Roman
Aus dem Englischen von
Werner Löcher-Lawrence
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»Doggerland« bei 4th Estate, London.
© Ben Smith 2019
© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2020
Alle Rechte vorbehalten
Covermotiv: Russ Dixon / Arcangel
Covergestaltung: BuchHaus Robert Gigler, München
eISBN 978-3-95438-120-3
Für Lucy
Schnürsenkel
Nichts
Risse
Müll
8200 Jahre vor der Gegenwart
Eine Pelzmütze
Etwas
Dosen
Flaschen
20 000 Jahre vor der Gegenwart
Knoten
Kreisläufe
Systeme
14 000 Jahre vor der Gegenwart
Abwärts
Hoch
11 000 Jahre vor der Gegenwart
Pappbecher
Fisch
Westliche Winde
9 500 Jahre vor der Gegenwart
Östliche Winde
Risse
8 500 Jahre vor der Gegenwart
Nichts
Staub
Im Jahr null
Nichts. Nichts. Nichts. Stopp. Am vierten Haken von oben ein dunkler Umriss. Der Junge holte die Schnur nicht weiter ein und setzte sich auf seine Fersen. Das Meer war heute nicht sehr hoch, und es waren mehr als drei Meter bis ins Wasser. Der Junge sah, wie sich der Umriss im Grau streckte und bog.
»Ein komischer Fisch«, sagte er ins Nichts.
Der Wind kam von Westen, beständig, zehn, elf Meter pro Sekunde dem Gefühl nach, heulte durch Rohre und Roste der Plattform und fächerte das Wasser zu harten Kämmen auf. Die Nordsee schob sich von Horizont zu Horizont, wie eine Plane, die über unebenen Grund gezogen wurde. Sie wirkte träge, doch unter der Oberfläche zerrten und drängten die Strömungen. Es war schwer vorstellbar, wie viele Tonnen da jede Minute, jede Sekunde vorbeibefördert wurden.
Der Junge sicherte die Schnur am Geländer, zog sie ein Stück höher und ließ los. Ruckte nach links und nach rechts, doch der Haken saß fest. Er würde sie herausziehen müssen. Er ruckte noch einmal. Es war schwer, was immer es sein mochte. Er konnte nur hoffen, dass die Schnur nicht riss. Es hatte gedauert, ein solches Stück zusammenzubekommen. Wie lange? Monate? Jahre? Er sah zum Horizont, als hätte der eine Antwort für ihn, konnte aber nicht mal das Grau des Meeres vom Grau des Himmels unterscheiden. Es war eine gute Schnur. Darum allein ging es. Hundert Meilen von der Küste entfernt war es nicht leicht, eine gute Schnur zu bekommen.
Gab es überhaupt noch richtige Angelschnur? Eine Böe arbeitete sich durch die Nähte seines Overalls. Wen konnte er fragen? Der alte Mann würde es nicht wissen. Wusste es sicher nicht. Und sonst war keiner hier draußen.
Er stand auf, stellte die Füße schulterbreit auseinander und zog sich die Ärmel über die Hände. Bewegte die Hände langsam und hielt den Rest des Körpers ganz ruhig, als versuchte er sich gegen die Bewegung von See und Himmel zu stemmen. Seine Füße standen fast einen Meter weit auseinander, seine Ärmel reichten kaum über die breiten, schwieligen Hände. Natürlich war der Junge kein Junge mehr, so wie der alte Mann gar nicht so alt war. Aber Bezeichnungen sind relativ, und hier draußen im Grau war eine gewisse Unterscheidung notwendig.
Er ergriff die Schnur, benutzte das Geländer als Drehpunkt und begann sie aus dem Wasser zu ziehen. Sowie das Gewicht an die Oberfläche kam, spannte sich die Schnur und schnitt durch seine Ärmel. Er hielt einen Moment inne, ließ den Wind dem Schmerz die Spitze nehmen und zog weiter, bis der vierte Haken auf Höhe des Geländers war. Er beugte sich hinüber.
Ein Haufen Müll, wie immer – eine schmierige, stinkende Masse aus Netz und Plastik, aus der das Wasser troff. Das Ganze hatte sich zu einem dichten Klumpen verbunden, zusammen mit einer Ölkanne, Styroporfetzen und etwas, das aussah wie ein Stück verbrannte Türfüllung.
Der Junge zurrte die Schnur fest, richtete sich auf und blies sich in die Hände. »Ein guter Fang«, sagte er.
Neben ihm wuchs die dicke, stählerne Stütze zwanzig Meter zur eigentlichen Plattform auf, über deren gedrungener, rechteckiger Silhouette die Rotorblätter des nächsten Windrads langsam durch den ausgewaschenen Himmel schnitten. Überall, in jeder Richtung, drehten sich die Rotoren des Windparks.
Die Schnur drehte sich ebenfalls, langsam, zehn Mal in die eine Richtung, Pause, zehn Mal in die andere. Der Junge legte sich auf den Bauch, streckte den Arm aus und hielt das Netz, bis es ruhig dahing.
