Ich bleibe hier

Eine Geschichte dauert nur in der Asche.

Eugenio Montale

Piccolo testamento

(Kleines Testament)

Die Jahre

Du weißt nichts über mich, und doch weißt du viel, weil du ja meine Tochter bist. Den Geruch der Haut, die Wärme des Atems, die angespannten Nerven hast du von mir. Deshalb wende ich mich an dich wie an jemanden, der mein Innerstes kennt.

Ich könnte dich bis ins Kleinste beschreiben. Hin und wieder, wenn am Morgen hoher Schnee liegt und die Wohnung in eine beklemmende Stille gehüllt ist, kommen mir immer noch weitere Einzelheiten in den Sinn. Vor einigen Wochen fiel mir der kleine Leberfleck auf deiner Schulter ein, auf den du mich jedes Mal hingewiesen hast, wenn ich dich im Zuber badete. Du warst wie besessen davon. Oder diese Locke hinter dem Ohr, die einzige in deinen honigfarbenen Haaren.

Die wenigen Fotos, die ich noch habe, hole ich nur selten hervor, mit der Zeit ist man nah am Wasser gebaut. Und ich hasse es zu weinen. Ich hasse es zu weinen, weil es idiotisch ist und weil es mich

 

In all den Jahren habe ich mir immer vorgestellt, dass ich eine gute Mutter gewesen wäre. Selbstbewusst, strahlend, liebenswürdig … lauter Adjektive, die gar nicht zu mir passen. Im Dorf nennen sie mich immer noch Frau Lehrerin, aber sie grüßen mich nur im Vorübergehen, sie bleiben nicht stehen. Sie wissen, dass ich kein umgänglicher Mensch bin. Manchmal fällt mir das Spiel wieder ein, das ich die Kinder in der ersten Klasse Grundschule machen ließ. »Malt das Tier, das euch am ähnlichsten ist.« Ich würde jetzt eine Schildkröte mit eingezogenem Kopf malen.

Ich bilde mir gern ein, dass ich keine aufdringliche Mutter gewesen wäre. Ich hätte dich nicht, wie meine Mutter es tat, dauernd gefragt, wer dieser oder jener ist und ob du ihn magst oder vorhast, dich mit ihm zu verloben. Aber vielleicht mache ich mir auch da etwas vor, und wenn du hier gewesen wärst, hätte ich dich mit Fragen überhäuft und

Männer haben mich nie interessiert. Die Vorstellung, Liebe könnte etwas mit ihnen zu tun haben, fand ich lächerlich. Für mich waren sie zu plump oder zu behaart oder zu grob. Manchmal alles zusammen. Hier in der Gegend besaßen die meisten ein Stück Land und etwas Vieh, und das war der Geruch, den sie mit sich herumtrugen. Stall und Schweiß. Hätte ich mir vorstellen müssen, mit jemandem zu schlafen, dann lieber mit einer Frau. Lieber die harten Wangenknochen eines Mädchens als die kratzige Haut eines Mannes. Am liebsten aber wollte ich allein bleiben, ohne irgendwem Rechenschaft schuldig zu sein. Sogar Nonne zu werden hätte mir nicht missfallen. Doch der Gedanke an Gott war schon immer zu schwierig, wenn er mir in den Sinn kam, verirrte ich mich darin.

 

Erich war der Einzige, den ich anschaute. Ich sah ihn immer im Morgengrauen vorbeigehen, die Mütze in die Stirn gezogen und schon um diese Zeit

»Trina, bist du verrückt geworden«, hätte sie gekreischt.

Mutter war eine, die ständig kreischte. Doch selbst wenn ich das Fenster geöffnet hätte, was hätte ich ihm denn sagen sollen? Mit siebzehn Jahren war ich so gehemmt, dass ich höchstens herumgestottert hätte. Daher schaute ich ihm nach, wie er sich zum Wald hin entfernte, während Strupp, sein Hund, die Herde vorwärtstrieb. Wenn Erich mit den Kühen unterwegs war, bewegte er sich so langsam, dass es aussah, als käme er nicht vom Fleck. Also senkte ich den Blick auf die Bücher, sicher, ihn an derselben Stelle wiederzusehen, doch wenn ich den Kopf hob, war er nur noch eine winzige Gestalt am Ende der Straße. Unter den Lärchen, die es nicht mehr gibt.

