Und JCP, chancenlos.

Jeder, der mit Boston, Dorchester, South Boston und Quincy vertraut ist, ebenso mit den Steinbrüchen in Quincy und dem Naturschutzgebiet Blue Hills, wird erkennen, dass ich mir einige Freiheiten in Geographie und Topographie herausgenommen habe. Dies war beabsichtigt. Zwar gibt es die Städte, Gemeinden und Gegenden, doch sind sie den Bedürfnissen der Geschichte und meinen Schrullen angepasst worden und deshalb reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten zwischen den Figuren und Ereignissen in dieser Geschichte und lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Lange bevor im Golf von Mexiko die Sonne aufgeht, wagen sich die Fischerboote in der Dunkelheit hinaus. Meist handelt es sich um Krabbenkutter, ab und an geht es auch auf Marlin oder Tarpun, und die Boote sind nahezu ausschließlich mit Männern besetzt. Die wenigen Frauen, die hinausfahren, bleiben meist unter sich. Das hier ist Texas, und während zweihundert Jahren Fischerei haben so viele Männer einen schweren Tod gefunden, dass ihre Nachkommen und überlebenden Freunde finden, ein Anrecht auf ihre Vorurteile, ihren Hass auf die vietnamesische Konkurrenz und ihr Misstrauen gegenüber jeder Frau zu haben, die diese üble Arbeit erledigt und noch vor Sonnenaufgang mit dicken Kabeln und Haken arbeitet, die einem die Knöchel aufschlitzen.

Frauen, meint einer der Fischer in der Dunkelheit vor Morgengrauen, als der Kapitän den Motor des Trawlers zu einem leisen Grollen zurückfährt und die aufgewühlte schiefergraue See hereinkommt, Frauen sollten wie Rachel sein. Das ist eine Frau.

Das ist eindeutig eine Frau, sagt ein anderer Fischer. Gottverdammich, und was für eine.

Rachel ist erst vor kurzem nach Port Mesa gekommen. Sie ist im Juli mit ihrem kleinen Jungen und einem

Erst nach Monaten bekam jemand ihren Nachnamen heraus: Smith.

Port Mesa zieht eine Menge Smiths an. Und ein paar Millers dazu. Auf der Hälfte der Krabbenkutter arbeiten Männer, die vor irgendetwas davonlaufen. Sie schlafen, wenn die Welt wach ist, fahren raus, wenn die meisten schlafen, trinken die restliche Zeit über in Bars, die nur wenige Fremde einladend genug finden, um sie überhaupt zu betreten, folgen dem Fang und den Jahreszeiten, westlich bis Baja, südlich bis Key West, und bekommen ihre Heuer auf die Hand.

Auch Dalton Voy, Besitzer von Crockett’s Last Stand, bezahlt Rachel Smith in bar, aber wenn sie etwas gesagt hätte, würde er sie auch mit Gold aufwiegen. Seit sie ihren Platz hinter dem Tresen eingenommen hat, ist der Umsatz um zwanzig Prozent gestiegen. Und so komisch es klingt, auch die Schlägereien sind seltener geworden. Normalerweise kommen die Männer von den Booten, die Sonne hat ihnen durch die Haut bis ins Blut gebrannt, das macht sie reizbar, und sie sind schnell bereit, einen Streit mit einer hocherhobenen Flasche oder einem Poolqueue zu beenden. Und nach Daltons Erfahrung machen es schöne Frauen umso schlimmer. Dann sind die Männer schneller mit einem Lächeln bei der Hand, aber auch schneller beleidigt.

Doch Rachel hat etwas, das sie besänftigt.

Es liegt in ihrem Blick – ganz plötzlich blitzt etwas bös und kalt auf, wenn jemand eine Linie überschreitet, ihr Handgelenk zu lange festhält, einen anzüglichen Witz reißt, der nicht witzig ist. Und es liegt auf ihrem Gesicht, in den Falten, in der verwitterten Schönheit: Zeugnis eines Lebens vor Port Mesa, das mehr dunkle Morgengrauen und harte Fakten gesehen hat als die meisten der Krabbenfischer.

Rachel hat eine Waffe in ihrer Handtasche. Dalton Voy hat sie mal aus Versehen zu Gesicht bekommen, und das Einzige, was ihn daran überraschte, war die Tatsache, dass ihn das keineswegs überraschte. Er hatte so was geahnt. Die anderen auch. Keiner wagt es, sich Rachel nach Feierabend auf dem Parkplatz zu nähern und sie zu überreden, in sein Auto zu steigen. Niemand folgt ihr bis nach Hause.

Wenn die Härte allerdings nicht in ihrem Blick liegt und diese Distanziertheit aus ihrem Gesicht verschwunden ist, o Mann, dann bringt sie den ganzen Laden zum Leuchten. Sie bewegt sich an der Bar entlang wie eine Tänzerin; wie sie sich dreht, vorbeugt, einschenkt, alles ist glatt und geschmeidig. Wenn sie lacht, dann macht sie den Mund weit auf, ihre Augen sprühen Funken, und jeder in der Bar will einen neuen Witz erzählen, einen noch besseren, nur um wieder den Schauder ihres Lachens die Wirbelsäule entlang zu spüren.

Und dann ist da ihr kleiner Junge. Ein hübsches, blondes Kerlchen. Sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, aber wenn er lächelt, dann weiß man sofort, dass er Rachels Kind ist. Und wegen seiner Launen, die so schnell wechseln wie ihre. Manchmal blitzt auch bei ihm die Warnung in den Augen

Die alte Mrs. Hayley passt auf den Jungen auf, wenn Rachel bei der Arbeit ist, und einmal sagt sie zu Dalton Voy, dass man sich keinen braveren Jungen vorstellen kann, keinen, der seine Mama so offenkundig liebt. Dieser Junge wird mal was Besonderes, sagte sie. Präsident oder so. Ein Held. Denk an meine Worte, Dalton. Denk an meine Worte.