Rund um ihn breiteten sich die Felder des Parks aus, Reihe um Reihe von Windrädern, wie merkwürdige Nutzpflanzen. Aus der Ferne sahen sie alle gleich aus, aus der Nähe jedoch waren sie voller unterschiedlicher dunkler Flecken und Rostkrusten. Öl und Schmierfett leckten aus ihnen heraus und krochen dem Salzfraß entgegen, der sich von unten hocharbeitete, was komplexe Stalaktiten- und Stalagmiten-Muster hervorbrachte. Einige der Räder neigten sich leicht zur Seite, die Fundamente zerfielen, lösten sich im Schlick. Wo einzelne Rotorblätter fehlten, fuhren die verbliebenen Glieder ruckartig im Kreis. Andere Windräder hatten gar keine Rotoren und Maschinenhäuser mehr, es standen nur noch die Türme, Zeugen des fortschreitenden Verfalls. Opfer der Stürme.
Er versuchte bis zu der Stelle vorzufühlen, wo sein Haken festsaß. In das Netz waren Gewichte und Schwimmer eingeflochten, Gräser hingen heraus, die aber, wie der Junge wusste, keine Gräser, sondern schwarze Plastikstreifen waren. Seit einiger Zeit fand er sie überall im Park. Er schob die Hand weiter vor und stieß auf den Haken, zog ein Messer aus der Tasche und begann das Netz aufzuschneiden, Strang um Strang, bis es wieder ins Wasser fiel und nur noch der Haken samt dem Objekt, in dem er festsaß, zurückblieb.
Es war ein Stiefel, schwarz, ein Arbeitsstiefel der Firma, genau wie er sie hatte. Nur, dass seine dunkel und weich waren. Er putzte und pflegte sie regelmäßig, und der hier war steif von Salz, ausgeblichen und rissig, als wäre er aus rauem Stein gehauen.
Er griff danach, drehte ihn langsam und sah hinein. Der Schnürsenkel hatte sich gelöst, und der Stiefel war leer, was eine Erleichterung war. Er hatte schon einmal einen Stiefel gefunden, der durch den Park trieb und noch fest zugeschnürt war. Wann war das gewesen? Unten im Süden. Ein brauner, spitzer Stiefel. Leder und Inhalt waren zerkratzt und zerpickt. Das mussten Vögel gewesen sein. Und Fische.
Der Junge steckte das Messer zurück in die Tasche und holte eine alte Digitaluhr hervor. Das Band und ein Knopf fehlten, und wenn er auf die Anzeige drückte, breitete sich Feuchtigkeit über die Ziffern. Viertel nach fünf. Er hob den Blick zum Himmel und sah, vielleicht, im Westen eine etwas hellere Stelle in den Wolken. Wenn er die Augen schloss, erschien sie auch innen auf seinen Lidern.
Der Wind zerrte an der Plattform. Manchmal klang er dünn und hohl, manchmal dröhnte er wie eine massive Wand, die nicht an ihrem Hindernis vorbeikam. Die Schnur ruckte. Die Windräder stöhnten und surrten. Der Junge hielt immer noch den Stiefel in der Hand. Die Sohle war glatt und sauber gewaschen: Das Meer säuberte die Dinge, machte sie anonym.
»Wo kommst du her?«, sagte er. Seine Stimme war kaum hörbar über dem Rauschen von Wind und Rotoren. Was wohl das Beste war. So eine dumme Frage. Er redete mit einem Stiefel.
Die Strömungen, die den Park durchzogen, kamen aus den Ozeanen, kreisten durch die Nordsee und brachten Müll und Abfall von sämtlichen Küsten mit. An manchen Tagen trieben Schwaden einer glänzenden Flüssigkeit auf dem Wasser, an anderen Plastiktütenschwärme und Flaschen, die wie bauchige, Licht suchende Kreaturen aus der Tiefe heraufdrangen. Der Junge fand Sperrmauerteile und verblichene Kleidung, die brüchigen Gehäuse elektrischer Geräte. Er hatte Möbel und Hölzer gesehen, die sich so ineinander verkeilt hatten, dass sie wie provisorische Flöße aussahen. Und einmal ein ganzes Haus, das aus seiner Verankerung gerissen worden war; schräg an seinen Schwimmtanks hängend, trieb es durch den Park.
Tage, Monate, Jahreszeiten zogen lose und unbestimmt mit dem Treibgut vorüber. Manchmal fühlte es sich kälter an, und es gab mehr Stürme, manchmal hob eine Springflut das Wasser näher unter die Plattform. Aber kalt war es immer, und Stürme gab es auch immer. Jetzt war Frühling, laut dem Computer oben. Er sah auf seine Uhr. Immer noch Viertel nach fünf.
Er steckte sie weg und löste den Stiefel vorsichtig vom Haken. Kam vom Bauch hoch, setzte sich, zog die Knie als Windschutz an die Brust und hielt den Stiefel vor sich in die Höhe. Er konnte von überallher stammen. Sogar aus dem Park selbst. Jemand hatte ihn verloren, und er war in einen der Wirbel geraten, die den Park durchzogen. Die alles fingen, was dahintrieb, und es nicht wieder losließen. Vielleicht kreiste er schon seit Jahren um die Windräder und die Ränder der Plattform.
