Als Ellen das letzte Haus verlässt, kann sie am Ende der Straße das erste Sonnenlicht erkennen, nur ein zarter Schimmer, einen Hauch heller als der noch dunkle Himmel. Erst in einer guten halben Stunde werden die Straßenlaternen ausgeschaltet.
Viertel nach fünf, sie ist zwanzig Minuten schneller als sonst. Fast ein Drittel ihrer Kunden ist in den Ferien, die Baumanns noch zwei Wochen, Koczynskis, Steinfelds, Grupps und Frau von Stetten eine. Sie lässt auf ihrer Tour momentan ganze Häuser aus, was den Hund irritiert. Hartnäckig bleibt er vor jedem Halt, den er längst kennt, stehen und sieht sie auffordernd an, als wolle er sagen, hier musst du doch rein! Erst wenn Ellen mehrmals »Avanti!« sagt, setzt er sich in Bewegung und folgt ihr. Es sieht aus, als schüttle er dabei tadelnd den Kopf.
Eigentlich könnte sie in der Ferienzeit eine halbe Stunde länger schlafen, aber ihre innere Uhr ist inzwischen fest auf drei programmiert, sie stellt ihren Wecker eigentlich nur noch pro forma. Niemand glaubt es ihr, aber das frühe Aufstehen macht ihr nichts aus. Sie war nie eine Langschläferin, nicht mal als Jugendliche, selbst nach einer bis zum Morgengrauen durchfeierten Nacht war sie spätestens um acht wach. Es hat sie, im Gegensatz zu Jock, auch nie gestört, mit den Jungs, die beide morgens viel Zeit brauchten und locker eine halbe Stunde vertrödelten, aufzustehen. Natürlich kostet es im tiefen Winter ein bisschen Überwindung, oder bei strömendem Regen, aber jetzt im Sommer, so einem heißen noch dazu, hat sie kein Problem. Im Gegenteil, der frühe Morgen ist ihre Lieblingszeit, die Dunkelheit, die Stille, die noch kühle Luft, die leeren Straßen, die Ahnung des kommenden Tages, das allererste Licht. Und natürlich der Gesang der Vögel, den sie den ganzen Winter über schon sehnlich erwartet und der sie etwa ab Mitte März auf ihren Touren begleitet, erst nur am Ende, wenn sie schon auf dem Heimweg ist, im Juni und Juli dann auf ihrem ganzen Weg. Die ersten sind die Amseln, die etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang beginnen. Ihr Gezwitscher und Tirilieren steigert sich innerhalb von wenigen Minuten zu variationsreichen Gesängen, deren Melodien sie oft noch durch den Tag begleiten; wenig später setzen die Meisen ein, die letzten sind die Stare.
In den Jahren, in denen sie die Zeitungen austrägt, hat sie eine Morgenroutine entwickelt. Während in der Küche der Kaffee durchläuft, geht sie unter die Dusche und zieht sich an. Der Hund wartet schon vor der Wohnungstür, wenn sie alles einsteckt, den großen Schlüsselbund, ihren eigenen Schlüssel, Handy, den Alubecher, in den sie den Kaffee gefüllt hat. Sie holen zusammen aus dem Hinterhof das Fahrrad mit dem Anhänger, sie lädt die Zeitungen drauf, die seit Mitternacht vor der Tür liegen, vier Packen normalerweise, momentan nur drei. Dann gehen sie los, sie schiebt das Rad, er trabt neben ihr her, ohne Leine, die braucht er um diese Zeit nicht. Wenn sie das Rad vor den Häusern an die Wand lehnt, setzt er sich daneben. Er beobachtet, wie sie die Zeitungen aus dem Anhänger nimmt, die Haustüren aufschließt und in den Eingängen verschwindet. Wenn sie wieder zurückkommt, scheint er sich nicht von der Stelle gerührt zu haben, aufmerksam sieht er ihr entgegen. Und erst wenn Ellen das Rad nimmt und weitergeht, erhebt er sich und folgt ihr.
