9783863348182.jpg

HEINZ RUDOLF

KUNZE

WENN MAN
VOM TEUFEL SPRICHT

200 ZEITGESCHICHTEN

INHALT

Vorwort von Oliver Kobold

Der Mensch oder sein Klischee

Es ist vorbei

Also ich finde

Terror in Nizza

Musik ist

Ich weiß einfach nicht, was es ist

Du bist nicht ich

Wolken

Was bastelt der da

Ich du er

Wohin ist ganz egal

Können und Wollen

Stehenzubleiben für immer

Dazwischen

Das ist doch zu einfach

Mein Leitstern

Die Nacht aushalten

Serienschauspieler

649

Armer Odysseus

Lisa mit a

Ich kenne dich nicht

Strandkörbe

Der Gekreuzigte

Treuepunkte

Der Pechbringer

Ich kann nicht mehr

Ich bin die Beatles

Über den Schatten

Totenschädel

Kopf aus Glas

Bartels Notizen

Die Barfüßler

Der Lampenschirm

Die Gemeinheit der Bücher

Deutsche Wurzeln

Schöne Grüße vom Schicksal

Sorgen um ihn

Die falschen Hände

Vom Leben

Leben und Sterben

Anstaltsleiter Richter

Ich vertrau dir

Immer allein

In den Himmel

Früher war alles viel früher

Jeder und jede

Junge Leute

Das Spiel ist vorbei

Mitleid mit Popkünstlern

Nicht mehr zusammen

Gedicht ohne Menschen

Thementage in der Küchenschlacht

Ich und Ich

Probesarg

Sterben ist nur ein kurzes Blinzeln

Hefte raus und Klassenarbeit

Mutter ohne Nase

Herr Bundeskanzlerin

Aufwachen – einschlafen – aufwachen

Schlimme Dinge

Tätigkeitsbericht

Nach Drehschluß

Herr Hut und die Rechtschreibung

Erlebnispark Alltag

Korrekturtaste

Das Volk der Leser

Der Unmut der Verzweiflung

Eine Regenschachtel

Auf Augenhöhe

Herr Hut und der Irrsinn

Sommer 1973

Zur Sprache gebracht

Veranstaltungshinweise

Lebensfeldweg

Schön, daß ich da bin

Diese Anhalterin

Ohne jedes Risiko

Geschnetzeltes

Nicht zu Deutschland

Sprachlos

Die Verhexung

Gerade eben

Vater, mach Licht

Die Bewerbung

Der große Schlagzeuger

Meine liebe Scholla

Mehr ist nicht vorgesehen

Neues Spiel, neues Unglück

Gar nicht

Frauen für Trump

Es klingelt

Das Bad im Meer

Während des Diktats verreist

Die schlimmste Geschichte der Welt

Marcel Proust weiß es auch nicht

Der Schall der Platten

Kleine Welt was nun

Eltern

Alles muß neu sein

Gegend und Heimat

Freundchen

Wie wollen wir leben

Das wird schön

Einsiedlerkrebse

Nichts gegen Spanier

Unter dem Gewicht der Lügen

Armes Kind

Lackierte Nägel

Nieder mit den Abweichlerinnen

Übermorgen ist Weltuntergang

Weil man vernünftig ist

Einigen wir uns so

Das kann schon passieren

Donald und Brett

Im Glashaus

Unfertig

Schlimm kommen

Schluß sein

Ich bin ein Star

Der Rücktritt

Die Lebenden und die Toten

Lieber Photograph

Gott hat Humor

Verkrachte Existenz

Gregor Sumsum

Einspruch abgewiesen

Sprachen verstehen

Das Böse

Liebe für immer

Ihr Kapitän

Das Geschlechtliche

Diese wunderbare Krankheit

Suchen und Finden

Der Urknall und der Negerkuß

Arschloch Freiheit

Delmenhorst

Volle Deckung Spielverderber

Wiederholung ist Veränderung

Auch nur Menschen

Moloch

Ausgewechselt – eingewechselt

Hallo Dekadenz

Fehlerkultur

Meine Waage

Die Indianer

Alle wollen weg

Falls

Schönen Dank auch

Das gibt mir was

Der Güterzug des Grauens

Heute bin ich dankbar

Fallende Würfel

An jeden, der mir nahesteht

Ismen

Listige Innerlichkeit

Meine Zwangsvorstellung

Gesinnungsvegetarier

Hitler TV

Das Problem mit der Wahrheit

Werdet Elite!

