Ruth, eine ältere Dame, erhält einen Brief von einer ihr unbekannten Frau, die sie fragt, ob sie verwandt sind. Nach dem Tod des Vaters der Absenderin sind Unterlagen aufgetaucht, die vermuten lassen, dass er seine Identität geändert hat. Nie hatte der Vater über seine Herkunft gesprochen. Zum Zeitpunkt der Einbürgerung in die DDR hatte er alle Daten, bis auf seinen Vornamen und sein Geburtsdatum, geändert. In seiner Ursprungsfamilie galt er, der Außenseiter, als verschollen. Mit seinen vier Kindern macht sich Ruth auf die Spurensuche nach ihrem älteren Bruder. Alle sind getrieben vom Wunsch nach Aufklärung, nach Verstehen, nach Versöhnung. Die Kinder möchten erfahren, wo und wie der Vater früher gelebt hat, und hoffen, eine Erklärung für sein Schweigen zu erhalten. Drei der Kinder wollen ihre Tante näher kennenlernen. Der älteste Sohn, ihrem verstorbenen Bruder am ähnlichsten, bleibt auf Abstand. Die alte Dame freut sich über den Kontakt. Unverhofft ist sie Teil einer Familie, die sie immer vermisst hat. Nach und nach lassen sich beide Seiten auf Neues, Unbekanntes ein. Vieles ist ins Vergessen gesunken, nun taucht manches wieder auf und weckt alte Ängste. Bei einem Besuch des jüngsten Sohnes bekommt die Schwester Einblick in die Stasiakten des Bruders. Sie entdeckt immer mehr Parallelen zu ihrer Herkunftsfamilie und zum Leben seiner Kinder. Schon ihr gemeinsamer Vater hatte durch das Verleugnen seiner Identität den Krieg überlebt. Auch dem Bruder war jedes Mittel recht, bis sein mühsam aufgebautes Kartenhaus in sich zusammenfällt.
Sigrid Kleinsorge wurde 1940 in Halle/Saale geboren. 1960 Wechsel in die BRD. Studium der Psychologie und Soziologie in Köln. Stipendien des Schriftstellerverbandes Baden-Württemberg. Erste Veröffentlichungen in Anthologien, in Almende, im Karlsruher Lesebuch. Romane: Die Abuela, Das achte Zimmer, Das Trio, Das Freitagsinterview, Und vergib uns…, eine Reise. Ihr Roman »Schwarz & Weiß« erschien 2018 im Lauinger Verlag. Die Autorin lebt in Karlsruhe und Lanzarote.
ROMAN
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© Originalausgabe 2019 Lauinger Verlag | Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe
Projektmanagement, Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Sonia Lauinger
Projektassistenz: Nicole Bengeser, Nathalie Reinhardt
Lektorat: Martina Leiber
Korrektorat: Annika Cramer
Umschlagabbildung: Rabe III © Christian Klute, www.christianklute.com
Druck in der EU
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ISBN: 97837650-9142-1
Dieser Titel erscheint auch als EBook:
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Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung
Antoine de Saint-Exupéry
PROLOG
DIE NACHRICHT
DIE KINDER
VERURTEILT
EISENACH
DIE MAUER FÄLLT
ERINNERUNGEN
NEUORIENTIERUNG
DIE STASI
ZURÜCK ZU DEN WURZELN
DIE SUCHE
DIE MÜTTER
DER RICHTIGE WEG
ZURÜCK NACH SECHZIG JAHREN
VERMUTUNGEN
DIE WEICHEN STELLEN
HOHENSCHÖNHAUSEN
BLICKWINKEL
ABSCHIED
STAMMBAUM
DANKSAGUNG
Über Raben lässt sich vieles sagen. Und nicht nur Gutes. Welcher Singvogel hat schon eine so enorme Flügelspanne von eineinhalb Meter und ein Gewicht von eineinhalb Kilo? Dazu einen kräftigen, gebogenen Schnabel, vor dem auch Menschen Hochachtung haben. Damit ist der Rabe der König unter den Vögeln und kaum angreifbar. Sein Gefieder erscheint nur auf den ersten Blick unauffällig schwarz, im Sonnenlicht schimmert es metallisch blau oder auch grünlich. Alles Äußerlichkeiten? Aber der Rabe hat noch mehr zu bieten: Er ist äußerst anpassungsfähig, neugierig und intelligent. Seit er herausgefunden hat, wie er an das Innere von Nüssen gelangen kann, lässt er sie sich von fahrenden Autos knacken. Er weiß nicht nur ganz genau, wo er sein Futter für Notzeiten versteckt hat, sondern beobachtet auch andere Tiere beim Verstecken ihrer Nahrung. Sobald sie verschwunden sind, bedient er sich dann. Als Aasfresser folgt er Wölfen und es geschieht häufig, dass er ihnen sogar ihre Beute stiehlt. Daher leiden er und seine Familie selten Hunger. Zudem ist er ein Familientyp und treu. Raben-Paare bleiben ein Leben lang zusammen. Das können schon mal dreißig Jahre sein. Gemeinsam kümmern sich Raben-Eltern um die langwierige Aufzucht des Nachwuchses. In einer Geheimsprache, die nur für Angehörige ihres Clans verständlich ist, geben sie ihre Erfahrungen an die Jungen weiter. Alles Wissen bleibt dadurch im Familienkreis. Und er hat die Gabe, Vogelstimmen und andere Geräusche überzeugend nachzuahmen. Damit täuscht er Tiere und Menschen.
In Sagen und Märchen spielt die Weisheit des Raben, aber auch seine Flugfähigkeit eine Rolle. Er weist verirrten Wanderern den Weg, rettet Menschen aus ausweglosen Situationen. Die beiden Kolkraben Hugin und Munin berichten dem Gott Odin, was auf der Welt vor sich geht. Auch dem griechischen Gott Apollon war der Rabe heilig. Da er jedoch seinen Auftrag nicht rechtzeitig erfüllte, weil er auf das Reifen der Feigen wartete, setzte Apollon ihn zur Strafe als Sternbild an den Himmel. Als dämonisches Wesen, das den Teufel begleitet und als Unglücksrabe Schaden ankündigt, gilt der Rabe erst seit der Christianisierung.