Der Stiefel hatte seine Größe. Wem er auch gehört hatte, der Mann musste in etwa seine Größe, seinen Körperbau haben. Der Wind drückte, und die Haut auf seinem Rücken zog sich zusammen. Was, wenn …? Aber er erlaubte sich nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Es hatte keinen Sinn, das alles durchzuspielen.
Er hielt den Stiefel über das Wasser. Wenn er ihn losließ, konnte er in weniger als einer Minute verschwunden sein. In einem Tag den Park hinter sich gelassen haben. In ein paar Wochen irgendwo an eine Küste gespült werden oder nach Norden treiben, immer weiter und über den Pol.
Aber vielleicht kam er auch nirgendwohin. Vielleicht blieb er und kreiste weiter durch den Park. Vielleicht prüfte der Junge eines Tages seine Schnur, und da war er wieder, etwas rissiger, etwas bleicher, aber derselbe alte Stiefel. Und er würde ihn herausziehen, losmachen und die gleichen alten Gedanken denken, die gleichen alten Fragen stellen. Die immer noch dumme Fragen wären. Er würde immer noch mit einem Stiefel reden.
Er sah auf das Wasser hinaus und wickelte den Schnürsenkel um seine Finger. Er war salzverkrustet und hatte Dellen, wo er verknotet gewesen war. Langsam zog er ihn aus den steifen Ösen, rollte ihn auf und steckte ihn in die Tasche. Dann streckte er den Arm aus und ließ den Stiefel über den Rand der Plattform fallen. Sah zu, wie er in die Wellen tauchte und einen Moment innehielt, als rufe er sich seinen Weg ins Gedächtnis, bevor er nach Osten ins Grau trieb.
»Ahoi, Captain Cod«, sagte der alte Mann, Greil, auf seinem Stuhl hängend, die Füße oben neben den Monitoren. Er machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu wenden. Der Junge hatte versucht, leise am Kontrollraum vorbeizugehen, blieb jetzt aber in der Tür stehen. »Was schleichst du hier herum?«, sagte der alte Mann.
Der Junge antwortete nicht.
»Ich habe dich gesehen.« Der alte Mann richtete einen Fuß auf einen der Monitore. »Ich sehe alles aus meinem Horst hier. Ich bin allwissend.« Seine Hand unterstrich das. Sie hielt eine Emailletasse, in der ein brutal riechendes Sekret schwappte.
»Was ist das?«, fragte der Junge und trat in den Raum.
»Mein Bester. Nichts für deinen unqualifizierten Gaumen. Nicht seit deiner letzten Kritik.« Der alte Mann drehte sich mit seinem Stuhl zu ihm. Seine Wangen waren lilagrau angelaufen, wie von einer Flamme verfärbtes Metall. Über die Knöchel seiner Hand mit der Tasse zogen sich tiefe Falten.
Unmöglich zu sagen, wie alt der alte Mann wirklich war. Sein Haar war noch dunkel und zu einem festen Helm zurückgekämmt, wie mit der Mennige, die sie früher draußen gegen den Rost benutzt hatten. Dafür schienen seine Augen alle Farbe verloren zu haben. Der Junge war sicher, dass sie mal blau gewesen waren, aber wie alles andere im Park schienen sie über die Jahre von Wind und Wetter ausgeblichen zu sein. Der alte Mann war klein, viel kleiner als der Junge, bewegte sich jedoch, als hätte er eine weit größere Masse zu tragen. Seine Ellbogen und Knie stießen immer an Stellen an, wo der Junge bequem durchkam. So still, wie er im Moment dasaß, wirkte er gebrechlich. Bis er sich vorbeugte, den Hals reckte und dem Knacken der Wirbel lauschte.
»Und welchen reichen Fang willst du heute nicht teilen?«, sagte er.
Der Junge zog den Schnürsenkel aus der Tasche und hielt ihn in die Höhe. Auf seinem Handrücken war ein Ölfleck, der wie eine kaputte Leiter aussah, eine kaputte Gierachse oder auch ein kaputtes Röhrensystem. Auf jeden Fall kaputt. »Von der Firma«, sagte er.
»Die Firma.« Der alte Mann seufzte. »Aber klar.« Er hob seinen Fuß. »Was für Schnürsenkel sind in meinen Stiefeln?« Er wartete, dass der Junge ihm antwortete, aber es hatte keinen Sinn, ihm zu antworten. »Was für Schnürsenkel sind in deinen Stiefeln?« Wieder eine Pause. »Was für Schnürsenkel sind in den Stiefeln von jedem Einzelnen, der irgendwas mit diesem Meer zu tun hat?« Die ganze Zeit über starrte er den Jungen an. Der alte Mann konnte das minutenlang, ohne zu blinzeln. Es war eine seiner »sozialen Kompetenzen«.