In jenem Frühjahr saß ich immer häufiger mit dem Bleistift im Mund vor den aufgeschlagenen Büchern und dachte an Erich. Als Mutter, die sonst oft in meiner Nähe herumhantierte, einmal nicht da war, fragte ich Vater, ob das Leben der Bauern nicht etwas für Träumer sei. Wenn man den

»Das alles können die Bauern doch machen, nicht wahr, Vater?«

Vater schmunzelte, mit der Pfeife im Mund. »Frag mal den Jungen, den du morgens heimlich am Fenster beobachtest, ob seine Arbeit etwas für Träumer ist …«

 

Zum ersten Mal habe ich vor dem Haus mit ihm gesprochen. Vater arbeitete als Schreiner in Reschen am See, doch auch daheim bei uns ging es zu wie in seiner Werkstatt. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Leuten, die etwas repariert haben wollten. Mutter schimpf‌te, nie könne man seine Ruhe haben. Er, der keinen noch so kleinen Vorwurf im Raum stehenlassen wollte, antwortete, da gebe es überhaupt nichts zu meckern, denn für einen Unternehmer gehöre es zur Arbeit, jemandem ein Glas anzubieten oder einen Schwatz zu halten, damit gewinne man nämlich die Kunden. Um die Diskussion abzubrechen, zog sie ihn an seiner Knollennase.

»Die ist ja noch länger geworden«, sagte sie zu ihm.

Mutter wurde dann laut: »Da sieht man mal, was ich geheiratet habe, einen Trottel!« Sie warf einen Lappen nach ihm. Vater grinste und warf den Bleistift nach ihr, sie noch einen Lappen, er noch einen Bleistift. Sich Sachen an den Kopf zu werfen war für sie ein Ausdruck der Zuneigung.

An jenem Nachmittag standen Erich und Vater rauchend beieinander und betrachteten mit zusammengekniffenen Augen die Wolken, die sich über dem Ortler zusammenballten. Vater sagte zu ihm, er solle einen Augenblick warten, er wolle nur rasch ein Gläschen Schnaps holen. Erich war einer, der gewöhnlich statt zu reden bloß das Kinn hob und ein Lächeln andeutete, so selbstsicher, dass ich mich daneben klein fühlte.

»Was machst du nach dem Studium? Wirst du Lehrerin?«, fragte er mich jetzt.

»Ja, vielleicht. Vielleicht gehe ich auch ganz weit weg«, erwiderte ich, nur so, um eine erwachsene Antwort zu geben.

Sein Gesicht wurde finster. Er zog so heftig an seiner Zigarette, dass er sich an der Glut beinahe die Finger verbrannt hätte.

»Ich würde nie aus Graun fortwollen«, sagte er und wies auf das Tal.

»Sag deinem Vater, den Schnaps trinke ich ein andermal.«

Ich nickte stumm. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, schaute ich ihm nach, während er davonging. Ab und zu warf ich einen Blick zur Tür, da ich fürchtete, Mutter könnte plötzlich herauskommen. Manchmal fühlt man sich wie eine Diebin, wenn Liebe im Spiel ist.

Im Frühjahr 1923 bereitete ich mich auf die Reifeprüfung vor. Mussolini hatte extra mein Examen abgewartet, um die Schule umzukrempeln. Im Jahr davor hatte der Marsch auf Bozen stattgefunden, und die Faschisten hatten die Stadt verwüstet. Sie hatten die öffentlichen Gebäude angezündet, die Leute verprügelt, mit Gewalt den Bürgermeister fortgejagt, und die Carabinieri hatten wie üblich tatenlos zugesehen. Hätten sie und der König nicht die Arme verschränkt, hätte der Faschismus dort nicht Fuß fassen können. Noch heute bin ich entsetzt, wenn ich durch Bozen gehe. Alles wirkt feindselig auf mich. Die zwanzig Jahre Faschismus haben so viele Spuren hinterlassen, und wenn ich sie sehe, fällt mir Erich wieder ein und wie sehr er sich vor Wut verzehren würde.

Bis zum Marsch auf Bozen verlief das Leben in den Grenztälern im Rhythmus der Jahreszeiten. Es schien, als käme die Geschichte nicht bis hier herauf. Sie war wie ein Echo, das verhallte. Die Sprache

Mussolini ließ Straßen, Bäche und Berge umtaufen … Sogar die Toten haben sie gestört, diese Mörder, indem sie die Inschriften auf den Grabsteinen änderten. Sie haben unsere Namen italianisiert, die Schilder an den Geschäften ausgetauscht. Sie haben uns verboten, unsere Tracht zu tragen. Von einem Tag zum anderen standen in der Klasse Lehrer aus Venetien, aus der Lombardei und aus Sizilien vor uns. Sie verstanden uns nicht, wir verstanden sie nicht. Italienisch war hier in Südtirol eine exotische Sprache, man hörte es ab und zu von einem Grammophon oder wenn ein Händler aus dem Brandtal den Vinschgau hinaufwanderte auf dem Weg nach Österreich, um dort Geschäfte zu machen.

