich zu. Hinter ihm stob eine riesige Staubwolke empor. Neugierig stellte ich mich auf die Betonmauer und spähte, wer da auf unser Haus zufuhr. Das Steuer hielt ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und dunklen stechenden Augen. Sein Blick war starr nach vorne gerichtet, und ich glaube, er hat mich nicht einmal gesehen. Am Fensterplatz saß eine Frau mit einem freundlichen Gesicht. Sie wandte sich sofort schüchtern ab, als sich unsere Augen kreuzten. In der Mitte thronte der Vogelschorsch. Er winkte mir ausgelassen zu, als wären wir die besten Freunde der Welt, dabei kannten wir uns gar nicht. Ich hob nur verhalten den Arm. Mehr nicht. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Der Vogelschorsch zog wirklich mit seinen Eltern ins Nachbarhaus. Jetzt hatte ich den Salat. Der Vogelschorsch war auf einmal mein Nachbar.
Nicht nur, dass das Haus windschief war, es hatte Löcher im Dach, und die Fensterscheiben des Wohnzimmerfensters waren eingeschlagen. Ich kannte den Grund dafür. Da die Haustür versperrt war, hatte der Mühltaler Max das Wohnzimmerfenster mit einem Holzstock eingeschlagen. Er hat dann durch das Loch gegriffen, den Fenstergriff gedreht und das Fenster geöffnet. Der Lederer Lukas und ich standen inzwischen Schmiere. Nachdem die Luft rein war, ist der Mühltaler Max als Erster ins Haus geklettert. Der Lederer Lukas und ich sind ihm nach. Ui, hat da mein Herz gepumpert. Wie eine Trommel auf die jemand mit voller Wucht immer und immer wieder einschlägt. Ich fühlte mich gar nicht wohl, als wir mitten im Wohnzimmer standen. Die Stille setzte mir am meisten zu. Der Mühltaler Max tat ganz abgebrüht und hat sich über meine weißen Wangen lustig gemacht. Ich habe aber an seiner zittrigen Stimme gemerkt, dass er genauso wie der Lederer Lukas und ich Schiss hatte. Außerdem hat er die ganze Zeit nur geflüstert. Als ob sich jemand im Nebenraum aufhalten würde, der uns nicht hören durfte. Vom Holzboden waren einige Bretter herausgerissen. Es hat nach Moder gerochen. Wahrscheinlich von dem zerschlissenen braunen Sofa. Eine schimmelnde Kommode ist noch in der Ecke gestanden. Sonst war das Wohnzimmer leer. Ehrlich gesagt, haben wir uns nicht länger als fünf Minuten im Nachbarhaus aufgehalten, denn plötzlich haben wir aus dem Nebenzimmer ein leises Ächzen gehört, wie man es oft in alten Häusern wahrnimmt. Für uns klang es aber unheimlich unheimlich. Sogar der Mühltaler Max war auf einmal kreidebleich. Wir sind so schnell wie möglich wieder ins Freie geklettert. Draußen ist mir ein gewaltiger Stein vom Herzen gefallen. Jedenfalls hatte ich die nächste Zeit die Nase davon gestrichen voll, in verlassene Häuser einzubrechen.