Er hatte all die Jahre gelebt, das wusste ich nun. Seit mein Bruder vor sechzig Jahren verschwunden war, hatte ich auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet. Nun war er tot, aber eines seiner Kinder hatte geschrieben und gefragt, ob es möglich sei, dass wir verwandt sind. Sein Geburtsdatum passte: der 13. Juni 1935. Auch der Vorname. Daneben standen die Namen seiner Kinder: Armin, Sandra, Ulrike und Ole, auch ihre Geburtsdaten. Er war fünfundsiebzig Jahre alt geworden. Dabei hatten die Eltern und die Schwester, denen er zu schwierig erschienen war, behauptet, er sei als junger Mann gestorben. Nur ich hatte es nicht glauben wollen. Und jetzt konnte ich es kaum fassen! Ich saß vor dem Fenster und beobachtete den Raben, der auf dem höchsten Ast der Birke saß, schwankte zwischen weinen und lachen. Doch dann überwog die Freude. Aber wie konnte ich ihn nun, nach sechzig Jahren, wieder auferstehen lassen, an längst zerrissene Erinnerungsfäden anknüpfen und mich an ihnen entlanghangeln? Seit einer Ewigkeit hatte ich seinen Namen nicht mehr gehört, nicht mehr gerufen, wie früher, wenn wir auf den Pulverweiden über das Eis schlitterten. Ich mit den viel zu großen Schlittschuhen, die unter die Halbschuhe geschraubt waren. Immer wieder war ich gestürzt, immer wieder hatte er mir aufgeholfen und mich getröstet. Oft hatten wir uns auf der Rabeninsel im dichten Gebüsch versteckt und das »Krah, krah!« der Raben nachzuahmen versucht. Und dann einfach weg, ohne Abschied.
Meine Schwester Marianne war vor drei Wochen unerwartet gestorben. Auch wenn unser Verhältnis nicht besonders gut gewesen war, vermisste ich ein Abschiedsritual. Es hatte keines gegeben. Deshalb suchte ich ein Foto von ihr, auf dem sie so aussah wie zu der Zeit, als wir einander noch nah waren, das Bett in dem kleinen Zimmer teilten, heimlich lasen, kicherten. Ich wollte es während meiner Recherche für den Verlag aufstellen und mit ihr sprechen, sie Dinge fragen. Darauf waren wir alle drei zu sehen. Sie, er und ich. Marianne links im Kostüm, den Kopf geneigt, die gelockten dunklen Haare halblang, etwa siebzehn oder achtzehn. In der linken Hand hält sie ein Osternest. Daneben der Bruder, einen halben Kopf größer, dabei ist er ein Jahr jünger. Er schaut direkt in die Kamera und lächelt sein schiefes Lächeln. Ihm reiche ich nicht einmal bis zur Schulter, halte das Nest mit beiden Händen, als könne ich dadurch etwas retten. Ich wage nicht, in die Kamera zu sehen, die Vater zu unserem letzten Ausflug zu viert mitgebracht hat. Hatte ich damals geahnt, dass Vater am nächsten Tag fortgehen würde?
Nach der Scheidung sahen wir ihn alle vier Wochen am Sonntag. Dann fuhr er im schwarzen Ledermantel vor, erst stieg Marianne in den Wagen ein, dann mein Bruder, dann ich, in der Reihenfolge, in der wir geboren waren. Wir saßen hinten. Neben Vater saß die Frau mit dem breitkrempigen Hut und den Lederhandschuhen, in eine Parfümwolke eingehüllt. Mutter nannte sie Minka und ich musste mir auf die Zunge beißen, damit mir dieser Name in ihrer Anwesenheit nicht über die Lippen kam. Auf der Fahrt sangen wir, reimten. Das half über die Verlegenheit hinweg, über das Befremdliche, über Worte, die nicht gesprochen werden durften. Warum Vater damals in den Westen ging, das erfuhr ich erst Jahre später. Und zwei Jahre danach waren auch der Bruder und Marianne fort.
Doch nun schien die Familie wieder zu wachsen. Die Kinder meines Bruders hatten nach vielen Jahren der Suche mich, seine jüngere Schwester, gefunden und konnten es kaum glauben. Es gab also doch Verwandte ihres Vaters, eine Familie, die sie immer vermisst, von deren Existenz sie keine Ahnung gehabt hatten. Nach seinen Aussagen waren die Eltern, deren einziges Kind er zu sein vorgab, 1944 bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Keiner hatte daran gezweifelt. Schließlich hatte der Zweite Weltkrieg fünfundfünfzig Millionen Menschenleben gekostet, davon allein mehr als sechs Millionen Deutsche. Er hatte ganze Städte dem Erdboden gleich gemacht, Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Warum sollte ihr Vater diese Geschichte erfinden? Außerdem galt sein Wort etwas. Jedenfalls lange Zeit, wenn auch nicht immer und für alle gleichermaßen. Doch nach seinem Tod kamen nun die Fragen und Erinnerungsfetzen wie Regenwürmer nach einem kräftigen Guss aus ihren Löchern. Fragen, die sie verwirrt hatten, die ohne Antwort blieben. Möglicherweise konnte ich erklären, was sie nach seinem Tod zwischen Hemden und Unterwäsche Rätselhaftes entdeckt hatten. Namen und Daten auf Bierdeckeln, mit denen sie nichts anzufangen wussten. Die weder zu den Lebensdaten des Vaters noch zu denen der Mutter passten. Wer waren Simon, Berthel, Ruth oder Marianne? Hatten seine Eltern nicht Anna und Otto geheißen? Sie konnten es kaum erwarten, das Rätselhafte, Unbekannte des Vaters zu erkunden, hofften, ihn wenigstens nach dem Tod zu verstehen, ihm näher zu kommen. Vielleicht auch, ihm verzeihen zu können.
Kaum hatte ich mich bei der Briefschreiberin gemeldet, da bekam ich ein Foto per WhatsApp: fünfzehn Personen zwischen zwei und sechzig Jahren, aufgereiht auf einer hohen Treppe, davor zwei Hunde. Alle sahen mich erwartungsvoll an. Ich war fast ohne Familie aufgewachsen, hatte mich längst damit abgefunden, und nun so eine Menge Menschen! Wollte ich mich auf sie einlassen?
Ich bin sein ältester Sohn. Wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich seine Augen, wenn ich lächle, lächelt sein Mund, meine Gesten sind seine, auch meine Stimme. Ich bin er und will es doch auf keinen Fall sein. Nie wollte ich das, habe fünfzig Jahre darum gekämpft, ein anderer als er zu werden. Dass es mir nicht gelungen ist, kann ich kaum ertragen. Dass ich in meinem Leben solche Rückschläge erlitten habe wie er, dass auch ich mehr im Äußeren zuhause bin als in meinem Inneren. »Ein Großkotz wie er.« Das hat kürzlich eine meiner Schwestern gesagt. Als ich auf die Welt kam, war er gar nicht da, verfluchte vier Jahre lang nicht, um mich auf den Arm zu nehmen, mich herumzuwirbeln, mit mir über die Wiesen zu laufen, mir übers Haar, das seinem ähnelt, zu streichen, meinen Namen auszusprechen. Den Namen, der auch seiner ist. Ich bin die Kopie des Menschen, dem ich aus dem Weg gegangen bin, den ich verachtet, für den ich mich geschämt habe, sobald ich begriffen hatte, was mit ihm los war. Manchmal frage ich mich, ob ich ohne meine Geschwister überhaupt überlebt hätte. Und damit meine ich nicht den einen Tag.