Wenn sie um spätestens halb vier ihre Tour beginnt, sind sie ganz allein unterwegs. Sie mag dieses Gefühl, sich zielstrebig zu bewegen, während um sie herum die Stadt noch schläft. Spätestens gegen fünf ist es mit der Stille vorbei. In einigen Fenstern gehen die Lichter an, der erste Bus fährt vorüber, danach kommen bald die orangelackierten Lastwagen der Müllabfuhr. Und wenn sie gegen sechs von ihrer Tour zurückkommt, hat schon Betriebsamkeit eingesetzt. Die ersten Autos verlassen ihre Parkplätze, der Bäcker an der Ecke öffnet, die Männer der Straßenreinigung sind unterwegs in ihren kleinen Wagen, in denen die Kehrbesen mit den Borsten nach oben stehen und deren Fahrer sich um Punkt sieben eine Frühstückspause an einem der Tische auf der Straße gönnen.
Heute ist sie schon um halb sechs wieder zu Hause. Sie schließt die Wohnungstür auf, der Hund drängt sich zwischen ihren Beinen durch und läuft in die Küche, in Vorfreude auf sein Frühstück. Zum Trockenfutter bekommt er einen Klacks Hüttenkäse, dazu manchmal ein bisschen Banane oder eine Portion in Milch eingeweichte Haferflocken. Er macht sich gierig darüber her, während Ellen Tee kocht und die Zeitung liest. Hunger hat sie um diese Zeit noch nicht, erst gegen neun wird sie sich ein Müsli machen.
Der Tag liegt frisch und verheißungsvoll vor ihr, es sind noch Schulferien, sie hat keinerlei Verpflichtungen mehr, eine ganz ungewohnte Freiheit. Sie wird, das hat sie auf ihrer Tour beschlossen, nachher ins Schwimmbad gehen, am Morgen kurz nach der Öffnung ist es noch angenehm leer, und sie kann ungestört ihre dreißig Bahnen ziehen. Am Nachmittag wird sie einen längeren Spaziergang mit dem Hund machen, am besten im Nordteil des Englischen Gartens, wo genug Schatten ist und er sich in den Bächen abkühlen kann, gestern hatte es noch gegen Abend 30 Grad, für heute sind ähnliche Temperaturen vorausgesagt. Gegen Mittag wird sie sich mit einem Buch aufs Sofa legen und nach ein paar Seiten einschlafen, ein, zwei Stunden, danach ist sie wieder ausgeruht. Sie gönnt sich diese Siesta so oft wie möglich, so braucht sie nachts nicht mehr als vier Stunden Schlaf und muss nicht mit den Hühnern ins Bett.
Sie trägt jetzt seit knapp drei Jahren Zeitungen aus. Als sie damals ihre Altersrente beantragt hatte und wusste, wie viel sie ungefähr zu erwarten hatte, hat sie ihren inneren Widerstand überwunden und einen Monat lang akribisch Buch geführt über sämtliche Ausgaben. Bestimmt, so ihr naiver Gedanke damals, würde sie schon zurechtkommen, wenn sie sich ein bisschen disziplinierte in finanzieller Hinsicht. Das Ergebnis ihrer Aufstellung: Auch bei sparsamster Haushaltsführung würden ihr in Zukunft über 500 Euro fehlen.
Das war natürlich zu erwarten gewesen, sie hatte einfach zu wenig in die Rentenkasse eingezahlt. In den Jahren, in denen die Jungs noch klein waren, hatte sie gar nichts verdient; erst 1985, als auch Vitus in den Kindergarten kam, hatte sie nach einem Job Ausschau gehalten, dann aber für Jock Büroorganisation und Buchhaltung gemacht, womit er heillos überfordert war. Erst mit der Stelle in der Buchhandlung hatte sie begonnen, regelmäßig Beiträge abzuführen. Miri hatte sie mehrfach darauf angesprochen, »du musst dringend was für deine Altersvorsorge tun«, aber sie hatte alle Warnungen ignoriert und ihr ohnehin nicht gerade üppiges Gehalt bis auf den letzten Pfennig – oder später Cent – ausgegeben. Irgendwas würde sich schon finden, hatte sie gedacht. Und sparen konnte sie später immer noch.