Der Lastwagen hielt direkt vorm Nachbarhaus. Ich sah, wie die drei aus dem Wagen stiegen. Geschmeidig bin ich von der Mauer gesprungen und über die Wiese näher an das Gebäude herangeschlichen. An die Wiese grenzte ein Grundstück mit Apfel- und Birnenbäumen. Ich arbeitete mich von Stamm zu Stamm weiter vor. Beim Bienenstock bin ich dann auf allen Vieren bis zum Himbeerstrauch gerobbt, der an der Grundstücksgrenze zum Nachbarhaus wucherte. Ich habe mich ganz flach gegen den Boden gepresst und zwischen den Himbeerstrauchblättern hindurchgelugt. Mein Kopf, meine Arme und meine Beine juckten fürchterlich, weil ich mitten in einem Ameisenhaufen lag. Aber das bemerkte ich viel zu spät. Noch dazu rote Ameisen, die mich vollgepisst hatten. Das hat dann nicht nur gejuckt, sondern auch höllisch auf der Haut gebrannt. Rote Flecken zogen auf. Ich stellte mich einfach tot und hoffte, dass die roten Ameisen mich irgendwann in Ruhe ließen. Die Schmerzensschreie unterdrückte ich, sonst hätten mich die Eltern vom Vogelschorsch sofort entdeckt. Sie schleppten ein Ledersofa vom Lastwagen ins Haus. Vor der Eingangstür stand eine volle Bierkiste. Der Vater trank jedes Mal, wenn er rausgekommen ist, um eine Lampe oder einen Tisch oder einen Sessel zu holen, mehrere große Schlucke Bier. Seine Frau warf ihm nur vorwurfsvolle Blicke zu. Ich weiß nicht, ob der Vater die ganze Kiste an dem Tag ausgetrunken hat. Immerhin sind in so einer Kiste zwanzig Halbliterflaschen Bier. Aber zugetraut hätte ich es ihm schon.
Der Vogelschorsch kam kein einziges Mal heraus. Ich überlegte, wo er sein könnte. War er eingeschlafen oder spielte er oder musste er den Boden scheuern? Doch dann öffnete er auf einmal das vergitterte Fenster. Weiß der Kuckuck, weshalb er gerade dieses Zimmer gewählt hatte? Von meinem Versteck sah er wie ein Vogel in einem Käfig aus. Ich presste mich noch dichter auf die Erde, weil er plötzlich in meine Richtung sah.
Er schaute aber gar nicht zu mir, sondern in den Himmel. Dort flog ein Rabe. Der eindrucksvolle Vogel landete in der Wiese vorm Gitterfenster. Er stolzierte herum, blieb stehen, reckte seinen Schnabel in die Höhe und musterte mit seinen dunklen Augen den Vogelschorsch. Der Junge hielt sich mit beiden Händen am Gitter fest und erwiderte den Rabenblick. Die schwarzen Federn glänzten im Sonnenlicht. Plötzlich trippelte der Vogel los, schwang seine Flügel und flog auf den Vogelschorsch zu, der sich erschrocken duckte. Erst unmittelbar vorm Gitter stieg der Rabe in die Höhe und krächzte übermütig, als er über das Dach flog. Es klang wie ein überhebliches Lachen. Der Vogelschorsch zog sich am Gitter hoch und stürmte aus dem Zimmer. Ein paar Sekunden später erschien er neben dem Kleinlastwagen und starrte fasziniert in den Himmel. Obwohl der schwarze Vogel kleiner und kleiner wurde und bald nicht mehr zu sehen war, blickte er dem Raben noch lange nach.
Erst als seine Mutter ihn rief, ging er wieder ins Haus. Mir wurde es dann zu fad, und ich schlich nach Hause. Von Weitem sah ich schon den Mühltaler Max und den Lederer Lukas auf ihren Fahrrädern vor unserem Haus herumkurven. Später einmal habe ich gelesen, dass der Rabe als Symbol für den Tod steht. Aber auch für Hoffnung und für Weisheit.
Auf alle Fälle ist der Rabe von da an jeden Tag zum Vogelschorsch gekommen. Wahrscheinlich, weil er ihm Nüsse, Äpfel und Sonnenblumenkerne in die Wiese vor sein Zimmerfenster gelegt hat. Aber sicher bin ich nicht, ob Raben solche Früchte und Kerne gern fressen. Der schwarze Vogel kam nie näher als drei Meter an ihn heran. Und an dem Tag, an dem die Sache mit dem Vogelschorsch passiert ist, habe ich den Raben das letzte Mal gesehen. Danach tauchte er nie wieder auf.
Von unserer Hausmauer bis zur Haustür vom Hof von Mühltaler Max sind es genau zwei Kilometer und einhundertvierzehn Meter. Er bat mich, es niemanden zu erzählen, denn er wollte die Strecke vorher noch ein zweites Mal abmessen. Zur Kontrolle. Wenn er wieder auf dieselbe Zahl kam, dürfte ich es jedem erzählen. Denn dann wäre der Abstand exakt bestimmt. Sogar der Feichtinger Simone und dem Hofbauer Felix, die in den Häusern gegenüber der Schotterstraße wohnten, durfte ich nicht davon berichten.