Der Junge sah an ihm vorbei auf die Monitore. Die ganze Plattform war zu sehen, mit allen Gängen und Winkeln. Wie die Windungen einer Platine. Die Bildschirme schalteten von Raum zu Raum. Die Kantine mit ihrem langen Stahltisch, an dem zwanzig Leute Platz hatten, die Schränke voller ungenutzter Töpfe, Besteck und Kochutensilien. Auf der Arbeitsfläche standen zwei leere Dosen, in der Spüle zwei Schüsseln, zwei Gabeln und ein stumpfer Dosenöffner. Dann die leeren Schlafräume, der riesige »Besprechungsbereich« und der Freizeitraum mit dem schiefen Billardtisch und dem einzigen Fenster der Plattform, schmal und salzgeschliffen, das sich über die äußere Wand erstreckte.
Die Monitore flackerten zur Trafostation, die eine ganze Ebene der Plattform einnahm. Die Röhren der selbst gebauten Destille des alten Mannes schlängelten sich ins Dunkel. Und wieder hinunter zum Dock mit seinen schweren Toren vor der Fläche ruhigen Wassers. Bis auf das auf die Helling gezogene Wartungsboot, das an der Ladeanlage hing, war das Dock leer.
Die Monitore schalteten zu den Kameras auf den Betriebsebenen der Plattform, die Bilder körnig wie eingetrockneter Kitt. Auch oben auf dem Dach hatte es eine Kamera gegeben, aber die war wie der aufgerissene Hubschrauberlandeplatz und der Großteil der Antennen und Satellitenschüsseln mittlerweile defekt.
Und von den Betriebsebenen der Plattform zu den Feldern – über sechstausend in riesigen Formationen angeordnete Windräder. Es gab kein Stück Horizont ohne Räder, keinen Hinweis auf eine Grenze oder einen Raum jenseits der peitschenden Luft. Auf jedem Kamerabild stand zumindest ein Rad still und widersetzte sich der allgemeinen Bewegung. Im Moment waren es im gesamten Park etwa achthundertfünfzig und noch mehr mit Fehlfunktionen. Schwer, das genau zu sagen, aber der Junge versuchte den Überblick zu behalten. Es war ihr Job, sie zu reparieren.
Nicht, dass sie viel hätten tun können. Mit den zur Verfügung stehenden Werkzeugen und Ersatzteilen konnten sie nur einfache Reparaturen vornehmen. Kleinere Übersetzungsräder austauschen, Risse schweißen, Mechanik schmieren, Kabel ersetzen. Immer öfter bestand ihre einzige Option darin, ein Rad komplett stillzulegen, die Rotorblätter aus dem Wind zu drehen, zu arretieren und das ganze Ding dem Rost zu überlassen.
Der Windpark lieferte neunundfünfzig Prozent Leistung. Manchmal mehr, manchmal weniger. Manchmal kamen mit dem vierteljährlichen Versorgungsschiff neue Ersatzteile, meist jedoch nicht. Manchmal suchte sich der Junge ein Rad aus und fuhr allein immer wieder hin, bis es repariert war. Einmal hatte er zehn Tage an einem gewerkelt und sich Schritt für Schritt durch sämtliche Komponenten gearbeitet. Es war fast überall etwas zu tun gewesen, vom Maschinenraum bis zum Generator. Aber als er das Ding endlich wieder in Gang gesetzt hatte und das System überprüfte, stellte sich heraus, dass das Kabel, mit dem das Rad mit dem Netz des Parks verbunden war, irgendwo unten auf dem Meeresgrund gerissen sein musste. Offenbar hatte der alte Mann es seit Tagen gewusst, dem Jungen aber nicht den Spaß verderben wollen.
Die Monitore bewegten sich von Feld zu Feld. Die Bilder waren farbig, doch das Meer schlug in Grautönen gegen die Türme.
Der alte Mann sah den Jungen, dann den Schnürsenkel, dann wieder den Jungen an. »Guter Fang«, sagte er.
Der Junge hielt den Blick auf die Monitore gerichtet. Das Meer peitschte immer weiter. »Was denkst du, woher er stammt?«, sagte er.
Der alte Mann blinzelte. »Wer?«
»Der Stiefel. Das Netz war …«
»Welches Netz?«
»Er hatte sich in einem Netz verheddert.«
»Du hast nichts von einem Netz gesagt.«
»Es war nichts Besonderes.«
»Du hast nichts darüber gesagt.«
Der Junge legte den Schnürsenkel in seiner Hand zusammen. »Nur ein Netz. Mit Schwimmern und Gewichten …«
»Gewichten.« Der alte Mann zerkaute das Wort, lehnte sich zurück und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Was für Gewichte?«
»Ich weiß nicht.«
»Hast du nicht nachgesehen?«
»Nein.«
»Wahrscheinlich waren es Ziegel.«
»Nicht der Form nach.«
»Aber du hast nicht nachgesehen?«
»Nein.«
Der alte Mann nickte langsam. »Wahrscheinlich waren es Ziegel.«
Die Monitore wechselten von der Kantine zum Freizeitraum und wieder zur Kantine. »Ich würde nie Ziegel nehmen«, sagte der alte Mann.
»Okay«, sagte der Junge.
»Okay?« Der alte Mann lehnte sich vor und klopfte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Das Gehirn einschalten. Wo sollte ich hier draußen Ziegel herbekommen?«
»Ich habe nicht gesagt, dass du hier welche finden würdest.«
»Ich würde keine finden.«
»Ich weiß.«
»Genau.« Der alte Mann hob den Finger und drehte seinen Stuhl wieder zu den Monitoren.