 

Dein ausgefallener Name prägte sich sofort ein, und für die, die ihn nicht kannten, warst du einfach die Tochter von Erich und Trina. Sie behaupteten, wir glichen einander wie ein Ei dem anderen.

»Falls sie sich mal verläuft, bringen sie sie dir nach Haus!«, brummte der Bäcker und schnitt dir zur Begrüßung Fratzen mit seinem zahnlosen Mund. Weißt du noch? Wenn es auf der Straße

Ich kannte jeden einzelnen Einwohner von Graun, aber richtig befreundet war ich nur mit Maja und Barbara. Jetzt wohnen sie nicht mehr hier. Sie sind vor Jahren weggezogen, und ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben. Damals waren wir so eng befreundet, dass wir uns für dieselbe Schule entschieden. Zwar konnten wir diese Pädagogische Hochschule nicht besuchen, weil sie zu weit weg war, doch wenn wir einmal im Jahr zu den Prüfungen nach Bozen fuhren, war es jedes Mal ein Abenteuer. Aufgeregt erkundeten wir die Stadt, endlich etwas anderes als Sennereien und Berge, endlich die Welt. Hohe Häuser, Geschäfte, verkehrsreiche Straßen.

Maja und ich fühlten uns wirklich zum Unterrichten berufen und konnten es kaum erwarten, vor einer Klasse zu stehen. Barbara dagegen wäre lieber Schneiderin geworden. Sie hatte sich nur unseretwegen eingeschrieben: »Dann bleiben wir zusammen«, sagte sie. In diesen Jahren war sie wie mein Schatten. Wir verbrachten die Zeit damit, uns gegenseitig heimzubringen. Vor der Tür des Bauernhauses sagte die eine zur anderen: »Komm, es ist noch hell, ich begleite dich.«

»Wieso, wie bin ich denn?«

»Na ja, du hast klare Vorstellungen, du weißt, was du willst. Mich dagegen bringt alles durcheinander, und ich suche immer jemanden, der mich an die Hand nimmt.«

»Ich finde nicht, dass es mir so viel Glück bringt zu sein, wie ich bin.«

»Du bist eben ein Nimmersatt.«

»Jedenfalls«, sagte ich mit einem Schulterzucken, »würde ich meinen Charakter sofort dafür hergeben, so hübsch zu sein wie du.«

Dann lächelte sie, und wenn niemand in der Nähe war oder der Himmel dunkler wurde, gab sie mir einen Kuss und sagte mir zärtliche Worte, an die ich mich nicht mehr erinnere.

 

Mit der Ankunft des Duce war klar, dass wir wahrscheinlich keine Stelle bekommen würden, weil wir keine Italienerinnen waren, also fingen wir alle drei an, die Sprache zu lernen, in der Hoffnung, dann trotzdem eine Anstellung zu finden. Die Nachmittage verbrachten wir in jenem Frühjahr mit den Grammatikbüchern am Seeufer. Wir trafen uns

»Hört jetzt auf, deutsch zu reden!«, sagte ich, um sie zur Ordnung zu rufen.

»Ich wollte Lehrerin werden, aber nicht für die Sprache der anderen!«, schimpf‌te Maja und schlug mit der Hand auf ihr vollgekritzeltes Heft.

»Was soll ich dann sagen, ich wollte eigentlich Kleider entwerfen!«, jammerte Barbara.

»Also bitte, es hat dich doch niemand gezwungen, Lehrerin zu werden«, erwiderte Maja.

»Jetzt hör sich einer diese Schlange an … Was soll das heißen, mich hat niemand gezwungen?«, protestierte Barbara, während sie ihre rebellische rote Mähne zu einem Pferdeschwanz band. Und danach fing sie wieder mit dieser Geschichte an, dass wir drei zusammenziehen müssten, anstatt zu heiraten.

»Glaubt mir, wenn wir heiraten, werden wir zu Dienstmädchen!«, schloss sie überzeugt.

Wenn ich nach Hause kam, ging ich sofort schlafen. Ich brauchte Zeit für mich. Ich schlüpf‌te ins Bett, lag im feuchten Dunkel des Zimmers und dachte nach. Es beunruhigte mich, dass ich allmählich erwachsen wurde, ob ich wollte oder nicht. Wer weiß, ob du auch solche Ängste gehabt hast oder ob

 

Im Mai trafen Maja, Barbara und ich uns auch unter der Woche, nicht wie in den Jahren davor nur gelegentlich oder zur Sonntagsmesse. Wir übten diese fremde Sprache und hofften, die Faschisten würden unseren Eifer und unser Diplom zu schätzen wissen. Da wir aber selbst nicht recht daran glaubten, saßen wir oft im Kreis und hörten, statt Grammatik zu lernen, Barbaras Schallplatten mit italienischen Liedern.