Es begann so, wie ein Leben nicht beginnen sollte. Die Frist für eine Abtreibung hatten die beiden verpasst: zwei Wochen zu spät. Also wuchs nun ich dort, wo noch vor Kurzem ihr erstes Kind gewachsen war, das nicht überlebt hatte. Ein Junge, wie ich. Ich biss mich an der Mutter fest, wuchs und wuchs. Als die Zeit reif war, wollte sie nicht, dass ich diese Welt sähe. Die Welt, die sie später »elendiglich« nannte, eine Welt ohne Halt, ohne Gewissheit, ohne meinen Vater. Doch ich wollte heraus aus der Enge. Stieß mich ab, ohne zu wissen, wohin und wofür. Wenn ich später darüber nachdachte, wofür es sich lohnen könne zu leben, sah ich eine weite, weiße Ebene, nur meine Fußstapfen und am Himmel eine glutrote Sonne. Aber die Realität war anders. Drei Monate nach meiner Geburt wurde ich auf die Säuglingsstation gebracht. Mein Leben hing am seidenen Faden. Von diesem ihrem zweiten Versuch, mich loszuwerden, erfuhr ich erst, als ich längst erwachsen war. Noch heute fröstelt es mich, wenn ich an die Anamnese denke. Niemand weiß davon. Aber ich blieb am Leben, wurde zur Sicherheit in ein Heim eingewiesen. Es heißt, ich hätte dort ein halbes Jahr ums Überleben gekämpft. Dann kehrte ich zurück zur Mutter, kam in die Wochenkrippe, diese Errungenschaft der DDR, damit die Volkswirtschaft gedieh. Denn jede Hand war nötig zum Aufbau des Sozialismus, zur Erfüllung der Jahrespläne, auch die der Frauen und Mütter. Auch die Hände solcher Mütter, die im tief ausgeschnittenen Kleid hinter der Bar standen und dafür sorgten, dass sich die Männer, die von der Arbeit kamen, amüsierten: die Hände meiner Mutter. Die Woche über war kein Kleinkind zuhause, das störte, schrie, gefüttert werden wollte, das man besänftigen musste. So konnte sie ihren Teil zum Gedeihen des einen deutschen Staates beitragen, der sich behaupten musste nach dem verlorenen Krieg. Wenn die Bar schloss, war die Nacht für die Mutter noch nicht zu Ende. Da sind verschwommene Erinnerungen an Stimmen, an Geräusche, an ihr Lachen. Hat sie mit mir gelacht, mich liebkost? Ich sehe ihre Hände vor mir, schöne Hände, aber ich spüre sie nicht. Auch andere Erinnerungen gibt es kaum. Da ist nur der Schlafsaal der Wochenkrippe, mein Bett am Fenster, das Fach mit meiner Wäsche, das Aufblitzen silberfarbener Teekannen. Aber wo sind die Menschen? Die Kinder, die Erzieherinnen, die anderen Namen?
Dreieinhalb Jahre später war er wieder da, mein Vater. Ein fremder, großer Mann mit weißem Hemd und Krawatte, frisch gebügelter Hose, blanken Schuhen, der wusste, was jeder zu tun und zu lassen hatte, der die Angestellten einwies, sie forderte wie sich selbst. Was er wollte und sagte, das galt. Für alle, auch für meine Mutter und mich. Und ich folgte ihm zu dieser Zeit gern. Tat mit Freude, was er von mir erwartete. Manchmal waren seine Augen traurig, dann ging er mir aus dem Weg. Als vier Jahre später meine Schwester zur Welt kam, fühlte ich mich nicht mehr so allein, wenn wir gemeinsam am Dienstagmorgen in der Wochenkrippe abgeliefert wurden.
Meine Mutter hatte mehrmals über die Geburt meines Bruders gesprochen. Immer war es mir wie ihre Rechtfertigung vorgekommen, um mit den Gefühlen fertig zu werden, mit 22 Jahren bereits zwei Kinder zu haben und einen Mann, der so viel unterwegs war, dass sie ihn kaum zu Gesicht bekam. Ich glaube, damals lebte der Bruder noch mit uns. Oder wünschte ich es mir nur, und er war bereits auf und davon? Irgendwohin, wo ihn keiner fand? Jedes Mal, wenn sie von ihm sprach, betonte sie, dass niemand daran geglaubt habe, er könne überleben, so über und über behaart, wie er zur Welt gekommen sei. Nicht einmal fünf Pfund habe er gewogen. Bei diesen Worten bekam ihr Gesicht einen Ausdruck, den ich sonst nie bei ihr sah. Es war weder der sorgenvolle Blick, wenn wir nach etwas zu essen fragten, noch das Lächeln, das ihren Mund weich machte, wenn sie von ihrer Liebe zu unserem Vater sprach, noch waren es diese müden Augen, mit denen sie uns »Gute Nacht« sagte. Als mildere es ihre Enttäuschung, beschrieb sie ausführlich die Zeremonie der Nottaufe ihres Sohnes. Die Hektik auf der Krankenstation, bevor der Pfarrer kam, ein Mann weit über seiner Lebensmitte, im schwarzen Anzug und schwarzen Hemd, der mit kaum hörbarer Stimme sprach und sie bat, das Kind zu halten. Sie sagte, es habe sie eine enorme Überwindung gekostet, nicht wegen der Nähe des Todes, das betonte sie. Wenn ich wissen wollte, warum denn dann, überschattete ein Ausdruck ihr Gesicht, über den ich lange rätselte, bis ich entschied, dass es Abscheu sein müsse. Anfangs wehrte ich mich gegen diesen Gedanken, aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verfestigte er sich. Doch ihr Sohn behauptete sich in dieser Welt, gegen alle Vorhersagen. Fünfundsiebzig Jahre lang, wie ich nun weiß.