Der Lederer Lukas mag den Hofbauer Felix nicht besonders, weil er ihn einmal bei seinen Eltern verpetzt hat. Außerdem hat der Hofbauer Felix, als er mit dem Lederer Lukas Frösche in einem Tümpel gefangen hat, einem der Frösche eine Nadel durch den Körper gestochen. Bei lebendigem Leib und obgleich das Tier vor Schmerz furchtbar herumgezappelt hat. Der Lederer Lukas schrie ihn an, ob er verrückt geworden sei. Der Hofbauer Felix warf den Frosch einfach ins Gras und ist abgehauen. Zum Glück fing der Lederer Lukas den Frosch und zog ihm die Nadel aus dem Körper. Dann setzte er ihn wieder in das Gras neben den Tümpel. Ob der Frosch noch am Leben war oder nicht, konnte der Lederer Lukas aber nicht mit Gewissheit sagen. Er ist nämlich dem Hofbauer Felix hinterher und hat ihm die Nadel in die rechte Hinterbacke gerammt. Sollte der Hofbauer Felix doch auch einmal spüren, wie weh es tut, wenn eine Nadel in das eigene Fleisch dringt. Der Hofbauer Felix lief weinend nach Hause und erzählte es seiner Mutter. Dass er vorher den Frosch gequält hat, hatte er wohl vergessen.
Jedenfalls bekam der Lederer Lukas dann eine Woche Hausarrest und drei Wochen Fernsehverbot als Strafe von seinen Eltern. Und eigentlich hätte er sich beim Hofbauer Felix entschuldigen müssen, aber dagegen sträubte sich der Lederer Lukas erfolgreich. Seitdem sind der Hofbauer Felix und der Lederer Lukas Feinde. Sie sehen zur Seite, wenn sie sich begegnen. Dem hätte ich auf keinen Fall erzählt, wie weit der Mühltaler Max und ich voneinander entfernt wohnen. Und der Feichtinger Simone sowieso nicht, dieser aufgeblasenen blöden Kuh. Da konnte sie zerplatzen vor Neugier. Einmal hatte ich ihr nämlich etwas vom Mühltaler Max erzählt. Im Geheimen. Sie musste mir ihr Ehrenwort geben, es auf keinen Fall weiterzusagen und es bei allem, was ihr heilig war, zu schwören. Erst dann habe ich ihr das vom Mühltaler Max erzählt.
Sie hat es in der ganzen Schule verbreitet. Anscheinend war der Feichtinger Simone gar nichts heilig. Das war vielleicht ein Theater. Der Mühltaler Max war dann vier Tage und vier Nächte lang wütend auf mich. Am fünften Tag erklärte er mir, warum er wütend auf mich war. Weil ich sein Geheimnis ausgeplaudert hatte. Und weil er mir extra gesagt hatte, ich solle es ja niemanden weitererzählen. Und weil ich bei allem, was mir heilig war, geschworen hatte, es nie zu verraten. Ob mir denn überhaupt nichts heilig sei.
Danach habe ich der Feichtinger Simone nie mehr wieder etwas erzählt. Nur mehr dem Vogelschorsch erzählte ich meine Geheimnisse. Er hat sie niemandem verraten. So und so machten sich alle nur über ihn lustig. Meist hinter seinem Rücken. Wenn, dann hat er sie nur den Vögeln erzählt. Denn Vögel liebte er, der Vogelschorsch. Immer schon. Und die Vögel liebten ihn. Immer schon.
Einen Tag, nachdem der Vogelschorsch ins Nachbarhaus zog, läutete er plötzlich an der Tür. Obwohl wir noch kein Wort miteinander gesprochen hatten. Ich öffnete die Tür.