Als der endgültige Rentenbescheid kam, zwei Monate vor ihrem 65. Geburtstag, hatte sie den Stier bei den Hörnern gepackt und war systematisch die Liste mit ihren Ausgaben durchgegangen, Punkt für Punkt. Um sich dann von allem zu befreien, was nicht unbedingt notwendig war. Sie kündigte fast alle Versicherungen, Hausrat, Reisegepäck, Rechtsschutz, das Abo von der Zeitung ebenso wie das vom Theater und stellte auch die monatlichen Beiträge an Greenpeace und Amnesty ein, fast drei Jahrzehnte Spenden mussten reichen. Der Abschied von ihrem alten klapprigen Fiat fiel ihr schon schwerer, sie vermisste das Gefühl, sich jederzeit einfach ins Auto setzen und losfahren zu können, wohin auch immer. Und sie kündigte schweren Herzens Maria, ihrer portugiesischen Putzfrau, ein Luxus, den sie sich zu ihrem sechzigsten Geburtstag selbst geschenkt hatte, alle zwei Wochen drei Stunden, zweimal im Jahr ein paar extra für die Fenster und die Schränke. Jetzt macht sie selber sauber, wenn auch nicht gerade akribisch. Maria hatte sie damals eine neue Stelle verschafft, bei dem Musikerpaar im ersten Stock, das gerade Zwillinge bekommen hatte.
Natürlich reichten all diese Einsparungen nicht aus, um die Lücke auch nur annähernd zu schließen. Und so begann sie, in der Zeitung und im Internet nach Nebenjobs zu suchen.
Miri, die damals noch nicht in Jena wohnte, entdeckte bei einem Spontanbesuch die rotumrandeten Annoncen in der Zeitung. Telefonakquise hatte Ellen ausgeschlossen, ebenso Versicherungsvertretung, im Rennen bei den momentanen Angeboten waren noch Aushilfe in einer Bäckerei und Zeitungszustellung.
»Dass du Brot und Semmeln verkaufst, kann ich mir ja vorstellen«, hatte Miri gesagt. »Aber Zeitungen austragen? Ist dir klar, wann du da aufstehen musst?« Sie kramte im Küchenschrank nach der Packung Lady Grey, den sie am liebsten trank. Auch auf den teuren Tee würde Ellen verzichten müssen in Zukunft.
»Macht mir nichts«, hatte Ellen gesagt. »Ich brauch einen Job. Eher zwei. Oder ich muss mir eine wesentlich günstigere Wohnung suchen.« Sie füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein.
Miri lachte höhnisch auf, während sie die Schachtel aus der Tiefe des Schrankes angelte. »Viel Erfolg! Du zahlst dreizehn Euro pro Quadratmeter, stimmt’s? Das ist mittlerweile ein Dumpingpreis in dieser Gegend. Wenn du wirklich billig wohnen willst, musst du an den Arsch der Welt ziehen. In den Osten. Oder in die Oberpfalz oder solche Ecken.«
Sie hatte natürlich recht. Selbst für ein Einzimmer-Wohnklo in einer miesen Gegend mit schlechtem Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr zahlte man mittlerweile locker sechshundert Euro, mehr als zwei Drittel ihrer Miete.
»Ich will hier ja auch auf keinen Fall raus. Auch wenn fünfundsechzig Quadratmeter natürlich ein Luxus sind für mich allein.«
»Hast du denn gar nichts zurückgelegt? Du wolltest doch mal regelmäßig …«
»Wollte ich, ja. Hab ich aber nicht. Ergo muss ich was dazuverdienen. Ich hab gelesen, Taxifahrer werden immer gesucht.«
»Dafür brauchst du einen Personenbeförderungsschein«, in solchen Sachen kannte Miri als Steuerberaterin sich aus. »Und dann eine Ortskundeprüfung, die soll ziemlich schwierig sein. Da müsstest du wahrscheinlich monatelang lernen, bevor du dein erstes Geld verdienst.«
»Dann eben doch Zeitungaustragen.« Ellen nahm Miri die Teepackung aus der Hand, fischte drei Beutel heraus und hängte sie in die Kanne.
»In aller Herrgottsfrühe durch die Dunkelheit, ganz allein? Bei Wind und Wetter?«
»Machen doch viele Leute, auch in meinem Alter.«
»Und sind garantiert ständig krank, vor allem im Winter.«
»Ich bin fit, weißt du doch. Gute Gene.« Die hat sie tatsächlich, ihre Eltern sind beide fast neunzig geworden. »Wollen wir nachher ins Kino? Ich hab drei Filme auf meiner Liste.« Ellen goss das kochende Wasser auf. Hoffentlich ließ Miri das Thema jetzt ruhen.