Eines Abends macht Dalton bei Boynton’s Cove seinen täglichen Spaziergang und sieht plötzlich Mutter und Sohn. Rachel steht hüfttief im warmen Golf, hebt den Jungen hoch und taucht ihn immer wieder ins Wasser. In der untergehenden Sonne ist das Meer golden und seidig, und Dalton kommt es so vor, als würde Rachel ihren Sohn in Gold läutern und einen uralten Ritus vollziehen, um der Haut eine Schutzschicht zu verleihen, damit sie undurchdringlich wird.

Die beiden lachen im bernsteinfarbenen Wasser, und direkt hinter ihnen berührt die Sonne den Horizont. Rachel küsst den Hals ihres Sohnes und setzt ihn sich auf die Hüfte. Er lehnt sich in ihren Händen zurück. Sie schauen sich in die Augen.

Dalton findet, er hat im ganzen Leben noch nie etwas so Schönes wie diesen Blick gesehen.

Rachel bemerkt Dalton nicht, und Dalton winkt nicht mal. Tatsächlich kommt er sich wie ein Eindringling vor. Er hält den Kopf gesenkt und geht den Weg zurück, den er gekommen ist.

Dalton Voy, der Mutter und Sohn in dem bernsteinfarbenen Wasser spielen sieht, ist auf eine kalte, simple Wahrheit gestoßen: Sein ganzes Leben ist er noch nie so geliebt worden, nicht für eine Sekunde.

Eine solche Liebe? Verdammt. Sie scheint so unschuldig, dass es fast schon kriminell ist.

Indian Summer, 1997

Tag für Tag werden in den USA zweitausenddreihundert Kinder vermisst gemeldet.

Ein Großteil wird von einem Elternteil entführt, das mit dem anderen zerstritten ist, und in über fünfzig Prozent der Fälle ist der Aufenthaltsort des Kindes bekannt. Die Mehrheit dieser Kinder kehrt innerhalb einer Woche zurück.

Dann gibt es die Ausreißer. Auch hier bleibt der Großteil von ihnen nicht lange fort; meist findet man sie in kürzester Zeit – für gewöhnlich im Haus von Freunden.

Anders ist es bei denen, die zu Hause vor die Tür gesetzt werden oder weglaufen, ohne dass die Eltern die Suche nach ihnen aufnehmen. Dies sind zumeist die Kinder, die die Notunterkünfte und Busbahnhöfe bevölkern, in Rotlichtbezirken an den Straßenecken herumlungern und schließlich im Gefängnis landen.

Von den mehr als achthunderttausend Kindern, die landesweit Jahr für Jahr als vermisst gemeldet werden, fallen nur etwa dreieinhalb- bis viertausend in die Kategorie der nicht familiären Entführungen, wie es das Justizministerium nennt, also Fälle, bei denen die Polizei recht schnell ausschließen kann, dass das Kind von einem Familienmitglied entführt wurde, ausgerissen ist oder rausgeworfen wurde, sich verlaufen hat oder gar verletzt wurde.

Niemand – weder Eltern, Freunde noch Gesetzeshüter, weder Fürsorgeeinrichtungen noch Vermisstenstellen – weiß, wohin diese Kinder geraten. In Gräber womöglich; in Keller oder Häuser von Pädophilen; ins Nichts vielleicht, in die Löcher im Gewebe des Universums, aus denen nie wieder etwas von ihnen hinausdringt.

Wohin diese dreihundert auch gehen, sie bleiben verschwunden. Eine Weile lang verstören diese Fälle die Öffentlichkeit; bei den Menschen, die ihnen nahestehen, dauert es erheblich länger.

Sie sterben nicht, denn es gibt keine Leiche als Beweis dafür. Fortdauernd warnen sie uns vor dem Nichts.

Und bleiben verschwunden.

 

»Meine Schwester«, sagte Lionel McCready, der in unserem Büro im Glockenturm auf und ab ging, »hat ein sehr schweres Leben gehabt.« Lionel war ein großer Mann mit einem schlaffen Bassetgesicht und breiten Schultern, die steil von seinen Schlüsselbeinen abfielen, so als würde dort etwas auf ihnen hocken, das wir nicht sehen konnten. Er hatte ein schüchternes Lächeln, und seine schwielige Hand konnte fest zupacken. Er trug braune UPS-Dienstbekleidung und knetete den Schirm der dazu passenden braunen Baseballmütze in seinen kräftigen Pranken. »Unsere Ma war – na ja, eine Trinkerin, offen gestanden. Und unser Dad hat sich verdrückt, als wir beide noch klein waren. Wenn man so aufwächst, dann – dann – na ja, man entwickelt wohl ziemlich viel Wut. Es dauert eine Weile, bis man zur

»Lionel«, mahnte seine Frau.

Er hob eine Hand, so als müsse er das endlich mal alles loswerden, sonst würde er das nie wieder schaffen. »Ich hatte Glück. Ich habe Beatrice kennengelernt und mein Leben auf die Reihe gekriegt. Was ich damit sagen will, Mr. Kenzie, Miss Gennaro, wenn man genug Zeit hat und die paar Brüche übersteht, dann wird man erwachsen. Man schüttelt diesen Mist ab. Meine Schwester wird erst noch erwachsen, mehr will ich gar nicht sagen. Sie hat ein schweres Leben gehabt und –«

»Lionel«, sagte seine Frau, »hör auf, andauernd nach irgendwelchen Entschuldigungen für Helene zu suchen.« Beatrice McCready fuhr sich mit einer Hand durch das kurze erdbeerrote Haar und sagte: »Liebling, setz dich. Bitte.«

»Ich versuche doch nur zu erklären«, sagte Lionel, »dass Helene kein leichtes Leben gehabt hat.«

»Du auch nicht«, meinte Beatrice, »und du bist ein guter Vater.«

»Wie viele Kinder haben Sie denn?«, fragte Angie.

Beatrice lächelte. »Eins. Matt. Er ist fünf. Er wohnt bei meinem Bruder und seiner Frau, bis wir Amanda gefunden haben.«

Lionel schien bei der Erwähnung seines Sohnes ein wenig aufzuleben. »Er ist ein toller Junge«, sagte er, doch sein Stolz schien ihm ein wenig peinlich zu sein.

»Und Amanda?«, fragte ich.