Härter durchgreifen

Danke, Rudolf

Das Glück ist

In Teufels Küche

Brillenputztuch

Plötzlich

Supergau(di) im Kabinett

Doppelspitze

Mein unsichtbarer Super-Adler

Durchgestrichen

Soulfuck

Herr Seelenverkäufer

In der verbleibenden Zeit

Immer Nazi

Musiker auf Partys

Mephisto

Der schlafende Hund

Überall Mitte, sonst nichts

Unschädlich machen!

Das ist Demokratie

Schmierenkomödie

Dein Gedanke sein

Ich langweile mich

Sag deinen Satz

Zuwachs-Raten

Wir sind die Menschen

Zum letzten Mal glücklich

Hase und Igel

’ne andere Zeit

VORWORT

Wenn man vom Teufel spricht, dann … ja, was eigentlich? Dann kommt er? Aber er ist doch längst schon da. Beileibe nicht als „man of wealth and taste“, sondern als der, der er immer war. Nach dem Rauswurf aus Eden übernahm Mephisto. Diabolisch, nichts anderes meint das griechische Wort, handelt, wer die Dinge durcheinandergeraten lässt, die Tatsachen leugnet, die Wahrheit beugt. „Gott fragte: Wo kommst du her? Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Ich habe die Erde hin und her durchzogen.“ Was er dabei gesehen hat, dürfte ihm gefallen haben. Heinz Rudolf Kunze nennt es „die unendliche Beerdigung namens Gegenwart“, und in diesen Texten ist er ihr Chronist. Kein nüchtern-bilanzierender allerdings. Die Zeiten sind nicht danach, den Rädern gelassen beim Rollen zuzusehen.

Worum geht es? Ums Spucken von Gift und Galle. Ums Beschimpfen, Klagen, Haare-Raufen. Ums Deuten auf den Verfall, häufig in lustvoller Drastik, manchmal aber auch einfach nur fassungslos. Die umschreibenden Bezeichnungen für den Teufel, früher noch wirksamer Abwehrzauber, funktionieren mittlerweile so umstandslos wie Klarnamen, heißen Trump oder AfD.

Worum geht es? Ums Spucken von Gift und Galle. Ums Beschimpfen, Klagen, Haare-Raufen. Ums Deuten auf den Verfall, häufig in lustvoller Drastik, manchmal aber auch einfach nur fassungslos. Die umschreibenden Bezeichnungen für den Teufel, früher noch wirksamer Abwehrzauber, funktionieren mittlerweile so umstandslos wie Klarnamen, heißen Trump oder AfD.

Kunze verschriftet die Gegenwart. Er kehrt den Sprachschutt, der sich zum Himmel türmt, zusammen und macht aus ihm Collagen des alltäglichen Irrsinns. „Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete“ (Adorno) oder: Willkommen im Erlebnispark Alltag – Terror, Hetze, Dummheit, Unfähigkeit, Verrohung, Sprachverhunzung, Trash-TV, Gesamtschulwetter und die Irrwege politischer Korrektheit inklusive.

Freilich bleibt es nicht beim bloßen Abbild. Das Gefundene wird mit Subjektivität aufgeladen und dadurch verwandelt. Dem Ich, das in diesen Texten laut wird, steht ein ganzes Arsenal an Formen zur Verfügung, wenn es darum geht, den Stoff zu bändigen. Der Gattungsbezeichnung zum Trotz: Es sind eben nicht nur Zeitgeschichten. Neben sie tritt Gereimtes, in Strophen und Rhythmus Gebrachtes und kühn Gesetztes, mithin lyrisches Sprechen, mithin Zeitgedichte.

Penibel ist dabei jedem Text der Tag seiner Entstehung mitgegeben. Im Datum findet das in Sprache Gefasste seine Signatur, gibt sich zu erkennen als zugehörig zu einem ganz bestimmten Tag. Das könnte zum nachforschenden Blick in den Kalender verleiten. Warum entstand wann was? Doch wird man dem konkreten Schreibanlass wohl nur selten auf die Spur kommen. Viel gewonnen wäre dadurch ohnehin nicht. Es bliebe ein Lesen, das die Macht poetischen Verschiebens und Verfremdens verkennte. Literatur hat ihre eigene Zeit und ihr eigenes Recht oder sie ist keine. Nur Banausen ficht das nicht an. Die werden wie je Zeilen aus allem Zusammenhang reißen, sie als Beute präsentieren und dabei entweder „Jawohl!“ oder „Verrat!“ krakeelen, je nachdem, wie es ihnen in ihren trüben, abgestandenen, weltanschaulichen Kram passt.