Tat sie natürlich nicht. Immerhin wartete sie ein paar Stunden, bis sie nach dem Film im »Riva« noch einen Wein tranken.
»Und Benedikt und Vitus?«
»Was soll mit denen sein?«
»Könnten die dich nicht ein bisschen unterstützen, finanziell? Jetzt schau mich nicht so entsetzt an, Elli. Ist doch total normal, wenn Kinder ihre Eltern …«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Und wenn du Henry mal ansprichst? Der sucht doch immer Leute für seine Buchhaltung.«
»Bitte lass es, ja?«
»Okay.« Miri hatte dem Kellner ein Zeichen gegeben, sie wollte noch einen Wein. »Verlorene Liebesmüh, ich kenn ja deinen Stolz. Aber du sagst Bescheid, wenn’s wirklich ganz eng wird, ja? Ich hab mehr als genug. Und wofür sind Freunde sonst da?«
Damit war das Thema vorerst abgehakt. Vier Tage später lernte Miri im Zug nach Frankfurt, wo sie ihre steinalte und demente Mutter im Pflegeheim besuchen wollte, Hanno kennen, ein halbes Jahr später zog sie zu ihm nach Jena. Einmal fragte sie noch nach, mitten in den Umzugsvorbereitungen, was aus dem Plan mit dem Zeitungaustragen geworden sei. Ellen, gerade seit zwei Wochen in Rente, erzählte kurz, dass sie vor zwei Tagen damit begonnen hatte, dass es eine leichte Arbeit sei, dass es ihr Spaß mache und sie finanziell zurechtkomme. Was stimmte, auch wenn sie natürlich trotzdem sparen musste, wo es nur ging. »Und ich bin auch nicht allein, der Hund kommt ja mit.«
Miri hatte gelacht. »Dann bist du ja bestens beschützt. Aber im Ernst, Elli, Respekt vor deiner Energie. Diese Charity-Sache machst du ja auch noch.«
Diese Charity-Sache war ein Deutschkurs für Migrantinnen, vor allem aus Ghana, aber auch aus Kamerun, Senegal und Nigeria, ein Vormittag pro Woche während der Schulzeit. Ellen hatte sich immer vorgenommen, ein Ehrenamt zu übernehmen, wenn sie nicht mehr arbeitete, ohne die Vollzeitstelle waren ihre Tage lang, trotz der Zeitungen, und sie wollte sich nützlich machen. Die vereinbarten zweieinhalb Stunden überzog sie meistens, weil sie sich nach dem Üben und Lernen mit den zumeist jungen Frauen gerne unterhielt, sie ein bisschen ausfragte über ihr Leben, ihre Herkunft. Im Frühjahr hatte sie die ganze Gruppe an einem Samstag zu sich nach Hause eingeladen, die Frauen hatten Gerichte aus ihrer Heimat gekocht, sie hatten zusammen gegessen, Musik gehört und viel gelacht, es war ein wirklich schöner Abend gewesen. Die Arbeit machte so viel Spaß, dass Ellen schon überlegt hatte, ein zweites Ehrenamt zu suchen, immerhin hatte sie die Nachmittage ja frei.
Das änderte sich in der Vorweihnachtszeit. Beim monatlichen Stammtisch der Buchhandlung, zu dem sie immer noch eingeladen wurde, klagte Kirsten, Ellens Nachfolgerin, über die miserablen Deutsch- und Englischnoten ihrer Tochter, und wie schwer, ja fast unmöglich es sei, einen geeigneten und bezahlbaren Nachhilfelehrer zu finden. Anne aus dem Sachbuch, vorlaut wie immer, hatte, nur halb im Spaß, Ellen vorgeschlagen, die ja jetzt massenhaft Zeit habe, als Rentnerin. Ehe Ellen es sich versah, war Kirsten auf die Idee angesprungen. Sie hatte auf die völlig überrumpelte Ellen eingeredet, und Anne hatte sekundiert, niemand in Deutsch so gut wie du, das Studium doch fast abgeschlossen, Englisch auch fast perfekt, Lammesgeduld, Erfahrung mit Kindern und was noch alles. Und als Ellen im Bus nach Hause saß, hatte sie, wenn auch vorerst zur Probe, die zwölfjährige Amelie als Schülerin, zweimal die Woche je zwei Stunden à fünfzehn Euro, »das ist eher günstig«, hatte Anne gemeint.