„Hallo“, rief der Vogelschorsch laut und hob die Hand freundlich zum Gruß. Er trug wieder seinen Lodenmantel, sein Hemd mit den Hosenträgern, seine Hose mit den Bügelfalten und die klobigen Schuhe. Er hatte Schweißtropfen auf der Stirn, aber den Mantel knöpfte er trotzdem nicht weiter auf. Hinter ihm auf der Schotterstraße trippelte der Rabe und stierte zu uns.
„Servus!“
„Ich heiße Georg. Ich wohne seit gestern im Nachbarhaus.“
„Ich weiß. Ich bin die Lena.“
„Lena ist ein schöner Name. Mich nennen alle nur Schorsch. Du kannst mich auch so nennen, wenn du willst. Sonst kannst du Georg zu mir sagen.“
„Gut, Georg. Ich sage Schorsch.“
„Und ich Lena.“
Dann glotzten wir uns eine halbe Minute stumm an. Ich stand unschlüssig in der Tür, er stieg unruhig von einem Fuß auf den anderen.
„Ich gehe wieder“, stellte der Vogelschorsch auf einmal fest.
„Ach, wirklich“, antwortete ich.
„Morgen besuche ich dich noch einmal. Schließlich wohne ich ja im Nachbarhaus.“
Ich zuckte nur mit den Achseln. Er winkte mir zum Abschied und spazierte nach Hause. Der Rabe stakste neben ihm her. Von diesem Tag an nannte ich ihn den Vogelschorsch. Zu ihm persönlich habe ich es nie gesagt. So hat ihn überhaupt nie jemand angesprochen. Das hat sich niemand getraut. Aber hinter vorgehaltener Hand nannten ihn alle im Ort so. Ich auch. Der Vogelschorsch kam von nun an regelmäßig unregelmäßig zu mir.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Meine Mutter und mein Vater schnitten Hecken und zupften Gras aus. Ich bin auf der Gartenmauer gesessen, obwohl ich wusste, dass der Mühltaler Max und der Lederer Lukas nicht kommen würden. Der Mühltaler Max war nach Wien in den Wurstlprater gefahren. Er grinste wie ein Schaukelpferd, als er mir davon erzählte. Von der Achterbahn, dem Karussell und dem Autodrom. Ich war neidisch auf ihn und hielt mir die Ohren zu. Von den wunderbaren Attraktionen wollte ich nichts hören.
Meine Eltern sind nie mit mir nach Wien gefahren. Wir sind überhaupt nie irgendwohin gefahren, außer nach Linz oder Kärnten. Und schon gar nicht in ein anderes Land geflogen. Meine Mutter wäre eh gerne, so wie ich. Aber meinem Vater wurde übel, wenn er in einen Flieger stieg. Woher er das wohl wissen konnte, wenn er noch nie in einem Flugzeug gesessen war?
Der Mühltaler Max zog mir die Hände von den Ohren und versprach, einen Kübel Zuckerwatte mitzubringen. Normalerweise hielt er seine Versprechen.
Der Lederer Lukas musste mit seinen Eltern zu seiner Tante fahren. Er schaute, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er mochte nämlich seine Tante nicht, weil sie mit ihrer hohen Stimme immer herumnörgelte. Seinen Onkel konnte er ebensowenig leiden, weil er sich andauernd die Hoden kraulte. Vor allem aber nervte ihn sein kleiner Cousin, der unentwegt mit ihm Verstecken spielen wollte. Einmal hat der Lederer Lukas seinen Cousin eine halbe Stunde lang absichtlich nicht gefunden.
Die beiden würden also nicht kommen, dafür sah ich den Vogelschorsch auf unser Haus zusteuern. Erfreulicherweise. Alleine wurde es mir am Sonntag schnell langweilig. Vor allem interessierte mich, was der Vogelschorsch in der Schuhschachtel hatte, die er mit beiden Händen trug.
Er ging sehr vorsichtig, und sein Blick ruhte wachsam auf der wertvollen Fracht. Als er bei mir angelangt war, grüßte er nicht einmal. Er stellte die Schuhschachtel behutsam auf die Gartenmauer, erst dann schaute er zu mir auf.