Nun ist es schon wieder eine Weile her, dass ich mich gemeldet habe. Ich hoffe, dass mein Brief Dich noch rechtzeitig vor Deiner Abreise erreicht. Es gibt viel, sehr viel zu erzählen. Da ist es mit dem Schreiben etwas müßiger, eben auch anders. Keine unmittelbare Reaktion. Ich werde trotzdem einfach weiterschreiben, so wie ich auch weitergelebt habe. Habe in der Arbeit sehr viel um die Ohren und auch privat, sodass mir einfach die Zeit zum Schreiben fehlt. Obwohl wir doch alle die gleiche Zeit zur Verfügung haben. Alles unter einen Hut zu bekommen, das ist die Aufgabe. Ich gebe mir Mühe, es zu schaffen, dass Du Dich in alles hineinversetzen und die Dinge aus meiner Sicht sehen kannst. Beim Schreiben ist es so, als zöge mein Leben noch einmal an mir vorüber. Mit all seinen Farben und Facetten, mit all seinen schönen und weniger schönen Seiten. Aber Du wirst sehen, dass die schönen Seiten überwiegen. Ich bin Dir sehr dankbar, dass Du den Kontakt und das Gespräch mit uns allen suchst, und nicht nur nach Antworten, sondern auch nach UNS suchst. Wann hat das jemals jemand getan? Die Dinge, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind, sind einzigartig wie die Natur. Schön und grausam. Es gibt Höhen und tiefe Tiefen, einsame Wüsten, tosende Meere und stille Seen, eine enorme Vielfalt von Farben, Formen und Düften. Ich nehme die Dinge so, wie sie sind, und werde nicht am Gras ziehen. Es wächst ja doch nicht schneller. Alles im Leben braucht seine Zeit. Vielleicht ergibt sich ja doch noch die eine oder andere Antwort auf unsere offenen Fragen. Dass ich mich von vielem zurückgezogen habe, hat seine Gründe. Ich brauche die Mauer, hinter der ich mich sicher fühle, diesen Schutz, durch den ich bis jetzt überleben konnte. Es fällt mir nicht leicht, über all das zu schreiben und meine Gedanken auszudrücken. Aber so kann das Wort gelesen, verstanden, reflektiert und geändert werden. Im Zusammenhang betrachtet ergibt es hoffentlich ein überschaubares Bild des großen Ganzen. Ich hoffe, Du verstehst, was ich sagen möchte. Es gibt unzählige Bilder in meinem Leben – aus schon mehr als fünfzig Jahren –, die ich betrachtet habe. Ich liebe Bilder, wer weiß, warum. Vielleicht hoffe ich auf Antworten in ihnen. Zwei davon haben mich tief in meinem Inneren berührt und bis heute nicht losgelassen. Sie sind mir Wegbegleiter geworden und geben mir in den schwierigen Momenten meines Lebens Halt. Auch die nötige Inspiration zum Weitermachen, zum Kämpfen, zum Nachdenken: Picassos »Junge mit Pferd« und Monets »Seerosen«. Beide habe ich 2004 in Berlin gesehen.
Als ich zum ersten Mal ein Foto von Armin sah, jemand aus der Familie hatte es mir geschickt, sah ich tatsächlich ihn, meinen Bruder, seinen Vater. Minutenlang starrte ich es an. Dabei hatte ich ihn im Alter seines ältesten Sohnes nicht mehr gekannt. Und doch war da ein vertrauter Ausdruck: die Trauer, das Flehen, das Zerfließen. Schlagartig rief es meine alten Gefühle auf den Plan, als ich ihm beistehen, ihn vor der Mutter schützen wollte. Diese entsetzliche Angst ist plötzlich wieder da! Das Gefühl der Hilflosigkeit und Starre. Damals musste ich, fünf Jahre jünger als er, zusehen, wenn sie ihn schlug – ihr Gesicht vor Wut entstellt –, und ich war froh, dass sie nicht mich erwischte. Einmal, er war nicht schnell genug ausgewichen, traf der Kleiderbügel seine Stirn. Die Haut platzte auf, Blut lief über sein Gesicht. Ich dachte, er müsse sterben. Die Wunde wurde genäht, er trug eine Narbe davon, ein heller, schmaler Strich oberhalb der rechten Braue. Später die vielen Fragen: War er wegen der Schläge weggegangen, wegen der Wut, die ihn traf, ohne dass er wusste, warum. Wollte er dem Vater nahe sein oder einfach nur weg? Es machte mich verrückt, dass es keine Erklärung gab. Von ihr nicht. Von ihm nicht. Über den weißen Umschlag, den er auf ihrem Bett zurückgelassen hatte, als er ging, sprach Mutter nicht.
In unserer Wohnung gab es außer dem Märchenbuch keine Bücher, auch keine Bilder an den Wänden. Es gab einen Volksempfänger, vor dem alle saßen und der Stimme des Führers folgten, dieser drängenden Stimme mit dem österreichischen Klang, die mir Angst einflößte. Dabei verstand ich die Bedeutung seiner Worte nicht, aber noch heute bereitet dieser Dialekt mir Unbehagen. Alle saßen wie erstarrt, auch die Großtante und die Großmutter. Es war kaum Luft zum Atmen. Ich dachte an Dornröschen, als alle in den hundertjährigen Schlaf versunken waren, an die böse Fee, und drängte mich an Mutter. Erst wenn Musik erklang, wich die Starre aus den Körpern und sie wurden wieder zu denen, die ich kannte und liebte. Die Großtante stieß einen Seufzer aus, die Großmutter klapperte mit dem Geschirr und Mutter summte leise. Auch noch in den ersten Jahren nach dem Krieg trällerte sie mit ihrer hellen Stimme vor sich hin. Dann war die Welt für mich in Ordnung. Singen musste ihr Kraft und Zuversicht gegeben, sie mit dem Leben, auf das sie gehofft hatte, verbunden haben, ähnlich wie mir die Bücher später. Immer bekamen sie in meinen Wohnungen einen besonderen Platz. Daneben hing das Plakat, das meine Tochter mir zum Fünfzigsten geschenkt hatte. »Das Parfüm«, eine limitierte Auflage, die ich ein paar Jahre danach für fünfhundert Dollar in New York in einem Antiquariat entdeckt hatte. Später, als das Lesen aus meinen Leben nicht mehr wegzudenken war, las ich auch das Buch. Es weckte eine unbestimmte Angst in mir und ich sah mir die Männer auf der Straße genauer an, als könne ich ihre Absichten erkennen. Das Bild von Monet bedeutete auch mir viel. Zum ersten Mal hatte ich im MoMA davor gestanden, war in diese friedliche Stille eingetaucht. Jahre später in den Gärten von Giverny erfüllte mich eine Ruhe, die ich lange nicht gespürt hatte. Obwohl ich auf der gleichen Reise auch im Picasso-Museum in Paris gewesen war, konnte ich mich an das Bild »Junge mit Pferd« nicht erinnern. Es interessierte mich, was für Armin daran so bedeutsam war und googelte. Völlig nackt steht der Junge neben einem Pferd. Die reine Unschuld. Und schon verschwimmt es mit dem Gesicht des Bruders als er fünf war. Ich hatte es auf einem der Fotos, die seit Kurzem in meinem Wohnzimmer liegen, entdeckt. Da steht er neben Marianne bei ihrer Einschulung und hält eine kleine Schultüte in den Händen. Auf dem Foto daneben, darauf war ich höchstens zwei, stehen wir zusammen im Hof unserer ersten Wohnung. Sein Gesichtsausdruck ist noch immer der gleiche. Unschuldig!