Amanda McCready war vor drei Tagen aus der Nachbarschaft verschwunden. Seitdem schien ganz Boston besessen darauf herauszufinden, wo sie sich aufhielt. Die Polizei hatte mehr Männer auf die Suche geschickt als bei der Jagd auf John Salvi nach der Schießerei in der Abtreibungsklinik vor vier Jahren. Der Bürgermeister hatte eine Pressekonferenz abgehalten, auf der er verkündet hatte, dass alle Stadtangelegenheiten auf Eis liegen würden, bis Amanda gefunden worden sei. Die Berichterstattung war umfassend: jeden Morgen die Titelseiten der beiden Zeitungen, am Abend die Hauptmeldung in den führenden drei Nachrichtensendungen, stündliche Updates zwischen den Seifenopern und Talkshows.

Und nach drei Tagen – nichts. Keine Spur von ihr.

Als Amanda McCready verschwand, war sie vier Jahre und sieben Monate auf der Welt gewesen. Ihre Mutter hatte sie Sonntagabend zu Bett gebracht, hatte gegen halb neun nach ihr gesehen und am Morgen kurz nach neun in ihr Bett geschaut, doch es war leer gewesen bis auf den knittrigen Abdruck auf dem Laken.

Verschwunden waren auch die Kleidungsstücke, die Helene McCready für ihre Tochter bereitgelegt hatte – pinkfarbenes T-Shirt, Jeansshorts, pinkfarbene Socken und weiße Turnschuhe, ebenso Amandas Lieblingspuppe, die blondhaarige Nachbildung einer Dreijährigen, die eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit ihrer Besitzerin aufwies und die Amanda auf den Namen Pea getauft hatte. Im Zimmer fanden sich keinerlei Spuren eines Kampfs.

Erheblich wahrscheinlicher war, wenn man mal davon ausging, dass eine Vierjährige sich nicht plötzlich dazu entschloss, mitten in der Nacht allein das Haus zu verlassen, dass der Entführer die Wohnung durch die Wohnungstür betreten hatte, ohne das Schloss zu knacken oder die Scharniere aus den Zargen zu hebeln, denn all das war bei einer Tür, die nicht abgeschlossen worden war, völlig unnötig.

Als diese Information an die Öffentlichkeit kam, musste sich Helene McCready von der Presse einiges anhören. Vierundzwanzig Stunden nach dem Verschwinden Amandas stand in der News, Bostons Klatschzeitungspendant zur New York Post, folgende Schlagzeile:

HEREINSPAZIERT:

Mutter der kleinen Amanda lässt Tür unverschlossen

Unter der Überschrift befanden sich zwei Fotos, eins von Amanda, das andere von der Wohnungstür. Die Tür stand sperrangelweit offen, was, wie die Polizei mitteilte, nicht der Situation am Morgen von Amanda McCreadys Verschwinden entsprach. Nicht abgeschlossen, ja; weit geöffnet, nein.

Ein Unterschied, für den sich der Großteil der Stadt

Amanda McCready war etwa drei Stunden und fünfundvierzig Minuten allein in einer unverschlossenen Wohnung zurückgelassen worden. Irgendwann in diesem Zeitraum, so die Vermutung, war sie entweder weggelaufen oder entführt worden.

Angie und ich hatten den Fall so genau verfolgt wie der Rest der Stadt, und wir waren ebenso ratlos wie alle anderen. Helene McCready hatte eingewilligt, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen, und bestanden. Die Polizei hatte nicht eine einzige Spur gefunden, der sie hatte folgen können; den Gerüchten zufolge wandte sie sich sogar an Personen mit übersinnlichen Fähigkeiten. Nachbarn meldeten, sie hätten in jener Nacht, einer warmen Spätsommernacht, in der die meisten Fenster offen waren und überall Leute auf den Straßen, nichts Verdächtiges bemerkt und nichts gehört, das Kinderschreien geähnelt hätte. Niemand erinnerte sich daran, eine Vierjährige allein herumwandern gesehen oder Personen bemerkt zu haben, die entweder ein Kind oder ein merkwürdig aussehendes Bündel bei sich gehabt hätten.

Amanda McCready war, soweit das irgendjemand beurteilen konnte, spurlos verschwunden.

 

»Mrs. McCready«, sagte ich, »sparen Sie sich das Geld.«

»Lieber möchte ich meine Nichte in Sicherheit sehen«, entgegnete sie.

 

Jetzt saßen Angie und ich in unserem Büro im Glockenturm der Bartholomew’s Church in Dorchester, die abendliche Rush Hour verging mit entferntem Hupen und Gasgeben unten auf der Straße, und wir hörten zu, wie Amandas Tante und Onkel ihre Sache vorbrachten.

»Wer ist Amandas Vater?«, fragte Angie.

Wieder schien sich diese Last auf Lionels Schultern zu senken. »Das wissen wir nicht. Wir glauben, dass es sich um einen Kerl namens Todd Morgan handelt. Kaum war Helene schwanger, ist er verduftet. Keiner hat je wieder von ihm gehört.«

»Die Liste der möglichen Väter ist allerdings lang«, sagte Beatrice.

Lionel sah zu Boden.

»Mr. McCready«, sagte ich.

Er sah mich an. »Lionel.«

»Bitte, Lionel«, sagte ich. »Setzen Sie sich.«

Mit einigen Schwierigkeiten setzte er sich in einen kleinen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs.

»Dieser Todd Morgan«, sagte Angie und notierte sich den Namen. »Weiß die Polizei, wo er sich aufhält?«

»Haben Sie ihn als Verdächtigen ausgeschlossen?«, fragte ich. »Gibt es keine Möglichkeit, dass er einen Freund dafür angeheuert haben könnte?«

Lionel räusperte sich und sah wieder zu Boden. »Die Polizei meint, er würde sich wegen meiner Schwester schämen und glaube nicht mal, dass Amanda sein Kind ist.« Er schaute mich aus verlorenen, sanften Augen an. »Er soll gesagt haben, wenn er einen kleinen Windelscheißer wolle, der die ganze Zeit rumheult, dann hätte er sich auch in Deutschland ein Kind anschaffen können.«

Ich konnte spüren, wie ihn der Schmerz durchfuhr, als er seine Nichte einen ›Windelscheißer‹ schimpfen musste, und nickte. »Erzählen Sie mir von Helene«, sagte ich.