Amelie schrieb in der nächsten Englischarbeit eine Drei minus statt einer Fünf, und am nächsten Tag hatte Ellen drei atemlose gestresste Mütter am Telefon, deren Töchter ganz dringend Nachhilfe brauchten und die von Kirsten gehört hatten, dass Ellen Wunder vollbringe.
Zwei von den Kandidatinnen hatte Ellen übernommen, für gemeinsamen Unterricht ebenfalls zweimal wöchentlich, pro Kind verlangte sie, obwohl sie es eigentlich ein bisschen unverschämt fand, zehn Euro, was ohne Wimpernzucken akzeptiert wurde. Insgesamt kam sie damit im Monat auf knapp sechshundert Euro, abzüglich der Steuern und der Wochen, in denen sie wegen der Ferien nicht unterrichtete, immer noch eine schöne Summe, die nicht nur dafür sorgte, dass sie nicht mehr jeden Cent umdrehen musste, sondern von der sie auch monatlich ein bisschen zurücklegen konnte.
Und seit diesem März hat sie noch einen vierten Schüler. Eines Morgens wurde sie auf der Straße, als sie mit dem Hund vom Bäcker kam, von einer jungen Frau angesprochen, lange blonde Haare, offenes sympathisches Gesicht, knallroter Lippenstift, ein bisschen mollig. Sie entschuldigte sich, dass sie Ellen einfach so überfiel, und stellte sich als Sina Poschmann vor, sie wohnte gleich um die Ecke; Ellen erinnerte sich, sie schon ein paarmal im Vorübergehen gesehen zu haben. Frau Poschmann hatte gestern bei einer Einladung Kirsten kennengelernt, und die hatte ihr von Ellens Künsten als Nachhilfelehrerin erzählt. Ihr eigener Sohn, acht Jahre alt, dritte Klasse Grundschule, kam in Deutsch und Mathe nicht so gut klar. Und kommenden Januar würden doch schon die Schulempfehlungen gegeben, die für die Zukunft der Kinder so wichtig seien. Natürlich wünsche sie sich, dass der Junge aufs Gymnasium könne, sie glaube auch, er habe eigentlich das Zeug dazu, er brauche ihrer Meinung nach nur ein bisschen Förderung. Und sie habe Ellen im Laufe des Tages schon anrufen wollen, aber es sei doch netter, die Sache persönlich zu besprechen, oder?
Ellen reagierte freundlich, aber zurückhaltend, drei Schülerinnen waren ihr genug, in jeder Hinsicht. Als aber Frau Poschmann sie eindringlich bat, ja fast anflehte, ihren Sohn wenigstens einmal kennenzulernen, vielleicht erkenne eine erfahrene Nachhilfelehrerin wie sie ja gleich, wo seine schulischen Probleme lägen, erklärte Ellen sich, wenn auch innerlich seufzend, zu einem Treffen am Wochenende bereit. Und so kam Elvis zu ihr.
»Verdammte Scheiße! Und wieder auf den letzten Drücker!« Sina schleudert das Handy von der Küchentür aus auf den Tisch, es schlittert gefährlich auf die Kante zu. Torsten fängt es im letzten Moment auf und schiebt es aus der Gefahrenzone.
»Was genau hat er gesagt?« Er schaut nicht von dem Poststapel auf, den er sortiert, Werbung, Werbung, Rechnung.
»Dass er momentan auf gar keinen Fall aus der Firma wegkann! Weil er ja so wichtig-wichtig ist! Dieses Arschloch! Ich könnte ihn echt … Ach, was reg ich mich auf. Ich hätte es wissen müssen.«
Sina lässt sich auf den Stuhl Torsten gegenüber fallen, am liebsten würde sie mit einer einzigen Bewegung alles vom Tisch fegen, was da liegt und steht, das Handy, die zwei Gläser Wasser, den Teller mit Butterbrezen, die sie vorhin noch beim Bäcker geholt hat, statt Abendessen, mittags haben sie am Flughafen auf Lanzarote noch Paella gegessen. Zwei Wochen Ferien, und kaum sind sie eine Stunde zu Hause, ist ihre ganze Erholung beim Teufel.