Bis heute habe ich ein gespaltenes Verhältnis zu meinem Vater. Ich liebe ihn, je älter ich werde, aber ich verstehe ihn nicht und vieles kann ich heute nicht mehr gutheißen. Ich empfand es, seit ich denken kann, als einen glücklichen Umstand, dass mein großer Bruder da war. Die Eltern waren immer beschäftigt. Mit der Arbeit, mit Plänen, mit sich selbst. Damals lebten wir in einer Stadt im Lausitzer Seenland in der Nähe des Waldes. Wir Kinder waren oft draußen unterwegs, sammelten Blaubeeren, versteckten uns im Gebüsch, spielten Räuber und Gendarm. Ein Gefühl von Luft und Freiheit. Es war ein Paradies! Seitdem wir aus der kleinen Zweizimmerwohnung in ein gerade fertiggestelltes Neubauviertel gezogen waren, konnten meine kleine Schwester Ulrike und ich keine Löcher mehr in die Wand an unserem Bett bohren. Es waren Wände mit kleinen Betonnasen gewesen, die wir in akribischer Handarbeit abgeknibbelt und zu Löchern erweitert hatten. Unsere Gucklöcher. Durch sie konnten wir ins angrenzende Zimmer, das Schlafzimmer der Eltern, schauen, aber als Mutter uns entdeckte, gab es Ärger. Die neue Wohnung lag in einem riesigen Hochhaus. Hier war vieles zu entdecken in den Gängen und Winkeln, im Fahrstuhl und am Müllschlucker. Mutter scheuchte uns auch dann aus der Wohnung und ins Freie, wenn wir gerade mal keine Lust dazu hatten. »Regen ist gut für’s Wachsen!« Immer hatte sie einen passenden Spruch zur Hand. Armin, der Große, mit uns Mädchen im Schlepp, ließ den Fahrstuhl so lange hoch und runter fahren, wir nannten das »Himmelfahrt«, bis jemand sich bei Mutter beschwerte. Ideal waren die Kellergänge, dort spielten wir Verstecken, oft mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, denn manchmal verstellte Armin seine Stimme. Dann dachten wir Mädchen, Vater oder einer der Nachbarn sei da, kamen schnell aus unserem Versteck und konnten uns nicht mehr freischlagen. Ulrike weinte und ließ sich nur mit Mühe trösten. Immer hatte Armin jedoch eine der dort, wo wir lebten, seltenen Süßigkeiten in der Tasche: ein »Duplo«, eine Lakritzschnecke oder ein »Bounty«. Dass es diese Dinge bei uns nicht zu kaufen gab, fiel mir damals nicht auf. In der Küche im oberen Regal stand ja eine Schüssel mit Süßigkeiten, die wir Kleinen zwar nicht erreichen konnten, aber der Große konnte es. 1973 begann dort auch die Schule für mich. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich eine riesige Zuckertüte im Arm hielt. Herausgeputzt mit weißen Kniestrümpfen und einem Rock – ein richtiges Mädchen.
Die Eltern arbeiteten in einer Gastwirtschaft, dem ehemaligen Schützenhaus der Stadt. Vater war der Chef und Mutter stand hinter der Bar. Lange Zeit glaubte ich, die Gastwirtschaft gehöre uns und war sehr stolz. Dieser Ort war für uns Kinder von besonderer Bedeutung an den Tagen, die wir dort und nicht in der Wochenkrippe verbrachten. Eine riesige Küche mit vielen Köchen, eine große Bühne in einem Saal mit grünen Samtvorhängen, die bis zum Boden reichten, und einem gigantischen Klavier. Darauf habe ich voller Leidenschaft herumgeklimpert, wenn alle zu beschäftigt waren, um es mir zu verbieten. Auch der Tanzsaal war wunderschön. Meine Mutter war für mich zu dieser Zeit eine Königin in ihrem grünen Samtkleid. Es war tief ausgeschnitten und schimmerte im Licht. Vater neben ihr war wie immer piekfein im Anzug mit blank geputzten Schuhen. Was für ein schönes Paar die beiden waren! Kaum jemand im Ort konnte mit ihnen mithalten, das sah ich. Wir wuselten zwischen all den Menschen herum, die Tische deckten, Flaschen trugen, die Frauen mit kleinen weißen Schürzen, die Männer in dunklen Anzügen, wir immer darauf bedacht, den Ablauf nicht zu stören, um nicht verscheucht zu werden. Es war herrlich! Einmal trat Jonny Hill dort auf. Ich stand heimlich hinter der Bühne und lauschte: »Unsere Heimat ist der Ozean«, dabei stellte ich mir ein Schiff vor, das auf den Wellen schaukelte, mit dem ich einmal unterwegs sein würde. Wenn ich heute seine Lieder höre, denke ich daran, was für ein Glück ich hatte, dass mich weder Vater noch Mutter erwischten. Da hätte es kein Pardon gegeben, denn abends hatten wir dort nichts zu suchen. Wie es mir gelang, dennoch dort zu sein, habe ich vergessen, wie vieles. Die Kinderversorgung war durch die Arbeit der Eltern schwierig, aber dafür gab es ja die Wochenkindergärten. Dort war alles straff organisiert. Oft waren wir draußen und uns selbst überlassen. An diese Zeit habe ich mich lange nicht erinnern wollen. Trennung war immer ein Thema für mich. Noch Heute gibt es Situationen, in denen mich die Angst davor überfällt. Dann komme ich mir so verloren vor, dass ich kaum etwas zustande bringe. Ich habe mich lange lieber an den schönen Dingen festgehalten und die gab es! Vor dem Gebäudekomplex lag die reinste Sandwüste und teilweise wurden noch die Dächer geteert. Dieser Geruch hatte etwas Magisches für mich. Der Teer befand sich noch erwärmt in großen Fässern und glänzte. Ulrike und ich bauten begeistert Straßen damit, wollten Kugeln formen, was uns nicht gelang, aber einen Schnurrbart, wie der unseres Nachbarn, hatten wir beide. Ulrike fand die dunklen Haare unserer Mutter so schön und strich sich eine Handvoll von dieser Masse ins Haar. Mutter, die stolz auf unsere dichten Haare war, fing an zu weinen und zu toben, als sie uns sah. Stundenlang bearbeitete sie uns mit Butter. Vater nahm es gelassen, steckte uns in die Badewanne und schrubbte so lange, bis wir wieder sauber waren. Die schönste Zeit meiner Kindheit habe ich dort verbracht und nie hätte ich mir vorstellen können, dass sie so schlimm enden würde. Aber noch war es nicht soweit.