Das Junge roch das Salz des Schnürsenkels, es klebte ihm auf der Haut. Salz hatte einen ganz eigenen Geruch: durchdringend, metallisch, dabei aber manchmal fast pflanzlich, als wäre es ein Lebewesen und kein erodiertes und im Meer gelöstes Mineral. Der alte Mann schwor, es rieche nicht, doch für den Jungen war es überall, scharf und brackig. Entweder das, oder er musste sich besser waschen. Er versuchte sich an die Textur irgendeiner anderen Substanz zu erinnern, Sand, Matsch, Erde – landete aber immer wieder bei der sauber geschrubbten Sohle des Stiefels. »Ich musste nur gerade daran denken …«
Der Stuhl des alten Mannes quietschte, als er erneut damit herumfuhr. »Zahnräder«, sagte er.
»Was?«
»Und zwar schwere. Das sind die besten Gewichte.«
Der Junge überlegte einen Moment lang. »Genau. Es waren Zahnräder.«
»Was?«
»Am Netz. So sahen sie aus.«
»An welchem Netz?«
»Dem Netz«, sagte der Junge. »Von dem wir gerade gesprochen haben.«
Der alte Mann verengte die Augen. »Du hast gesagt, es waren Ziegel.«
»Nein, das hast du gesagt.«
Der alte Mann fasste unter den Tisch und holte einen eckigen Behälter mit einem kleinen Hahn in einer Ecke hervor. Er füllte seine Tasse. Ein Geruch irgendwo zwischen Rostlöser und Generatoren-Kühlflüssigkeit erfüllte den Raum. »Woher hätte ich das wissen sollen?«, sagte er. »Ich habe sie ja nicht mal gesehen.«
Einer der Monitore zeigte nichts als eine Kameralinse voller Gischt. Die Gischt floss herunter und sammelte sich in der Ecke des Bildschirms. Tropfen für Tropfen für Tropfen.
»Es muss doch von irgendwoher stammen«, sagte der Junge.
Der alte Mann hielt mit der Tasse auf halbem Weg zum Mund inne und sah den Jungen über sie hinweg an. »Von irgendwoher?«
»Ich meine …«
»Er kann von überallher sein«, sagte der alte Mann.
»Von überallher?«
»Es war nichts als Klote, reiner Dreck.«
»Ich weiß, aber …«
»Nichts als Klote.«
»Aber denkst du nicht …«
»Denken!« Der alte Mann ruckte mit der Hand in Richtung der Monitore, und etwas von seinem Drink schwappte auf den Tisch. »Was soll da Denken helfen?« Er knallte die Tasse hin und wischte mit dem Ärmel über den Tisch. »Es war nur ein Stiefel. Der hat verdammt noch mal gar nichts mit ihm zu tun.«
Dem Jungen verschnürte es die Brust. Ganz still stand er da, hob die Hand und rieb sich die Backe.
»Du siehst genau wie er aus, wenn du das machst«, sagte der alte Mann.
Der Junge ließ die Hand sinken. Er hörte sein Herz in den Ohren pochen. Oder waren es die Wellen, die tief unten gegen die Stützen der Plattform schlugen? Er steckte den Schnürsenkel in die Tasche und ging hinaus auf den Gang.
»Jem.«
Der Junge blieb stehen und drehte sich halb um. Monatelang benutzten sie ihre Namen nicht, und wenn sie es taten, wirkten sie wahllos und unbestimmt, als könnten sie auf alles passen – ein Werkzeug, ein Maschinenteil, oder etwas, das gerade durch den Park getrieben kam.
»Was willst du mit dem Schnürsenkel machen?« Der alte Mann sprach leise. In seinen Augen spiegelte sich das blasse Licht der Monitore.
»Noch einen Haken an meine Schnur binden.«
Der alte Mann hob seine Tasse. »Und wir laben uns wie Könige an den Früchten des Meeres.« Er trank und schauderte.
Der Junge stand in der Tür. »Denkst du, da unten gibt es was?«
Der alte Mann lehnte sich zurück und hielt seine Tasse mit beiden Händen umfasst. »Da unten gibt es jede Menge.«
»Ich meine …« Aber es war zu spät. Gleich würde der alte Mann »ein ganzes Land, ein ganzer Kontinent« sagen.
»Ein ganzes Land, ein ganzer Kontinent.«
Der Junge drückte die Stirn gegen den Türrahmen. »Ja, ich weiß.«
»Genau hier, direkt unter uns. Vor Tausenden von Jahren war das alles Land.«
»Ich weiß.«
Der alte Mann schloss die Augen. »Mit Flüssen, Wäldern, weiten Ebenen. Dörfern, Feuerstellen …«
Der Junge ging den Gang hinunter, bis die Stimme des alten Mannes vom Knarzen und Murmeln der Plattform geschluckt wurde.
Er stand unter der Uhr an der Wand seines Zimmers. Sie zeigte Mittag an, oder Mitternacht. Das Ticken hallte durch den stillen, leeren Raum. Er zog seine Digitaluhr aus der Tasche. Er hatte gerade die Batteriekontakte gesäubert, und sie zeigte 03:30.