Lange schon haben Kunzes Bücher den Charakter von Lied-Sammlungen abgelegt. Wer in ihnen Songtexte sucht, wird nicht mehr fündig. Und doch hat sich dadurch die Engführung beider Ausdrucksformen nicht erledigt. Platten und Bücher verweisen aufeinander, ergänzen sich und funktionieren als wechselseitiger Kommentar, ohne dabei jedoch ihre Unabhängigkeit preiszugeben. Fast könnte man von einem Gesamtwerk sprechen, von einem Textgeflecht auf alle Fälle. In ihm rückt das Ferne plötzlich wieder nah, erläutert das Neue ein Früher, das wiederum die Zukunft bereits vorweggenommen hat. Kein Kunze-Hörer, der beim Lesen von „Gegend und Heimat“ nicht an den Song „Vertriebener“ von 1985 denkt. Und „Lisa mit a“ evoziert das (fast) gleichnamige Lied von Kunzes erstem Live-Album und bestätigt so, dass all die Zeit tatsächlich noch etwas unerledigt geblieben ist. Dass das mit Lisa eben doch Liebe war. Von Cohen besungene, von Nietzsche bespöttelte, wunderbare, unerfüllte Liebe.

So einige der in diesem Buch enthaltenen Texte wurden in den vergangenen Jahren schon vor Publikum vorgetragen. Keineswegs sind sie als bloße Einleitung, als schnöde Ansage gar zum im Konzert jeweils folgenden Lied misszuverstehen. Stattdessen verhalfen sie ihm zu mehr und häufig auch zu anderer Bedeutung – und umgekehrt. So wenn bei den vorerst letzten Auftritten mit Band die Verwünschungsorgie „Gar nicht“ den Doo Wop des anschließenden „Komm mit mir“ fast schon hörbar machte. Oder der Song „Der Vogel, der nach Süden zieht“ durch das vorausgeschickte „Sprachen verstehen“ ins Hoffnungsvolle gewendet wurde. Und auf einmal hielt man es doch wieder für möglich, dass es einen Aufschub geben kann. Dass der Winter und das Vergessen noch etwas auf sich warten lassen.

Kunzes Schreiben kann als bannendes begriffen werden. Indem es dem Schrecken nicht ausweicht, hält es ihn stets um ein Winziges in Schach. Gerade in der Absage an alle Patentrezepte zur Weltenrettung deutet es auf das, was fehlt. Der Utopie, alles könne sich noch fügen, wird die Treue gehalten. So werden Texte, poetische zumal, zum „Abwehrkampf gegen die Bestialität“, so bieten sie der „Zernichtung die Stirn“.

In den Lücken, die der Teufel lässt – schon Alexander Kluge wusste das –, wohnen die Menschen und tun, was sie können, um Antworten auf die alten, die großen Fragen zu finden: das Leben, die Liebe, das Altern, den Tod. Ihnen sind einige der ergreifendsten Texte dieses Buches gewidmet. Etwa die gar nicht so sachliche Romanze „Das Bad im Meer“. Oder das Vergänglichkeits-Schwarzbild „Die Nacht aushalten“. „Lebensfeldweg“ spricht gar von den allerletzten Dingen: Am Ende der einem zugedachten Zeit wird der Horizont nur noch kriechend erreicht.

Aber davor, immer wieder, „momenthafte Wärmeschübe von Glück“. Ein Licht, das von weit her kommt und die Dinge in ihrer Schönheit erst sichtbar macht. Snapshots des fraglosen Gelingens, auch das sind diese Texte. Manchmal wird die Wand, hinter der man ausgeharrt hat, gläsern, und es kommt zu der Begegnung, nach der man sich lange gesehnt hat.

Im vergangenen Jahr hat Kunze einhundert Songs von Bruce Springsteen ins Deutsche übertragen, darunter auch „This Hard Land“. Dessen Schlusszeilen „Stay hard, stay hungry, stay alive“ tauchen nun noch einmal auf, ins Eigene gewendet. Als Version mit Brille. Der Glaube an die deutende, oft auch heilende Kraft der Literatur hört niemals auf: „Seid klug. Seid belesen. Seid gelassen.“ Vielleicht hat der Teufel doch nicht die besten Lieder.