Es gab nicht viel zu erzählen. Helene McCready war vier Jahre jünger als Lionel, also achtundzwanzig. Sie war im ersten Jahr an der Monsignor Ryan Memorial High School ausgestiegen und hatte den zweiten Bildungsweg, von dem sie ständig gesprochen hatte, nie eingeschlagen. Mit siebzehn brannte sie mit einem Kerl durch, der fünfzehn Jahre älter war; sie hausten sechs Monate lang in einem Wohnwagenpark in New Hampshire, bevor Helene mit einem blaugeschlagenen Gesicht und nach der ersten von drei Abtreibungen nach Hause zurückkehrte. Seither hatte sie eine ganze Reihe von Jobs angenommen – Kassiererin bei Stop & Shop, Angestellte bei einem Herrenausstatter, Assistentin in einer chemischen Reinigung, Rezeptionistin bei UPS –, blieb aber bei keinem Job länger als achtzehn

»Aber sie liebt die Kleine«, betonte Lionel.

Beatrice machte ein Gesicht, als wäre sie da anderer Meinung, sagte aber nichts.

»Wo ist Helene jetzt?«, fragte Angie.

»In unserem Haus«, antwortete Lionel. »Der Anwalt, den wir eingeschaltet haben, meinte, wir sollten sie so lange wie möglich abschirmen.«

»Warum?«, fragte ich.

»Warum?«, entgegnete Lionel.

»Ihr Kind wird vermisst. Sollte sie nicht an die Öffentlichkeit gehen? Oder zumindest die Nachbarschaft abklappern?«

Lionel öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Er besah sich seine Schuhe.

»Helene ist dem nicht gewachsen«, sagte Beatrice.

»Warum nicht?«, fragte Angie.

»Weil – nun, weil sie Helene ist«, antwortete Beatrice.

»Überwacht die Polizei das Telefon in ihrer Wohnung, für den Fall, dass es eine Lösegeldforderung gibt?«

»Ja«, sagte Lionel.

»Aber sie ist nicht da«, meinte Angie.

»Das ist ihr zu viel geworden«, erklärte Lionel. »Sie brauchte ihre Privatsphäre.« Er streckte die Hände aus und sah uns an.

»Ach«, sagte ich. »Ihre Privatsphäre.«

»Verstehe«, meinte Angie.

Ich nickte halbherzig. »Wie ist sie denn nach drei Abtreibungen darauf gekommen, ein Kind auszutragen?«, sagte ich, und Lionel zuckte zusammen.

»Ich glaube, sie fand, dass es an der Zeit sei.« Lionel beugte sich vor, und sein Gesicht hellte sich auf. »Wenn Sie gesehen hätten, wie aufgeregt sie während der Schwangerschaft war. Ihr Leben bekam einen Sinn, verstehen Sie? Sie war sich sicher, das Kind würde alles besser machen.«

»Für sie«, meinte Angie. »Aber was ist mit dem Kind?«

»Das habe ich damals auch gesagt«, meinte Beatrice.

Lionel wandte sich mit großen Augen und verzweifeltem Blick an die beide Frauen. »Sie waren gut füreinander«, sagte er. »Das ist meine feste Überzeugung.«

Jetzt betrachtete Beatrice ihre Schuhe. Angie schaute zum Fenster hinaus.

Lionel sah mich an. »Wirklich.«

Ich nickte, und sein Bassetgesicht fiel erleichtert in sich zusammen.

»Lionel«, sagte Angie, die immer noch zum Fenster hinausschaute, »ich habe alle Zeitungsberichte gelesen. Niemand scheint auch nur eine Ahnung zu haben, wer Amanda entführt haben könnte. Die Polizei ist aufgeschmissen, und den Berichten zufolge weiß Helene ebenfalls nichts.«

Lionel nickte. »Ich weiß.«

»Also gut.« Angie drehte sich um und sah Lionel an. »Was glauben Sie, was passiert ist?«

»War Helene mit jemandem zusammen?«

Beatrice schnaubte.

»Regelmäßig?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Lionel.

»Die Presse deutet an, dass sie mit ein paar unappetitlichen Kerlen herumhing«, meinte Angie.

Lionel zuckte mit den Schultern, als sei dies ganz selbstverständlich.

»Sie treibt sich im Filmore Tap herum«, sagte Beatrice.

»Das ist die übelste Kaschemme in Dorchester«, meinte Angie.

»Wenn man bedenkt, wie viele Bars sich um diese Ehre streiten«, sagte Beatrice.

»So schlimm ist es da gar nicht«, meinte Lionel und sah mich hilfesuchend an.

Ich hob die Hände. »Lionel, ich trage ständig eine Waffe bei mir. Aber wenn ich ins Filmore gehe, werde ich nervös.«

»Das Filmore ist als Drogenbar bekannt«, sagte Angie. »Angeblich liefern sie dort Koks und Heroin wie andernorts Pizza. Hat Ihre Schwester ein Drogenproblem?«

»Heroin, meinen Sie?«

»Egal was, meinen sie«, bemerkte Beatrice.

»Sie raucht ein wenig Gras«, antwortete Lionel.

»Wenig?«, fragte ich. »Oder viel?«

»Was heißt viel?«, entgegnete er.

Lionel blinzelte sie an.

»Sie ist nicht nach irgendeiner bestimmten Droge süchtig«, sagte Beatrice. »Sie nimmt, was sie kriegen kann.«

»Koks?«, fragte ich.

Sie nickte, und Lionel schaute seine Frau verblüfft an.

»Pillen?« Beatrice zuckte mit den Schultern.

»Nadeln?«, fragte ich.

»O nein«, sagte Lionel.