„Hallo, Lena“
„Grüß dich, Schorsch.“
Ich beugte mich über die Schachtel. Dummerweise war sie verschlossen. Mit einem Messer hatte jemand Löcher in die Schachtel gestochen. Der Vogelschorsch bemerkte meine Neugierde.
„Das ist Graf von Wurmmund“, frohlockte er und öffnete sorgsam den Deckel. Eine Amsel kauerte ängstlich in der Ecke.
„Er ist heute gegen unser Wohnzimmerfenster gedonnert. Ich habe ihn am Boden gefunden. Er ist wie tot im Gras gelegen. Deshalb habe ich den Vogel zuerst mit einem Zweig angestupst. Als er sich plötzlich bewegte, hab ich mir fast in die Hosen gemacht. Woah! Da er nicht fliegen konnte, wollte mein Papa ihn ‚erlösen‘.“
Er strich seinen Hemdkragen zurecht und verzog seinen Mund abschätzig.
„Was dann passierte, glaubst du nicht. Er schlurfte in die Werkstatt, hat ein Holzscheit geholt und wollte Graf von Wurmmund vor meinen Augen erschlagen. Kannst du dir das vorstellen, Lena. Vor meinen Augen! Wie kann man einen Vogel erlösen, indem man ihn tötet? Da wäre er doch mausetot und alles andere als glücklich gewesen. Ich habe Graf von Wurmmund aufgehoben und bin weggelaufen. Bis über den Hügel.“
Er deutete mit der Hand Richtung Nachbarhaus. Dahinter erhob sich ein langgestreckter Grashügel. Anerkennend nickte ich. In meinen Augen war der Vogelschorsch ein Held. Aber gesagt habe ich ihm das nicht.
„Später hab ich den Holzscheit versteckt, Graf von Wurmmund in die Schachtel gesetzt und mit Würmern gefüttert.“
„Warum weißt du, dass es ein Männchen ist?“, wollte ich wissen. Damit, dass der Vogelschorsch die Antwort wusste, hab ich nicht gerechnet.
„Weil er schwarz ist. Die Amselweibchen sind dunkelbraun.“
„Aha“, sagte ich und dachte, blöd ist der Vogelschorsch also nicht, nur anders.
„Warum weiß du so viel über Amseln?“
„Von meiner Oma. Die hat es mir erzählt.“
„Und weshalb weiß deine Oma so viel über Vögel?“
„Weil sie einen großen Garten hat. Mit vielen Sträuchern und Bäumen. Und weil sie Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hat. Wie sollte sie es sonst wissen?“
Er sah mich an, als ob ich schwer von Begriff sei, sagte aber nichts weiter.
„Und weshalb heißt er Graf von Wurmmund? Das ist ein seltsamer Name für einen Vogel. Wieso heißt er nicht Maxi oder Karli oder Burli? So, wie sonst alle?“
„Graf von Wurmmund ist ja kein gewöhnlicher Vogel“, erklärte mir der Vogelschorsch entrüstet und öffnete den obersten Knopf seines Lodenmantels.
Unsere Unterhaltung schien ihn aufzuregen.
„Graf von Wurmmund ist ein Graf“, betonte er mit staatstragender Stimme, als ob er mir ein wichtiges Geheimnis offenbarte.
Verblüfft sah ich den Vogelschorsch an. Meinte er das ernst? Quatsch. Wie kann eine Amsel ein Graf sein? Unschlüssig betrachtete ich Graf von Wurmmund näher. Da entdeckte ich gelbe Ringe um seine Augen. Bisher waren mir die bei Amseln noch nie aufgefallen. Aber ich saß ja auch nicht jeden Tag einem Vogel so nah gegenüber. Oder hatten diese Ringe nur Amsel-Grafen und der Vogelschorsch hatte vielleicht doch recht?