Die Punkte zwischen den Ziffern blinkten im Sekundentakt. Er betrachtete sie genau und lauerte auf die kleinste Verzögerung, auf irgendeinen Fehler im Mechanismus, aber die Schläge kamen stetig und gleichmäßig. Er sah genau eine Minute lang zu, holte dann einen winzigen Schraubenzieher aus der Tasche und steckte ihn in ein Loch in der hinteren Abdeckung. Die Anzeige wechselte zu 00:00.
Er setzte sich auf sein Bett, das wie alles andere im Zimmer an die Wand geschraubt war und aus grau lackiertem Metall bestand. Sein Zimmer, obwohl wenig darauf hindeutete. Unter dem Waschbecken befand sich ein Zehn-Liter-Behälter mit Reinigungsflüssigkeit zum Entfetten von Getrieben oder um ein Bootsdeck zu schrubben. Daneben stand ein Eimer mit einem Putzlappen. Die einzige Farbe kam von den verblichenen Rücken dreier zerlesener technischer Handbücher in einer Nische unter dem Nachtschrank. Davon abgesehen, sah das Zimmer genauso aus wie bei seiner Ankunft im Park.
Er erinnerte sich, wie er dem alten Mann vom Dock aus durch die Gänge gefolgt war. An den Geruch von Schmierfett und Rost. Das Geräusch der Ventilatoren. Den hohlen Klang seiner Stiefel auf Metall. Der alte Mann hatte ihn in dieses Zimmer geführt, und dann hatten sie schweigend dagestanden, der Junge beim Bett, der alte Mann in der Tür, und beide blickten auf den kleinen Stapel Habseligkeiten, den der Junge mitgebracht hatte: seine Firmen-Kleidung, seine Firmen-Ausrüstung, seine Firmen-Uhr. Der alte Mann räusperte sich, zeigte auf das Waschbecken, den Schrank, die Schubladen und räusperte sich wieder. Der Junge hielt den Blick auf die Säume seiner Leuchtjacke und seines Overalls gerichtet. Alles war ordentlich und genau zusammengelegt. Als er wieder aufsah, war der alte Mann gegangen.
Der Junge hatte sich auf die Matratze gelegt und an die Decke gestarrt. Es schien, als wiegte sie sich. Sie stampfte und schwankte, und er schloss die Augen und glaubte fast schon, den alten Mann zurückkommen zu hören, seine Schritte vor der Tür. Doch niemand kam herein. Die Matratze hatte sich hart und knubblig unter seinen Schultern angefühlt. Er erinnerte sich an die Art, wie er sich hinlegen musste, um einschlafen zu können. Jetzt war sie glatt und durchgelegen. Sie hatte sich seinem Körper angepasst.
Was der einzige Hinweis darauf war, wie lange er schon hier draußen war. Wie lange er schon Windräder reparierte, seine Schnur ins Wasser hinunterließ und die immer gleichen Gespräche mit dem alten Mann führte. Wie lange es her war, dass er losgeschickt worden war, um den Vertrag seines Vaters zu übernehmen.
Manchmal versuchte er, an sein Leben vor dem Park zurückzudenken, an seine Überfahrt hierher, die letzten Momente an Land, aber seine Erinnerungen waren schemenhaft und unbestimmt, wie wenn die Windräder bei stürmischem Wetter so viel Gischt aufwirbelten, dass alle Kanten und Konturen verschwanden.
Er sah wieder auf die Uhr. Sie wich bereits eine Minute von der an der Wand ab.
Er stand auf und ging hinunter zum Kontrollraum, vermied automatisch die losen Bodenplatten, duckte sich unter den stümperhaft neu verlegten Lüftungsrohren hindurch und ließ die dritte Stufe der Treppe aus, die mit einer klaren, klebrigen Substanz bedeckt war. Der alte Mann verteilte sie darauf, seit Langem schon, seit der Junge versucht hatte, mit ihm über das Sauberhalten der Plattform zu sprechen. Der Gedanke war, dass der Junge hineintrat und dann selbst überall schmutzige Fußabdrücke hinterließ. Das war bisher noch nie geschehen, dennoch frischte der alte Mann die Substanz alle paar Tage auf, und der Junge stieg darüber hinweg. Beide fanden es langweilig und ermüdend, aber es füllte ein Stück Zeit aus.
Der Junge trat in die Tür zum Kontrollraum. »Wie viel Uhr ist es?«, fragte er.
Der alte Mann hatte seine Füße auf dem Tisch. Er zuckte mit den Schultern. »Das System ist wieder abgestürzt.«
»Das ist es doch heute Morgen schon.«
»Jetzt wieder.«
»Hast du was von deinem Gebräu reingeschüttet?«
»Das ist mir erst einmal passiert.« Der Prozessor grummelte und greinte, und der alte Mann betätigte mit der Ferse eine Taste seiner Tastatur. »Nicht mein Fehler, wenn es keinen Schnaps verträgt.«
Der Junge wartete in der Tür, während der Computer wieder hochfuhr. »Was sagt die Zeit?«
Der alte Mann seufzte und drehte einen der Monitore mit dem Fuß zu sich. »Viertel nach fünf.«
»Viertel nach fünf?«
Der alte Mann zuckte wieder mit den Schultern.