»Soweit ich weiß, nicht«, sagte Beatrice. Dann dachte sie darüber nach. »Nein. Wir haben sie den ganzen Sommer über in kurzen Sachen gesehen. Das hätten wir gemerkt.«

»Augenblick mal.« Lionel hob eine Hand. »Moment. Hier geht es um Amanda und nicht um die schlechten Angewohnheiten meiner Schwester.«

»Wir müssen alles über Helene wissen, ihre Gewohnheiten und ihre Freunde«, entgegnete Angie. »Wenn ein Kind vermisst wird, ist der Grund meist im nächsten Umkreis zu suchen.«

Lionel stand auf, und sein Schatten legte sich über den ganzen Schreibtisch. »Was soll das bedeuten?«

»Setz dich«, sagte Beatrice.

»Nein. Ich muss wissen, was das zu bedeuten hat. Wollen Sie damit andeuten, dass meine Schwester etwas mit dem Verschwinden von Amanda zu tun haben könnte?«

Angie sah ihn fest an. »Sagen Sie es mir.«

»Nein«, stellte er laut fest. »Okay? Nein.« Dann sah er zu seiner Frau hinunter. »Sie ist keine Kriminelle. Sie ist eine Frau, die ihr Kind verloren hat.«

»Lionel«, begann ich, und er schaute mich an. »Sie haben selbst gesagt, es ist so, als hätte Amanda sich in Luft aufgelöst. Fünfzig Polizisten suchen nach ihr. Vielleicht mehr. Sie beide suchen. Leute in der Nachbarschaft …«

»Ja«, sagte er. »Viele. Sie waren toll.«

»Okay. Und wo ist sie?«

Er starrte mich an, als würde ich sie plötzlich aus der Schreibtischschublade ziehen.

»Ich weiß es nicht.« Er schloss die Augen.

»Niemand weiß es«, betonte ich. »Und falls wir uns dieser Sache annehmen – und ich habe nicht gesagt, dass wir das tun werden …«

Beatrice setzte sich auf und sah mich streng an.

»… dann werden wir von jemandem aus ihrem nächsten Umfeld ausgehen müssen.«

Lionel setzte sich wieder hin. »Sie glauben also, dass sie verschleppt wurde.«

»Sie nicht?«, fragte Angie. »Eine Vierjährige, die ausreißt, wäre doch nach drei vollen Tagen nicht immer noch dort draußen, ohne dass jemand sie gesehen hätte.«

»Ja«, sagte er, so als hätte er es die ganze Zeit gewusst, es aber bislang von sich ferngehalten. »Ja. Sie haben wahrscheinlich recht.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Beatrice.

»Wollen Sie meine ehrliche Meinung wissen?«, entgegnete ich.

Sie sah mich unverwandt an und legte den Kopf leicht schräg. »Ich bin mir nicht sicher.«

Beatrice nickte.

»Sparen Sie das Geld, das Sie für uns ausgegeben hätten, und stecken Sie es in seine Ausbildung.«

Beatrice rührte sich nicht; mit dem leicht zur Seite geneigten Kopf wirkte sie jetzt wie geohrfeigt. »Sie nehmen den Fall also nicht an, Mr. Kenzie?«

»Ich weiß einfach nicht, ob das einen Sinn hätte.«

Beatrice erhob in dem kleinen Büro ihre Stimme. »Ein Kind wird –«

»Vermisst«, sagte Angie. »Ja. Aber es suchen schon viele Menschen nach ihr. Die Berichterstattung war umfassend. Jeder in der Stadt und wohl die meisten im Staat wissen, wie sie aussieht. Und glauben Sie mir, die meisten halten Ausschau nach ihr.«

Beatrice sah Lionel an. Lionel zuckte ganz leicht mit den Schultern. Sie wandte sich wieder mir zu. Beatrice war eine kleine Frau, gerade mal eins sechzig. Ihr blasses Gesicht war herzförmig, die Sommersprossen hatten die gleiche Farbe wie ihr Haar, Knopfnase und Kinn wirkten kindlich rund. Doch ihre Aura war eine wütende Stärke, so als würde sie lieber sterben als nachgeben.

»Ich bin zu Ihnen beiden gekommen«, sagte sie, »weil Sie Menschen finden. Das ist Ihr Job. Sie haben vor ein paar Jahren den Mann gefunden, der all diese Morde begangen hatte, Sie haben das Baby und seine Mutter auf dem Spielplatz gerettet, Sie –«

»Mrs. McCready«, sagte Angie und hob eine Hand.

»Keiner wollte, dass ich hierherkomme«, sagte sie.

»Liebling.« Lionel legte seine Hand auf ihre.

Sie schüttelte sie ab und beugte sich vor, bis ihre Arme auf dem Schreibtisch lagen und sie mich aus saphirblauen Augen ansah.

»Mr. Kenzie, Sie können sie finden.«

»Nein«, entgegnete ich sanft. »Nicht, wenn sie wirklich gut versteckt ist. Nicht, wenn so viele Leute, die darin ebenso gut sind wie wir, nicht in der Lage waren, sie zu finden. Wir sind einfach nur zwei mehr, Mrs. McCready. Nur zwei mehr.«

»Aber es schadet doch nichts«, sagte Beatrice. »Oder? Was könnte es schaden?«

Wenn man ausschließen kann, dass ein Kind ausgerissen ist oder von einem Elternteil entführt wurde, dann ist das Verschwinden eines Kindes aus Sicht eines Privatdetektivs durchaus mit einem Mordfall zu vergleichen: Wird der Fall nicht innerhalb von zweiundsiebzig Stunden gelöst, dann wird er höchstwahrscheinlich nie geklärt. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass das Kind tot ist, wenn auch die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist. Doch wenn das Kind noch lebt, geht es ihm definitiv schlechter als zum Zeitpunkt des Verschwindens. Es gibt keine Grauzone, wenn es um Erwachsene geht und Kinder, die nicht ihre eigenen sind; a) man hilft dem Kind, oder b) man nutzt es aus. Zwar kann man es auf unterschiedliche Weise ausnutzen – Erpressung der Eltern, Ausbeutung als Arbeitskraft, sexueller Missbrauch aus persönlichen Gründen oder zum Profit, Mord –, doch keine davon hat etwas mit Fürsorge zu tun. Und wenn das Kind nicht stirbt und schließlich gefunden wird, sind die Verletzungen so tief, dass für immer Narben bleiben.