»Hättest du wahrscheinlich. Ist ja nicht das erste Mal.« Torsten kennt Sinas Ex David zwar noch nicht persönlich, hat aber in den elf Monaten, in denen sie zusammen sind, diese Situation bereits dreimal miterlebt, Weihnachten, Ostern und jetzt. David vereinbart mit Sina die Ferienaufteilung für Elvis und sagt in letzter Minute ab. An blöde Zufälle kann sie inzwischen nicht mehr glauben. So bitter es ist, David hat kein großes Interesse an seinem Sohn.
Sina steht auf und geht zur Waschmaschine, vor der die gesamte Urlaubswäsche auf einem Haufen liegt. Sie kniet sich hin und sortiert alles auseinander, Weiß, Bunt, Schwarz.
»Und was mach ich jetzt? Ich kann mir nicht einfach so noch zwei Wochen Urlaub nehmen. Wenn ich am Montag nicht in der Agentur antanze, rastet H.C. aus.«
»Ich könnte ihn übernehmen. Müsste ich die Reise absagen, hol ich dann halt irgendwann nach.« Torsten hat geplant, am Sonntag nach Dresden zu fahren, er will dort seine Eltern besuchen, außerdem hat er zwei Vorstellungstermine vereinbart.
»Kommt gar nicht in Frage.« Er soll diese Reise unbedingt machen, auch wenn sie insgeheim hofft, dass aus einem Job dort nichts wird. Eine Fernbeziehung ist das Letzte, was sie sich wünscht.
Torsten steht auf und wirft die Werbung in den Korb mit Papiermüll. »Kann er nicht noch mal in dieses Camp, wo er Ostern schon war? Mit seinem Freund Lukas?«
»Da hab ich im Mai schon mal vorsichtshalber angefragt, da waren die schon längst voll.«
»Und irgendeine andere Ferienbetreuung? Da muss es doch was geben.«
»Von jetzt auf hier, für zwei Wochen?«
Torsten geht zur Tür. »Ich geh mal meine Mails checken. Wir überlegen nachher noch mal zusammen, okay? In Ruhe.«
Sina stopft die erste Ladung Buntes in die Maschine, die Wäsche riecht nach Schweiß und Sand und Sonnenöl. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie den Strand vor sich und hört das Rauschen des Meeres, die Rufe des Eisverkäufers, Elvis’ Lachen, wenn eine große Welle auf ihn zurollt.
»Weißt du, was mich am meisten nervt? Dass ich Elvis wieder die Hiobsbotschaft überbringen darf! Er wird total enttäuscht sein.«
»Mach’s morgen«, sagt Torsten im Hinausgehen. »Verdirb ihm nicht den Abend.«
»Ich verderb ihm gar nichts!« Aber Torsten ist schon im Flur verschwunden. Bevor die Tür zufällt, hört sie noch martialische Musik und gebrüllte Dialoge aus dem Wohnzimmer, Elvis darf noch eine Stunde fernsehen, ehe er ins Bett muss.
Wie soll sie ihrem Sohn am besten beibringen, dass sich die Urlaubspläne schon wieder zerschlagen haben? Elvis hängt an seinem Vater, so unzuverlässig der auch ist. Erst neulich hat sie ein Gespräch zwischen ihm und seinem besten Freund belauscht, Elvis hat Lukas vorgeschwärmt, wie toll sein Vater ist, wie erfolgreich, wie reich, was für ein teures Auto er fährt. Man hätte glauben können, er rede von einem Rockstar und nicht von einem kleinen Rechtsanwalt, der in der Düsseldorfer Kanzlei überhaupt nur arbeitet, weil er der Sohn vom Chef ist. Woanders wäre der doch längst hochkant rausgeflogen, so viel Mist, wie er schon gebaut hat, dieser Versager, dieser aufgeblasene Wichtigtuer, dieser Blender.