Damals hatte unsere Familie in der Stadt einen Namen, man kannte uns, sah und beobachtete uns. Vater war attraktiv, gebildet, er hatte Witz. Solche Menschen gab es im Braunkohlerevier, wo wir nun wohnten, nicht viele. Damals glaubte ich, er sei eine ungewöhnlich starke Persönlichkeit. Er hatte dieses Auftreten und gab jedem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Auch Mutter war überzeugt davon, dass wir etwas Besseres seien. Entsprechend mussten wir uns benehmen. Bloß nicht daneben! Keine Schimpfwörter! Dabei waren ihre Sprüche ja auch nicht ohne: »Man hat schon Kühe kotzen sehen« oder »Pfoten weg, wenn sie dir lieb sind« und viele, die ich vergessen habe. Aber nie habe ich sie nachlässig gekleidet gesehen, nie mit ungewaschenen Haaren oder mit Fingernägeln, die nicht makellos lackiert waren. Auch unsere Wohnung sah anders aus als die unserer Freunde. Wir hatten neue, modernere Möbel, Mutter schmückte die Zimmer mit Gestecken aus Blättern und Gräsern, in der Anbauwand standen Schalen und Nippes. An den wenigen Tagen, an denen wir Kinder zuhause waren, flanierte die ganze Familie herausgeputzt durch den Ort. Mutter in Klamotten, die sonst keine Frau dort trug. Wahrscheinlich fragte sich manch einer, der neidisch am Fenster stand, woher das alles kam. Dass wir unter den anderen herausstachen, das merkte ich schon als Kind.
Dass Vater sich nicht unterordnen konnte, wurde mir klar, je älter ich wurde. Nur seine Meinung galt. Was er sagte und wollte, das wurde gemacht. Widerspruch gab es nicht. »Der geborene Geschäftsmann«, nannte ihn die Mutter und blickte verliebt zu ihm auf. Dabei habe ich nie gesehen, dass sie sich an den Händen, im Arm hielten oder gar küssten. Zwischen ihnen gab es keine sichtbare körperliche Nähe, dabei lebte Vater mit jeder Faser seines Körpers. Immer war er auf den Beinen, immer aktiv. Er hatte die Gabe, Menschen sofort zu durchschauen. Von den einen wurde er deshalb geachtet, von den anderen nicht gemocht. So eine Gabe hätte die beste Voraussetzung für ein erfülltes, gutes Leben sein können! Das hätte sie doch! Aber ihm war es immer gleichgültig, was andere über ihn dachten. Er hatte nur ein Ziel. Er musste der Beste sein, das Optimum aus allem herausholen. Ein Materialist durch und durch war Vater. Status war das Einzige, was für ihn galt. Dem unterwarf er alles. Keine Ahnung, warum das so war! Wir Kinder wurden in die beste Garderobe gesteckt, zweimal im Jahr fuhren wir ans Meer oder in die hohe Tatra. Geld war dazu da, in Umlauf gebracht zu werden, um Wünsche zu erfüllen. Die gab es bei den Eltern in Hülle und Fülle, ein Fass ohne Boden. Vater liebte es, für Mutter Schmuck beim Juwelier anfertigen zu lassen, er kaufte ihr teure Kleider. Der Moskwitsch stand vor der Tür. Ich dachte damals nicht darüber nach, woher das alles kam, hatte keine Ahnung, was Vater und Mutter verdienten, was die Dinge kosteten. Ich sah nur, dass wir besser gekleidet waren, besser wohnten, bemerkte die Blicke der anderen und war stolz. Wer hatte zu dieser Zeit dort, wo wir lebten, schon ein Auto und fuhr damit durch die Gegend! Ich genoss es ahnungslos.
Als Sandra mir in einem Telefongespräch von ihrem Leben berichtete, blieb ich an dem Wort »Status« hängen wie früher an den Brombeerranken im Schrebergarten der Großtante, an denen ich mir das Kleid zerriss. Es gehörte ebenfalls zu unserem Vater, später auch zu meiner Schwester Marianne. Alle Kraft wurde darauf verwandt, etwas zum Vorzeigen zu haben, über jeden Verdacht, jeden Zweifel erhaben zu sein, den Konventionen zu genügen. Es war ein Leben, das mir immer suspekt war! Bei Vater gehörte das frisch gebügelte Hemd dazu, die Krawatte, die Anzughose aus gutem Stoff nach der Mode geschnitten, nicht zu vergessen die Manschettenknöpfe, die irgendwann als zu umständlich aussortiert wurden. Später auch der Kaschmirschal und die Boxershorts, ebenso wie das Haus in bester Lage mit dem gepflegten Vorgarten, dem Rosenbeet neben der Terrasse, dem Swimmingpool, auch wenn man bereits nach drei Schwimmzügen das Ende des blauen Ovals erreichte. Vom seinem Haus blickte man auf die Kleinstadt herab. Dort wurde nicht später als um neun gefrühstückt, die Frau im seidenen Morgenmantel, bereits mit roten Lippen, die Spuren auf der Stoffserviette hinterließen. Darum kümmerte sich Britta, wie auch sonst um alles, was Spuren hinterließ. Es gab Tee für ihn, nicht zu starken Kaffee für sie, die Wurstscheiben waren auf dem Zwiebelmuster von Hutschenreuther verteilt. Status bedeutete auch, vom Bankdirektor mit Handschlag und aufmerksamem Gesichtsausdruck begrüßt zu werden, sich im abgeschirmten Chefbüro Aktien empfehlen zu lassen. Nicht zu vergessen das Zweitauto, ein schnittiges Cabrio. Jeder in der Stadt kannte Vater und seine elegant gekleidete, hübsche Frau, deren Lachen etwas geziert klang. Er betrieb das Geschäft, in das man auch aus den Nachbardörfern kam, um seinen Kinderwagen und noch so manches mehr zu kaufen. Er bezahlte seine Angestellten gut und fragte nach ihren Kindern.