In den vergangenen vier Jahren hatte ich zwei Männer umgebracht. Ich hatte zugesehen, wie mein ältester Freund und eine Frau, die ich kaum kannte, vor meinen Augen starben. Ich hatte Kinder gesehen, die auf die schlimmste

Und das alles war ich leid.

Amanda McCready wurde zu diesem Zeitpunkt mindestens sechzig, vielleicht sogar siebzig Stunden vermisst, und ich wollte sie nicht mit blutverklebten Haaren in irgendeinem Müllcontainer finden. Ich wollte sie nicht in sechs Monaten finden, mit leeren Augen und missbraucht von irgendeinem Irren mit Videokamera und einer Mailingliste von Pädophilen. Ich wollte keiner Vierjährigen in die Augen schauen und dort den Tod all dessen sehen, was an ihr rein und unschuldig gewesen war.

Ich wollte Amanda McCready nicht finden. Das sollte jemand anderer tun.

Doch ich war in den letzten paar Tagen in diesem Fall gefangen wie der Rest der Stadt, es war in meinem Viertel passiert, und vielleicht waren ›Vierjährige‹ und ›vermisst‹ keine Wörter, die man in ein und demselben Satz hören will, also willigten wir ein, uns in einer halben Stunde mit Lionel und Beatrice McCready in Helenes Wohnung zu treffen.

»Also übernehmen Sie den Fall?«, fragte Beatrice, als Lionel und sie aufstanden.

»Das werden wir unter vier Augen besprechen«, sagte ich.

»Aber –«

»Mrs. McCready«, sagte Angie, »in dieser Detektei werden die Dinge auf eine bestimmte Weise gehandhabt. Wir einigen uns unter vier Augen, bevor wir irgendetwas zusagen.«

»Wir kommen in einer halben Stunde bei Helene vorbei«, sagte ich.

»Danke«, sagte Lionel und zupfte seine Frau am Ärmel.

»Ja. Danke«, sagte Beatrice, klang aber nicht sehr überzeugend. Ich hatte den Eindruck, dass erst die vom Präsidenten befohlene Entsendung der Nationalgarde, die nach ihrer Nichte suchen sollte, sie zufriedenstellen würde.

Wir lauschten, wie ihre Schritte die Kirchturmstufen hinunter verhallten, dann schaute ich aus dem Fenster zu, wie die beiden den Schulhof neben der Kirche überquerten und zu einem von Wind und Wetter mitgenommenen Dodge Aries gingen. Die Sonne war weiter westlich bis außerhalb meines Sichtfelds gezogen, und der Himmel an diesem Tag Anfang Oktober war immer noch sommerlich blass, wenn auch bereits ein Hauch von Rost darin schwebte. »Vinny, warte doch!«, rief eine Kinderstimme, »Vinny!«, und aus dem dritten Stock klang das irgendwie einsam. Der Wagen von Beatrice und Lionel wendete, und ich beobachtete die Qualmwolke aus ihrem Auspuff, bis sie verschwunden war.

»Also ich weiß nicht«, sagte Angie und lehnte sich zurück. Sie legte ihre Füße in Turnschuhen auf den Schreibtisch und strich das lange dicke Haar zurück. »Bei diesem Fall weiß ich einfach nicht.«

Angie trug kurze schwarze Fahrradshorts und ein weites schwarzes Top über einem engen weißen. Auf dem schwarzen Top standen vorn die weißen Buchstaben NIN, auf dem Rücken die Wörter PRETTY HATE MACHINE. Das Top hatte

»Du weißt nicht?«, fragte ich. »Wie meinst du das?«

»Ein Kind, das vermisst wird, eine Mutter, die offenbar nicht sonderlich eifrig sucht, eine aufdringliche Tante …«

»Du fandest Beatrice aufdringlich?«

»Na, auch nicht aufdringlicher als ein Zeuge Jehovahs mit einem Fuß in der Tür.«

»Sie macht sich Sorgen um das Kind. Riesige Sorgen.«

»Sie hat mein Mitgefühl.« Angie zuckte mit den Schultern. »Trotzdem mag ich es nicht, derart bedrängt zu werden.«

»Stimmt, darin bist du eher Mittelklasse.«

Sie warf mit einem Bleistift nach mir und traf mich am Kinn. Ich rieb mir die Stelle und suchte nach dem Bleistift, damit ich ihn zurückwerfen konnte.

»Alles schön und gut, bis jemand ein Auge verliert«,

»Wir stehen ziemlich gut da«, sagte sie.

»Stimmt.« Der Bleistift war nicht unter dem Stuhl oder unter dem Schreibtisch.

»Haben mehr verdient als im letzten Jahr.«

»Dabei ist erst Oktober.« Kein Bleistift auf den Dielen oder unter dem Minikühlschrank. Vielleicht war er bei Amelia Earhart gelandet, bei Amanda McCready und der Glocke.

»Erst Oktober«, bestätigte Angie.

»Und du meinst, wir brauchen diesen Fall nicht.«

»So ungefähr.«

Ich gab die Suche nach dem Bleistift auf und sah aus dem Fenster. Der anfängliche Rosthauch war nun blutrot, der weiße Himmel verdunkelte sich blau. Auf der anderen Straßenseite in einer Wohnung im zweiten Stock flammte die erste gelbe Glühbirne des Abends auf. Die Luft, die durch das Fliegengitter hereinkam, roch für mich nach früher Jugend und Ballspielen, nach langen, lässigen Tagen, die in lange, lässige Abende übergingen.

»Findest du nicht?«, fragte Angie nach einer Weile.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Sprich jetzt, oder schweige für immer«, sagte sie leichthin.