Oliver Kobold

DER MENSCH
ODER SEIN KLISCHEE

Na los
na komm

mach das was man erwartet
na los

come on
get ready and get started

mach den lustigen Bimbo mit den rollenden Augen
mach die brunzdumme Schlampe wo nur die Titten was taugen

mach den reuigen Sünder aus der tiefbraunen Szene
den zerrütteten Junkie mit dem Pieker in der Vene

na komm
na los

sei schrill und kurios

Mach den gläubigen Sozi mit dem Anspruch auf Kanzler
mach den Obdachlosen vor Berlins Café Kranzler

mach die Leseratte auf der Frankfurter Messe
mach den Poetry Slammer mit der hackdummen Fresse

na los
na komm

frisch frei und bloß nicht fromm

Mach den Innenminister auf dem rechten Auge blind
mach das überhaupt gar nicht erziehbare Kind

mach den tatternden knatternden notgeilen Greis
mach uns allen was vor und den meisten was weis

wir wollen nichts verstehen
wir wollen Lügen sehen

mach die mickrige Mutter die im Haushalt versauert
mach den neureichen Dödel der die Armen bedauert

mach den piefigen Pastor mit der Selbstfindungsgruppe
mach den Heizdeckenschwindler mit der Frührentnertruppe

Mach das Öko-Mädchen mit null Bock auf Schule
mach den Dönerbuden-Macho mit voll Haß auf Schwule

mach das was man erwartet
get ready and get started

come on
na los

dann ist der Jubel groß

Mach den Schweinepriester mit der Hand im Ferkel
mach den Hoffnungsträger für das Amt von Merkel

mach den Klimaleugner und den Haßpropheten
mach den Unfallgaffer und den Schlagerproleten

Die giftigste Frage auf der ganzen Welt
die sich einfach immer wieder stellt

lautet: Was tut eigentlich richtig weh
ist es der Mensch oder sein Klischee

es ist wohl der Mensch in dem das Böse keimt

mit dem er seinesgleichen leimt heimtückisch zynisch abgefeimt
der Mensch auf den sich nach wie vor

im Deutschen nicht ein einziges Wörtchen reimt

20.06.2019

ES IST VORBEI

Es wird nie wieder gedacht werden
empfunden gespürt gefühlt werden

geschrieben komponiert gemalt gezeichnet gebildhauert werden
wie früher

es ist vorbei
und es wird auch nicht anders besser werden

sondern nur immer so weiter schlechter als es schon ist
es ist aus und vorbei mit allem was gut war

und es wird auch nie wieder geliebt werden
von gefickt ganz zu schweigen

es wird nie wieder getrunken geraucht getanzt und gefeiert werden
wie früher

aus dem einfachen Grund
daß ich zu alt dafür bin

die ganze Welt geht unaufhaltsam
beharrlich Schritt für Schritt den Bach runter

und keine andere Welt geht ihn rauf
es gibt nur die eine

meine
es gibt keine Hoffnung

nur abnehmenden Spaß
schwindende Begeisterung

verblassende Lebenslust
Erlöschen

Verfunzeln
Verdorren

Vermickern
Verkümmern

die Sekunden fressen an mir wie Termiten

die Tage schleifen mich ab wie die Nordsee die norwegische Küste
es ist vorbei

es ist wie es ist und es ist vorbei
aus und hinüber gelaufen gestorben

schon jetzt
zu Lebzeiten

Nochlebzeiten Dahinvegetierzeiten
man sieht wie es ist

man weiß wie es kommt
und man ahnt wie es war

denn mehr ist es nicht nur eine leise
immer leiser werdende Ahnung

denn das was war schreibt sich definitiv ohne H
soviel ist sicher mehr aber auch nicht

in absehbarer Zeit wird der Vorhang fallen
und dich unter sich begraben

und niemand da um sich zu fragen
wo der überhaupt befestigt war

in dieser großen Leere

07.07.2016

ALSO ICH FINDE

Also ich finde da muß man doch irgendwas tun
Dinge wie diese die läßt man nicht auf sich beruh’n

Dinge wie diese die fordern uns alle heraus
Taten gefragt und nicht Worte so sieht es doch aus

Also ich finde so langsam mir reißt die Geduld
bald ist der Zeitpunkt erreicht da wird Warten zur Schuld

jeder der wegschaut gefährdet die Demokratie

nein die ist nicht selbstverständlich das war sie noch nie

Also ich finde wir hauen jetzt hart auf den Tisch
Gleichgültigkeit paßt zu uns wie das Fahrrad zum Fisch

jeder von uns hat doch sicherlich schon mal gedacht:
Wann haben wir die entscheidenden Fehler gemacht

Wann und warum genau fuhr unser Traum vor die Wand
änderte vieles sich doch nur das Falsche im Land

haben wir unsere Kinder so gründlich versaut
daß man sie kaum nach der Uhrzeit zu fragen sich traut