Sina schließt die Tür der Maschine und schaltet sie ein. Sie fühlt sich plötzlich todmüde, dabei ist es noch nicht mal neun, und sie hat auf Lanzarote viel und gut geschlafen. Wann hört dieser Stress jemals auf, diese verzweifelte Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten für ihr Kind? Wenn sie allein an die Au-pairs denkt. Diese Brasilianerin, die Elvis ganze Nachmittage vor dem Fernseher geparkt hat, um ihre Verehrer in der Küche zu bewirten, Sina hat sie eines Nachmittags dabei ertappt. Sie durfte ja noch froh sein, dass sie die beiden nicht beim Vögeln erwischt hat, vielleicht auch noch in ihrem eigenen Bett. Oder die heimwehgeplagte Ungarin, die gefühlte zehnmal am Tag Rotz und Wasser heulte und so streng nach Schweiß roch, immerhin aber mit Elvis liebevoll umging, bis sie es nach drei Monaten nicht mehr aushielt und von ihren Eltern abgeholt wurde. Danach die Tagesmutter, eine übergewichtige Berlinerin, die über Elvis sagte, er heule zu viel, er sei doch ein Junge. Er weinte tatsächlich jedes Mal herzzerreißend, wenn Sina ihn morgens hinbrachte, sie konnte es keine zwei Monate ertragen. Danach nahm sie sich sechs Wochen Urlaub, um für Elvis da zu sein, der selig war, der dicken Berlinerin entkommen zu sein. Sie haben damals ganze Tage vertrödelt, in Parks, auf Spielplätzen, bei Spaziergängen durchs Viertel. Damals wurde das neue Quartier am Olympiapark errichtet, für Elvis war es das Schönste, am Rand der Baustelle zu stehen und den Arbeiten zuzusehen, den Baggern, den Kränen, den Mischmaschinen. Am Anfang war sie ungeduldig, sie fand es langweilig, aber Elvis hing so fasziniert am Zaun, dass sie ihm zuliebe ausharrte. Neulich hat sie ihn gefragt, ob er sich an die Baustelle erinnert, seine Augen leuchteten sofort auf. Am meisten hatten sich ihm die riesigen Stahlträger eingeprägt, die, vom Kran hochgehoben, minutenlang gefährlich schwankend über der Baugrube pendelten, ehe sie langsam und vorsichtig zu Boden gelassen wurden.
Sie hatte damals überlegt, eine längere Auszeit zu nehmen, notfalls den Job sogar zu kündigen, aber David hatte sich gerade mit der eigenen Kanzlei selbständig gemacht, die Klienten ließen auf sich warten, sie brauchten ihr Gehalt. Sie brachte Elvis dann in einer privaten Krabbelgruppe unter, die bis siebzehn Uhr geöffnet hatte. Ein Jahr später kam er in den Kindergarten, auch wieder ein privater wegen der langen Öffnungszeiten, sie kam selten vor vier aus dem Büro. Und dass David Elvis abholte, war ja unter seiner Würde. Was er so natürlich nicht sagte, er verwies immer auf die Arbeit, »selbständig zu arbeiten heißt, selbst und ständig, Existenzgründung ist nun mal kein Nine-to-five-Job, Sina«, blabla. Immerhin hatte er genug Freizeit, Nicole zu vögeln. Ein Jahr später lebten sie schon in Scheidung. Am Anfang zahlte David keinen Unterhalt, weil er Insolvenz angemeldet hatte, also kam eine erneute Auszeit nicht mehr in Frage.
»Sina!«
Sie schreckt hoch, verliert um ein Haar die Balance und kann sich gerade noch an der Waschmaschine festhalten. Sie muss minutenlang in die Trommel gestarrt haben, in der sich Badehosen, T-Shirts und Strandtücher träge drehen.
»Stell dir vor, was passiert ist!«
Sie rappelt sich mühsam hoch, sie kommt sich vor wie eine alte Frau. »Was?«
»Der Typ von Reiling hat mich noch mal eingeladen.«
»Der, bei dem du am Tag vor unserem Abflug warst?«
»Genau. Ich soll morgen noch mal vorbeikommen, um drei.«
»Was kann der wollen?«
»Ein schlechtes Zeichen ist es jedenfalls nicht, wenn er mich noch mal sehen will. Vielleicht nehmen sie mich in die engere Wahl für den Job.«
»Hört sich vielversprechend an.« Sie will ihm auf keinen Fall die Hoffnung nehmen. Wann ist es zum letzten Mal passiert, dass er ernsthaft für eine Stelle in Betracht gezogen wurde? Seit sie ihn kennt, jedenfalls nicht.
Sie bringt Elvis ins Bett, der kaum noch die Augen offen halten kann, sie schenkt ihm ausnahmsweise das Zähneputzen.
»Es war ein schöner Urlaub, oder?«, fragt sie, als sie ihn zudeckt.
»Hm.« Er schiebt die Decke, die sie über seine Schultern gezogen hat, wieder weg, es ist immer noch fast so heiß wie auf Lanzarote.