Als sein Sohn, noch nicht volljährig, 1954 auftauchte und um Hilfe bat, konnte er sich dem nicht entziehen. Was würden die Leute von ihm denken? Eine Kleinstadt mit ihren Eigenheiten und Grundsätzen! Wie sollten man dort, wo er selbst erst vor Kurzem angekommen war, verstehen, dass ihm dieser Sohn nicht nahestand? Dass er immer schon eigenartig gewesen war? Er suchte und fand eine Lösung, die man akzeptieren musste: Ein kleines Zimmer zur Untermiete in der Nähe des Geschäfts. Dort stand er selbst an der Kasse, begrüßte die schwangeren Frauen, beriet sie bei der Wahl eines Kinderwagens und der Erstausstattung für das Neugeborene. Alles mit viel Einfühlungsvermögen. Auch die Jungen und Mädchen, die sich bei den Fahrrädern umsahen und darauf hofften, das nötige Geld käme bei der Konfirmation zusammen, ließ er nicht unbeachtet. Diese Fahrräder montierte der Lehrling nun mit dem Sohn des Chefs in der Werkstatt. Nach Feierabend aber blieb er in der fremden Stadt allein, während der Vater und dessen Frau nach dem abendlichen Ritual der Kassenabrechnung in den Mercedes stiegen. Es ging, solange es gut ging, aber nicht lange. Als ich viel später davon hörte, stellte ich mir vor, wie Vaters schmales Gesicht sich verhärtet haben musste, seine Augen zu dunklen Punkten wurden, als er erfuhr, sein Sohn sei mit dem Schmuck der Vermieterin verschwunden. Solange ich ihn kannte, war das immer so gewesen, wenn etwas geschehen war, worauf er keinen Einfluss hatte. Auch wenn jemand anderer Meinung war und keines seiner Argumente überzeugte. Oft zog er sich dann mit einer Packung Heilerde in das Schlafzimmer zurück. Sein Niemandsland. Wenn er zurückkam, sprachen alle leise, fragten, ob es ihm besser gehe. Er hatte die Schlacht gewonnen. Ich hatte lange nicht mehr daran gedacht, konnte mich aber daran erinnern, wie ausgeliefert ich mich in diesen Situationen gefühlt hatte. Chancenlos! Jetzt suchte ich das Foto meines Bruders, das in einem der Kartons jahrzehntelang auch zu meiner Beruhigung geruht und nun einen Platz neben den anderen hatte. Wer ihn in diesem Zimmer zur Untermiete fotografiert hat, weiß ich nicht. Nur eine Glühbirne hängt über einem Stuhl, auf dem er sitzt und liest. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich ein kleines Fenster, aus dem man nicht nach draußen sehen kann. Eine Schnur mit Wäschestücken. So hatte mein Bruder 1954 gehaust. Was für ein Gegensatz zu Vaters Anwesen! Ich musste an sein Zimmer denken, als er noch bei uns wohnte, die ehemalige Abstellkammer. Da gab es wenigstens ein großes Fenster, das zum Hof ging. Dort hatte ich mit ihm gelegen, wenn Mutter schon bei der Arbeit war.
Es war an meinem siebten Geburtstag. Mein Tag! Schon auf dem Nachhauseweg von der Schule dachte ich an die kleine Familienfeier. Da wir keine Verwandten hatten, waren die Geburtstage auf Mutter, Vater und die drei Geschwister beschränkt. Ole, der Kleinste, war gerade ein Jahr alt. Wir hatten öfter nach Oma und Opa, nach Tanten und Onkeln gefragt, die alle Kinder im Ort vorweisen konnten und nach denen wir uns sehnten. Es kam immer die gleiche Antwort. Der Bruder der Mutter sei verschollen, ihre Eltern gestorben und die Eltern des Vaters bei dem Bombenangriff in ihrem Hotel umgekommen. Ich fand das traurig, wenn ich auch keine Vorstellung davon hatte, was verschollen bedeutete. »Nicht da«, hatte mir Armin erklärt. Aber es war auch spannend, schließlich hatten wir einen Opa und eine Oma, die ein Hotel besessen hatten. Solche Großeltern hatten meine Freunde nicht. Ich stellte es mir so groß vor wie das Schützenhaus, in dem Mutter und Vater arbeiteten, in dem immer etwas los war. Keinem von uns wäre es eingefallen, an diesen Antworten zu zweifeln. Lange nicht.
Völlig aus dem Häuschen stand ich nun daheim vor der Tür und klingelt. Endlich war es soweit, ich würde gefeiert werden. Die Wohnungstür ging auf und Mutters beste Freundin stand mit rotgeränderten Augen vor mir. Mutter saß im Wohnzimmer und heulte. Mit einem Schlag war die Freude weg, nichts war mehr wie vorher. Die Geburtstagsfreude war zerplatzt wie der Luftballon, den mir Armin am Morgen geschenkt hatte. Sie sagten, Vater sei krank und läge im Krankenhaus. Dann weinten beide. Das kann doch nicht sein, noch am Abend sah er aus wie immer. Hatte er vielleicht zu schwer getragen, die vielen Getränkekästen, niemand machte es ihm schnell genug. Manchmal ärgerte er sich fuchsig, weil jemand zu spät zur Arbeit erschienen war. Arbeit und Pünktlichkeit standen bei ihm an erster Stelle. Das verlangte er auch von uns. Wenn wir etwas zu erledigen hatten, duldete er keinen Aufschub. »Das Leben besteht nicht nur aus Vergnügen«, sagte er und ließ nicht locker. Nun war er also krank. Weg war die Freude: Keine Feier, nicht einmal Geschenke gab es! Dabei hatte ich fest damit gerechnet, dass ich das Rad bekäme. Denn Vater hatte mich mit seinem schiefen Lächeln angesehen und gesagt: »Abwarten!« Das hatte ich, doch nun wurde nichts daraus! Auch ich weinte jetzt und der Große, der mich schon oft getröstet hatte, war nicht da. Als es später hieß, Vater sei sehr krank und würde für lange Zeit nicht nach Hause kommen, da erschrak ich. Was, wenn er nicht wieder gesund wird? Dann sind wir mit der Mutter so allein wie der Vater, nachdem seine Eltern ums Leben gekommen waren. Das durfte auf keinen Fall sein. Ich wollte nicht mit der Mutter und den Geschwistern allein sein. Vor Angst um ihn, den ich zu dieser Zeit liebte und für den besten Vater der Welt hielt, war ich wie gelähmt.
Von diesem Tag an war mein Leben anders. Nie wieder habe ich etwas so genießen, mich so auf etwas freuen können. Viele Male habe ich gedacht, es geht ja doch schief, lass es lieber. Damals zählte ich die Tage, hoffte, dass Vater bald wiederkäme, machte Striche auf der letzten Seite meines Heftes, die Mutter herausriss, als sie es entdeckte. Es war schon fast eine ganze Seite voll gewesen, aber er war noch immer nicht wieder Zuhause. Mutter ging allein in die Gastwirtschaft. Jeden Abend um sechs verließ sie die Wohnung. Wie früher stand sie hinter der Bar. Wie immer lachte sie mit den Männern, warf ihnen Kusshände zu. Armin und ich blieben im Kinderzimmer. Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer waren verschlossen. Die Kleinen waren ja in der Wochenkrippe. Es war eine Zeit, die kein Ende nahm. Mein einziger Trost war Armin.
Ich war so alt wie Sandra, als Vater fortging. Das Leben wurde härter danach. Die bei der Scheidung vereinbarten und schon vorher unregelmäßigen Unterhaltszahlungen blieben nun ganz aus. Ost und West kommunizierten 1952 ebenso wenig miteinander, wie die Eltern es getan hatten, nachdem er aus dem Krieg zurückgekommen war. Welche Währung sollte auch gelten für die fünfzig Mark, die jedem Kind zustanden, nachdem die Ostmark 1948 eingeführt worden war? Noch wohnten wir in der großen Wohnung mit dem Wintergarten. Vater hatte sie ergattert, niemand wusste, um welchen Preis. Im zehn Meter langen Flur startete ich, vorbei an den vielen Türen, meine ersten Versuche auf Rollschuhen. Hinter mir bellend Ingo, der irische Setter, um dessen Liebe wir Kinder konkurrierten, bis er starb. Der, an dem mein Herz hing, dem ich meine kleinen Geheimnisse anvertraut hatte, war nicht mehr da. Er zog mich nicht mehr durch den Schnee, sprang nicht mehr an mir hoch, wenn ich aus der Schule kam, legte seine Schnauze nicht mehr auf meine Hand. Nur der Korb stand noch im Wintergarten. Bis Mutter ihn einer Nachbarin schenkte, hatte ich oft darin gesessen, gehofft, er käme zurück. Jetzt war auch der nicht mehr da. Der Hase, den Mutter mir zum Trost kaufte, weil ich nicht aufhören konnte zu weinen, ersetzte ihn mir nicht. Wenn ich über sein braunes Fell strich, war es einfach nicht dasselbe.