Früher da gab es im Osten den Schwarzen Kanal
westlich davon den verhetzenden Rick Löwenthal

da war die Welt noch in Ordnung die Sache war klar
vollkommen logisch wofür und wogegen man war

Heute ist alles voll Zwielicht wohin wir auch schau’n
Hit der Saison ist die gräuliche Tarnfarbe Braun

unsere Zukunft wird gar nicht politisch korrekt
wenn sich bewahrheitet was in der Gegenwart steckt

Sinn wird vergeudet verschwendet verschenkt
lächerlich wird an den Pranger gestellt wer noch denkt

Abschaum ist Maßstab der Pöbel allein triumphiert
bald ist der letzte Politiker volltätowiert

Nur zwischen Pest und der Cholera wird noch gewählt
nur noch betrogen wird wer sich zur Wahlurne quält

ehe die Sintflut kommt wird er noch ruhiggestellt
Werbegeschenke sind teuer – was kostet die Welt

Reden ist Dummheit und Schweigen ist auch ziemlich blöd
wirklich ich frag mich wie lange das hier noch so geht

Trottel regieren Idioten und andersherum
längst ist schon Nachspielzeit – auch die ist irgendwann um

Also ich finde es Zeit daß man Farbe bekennt
daß man das Kind mit dem Bade beim Vornamen nennt

deswegen sage ich deutlich und laut jetzt und hier:
Hallo Herr Ober ich hätte gern noch so ein Bier

08.07.2016

TERROR IN NIZZA

Wohin nur könnten wir denn gehen
um nicht so hoffnungslos zu sein

die Trauer läßt uns Monstren sehen
wie Nägel wachsen sie uns ein

Und ohne jeden Rat zu wissen
ertragen wir den nächsten Tag

von fast gewohntem Schmerz gebissen
wie Kreisel einst vom Peitschenschlag

Das Herz verlangt nach blinder Rache
wie neunmalklug bremst der Verstand

das Richten sei nicht unsre Sache
der Anspruch fordert allerhand

Man sieht die Opfer blutig liegen
vom Zufall zynisch ausgesucht

bestialisch tönt der Feind vom Siegen
in Ewigkeit sei er verflucht

Ich will hier keine Gnade kennen
ich will daß es die Hölle gibt

ich will was Feind ist auch so nennen
und nicht daß ihn ein Herrgott liebt

Vertilgt gehören Kreaturen
auf deren Stirnen Morden steht

verwischt für immer ihre Spuren
egal ob ihr das anders seht

Schon morgen scheint’s wie ein Versehen
wir schicken uns vergessend drein

wohin nur könnten wir denn gehen
um nicht so hoffnungslos zu sein

16.07.2016

MUSIK IST

Musik ist der Versuch
mit bloßen Händen einen Strumpf zu stopfen

Musik ist das Bedürfnis
seinem Hund Rosinen in den Kopf zu stecken

Musik ist sehr sehr wichtig

Musik ist eine Kältewallung
ist das Gefühl kurz vor der Ziellinie umkehren zu müssen

und den Lauf von vorn zu beginnen
ist wie ein langweiliger Film über Architektur

bei dem man trotzdem nicht wegschauen kann

Musik ist sehr wichtig
außerordentlich wichtig

vielleicht ist es auch gar nicht Musik
sondern Sexualität

aber egal

Es ist das was
durch das Gitter der Sterne tropft

das was Flocken bildet
Muster im Sand

Konfessionen

Mein Gott ich weiß ja nicht was ich rede
aber genau das

ist Musik
nicht wahr

genau das

Musik ist das was die Zunge
zu einem Geschlechtsteil macht

und die Fußsohle zu einem Denkorgan
ist das was man hinterher ahnt

ohne schlauer geworden zu sein

Und es kann nicht sein
es kann einfach nicht sein

daß es keine Musik gäbe
ohne den Menschen

das ist unmöglich

Es gäbe Musik
auch ohne den Menschen

das ist so gewiß
das ist so sicher wie das Erröten

Gottes

24.07.2016

ICH WEISS EINFACH NICHT, WAS ES IST

Ich weiß nicht, was es ist. Ist es Angst? Ist es Langeweile? Keine Ahnung. Ein blinder Photograph fährt mich zur Bank. Ich soll den Scheck der Ehefrau einlösen, mit dem sie den Entführern ihres Gatten danken will. Ich mache das gern, wenn ich helfen kann. Aber dennoch mit diesem Gefühl im Bauch, von dem ich nicht weiß, was es ist.