»Was hat dir am besten gefallen?«
»Der Strand«, sagt er und schließt schon die Augen. »Wie wir die Burg gebaut haben, Torsten und ich.«
»Ja, die war toll«, sagt sie. »Ich ärger mich, dass ich sie nicht fotografiert habe.«
»Aber das Allerbeste«, jetzt schlägt er die Augen wieder auf, »war Pedro.«
Pedro war ein räudiger Strandhund, offenbar herrenlos. Jeden Tag lief er am Wasser entlang, auf der Suche nach Leckerbissen, die ihm die Touristen zuwarfen. Elvis war verrückt nach ihm, von seinem Taschengeld hatte er im Supermarkt extra Wiener für ihn gekauft, aber Pedro hatte zwar gierig die Wurst aus Elvis’ Hand geschnappt, sich aber dann sofort wieder getrollt, nicht mal streicheln ließ er sich.
»Hunde sind so toll«, sagt Elvis. Den Blick, mit dem er sie jetzt ansieht, kennt sie schon lange. Jedes Mal tut es ihr weh, dass sie ihn enttäuschen muss.
»Ja, das sind sie. Aber du weißt, wir können keinen haben. Meine blöde Allergie.«
»Ich weiß. Sonst musst du immer husten und kannst nicht gut atmen.«
»Genau. Gute Nacht, mein Schatz.« Sie beugt sich über ihn und küsst ihn, seine Wange ist ein bisschen klebrig und riecht nach Staub und dem Zitroneneis, das sie ihm vorhin beim Bäcker gekauft hat.
Im Wohnzimmer sitzt Torsten mit dem Laptop auf den Knien und studiert noch einmal die Website von Reiling, er bereitet sich auf jeden Vorstellungstermin akribisch vor. Sina setzt sich neben ihn und öffnet im Handy ihre Kontakte. Sie muss für die letzten beiden Ferienwochen eine Betreuung finden! Wie hieß noch mal diese Agentur, bei der sie eine Nanny für vier Tage der Osterferien engagiert hatte? Als David einen super wichtigen Prozess vorbereiten musste? Sie hatte ihm die Rechnung kommentarlos geschickt, und da sie nichts mehr von der Agentur gehört hat, hat er wohl auch gezahlt.
Torsten hebt den Blick vom Bildschirm. »Was ist mit seinen Freunden? Ist von denen keiner im Lande? Vielleicht könnte er ja dahin, wenigstens ein paar Tage.«
»Lukas und seine Familie sind grade erst letzte Woche weg.« Andere Freunde von Elvis fallen ihr spontan nicht ein, im Hort gibt es offenbar einen Florian, den er nett findet, von dem redet er manchmal, aber er war noch nie zum Spielen eingeladen oder zum Geburtstag. Ist es normal, dass ein Achtjähriger kaum Freunde hat?
»Dann verschieb ich Dresden eben doch. Meine Eltern werden es schon verstehen. Und dass die zwei Vorstellungstermine was bringen, glaub ich sowieso nicht.«
»Probieren solltest du es trotzdem. Ich finde schon eine Lösung. Aber danke.«
Sie legt kurz ihre Hand auf seine, ehe sie weiter durch ihre Kontakte scrollt. Allein ihr Problem mit ihm teilen zu können hilft ihr schon ein bisschen, David hat ihr in solchen Situationen nicht mal richtig zugehört.
»Ich weiß gar nicht, wie andere Leute das machen«, sagt er, »wer kann sich denn sieben Wochen lang Urlaub nehmen? Ohne Feriencamps oder die Hilfe von Freunden oder Großeltern funktioniert das doch überhaupt nicht.«
Sie hebt den Blick vom Handy, sieht Torsten an. Ellen. Klar. Wieso hat sie an die noch nicht gedacht? Die ist ganz sicher da, sie fährt höchstens im Herbst mal ein paar Tage weg, hat sie gesagt, als Sina sie das letzte Mal getroffen hat. Und dass sie gerade während der Sommerferien die Stadt am liebsten mag, weil es dann so schön ruhig ist.
»Du bist genial.«
»Bin ich? Wieso das jetzt?«
Aber Sina hat schon den Kontakt aufgerufen und tippt auf die Nummer. »Drück mir die Daumen. Ich brauch jetzt dringend ein Erfolgserlebnis.«