Un bacio ti darò

Se qui ritornerai

Ma non ti bacerò

Se alla Guerra partirai.

Einen Kuss geb ich dir

Wenn du zurückkehrst zu mir

Doch ich küss dich nicht

Wenn du in den Krieg ziehst.

»Gut, meine Kleine, geh zu deiner Freundin, aber dafür musst du mir dann ein Spitzenzeugnis nach Hause bringen.«

»Was meinst du denn mit Spitzenzeugnis?«, fragte ich, nachdem ich ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte.

»Einen Einser-Durchschnitt natürlich!«, erwiderte er und streckte die Hände aus. Und auch Mutter, die neben ihm saß und Strümpfe strickte, nickte mit Nachdruck. Mutter strickte in jeder freien Minute Strümpfe, denn mit kalten Füßen friere man am ganzen Körper, sagte sie.

Die besten Noten bekam dann aber nicht ich. Maja war es, die den Umtrunk bezahlte und den Kuchen buk, wie wir es am Anfang der Ausbildung ausgemacht hatten. Obwohl sie Barbaras Meinung nach eine Eins bekommen hatte, weil ihr Professor ein Schwein war und nur auf ihren Busen geschaut hatte.

»Ich habe eine Drei, weil ich bloß diese zwei Äpfelchen habe«, murrte sie, indem sie ihre Brüste herausstreckte und in den Händen wog.

»Du hast eine Drei, weil du strohdumm bist!«,

Nachdem wir unser Diplom in der Tasche hatten, trafen wir uns weiterhin am Seeufer und unter den Lärchen, doch von Italienischlernen war keine Rede mehr.

»Wenn sie uns in der Schule anstellen, gut, sonst sollen sie zum Teufel gehen!« Damit war das Thema für Maja erledigt.

»Außer uns hat hier keiner ein Diplom, also bleibt ihnen gar nichts anderes übrig«, sagte Barbara.

»Was juckt die Faschisten schon dieses Stück Papier! Die interessiert es doch nur, den Italienern Arbeit zu verschaffen.«

»Zum Schluss haben wir völlig umsonst so viel gebüffelt«, schnaubte Maja. »Dann muss ich mit meinem Vater im Laden stehen, und wir werden uns dauernd zanken.«

»Immer noch besser als daheim sitzen und Strümpfe stopfen«, sagte ich, denn beim bloßen Gedanken, die Tage mit Mutter zu verbringen, blieb mir die Luft weg.

Maja sagte: »Ein einziges Minenfeld, auf dem wir uns befinden.« Unsere Gespräche, die sich zuletzt immer um Belanglosigkeiten drehten, hatte sie bald satt. »Ja, seht ihr denn nicht, was zum Teufel hier los ist?«, knurrte sie verärgert. »Graun, Reschen, St. Valentin … seit die Faschisten da sind, gehört uns nichts mehr. Die Männer gehen nicht mehr ins Wirtshaus, die Frauen schleichen dicht an den Hauswänden entlang, am Abend ist keine Menschenseele unterwegs! Wie schafft ihr es bloß, das alles so an euch abprallen zu lassen?«

»Mein Bruder sagt, die Tage des Faschismus sind gezählt«, antwortete Barbara, um sie zu beruhigen.

Doch Maja beruhigte sich keineswegs. Sie schnaubte wie ein Pferd, ließ sich rückwärts ins Gras fallen und sagte, wir sähen einfach nicht über den Tellerrand hinaus.

Sie war anders erzogen worden als wir. Ihr Vater

»Wenn’s so weitergeht, wird Maja noch fanatischer als ihr Vater«, sagte Barbara hinterher auf dem Heimweg zu mir.

Manchmal zogen sie und ich alleine los. Wir setzten uns aufs Rad, fuhren am See entlang bis nach St. Valentin und spürten, wie der kühle Hauch des Wassers über unsere verschwitzten Gesichter strich.

»Mir kommt es vor, als würden die Berge mit uns wachsen«, sagte sie, während sie mit gerecktem Kopf in die Pedale trat.

»Was schert dich die Welt?«, erwiderte sie.