Ein Bad wäre schön. Ein feiges, unentschlossenes, lauwarmes Bad. Jetzt, hier im Auto, das mit hundertachtzig Sachen auf dem Mittelstreifen balanciert. Alle kennen dieses Gefühl. Man spricht nicht gern darüber. Aber oft, wenn wir es finden, werden wir es nicht gefunden haben. Und wenn wir es nicht gefunden haben werden, wird es zu spät sein. Ist es jetzt so weit, unwiderruflich, daß dieses Ding in der Hose nur noch zum Pinkeln taugt? Und selbst das nur bedingt. Und hauptsächlich nachts.

„Kann schon sein“, grinst der blinde Photograph. „Bitte recht freundlich, aber ohne zu lächeln. Stell dir einfach vor, du bist ein Entführer.“

Ich weiß nicht, was es ist, und fühle mich eher wie der Entführte. Und ich schäme mich so, weil so viele Engländer schlechte Zähne hatten nach dem letzten Krieg, denn es gab keine Orangen, sagt der blonde, nein, der blinde Photograph, der aus London stammt. Und schuld daran waren irgendwie wir Deutschen. Also an den Orangen, beziehungsweise an den keinen Orangen. Nicht daran, daß er aus London stammt. Und am meisten schäme ich mich, weil ich gar keine Orangen mag, nie mochte und nie mögen werde.

Vielleicht ist es das.

27.08.2016

DU BIST NICHT ICH

Du bist der Jäger, der loszieht, um ein Reh zu schießen, und heimkehrt mit einem Tiger. Du bist der Prediger, der glaubt, nur einen Größeren anzukündigen. Doch deine Hörer wissen: Du bist es selbst. Du bist das Prickeln auf der Haut beim Anblick einer nackten jungen Frau, die nichts zu befürchten, nichts zu erdulden, nichts zu bereuen hat. Du bist genau das, was ich suche. Du bist nicht ich.

Du bist der Käpt’n in der Südsee, der sich die Meuterei zu eigen macht und anführt. Du bist der Einsiedler im Packeis, der, wenn er seinen Fluchtpunkt verlassen würde, der mächtigste Mann der Welt sein könnte. Du bist alles das, was ich ersehne. Du bist nicht ich.

Du bist der Slide-Gitarrist, der Robert Johnson, Elmore James und Brian Jones vergessen läßt und den Blues neu über die Erde ausgießt. Wie einen Heiligen Geist. Du weißt, wie man die Lebensform der Familie ins nächste Jahrtausend retten kann. Wie man Warzen bespricht und wie die europäische Idee nicht sterben müßte. Du bringst jeden Terroristen zum Lachen. Du bist genau das, was ich brauche. Das, was wir alle brauchen. Du bist nicht ich.

Du würdest niemals eine Rasierklinge an den Himmel halten, denn die Wolken könnten Blut verlieren. Und du würdest niemals bezweifeln, daß selbst das kleinste Ding auf der Welt einen Namen hat und eigentlich verdient, daß man ihn kennt und nennt. Eine Aufgabe, die das Menschenmögliche übersteigt. So wie alles Wertvolle. So wie du, der ich nicht bin. Denn ich bin nur der, der ich bin.

01.09.2016

WOLKEN

Wolken sehen aus wie Kontrabässe,
waagerecht ins Himmelblau gelegt …

allerdings statt braun von fahler Blässe,
und dazu ein bißchen ungepflegt.

Oder wie historische Gesichter,
die man nicht recht unterbringen kann:

„Ist das ein Gelehrter? Oder Dichter?
Mensch, woher bloß kenn ich diesen Mann?“

Wind kommt auf. Und mit ihm seine Eile,
fratzenartig wird das Konterfei,

karikiert sind alle Einzelteile,
das Aha-Erlebnis ist vorbei - - -

Manche Wolke weigert sich zu gaukeln,
will nichts andres sein als Wolke bloß –

weigert sich die Schaukel, uns zu schaukeln,
gibt die Phantasie ihr einen Stoß!

Und wir sehen Mumien und mitunter
eine schöne unverhüllte Frau …

nur bei Tage machen Wolken munter.
In der Nacht sind alle Wolken grau.