Die Luft im Turm war brackig und feucht, das Licht genauso merkwürdig gelb wie eine Wolke, bevor sie zu Eisregen wird.
Der Junge und der alte Mann standen eng beieinander, jedoch ohne sich zu berühren im schmalen Wartungsaufzug des Windrads, die Werkzeugtasche zwischen sich. Der alte Mann drückte einen Knopf, und sie ruckelten in die Höhe. Es war still, jedenfalls so still, wie es im Park sein konnte. Da waren immer das Meer und das langsame Pulsieren der Rotoren und Generatoren, dazu der Wind, der seine rauen Fasern durch alles trieb.
Sie fuhren höher, und die Geräusche wurden lauter. Es waren hundert Meter vom Gerüst bis zum Maschinenraum, und auf dieser Distanz stieg die Stärke des Windes so sehr, dass er durch jedes Gelenk und jede Niete drang, zwischen Turm und Maschinenraum, Maschinenraum und Nabe, Nabe und Getriebe. Den ganzen Tag spürte der Junge, wie die Böen auf das Metall trafen, und die Vibration drang ,ihm durch Füße und Hände bis in die Brusthöhle, dass es schien, als klopfte da sein eigener Puls an die Außenwände und wollte herein.
»Dicke Scheiben Rinderfilet«, sagte der alte Mann. »Englisch. Mit Bratensaft.«
Der Junge sah ihn an. »Englisch?«
»Blutig.«
Der Junge zählte die Sektionen des Turms, während sie an den Schweißnähten vorbeikamen. »Ich weiß.« Jedes Mal zählte er die Sektionen, obwohl die Türme alle gleich waren – aus riesigen Metallzylindern bestanden sie, die wie Dosen übereinandergestapelt waren.
Die Aufzugtüren öffneten sich, und der Junge nahm die Werkzeugtasche und folgte dem alten Mann auf die Brücke hinaus. Sie blieben am Fuß der Leiter stehen und sahen zur Luke hinauf. Sie war zugerostet.
»Eine Quiche«, sagte der alte Mann. »Eine Käse-Zwiebel-Quiche.« Seit einer Woche ging das jetzt schon so. Das Versorgungsschiff war überfällig, und ihnen gingen die Lebensmittel aus.
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Was?«, sagte der alte Mann.
»Ich weiß nicht.«
»Du weißt nicht, was das ist, oder du weißt nicht, ob du eine essen willst?«
»Was ist der Unterschied?« Der Junge stellte die Tasche neben den Fuß der Leiter und sah hinauf zum schuppigen Rost.
Jeden Tag sagte ihnen das automatische Instandhaltungssystem des Parks, was getan und repariert werden musste. Der Computer auf der Plattform erstellte einen Bericht, nannte die Windradnummern, ihre Position und worin das Problem bestand. Die alten technischen Handbücher beschrieben das System als intelligent. Es richtete nicht nur die Windräder aus, sondern kontrollierte auch die Leistung, verlangsamte die Generatoren, damit sie nicht überhitzten, und änderte die Einstellwinkel der Rotorblätter, wenn der Wind zu stark wurde. Es war darauf ausgelegt, das Wartungspersonal nur dann zu alarmieren, wenn etwas kaputt war, die Fälle nach Wichtigkeit geordnet, mitsamt Diagnose, und es teilte sogar mit, was sie an Werkzeugen mitnehmen sollten.
Der Junge fragte sich oft, ob es je so funktioniert hatte. Nach Jahren zahlloser Berichte war das System am Ende. Es meldete ein Problem mit dem Getriebe, und tatsächlich war es der Nachführungsmotor, es zeigte an, dass der Generator nicht richtig arbeitete, obwohl die Blattwinkeleinstellung eingerostet war. Mitunter schickte es sie auch zum falschen Windrad, und sie mussten herausfinden, welches denn nun defekt war. Und so folgten sie der Liste wie dem Geschwafel von jemandem, der langsam den Verstand verlor.
Dies war der dritte Job, den sie heute erledigen wollten. Mit dem ersten Windrad war alles in Ordnung gewesen. Beim zweiten hätten sie laut System nur ein paar Dinge neu verkabeln müssen, aber als sie hinkamen, fehlte der gesamte vordere Teil des Maschinenraums samt Rotor, Nabe und so weiter. Nur ein gähnendes Loch war noch zu sehen.
Der Junge holte eine Bohrmaschine aus der Tasche und suchte herum, bis er einen dicken, abgenutzten Bohrer fand, dessen spiralförmige Schneiden nur mehr abgeflachte Grate waren. Er stellte sich auf die unterste Sprosse der Leiter und machte sich an den Nieten in den verrosteten Scharnieren zu schaffen. Der Bohrer verkantete und setzte aus. Der Junge schlug mit dem Akku gegen die Leiter, und der Bohrer lief wieder. Die Nieten wurden zu feinem orangefarbenem Staub.
»Was würdest du nehmen?«, sagte der alte Mann. Er lehnte sich gegen das Geländer.