Die Hausbesitzerin im Männeranzug, das Käppi auf dem schwarzen, kurzgeschnittenen Haar, achtete streng darauf, dass wir nicht in den Garten gingen. Dort standen wir am Zaun. Dahinter wuchsen Erdbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren und andere Früchte, die ich nicht einmal beim Namen nennen konnte und noch nie gekostet hatte. Das Wasser lief uns im Mund zusammen, wir hatten ja noch immer Hunger. Es war eine Wohnung, wie ich sie später oft gesucht und doch nie wiedergefunden hatte. Heimlich waren wir aus dem Fenster des Wintergartens über die Teppichstange in den Hof geklettert, wenn Mutter nicht da war. Die Straße war voller Kinder, plötzlich existierten sie für mich. Die Tage verbrachten wir draußen, bestaunten die Pferde, sie standen schnaufend und ihre Mähne schüttelnd vor den Wagen mit den Eisblöcken, mit denen wir die Sachen kühlten. Wir sammelten Kastanien, sperrten Maikäfer in Dosen, kletterten in verlassenen Häusern herum. Es war eine bisher nicht gekannte Freiheit, ein aufregendes Leben, in das ich eintauchte. Auch wenn unsere fünf Zimmer nur neunzig Mark kosteten, die Preise waren auf Vorkriegsniveau eingefroren, Mutter wusste nicht, woher sie das Geld dafür nehmen sollte. Der Untermieter, für den wir zwei Zimmer räumten, bezahlte seinen Anteil. Trotzdem reichte es nicht und wir zogen aus. Mit uns der Esstisch und die Anrichte, in der das Geschirr und das Silberbesteck, Mutters ganzer Stolz, nach und nach immer weniger wurden. Nicht einmal das konnte sie hinüberretten aus der Zeit, in der es für sie so gut ausgesehen hatte. Sie mit Vater Arm in Arm, das Kind unter dem Hochzeitskleid noch nicht sichtbar. Jetzt ging alles auf dem Schwarzmarkt für Mehl und Graupen drauf.
Für mich veränderte sich das Leben mit der neuen Wohnung, in die wir gezogen waren. Sie lag in einem anderen Viertel. »So ein Abstieg«, sagte die Großmutter und schüttelte den Kopf. Der Flur war eng und dunkel. Das größte Zimmer gegenüber der Eingangstür, das Wohnzimmer, hatte einen Erker. Zu Weihnachten stand dort der Weihnachtsbaum mit bunten Fondantkringeln und silbrig glitzernden Vögeln, deren Schwänze bei der Wärme der Kerzen zu wippen begannen. Dort sagte ich mein Weihnachtsgedicht auf, dort sangen wir »Stille Nacht, heilige Nacht« und dachten schon ans Auspacken der Geschenke. Auf den Weihnachtstellern, sie stammten noch aus der Vorkriegszeit, schwebten Engel auf weißen Wolken. Darauf lagen Äpfel aus dem Garten der Großtante, aus Zucker gebrannte Bonbons, und später auch selbst gebackene Plätzchen. Aus den Fenstern dahinter sah man nicht wie vorher auf Grünflächen mit weit ausladenden Kastanien, unter denen wir uns die Zeit vertrieben hatten. Nun fiel der Blick auf eine Kneipe, in der ich von Zeit zu Zeit für Mutter in einem großen Glaskrug Malzbier holte. Hinter der Wand mit dem grünen Kachelofen lag unser Mädchenzimmer. Die zehn Quadratmeter beherbergten ein breites Schlafsofa für Marianne und mich, einen Tisch, einen Sessel und einen Kleiderschrank. Das Schlafzimmer war allein Mutters Revier. Niemand wusste, dass es auch zu meinem Reich wurde an den vielen Nachmittagen, an denen ich allein zuhause war. Dort saß ich stundenlang vor dem dreiteiligen Spiegel und schnitt Gesichter. Wütende, hochmütige, blasierte, drohende, traurige. War das wirklich alles ich und was würde passieren, wenn Mutter oder Vater mich so sähen? Ich war ziemlich sicher, Vater wäre schockiert und Mutter bekäme einen Lachanfall. In diesem Zimmer wuchs mein Wunsch, all diese Gesichter der Welt zugänglich zu machen und dafür mit Applaus belohnt zu werden. Damals in Mutters heiligem Refugium beschloss ich, Schauspielerin zu werden. Dann gab es noch die Küche, das Bad mit dem Holzbadeofen vor der Badewanne, in der einmal in der Woche gebadet wurde. Mehr Zimmer hatte die neue Wohnung nicht. Deshalb schlief der Bruder in der ehemaligen Abstellkammer. Dort war gerade Platz für sein Bett unter dem Fenster, davor ein Glasballon, in dem der Johannisbeerwein blubberte. Mutter ging morgens um sechs Uhr aus dem Haus und kam am Nachmittag zurück.
Es war kurz vor Weihnachten. Meine Mutter schickte mir per WhatsApp ein Foto mit vielen Menschen und der Bemerkung, das sei unsere neue Verwandtschaft. Ich dachte an einen Scherz, suchte auf dem Smartphone ein entsprechendes Zeichen und schickte es ab. Wenig später klingelte mein Telefon. Mutters Stimme schwankte zwischen Freude und Tränen, als sie erklärte, die Familie ihres verschollenen Bruders habe sich bei ihr gemeldet. Es sprudelte nur so aus ihr heraus, immer wieder war ihre Stimme von Tränen erstickt. Vier Kinder habe er in die Welt gesetzt, zwei Jungen und zwei Mädchen. Der Älteste sei im gleichen Jahr und beinahe am gleichen Tag wie ich geboren, 1963. Außerdem habe der Bruder ein recht langes Leben gehabt, er sei erst vor ein paar Jahren gestorben. Selten habe ich sie so außer sich erlebt. Außer sich vor Freude. Sie sprach von ihrem »größten Weihnachtsgeschenk«. Ich wusste zwar, dass es den Bruder gegeben und sie ihn nach dem Mauerfall vergeblich gesucht hatte, dass aber niemand wusste, was aus ihm geworden war. Außer ihr hatte ihn keiner in unserer Familie je erwähnt.