04.09.2016

WAS BASTELT DER DA

Was bastelt der da
was wird da gebaut

geklopft und gehämmert
mal leise mal laut

was bastelt der da
was wird hier gespielt

der will uns doch foppen
bewußt und gezielt

ein Schuppen im Garten
gleich hinter dem Haus

kein einziges Fenster
sieht unheimlich aus

da werkelt er heimlich
bis tief in die Nacht

was geht da bloß vor sich
was wird da gemacht

was bastelt der da
also wirklich ich denke

bestimmt nichts für Ostern
oder Weihnachtsgeschenke

was bastelt der da
aus Eisen und Stahl

was führt der im Schilde
zum Teufel noch mal

noch niemand war drinnen
er läßt keinen rein

wie soll man bei sowas
nicht mißtrauisch sein

nach außen hin wirkt er
normal und mausgrau

hat anderthalb Kinder
eine häßliche Frau

fährt morgens zur Arbeit
kommt pünktlich zurück

perfekt ist die Tarnung
ein ganz fieses Stück

was bastelt der da
was hat der im Sinn

wenn keiner ihn aufhält
sind wir irgendwann hin

jetzt kommt er herüber
und er klopft an die Tür

keinen Mucks halt die Luft an
wir sind einfach nicht hier

Ach Sie öffnen den Schuppen?
Ach Sie laden uns ein?

Ja wo denken Sie hin!
Unsre Antwort ist Nein!

was bastelt der da
was bastelt der da …

07.09.2016

ICH DU ER

Du bist der einzige Mensch
zu dem ich Ich sage

zu mir sage ich Er
und zum Rest sag ich sie

großgeschrieben Sie
oder kleingeschrieben sie

aber du bist der einzige Mensch
zu dem ich Ich sage

so gut kennen wir mich
da ist er sich ganz sicher

und du bist es mir auch
wenn du aufgerufen wirst beim Jüngsten Gericht

als Zeugin oder Angeklagte
dann wirst du mit Ich antworten

also mit ihm
und der Höchste Richter wird wissen

wer gemeint ist
und er wird dich freisprechen von jeder Anklage

und er wird dich entbinden von jeder Zeugenpflicht
und er wird es dir überlassen

ob du aus völlig freien Stücken
etwas aussagen möchtest über ihn

der Höchste Richter wird es ganz in deine Hand legen
ob du ihn belastest

oder ob du ihn entschuldigst
und er ist sich absolut sicher

daß das der Moment sein wird wo du sagen wirst:
Ich liebe ihn

ihn der von sich selbst
immer nur als Er sprach

und von diesem Augenblick an
werde ich endlich Du sagen können und sagen:

Ja
ich liebe dich auch

16.09.2016

WOHIN IST GANZ EGAL

Also laß uns gehen, Liebste, es ist unsres Bleibens nicht länger hier. Fast scheint es so, als wären wir niemals willkommen gewesen. Als hätten wir nur etwas mißverstanden.

Lange haben wir ausgeharrt, Liebste. Auf Zeichen gewartet. Menetekel. Orakel. Aber nichts, einfach gar nichts geschah. Ich habe um dich mit den Gauklern gewürfelt. Schneeweiße ausgeschlagene Zähne rumpelten im Becher. Und du hast um mich mit den Weibern getanzt, nachts an den Feuern, bis es Fußsohlen sengte und Haare. Nicht immer haben wir einander gewonnen. Nicht immer unsere Namen behalten. Das nahmen wir hin, aber kaum je zur Kenntnis.

Doch jetzt ist es Zeit, daß wir gehen, mein Goldstück. Die Schausteller falten die Buden zusammen. Der hagere Norbert läßt die Luft aus der Geisterbahn. Die einbeinige Mechthild fischt die Geldscheine aus ihrem Straps. Und der Himmel ist grau von der Asche der Flammen.

Wie man es wendet und dreht, meine Liebste, vorbei ist der Rummel. Runtergerissen der letzte Schleier. Der Zauber hat sich entmummt. Sie packen zusammen und gehen. Und keiner, Liebste, keiner von ihnen wird es nötig finden, sich nur ein einziges Mal umzudrehen zu uns beiden. Auch wir sollten sehen, daß wir Land gewinnen. Irgendwo Boden unter den Füßen. Wo man uns braucht. Wo man uns wahrnimmt. Wo man sich etwas von uns erhofft.

Wir haben ja so viel gestaunt, meine Liebste. Wir waren die dankbarsten Zuschauer, die sich ein drittklassig lustiger Tölpel nur vorstellen kann. Sie haben es uns nicht gedankt. Das Ganze war ein Irrtum, Liebste. Und zwar ganz unsererseits. Sie haben getan, was sie mußten. Wir haben getan, was wir wollten. Und gelassen, was wir sollten.

Laß uns aufbrechen, Liebste. Nutzen wir die letzte Chance, auf die es keine Garantien gibt. Und wenn sie kommt, kein Umtauschrecht. Es dämmert schon. Die dunkelste Stunde ist vorbei. Laß uns balancieren auf dem ersten Sonnenstrahl. Egal wohin. Nur weg von hier. Wohin ist ganz egal.