Der Junge griff nach einer Brechstange. »Ich weiß nicht.« Er spürte den Blick des alten Mannes in seinem Rücken. Jeden Moment würde er etwas über den Winkel sagen, in dem er die Stange ansetzte, oder dass es die falsche Stelle war. »Ich denke, das scharfe Zeugs«, sagte er.
Der alte Mann schloss die Augen und lächelte. »Curry-Pastete, ja. Golden und knusprig.«
»Knusprig?«
»Natürlich. Die muss knusprig sein.«
»Wie soll das gehen?«
»Wie nicht?«
»Aus der Dose?«
»Curry-Pastete aus der Dose?«
»Curry-Pastete?«
Der alte Mann atmete hörbar aus. »Was redest du, wenn du nicht weißt, was das ist?«
»Ich weiß, was es ist.« Der Junge drückte fester auf das Brecheisen. »Ich weiß nur nicht, was das damit zu tun haben soll.«
»Warum hast du dann Curry-Pastete gesagt?«
»Ich habe scharfes Zeugs gesagt.«
»Himmel.« Der alte Mann rieb sich die Stirn. »Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil das bedeuten würde, dass du von allem, allem, was mit dem nächsten Versorgungsschiff kommen könnte, ausgerechnet gewürztes Protein nimmst.«
Dosen, getrocknete Lebensmittel, vakuumverpackte Pakete, etwas anderes brachte das Versorgungsschiff nicht. Es gab irgendwelche zähen Weißkäse-Würfel und Pakete mit gepresstem Reis. Das gewürzte Protein war das Einzige mit ein wenig Geschmack, weshalb es immer als Erstes weg war. Deshalb benutzten sie es als Wetteinsatz, oder sie kauften sich damit von Aufgaben los, die sie nicht mochten. Der alte Mann schuldete dem Jungen bereits vier Portionen. Bis das Versorgungsschiff endlich kam, würde es nur noch Dosengemüse geben. Gelatinierte Kohlehydrate in Form von Dingen, wie sie einmal gewachsen waren. Sie waren bleich und mehlig und hinterließen einen pudrigen Rückstand auf Zunge und Zähnen. Da das Boot zu spät dran war, aßen sie seit Wochen nichts anderes. Das Einzige, was den Jungen tröstete, war, dass der alte Mann das Essen noch mehr hasste als er.
Er drückte fester, die Brechstange rutschte ab, und er riss sich die Knöchel an der Luke auf. Der Junge warf die Brechstange in die Tasche und ballte und öffnete die Fäuste, eine nach der anderen.
»Das hätte ich dir vorher sagen können«, meinte der alte Mann.
Der Junge legte die Handflächen flach unter die Luke, fasste auf der untersten Sprosse Tritt und drückte die Klappe in den Maschinenraum.
Der alte Mann stieg als Erster hinauf. Kein Licht ging an. Einmal war der Junge in einen Maschinenraum gekommen, in dem alle Schalter sanft geglüht hatten, geschmolzenes Plastik war wie Kerzenwachs die Wände heruntergeronnen. Jetzt waren ein Knall und leises Fluchen zu hören, das Umlegen von Schaltern und ein metallisches Kratzen, als der alte Mann die Dachluke öffnete und Tageslicht und einen Höllenlärm hereinließ.
Der Computer hatte eine Funktionsstörung des Generators angezeigt, doch als der Junge hinaufkletterte, sah er gleich, dass der Generator funktionierte. Er blinzelte zweimal ins Licht, rieb sich mit der Hand über die Augen und machte sich daran, die einzelnen Komponenten durchzuchecken.
Es gab vielfältige Gründe, warum ein Windrad nicht lief. Meist war es das Wetter, das sich Zugang verschaffte: Die Verschlüsse der Luken zerbröselten, Nieten wurden lose und Risse in der Farbe boten der Feuchtigkeit und dem Rost die Möglichkeit, sich ins Metall zu fressen. Wobei die verschiedenen Windradmodelle im Park alle ihre eigenen Schwächen hatten. Kleine Unterschiede, die mit der Zeit zu notorischen Störquellen wurden oder ganze Teile des Maschinenraums halb dem Rost hingaben. Einige der neueren Modelle sollten widerstandsfähiger sein, mit besserer Abdichtung der Schaltkreise, weniger Mechanik, aber nichts blieb lange neu und widerstandsfähig.
Der Junge ging hinüber zur Schalttafel, auf der eine Reihe Lichter verloschen war. Er machte eine Geste zum alten Mann hin, der seufzte, den Reißverschluss einer Tasche vorne auf seinem Overall öffnete und ein altersschwaches Tablet herauszog. Zwei Seiten waren dick mit Isolierband verklebt, und von einem Sprung oben in einer Ecke zogen sich Risse wie Adern über den Bildschirm. Der alte Mann kam herüber, verband das Tablet mit der Schalttafel, tippte auf den Bildschirm und sagte etwas.
»Was?«, rief der Junge.
Der alte Mann legte die Hand ans Ohr. »Was?«, rief er zurück.
»Ich sagte: ›Was?‹«, schrie der Junge.