Ich drehte mich um und sah sie an. Abendlicht fiel durch das Fenster hinter ihr, und goldene Staubkörnchen schwebten über Angies dunklen Haaren. Ihre honigfarbene Haut war nach dem langen trockenen Sommer, der sich bis weit in den Herbst erstreckt hatte, dunkler als sonst,

Meiner bisherigen Erfahrung mit Frauen nach ist ihre Schönheit häufig das Erste, was man übersieht, wenn man erst mal eine Weile intim miteinander ist. Rein verstandesmäßig weiß man, dass die Schönheit vorhanden ist, doch nimmt die emotionale Fähigkeit ab, sich davon überwältigen oder überraschen zu lassen, bis man schier trunken ist. Doch jeden Tag gibt es bei mir Augenblicke, da werfe ich Angie einen Blick zu und spüre den süßen Schmerz im Brustkorb.

»Was denn?« Angie musste breit grinsen.

»Nichts«, sagte ich sanft.

Sie hielt meinem Blick stand. »Ich liebe dich auch.«

»Echt?«

»Ja, echt.«

»Beängstigend, oder?«

»Manchmal schon.« Sie zuckte mit den Schultern. »Manchmal überhaupt nicht.«

Wir saßen eine Weile und sagten kein Wort, dann schaute Angie zu ihrem Fenster hinaus.

»Ich bin mir einfach nicht sicher, ob wir dieses … dieses Durcheinander gerade nötig haben.«

»Welches Durcheinander meinst du?«

»Ein vermisstes Kind. Noch schlimmer, ein vom Erdboden verschlucktes Kind.« Sie schloss die Augen und atmete die warme Luft mit der Nase ein. »Ich mag es, glücklich zu sein.« Sie schlug die Augen auf, schaute aber weiter hinaus. Ihr Kinn zitterte ein wenig. »Verstehst du?«

 

Vor knapp zwei Jahren hatten wir den Fall Gerry Glynn abgeschlossen – vielleicht auch nur überlebt. Bostons erster Serienmörder nach dreißig Jahren hatte viel Aufmerksamkeit bekommen und mit ihm auch jene, denen das Verdienst zugeschrieben wurde, ihn gefasst zu haben. Landesweite Nachrichten, nicht enden wollendes Wiederkäuen in den Klatschzeitungen, zwei Taschenbücher aus der Reihe ›Wahre Verbrechen‹, ein drittes war angeblich in Arbeit –, und schon gehörten Angie und ich zu den bekannteren Privatermittlern in der Stadt.

Nach Gerry Glynns Tod weigerten wir uns fünf Monate lang, irgendwelche Fälle anzunehmen, doch das schien nur das Interesse möglicher Mandanten zu wecken. Nachdem wir die Ermittlungen im Falle einer verschwundenen Frau namens Desiree Stone abgeschlossen hatten, gaben wir uns einen Ruck, und in den darauffolgenden Wochen drängten sich die Leute auf der Treppe im Glockenturm.

Ohne uns das gegenseitig einzugestehen, lehnten wir kurzerhand alle Fälle ab, die nach Gewalt rochen oder Einblicke in die dunkleren Ecken der menschlichen Natur befürchten ließen. Ich glaube, wir beide fanden, dass wir eine Pause verdient hatten, also konzentrierten wir uns auf Versicherungsbetrug, Wirtschaftskriminalität und einfache Scheidungsangelegenheiten.

Im Februar nahmen wir sogar das Hilfeersuchen einer

Ein solches Jahr war das gewesen. Nicht gerade die allerbesten Frontgeschichten für den Bartresen, aber außergewöhnlich gut für das Bankkonto. Und so peinlich es auch gewesen sein mochte, eine verwöhnte Echse über einen gefrorenen Golfplatz zu jagen, es war allemal besser, als beschossen zu werden. Viel besser.

»Glaubst du, wir haben den Mumm verloren?«, fragte mich Angie neulich.

»Auf jeden Fall«, sagte ich. Und lächelte.

 

»Und was, wenn sie tot ist?«, fragte Angie, während wir die Treppe hinunterstiegen.

»Das wäre schlecht«, sagte ich.

»Schlechter als schlecht, je nachdem, wie tief wir mit drinstecken.«

Sie sah mich mit halbgeöffnetem Mund an, als fürchte sie, ihre Gedanken in Worte zu fassen und diese auszusprechen, weil sie dann jemand wäre, der sich weigerte, einem Kind in Not zu helfen.

»Ich möchte jetzt noch nicht zusagen«, bekam sie heraus, als wir unseren Wagen erreichten.

Ich nickte. Das Gefühl kannte ich.

»Alles an diesem Verschwinden riecht faul«, sagte Angie, während wir die Dorchester Avenue zu Helenes und Amandas Wohnung entlangfuhren.

»Ich weiß.«

»Vierjährige Kinder verschwinden nicht einfach so, ohne dass jemand nachhilft.«

»Bestimmt nicht.«

Entlang der Straße kamen die Menschen nach dem Essen aus ihren Häusern. Einige stellten Gartenstühle auf ihre kleinen Veranden; andere gingen die Avenue entlang zu Bars oder Ballspielen im Dämmerlicht. Ich roch den Schwefel einer kürzlich gezündeten Flaschenrakete, und der feuchte Abend hing wie ein vergessener Atemzug in jenem schmerzlichen Farbton zwischen Dunkelblau und plötzlichem Schwarz.

Angie zog die Beine an die Brust und legte ihr Kinn auf die Knie. »Vielleicht bin ich ja feige geworden, aber ich habe nichts dagegen, Leguane über Golfplätze zu jagen.«

Ich sah durch die Windschutzscheibe und bog von der Dorchester Avenue in die Savin Hill Avenue.

»Ich auch nicht«, sagte ich.

 

Doch in all dem Lärm ist nichts lauter als das Schweigen des vermissten Kindes. Dieses Schweigen ist achtzig bis hundert Zentimeter groß, man spürt es an der Hüfte, hört es von den Dielen heraufsteigen, und es schreit einen aus Ecken und Spalten und dem ausdruckslosen Gesicht einer Puppe an, die auf dem Boden neben dem Bett liegt. Dieses Schweigen ist anders als die Stille bei Beerdigungen und Totenwachen. Die Stille der Toten verbreitet ein Gefühl von Endgültigkeit; eine Stille, von der man weiß, dass man sich damit abfinden muss. Das Schweigen eines vermissten Kindes ist nichts, womit man sich abfinden möchte; man weigert sich, es zu akzeptieren, deshalb schreit es einen ja so laut an.