17.09.2016

KÖNNEN UND WOLLEN

Früher wollten wir, daß der Spaß zur Pflicht wird. Heute wollen wir, daß die Pflicht Spaß macht.

Früher schlugen wir uns den Bauch voll und hatten keinen. Heute haben wir den Salat und haben einen.

Früher näherten wir uns schockierend der Schallgrenze und waren Fußball-Ultras. Heute nähert sich uns der Vertrauensarzt mit der Glitschcreme und dem Kolben der Ultraschalluntersuchung, der aussieht wie ein Elektroschocker.

Früher stellten wir uns die Nachrichtensprecherinnen nackt vor. Heute sehen wir keine Nachrichten mehr.

Früher war die Selbstbefriedigung ein warmes Gefühl in der rechten Hand. Heute lassen wir sie kühl links liegen.

Früher waren wir überzeugt von jedem Wetter. Heute haben wir immer den Verdacht, daß der Sonnenschein trügt und daß das Blaue am Himmel gelogen ist.

Früher schnupften wir den Schnee, als gäbe es kein Morgen. Heute ist er der von gestern.

Früher waren wir hinterher völlig hin. Heute sind wir schon vorher meistens weg. Und dabei immer diese fast schon schmerzhafte Gewißheit, daß es gerade die Löcher in unserem Gedächtnis sind, in denen sich etwas Drittes verbirgt, das den Unterschied ausmachen könnte zwischen früher und heute auf der einen Seite und etwas ganz anderem.

Eigentlich möchte man fließend rückwärts sprechen können, um sich all das Entschwundene wiederzuholen. Herbeizubeschwören. Ach, man würde freudigen Herzens alles dafür hergeben, um das wenige zurückzubekommen, das so viel mehr war als alles, was sich danach zu einem sogenannten Leben auftürmte. Dieses Leben, das uns das Können schon weitgehend genommen hat und nun hart daran arbeitet, uns auch noch das Wollen zu nehmen.

Willkommen bei der unendlichen Beerdigung namens Gegenwart. Nicht zu verwechseln mit der Beerdigung des Unendlichen namens Zukunft.

06.10.2016

STEHENZUBLEIBEN FÜR IMMER

Den einen Satz
noch nicht gefunden,

an dem zu feilen tagelang
Flaubert

der Mühe wert erachtete.

Weder seinen
noch meinen.

Gleich und sogar weniger gleich
Altrige bereits gestorben –

Wegbereiter dort,
wo nichts

und niemand mehr
ein Verb benötigt.

Wieder und wieder der Wunsch,
wieder und wieder wild entschlossen

stehenzubleiben für immer
bei Grün.

04.11.2016

DAZWISCHEN

Meine besten Mitteilungen sind die, die ich nie abgeschickt, sondern gelöscht, zerrissen, weggeworfen habe. Meine allerbesten Mitteilungen sind die, die ich überhaupt nicht schrieb. Und das Allerallerbeste ist: Ich habe überhaupt noch niemals an Mitteilungen gedacht.

Auf diese und nur auf diese Weise kommt man der Wahrheit nahe. Der Wesentlichkeit oder meinetwegen dem Stadium der Heiligkeit. Es ist fragil. Es ist instabil. Es ist in seiner Existenz weitaus gefährdeter als eine Seifenblase im Sturm. Und erreichbar nur im Aggregatszustand des Ungedachten, ja des Undenkbaren.

Das Leben im Zitat, sagt Thomas Mann, ist eine Form der Freiheit. Das Existieren in einer hellen bewußten sich selbst genügenden Leere, sage ich, und ich glaube, Leonard Cohen hätte dazu genickt, ist die einzig mögliche Form einer Reflexion des dunklen Spiegels des Göttlichen.

Derartige Überlegungen mögen viele für schwer verständlich halten. Für verstiegen. Für obskur. Sie sind es auch. Aber wenn es uns gelingt, dies alles nun Wort für Wort, Silbe für Silbe, rückwärts umzustoßen wie Dominosteine, bis es unsichtbar wird, unhörbar, unlesbar, wenn auch nicht ungeschehen, dann könnte dies ein Hinweis sein, wie man zur Einsicht gelangt. In die Akten der Unendlichkeit.

Denn man muß hinaufsteigen auf einer Leiter, angelehnt an nirgendwas. Denn nirgendwas ist nicht nichts. Auch nicht das Gegenteil. Sondern irgendwas dazwischen.

11.11.2016