Wie aus heiterem Himmel pickte Graf von Wurmmund mit seinem orangegelben Schnabel in meine Richtung, machte einen weiten Satz, trippelte über meinen Oberschenkel und hüpfte auf die Gartenmauer. Ich schrie vor Schreck laut auf, furzte und hielt meine Hände schützend über meinen Kopf. Graf von Wurmmund breitete seine Flügel aus und hob – Graf oder nicht Graf – elegant ab und verschwand in der Baumkrone des Nussbaums gegenüber. Der Vogelschorsch bekam auf einmal einen Lachanfall. Lachte er wegen des Furzes? Da ich meinen bösesten Blick auspackte, hörte er schließlich auf.
„Wenigstens ist Graf von Wurmmund wieder gesund. Das ist schön“, lenkte der Vogelschorsch ein.
„Aber so erschrecken hätte er mich nicht müssen. Und ein Graf ist er auf keinen Fall.“
„Ist er doch. Darauf kannst du noch einen lassen.“
Daraufhin verpasste ich ihm einen Schwinger auf den Oberarm. Der Vogelschorsch grinste ausgelassen und nahm die Schachtel.
„Wenn du willst, nehme ich dich morgen mit zu meiner Oma. Dann kannst du sie alles über Vögel fragen.“
„Wo wohnt deine Oma?“
„Nicht weit von hier. Kommst du mit?“
Als ich nickte, lächelte er erfreut.
„Nach dem Mittagessen hol ich dich ab. Bis morgen, Lena.“
„Ok, Schorsch.
Dann trottete er mit seiner Schachtel in der Hand davon. Ich schüttelte den Kopf. Die Amsel und ein Graf. So ein Schwachsinn. Das könnte er vielleicht seiner Oma erzählen.
Der Mühltaler Max meinte, es könnte schon Grafen unter Amseln geben. Schließlich sei ja auch der Löwe der König der Tiere. Und wenn es einen König unter den Tieren gab, könnte es genauso gut Grafen geben. Der Lederer Lukas deutete nur einen Vogel. Damit war das Thema erledigt. Wir saßen auf der Hausmauer. Der Plastikkübel mit der Zuckerwatte stand auf meinem Schoß, und wir stopften gierig das weiche Zeug in unsere Münder. Es war pickig und herrlich süß.
Ich hatte überall Zuckerwatte. Sie klebte an meinen Fingern, in meinem Gesicht, meinen Haaren und sogar an meinen Ohren. Von dort zupfte sie mir der Lederer Lukas herunter und ließ sie in seinem Mund verschwinden. Der Mühltaler Max sah verstohlen zu. Er verzog den Mund, als ob er bittere Medizin geschluckt hätte. Das gefiel mir besonders gut.
Wir warteten auf den Vogelschorsch. Die beiden wollten ihn unbedingt kennenlernen, nachdem ich so viel von ihm erzählt hatte. Ich erwähnte aber mit keinem Wort, wie er aussah, welche Kleider er trug und wo er wohnte. Der Grund dafür war mir selbst nicht so ganz klar. Auf alle Fälle war es ein Fehler, ein riesengroßer.
Der Vogelschorsch spazierte zu Fuß auf uns zu. Wie ein scheues Reh blieb er erst einmal hundert Meter vor uns stehen und stierte herüber.
„Schaut euch diesen Trottel an“, lachte der Lederer Lukas, als er den Vogelschorsch entdeckte.
„Ha! Ha! Was ist denn das für ein Trottel?“, feixte der Mühltaler Max. Mit dem Zeigefinger zeigte er auf den Vogelschorsch. Wie auf ein seltenes Tier im Zoo glotzten sie zu ihm hinüber. Mein Magen zog sich plötzlich zusammen, und die Zuckerwatte schmeckte nicht mehr so süß wie zuvor. Ich wusste nicht, ob er all das gehört hatte. Auf einmal bekam ich großen Durst. Mein Hals war so trocken, als ob ich gerade die Wüste Gobi durchquert hätte. Deshalb gingen wir ins Haus, und ich sperrte die Haustür hinter mir zu. Wir mischten uns Holundersaft. Der Mühltaler Max mochte ihn besonders süß. Drei Fingerbreit Sirup schüttete ich in das Glas. Der Lederer Lukas trank ihn nur mit einem Fingerbreit Sirup. Wir saßen in der Küche am Esstisch.