Die Stille der Toten sagt: Goodbye.

Das Schweigen der Vermissten sagt: Findet mich.

Es hatte den Anschein, als hätte sich die halbe Nachbarschaft und ein Viertel der Bostoner Polizei in Helene McCreadys Wohnung versammelt. Vom Wohnzimmer aus ging es durch einen Säulenvorbau ins Esszimmer, wo das Auge des Wirbelsturms war. Die Polizei hatte ganze Reihen von Telefonen auf dem Boden aufgereiht, die alle in Gebrauch waren; andere sprachen in ihre Handys. Ein korpulenter Mann in einem T-Shirt mit der Aufschrift PROUD TO

Eine Frau legte eine Hand über das Mikro ihres Handys. »Die Produzenten von Annie in the AM haben angerufen. Sie wollen Helene in der Morgenshow.«

»Mrs. McCready«, rief ein Polizist aus dem Esszimmer, »eine Sekunde bitte.«

Beatrice nickte dem Korpulenten und der Frau mit dem Handy zu und sagte zu uns: »Amandas Zimmer ist das erste rechts.«

Ich nickte, Beatrice verschwand in der Menge und ging ins Esszimmer.

Amandas Tür stand offen, und das Zimmer selbst war still und dunkel, so als könne der Straßenlärm nicht bis hierher vordringen. Eine Toilettenspülung wurde betätigt, ein Streifenpolizist kam aus dem Bad und sah uns an, während er mit der rechten Hand den Reißverschluss zuzog.

»Freunde der Familie?«, fragte er.

»Ja.«

Er nickte. »Rühren Sie bitte nichts an.«

»Keine Sorge«, sagte Angie.

Wieder nickte er und ging den Flur entlang in die Küche.

Ich nahm meinen Autoschlüssel, um das Licht in Amandas Zimmer einzuschalten. Zu diesem Zeitpunkt war jeder Gegenstand im Zimmer bereits auf Fingerabdrücke untersucht worden, doch die Polizei störte es immer, wenn man an einem Tatort etwas mit bloßen Händen anfasste.

Über Amandas Bett baumelte eine blanke Glühbirne

Die Wohnung war vom Grundriss her identisch mit meiner eigenen, so wie die meisten Wohnungen in den dreigeschossigen Häusern im Viertel. Amandas Zimmer war demnach nur halb so groß wie das andere Schlafzimmer, das vermutlich Helenes Zimmer war, hinter dem Bad rechts, gleich gegenüber der Küche und mit Blick auf den Balkon zum Hinterhof darunter. Amandas Zimmer lag zum Nachbarhaus hin und hatte mittags wohl genauso wenig Licht wie jetzt um 20 Uhr.

Das Zimmer war muffig, das Mobiliar karg. Die Kommode gegenüber vom Bett sah aus wie von einer Haushaltsauflösung, und das Bett selbst hatte kein Gestell. Eine einzelne Matratze und ein Rost lagen auf dem Boden, darauf ein Laken, das nicht zum Kissen und zur in der Hitze beiseitegeworfenen König-der-Löwen-Steppdecke passte.

Am Fußende des Betts schaute eine Puppe dumpf an die Zimmerdecke; neben der Kommode lag ein Stoffhase auf der Seite. Auf der Kommode stand ein alter Schwarzweißfernseher, auf dem Nachttisch ein kleines Radio, dafür entdeckte ich keine Bücher in dem Zimmer, nicht mal ein Malbuch.

Ich versuchte mir das Mädchen vorzustellen, das in diesem Zimmer geschlafen hatte. Natürlich hatte ich in den letzten Tagen mehr als genug Fotos von Amanda gesehen,

Hatte sie versucht, die Poster wieder aufzuhängen? Hatte sie sich die hellblauen und gelben Pop-up-Bücher gewünscht, die sie im Einkaufszentrum gesehen hatte? Wenn sie spätnachts in der Dunkelheit und Stille dieses Zimmers allein wachlag, konzentrierte sie sich dann auf den einsamen Nagel an der Wand gegenüber vom Bett oder auf den blassbraunen Wasserfleck, der sich an der Zimmerdecke gesammelt hatte?

Ich sah die glänzenden, hässlichen Augen der Puppe und hätte sie am liebsten mit dem Fuß geschlossen.

»Mr. Kenzie, Miss Gennaro.« Beatrice rief aus der Küche.

Angie und ich schauten uns ein letztes Mal um, dann benutzte ich meinen Autoschlüssel, um das Licht wieder auszuschalten, und wir gingen den Flur entlang in die Küche.

Dort lehnte ein Mann mit den Händen in den Taschen am Herd. Er schien auf uns zu warten. Er war einige Zentimeter kleiner als ich, breit und rund wie ein Ölfass, hatte ein jungenhaftes, fröhliches, leicht gerötetes Gesicht, so als würde er einen Großteil seiner Zeit draußen verbringen. Sein Hals sah paradoxerweise erschöpft und schlaff aus wie bei jemandem kurz vor der Pensionierung, und den Mann umgab eine hundert Jahre alte Härte, eine Unerbittlichkeit, die dich und dein ganzes Leben mit einem einzigen Blick beurteilt.

»Lieutenant Jack Doyle«, sagte er und drückte mir die Hand.

Ich schüttelte sie. »Patrick Kenzie.«

Ich hatte den Mann in den letzten Tagen ein paarmal im Fernsehen gesehen. Er leitete bei der Bostoner Polizei die Einheit Crimes Against Children (Verbrechen an Minderjährigen), und wenn er in die Kamera sah und erklärte, dass er Amanda McCready finden würde, ganz gleich, was dazu nötig war, dann hatte man kurzzeitig Mitleid mit demjenigen, der sie entführt hatte.

»Lieutenant Doyle wollte Sie gern kennenlernen«, sagte Beatrice.

»Was hiermit erledigt wäre«, sagte ich.

Doyle lächelte. »Haben Sie eine Minute?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Tür, die auf den Balkon hinausging, öffnete sie und warf uns einen Blick über die Schulter zu.