Wenn Vater aus der Werkstatt kam, wiederholte er jedes Mal, es liege immer noch Krieg in der Luft. Majas Eltern meinten, es sei besser, nach Österreich auszuwandern, weg von den Faschisten. Barbaras Familie dagegen wollte zu Verwandten nach Deutschland ziehen.

Unterdessen veränderte sich auch die Bevölkerung von Südtirol. Im Lauf der Monate kamen immer mehr vom Duce geschickte italienische Zuwanderer. Ein paar kamen sogar bis nach Graun. Man erkannte sie sofort, diese Fremden aus dem Süden, die mit dem Koffer in der Hand und der Nase in der Luft nie gesehene Steilhänge und zu niedrig hängende Wolken bestaunten.

Vom ersten Augenblick an hieß es: Wir gegen sie. Die Sprache des einen gegen die des anderen. Die Arroganz der plötzlichen Macht gegen das Pochen auf jahrhundertealte Wurzeln.

 

Erich kam häufig zu uns, er war seit je mit Vater befreundet. Vater mochte ihn, weil er keine Eltern hatte.

Vater ließ ihn auf dem Hocker Platz nehmen, dann drehte er seinen Stuhl um, stützte die Ellbogen auf die Lehne und umfasste seine bärtigen Wangen mit den Händen. Erich hätte sein Sohn sein können. Ein unruhiger Sohn, der bei allem um Rat fragt. Ich beobachtete sie hinter dem Türrahmen. Mit angehaltenem Atem drückte ich mich flach an die Wand. Wenn mein Bruder Peppi auf‌tauchte, zog ich ihn neben mich und hielt ihm den Mund zu. Er versuchte, mir zu entwischen, aber damals konnte ich ihn noch bändigen. Der Peppi war sieben Jahre jünger als ich, und ich wusste wirklich nicht, was ich mit diesem Muttersöhnchen anfangen sollte. Er war für mich bloß ein Rotzbengel mit schmutzigem Gesicht und aufgeschlagenen Knien.

»Es sieht so aus, als wollte die italienische Regierung das Staudammprojekt wieder aufgreifen«, sagte Erich eines Abends. »Einige Bauern, die ihr Vieh Richtung St. Valentin treiben, haben Bautrupps anrücken sehen.«

Vater zog die Schultern hoch. »Das sagen sie seit Jahren, aber dann geschieht nichts«, erwiderte er mit seinem gutmütigen Lächeln.

»Keine Angst, selbst angenommen, die Faschisten bleiben an der Macht: Hier kann man keinen Staudamm bauen, weil der Boden zu schlammig ist.«

Doch Erichs graue Augen flackerten weiter unruhig wie die einer Katze.

 

1911 war der Plan für den Staudamm zum ersten Mal bekanntgemacht worden. Unternehmer der Montecatini-Gruppe wollten Reschen und Graun enteignen und die Strömung des Flusses zur Energiegewinnung nutzen. Italienische Fabrikanten und Politiker behaupteten, das Wasser sei das Gold Südtirols, und schickten immer häufiger Ingenieure, um die Täler zu besichtigen und die Flussläufe zu erkunden. Unsere Dörfer sollten in einem Wassergrab verschwinden, die Bauernhöfe, die Kirche, die Geschäfte, die Felder und Weiden überflutet. Mit dem Staudamm würden wir die Höfe, die Tiere und die Arbeit verlieren. Nichts würde von uns übrig bleiben. Wir würden auswandern müssen, alles würde anders. Eine andere Arbeit, ein anderer Ort,

1911 wurde der Plan nicht verwirklicht, da man den Boden als zu gefährlich betrachtete. Er hatte keine Festigkeit, bestand nur aus Dolomitgeröll. Doch nachdem der Faschismus an die Macht gekommen war, wussten wir alle, dass der Duce bald Industriezentren in Bozen und Meran ansiedeln würde – diese Städte würden ums Doppelte und Dreifache wachsen, scharenweise würden Italiener auf Arbeitssuche hier heraufkommen – und der Energiebedarf würde enorm steigen.

Unten im Wirtshaus, auf dem Kirchplatz, in Vaters Werkstatt redete Erich sich in Rage. »Ihr werdet sehen, die kommen wieder. Da könnt ihr ganz sicher sein.« Doch er konnte sich noch so aufregen, die Bauern fuhren seelenruhig fort, zu trinken, zu rauchen und Karten zu spielen. Sie verzogen das Gesicht, um das Thema abzutun, oder wedelten mit den Händen, wie um Fliegen zu verjagen.

»Was sie nicht sehen, gibt es nicht«, sagte Erich zu Vater. »Gib ihnen ein Glas Wein, und schon sind sie nicht mehr fähig zu denken.«