Stefanie Höfler, geboren 1978, studierte Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Freiburg und Dundee/Schottland. Sie arbeitet als Lehrerin und Theaterpädagogin und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort im Schwarzwald. Neben Helsin Apelsin und der Spinner erschienen von ihr außerdem die Romane Mein Sommer mit Mucks sowie Tanz der Tiefseequalle und Der große schwarze Vogel, die alle für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurden.
Anke Kuhl, geboren 1970, studierte Bildende Kunst in Mainz und Visuelle Kommunikation in Offenbach und lebt mit ihrer Familie als freie Illustratorin in Frankfurt/Main. Sie arbeitet in der Ateliergemeinschaft LABOR (www.laborproben.de), deren Kinder Künstler Bücher bei Beltz & Gelberg erscheinen. Anke Kuhl illustrierte schon viele Bilder- und Kinderbücher und eigene Graphic Novels.
1. Kapitel
Wie Helsin und Louis sich auf ziemlich ungewöhnliche Weise kennenlernen
2. Kapitel
Wie Helsins Spinner zurückkommt und sie leider herausfinden muss‚ was Louis alles kann
3. Kapitel
Wie Helsin den blödesten Heimweg aller Zeiten erlebt und dann auch noch ihr Lieblingsmittagessen
ausfällt
4. Kapitel
Wie Tyrannosaurus Magenkrämpfe bekommt und Helsin ein schlechtes Gewissen
5. Kapitel
Wie Helsin als Einzige von allen ein Geheimnis nicht erfahren darf
6. Kapitel
Wie Helsin zum ersten Mal zur Diebin wird
7. Kapitel
Wie Helsin und Louis sich doch noch die Hand geben
8. Kapitel
Wie Helsin einen Überraschungsbrief aus Finnland bekommt
9. Kapitel
Wie der Prinz plötzlich nicht mehr rechnen kann und Helsin etwas über ihn erfährt‚
das alles verändert
10. Kapitel
Wie Helsin zum zweiten Mal zur Diebin wird und einen riesigen Schrecken bekommt
11. Kapitel
Wie Helsin und Louis überraschend ein Team werden
12. Kapitel
Wie Helsin und Louis einen Brief lesen und einen schreiben und Helsin etwas Fürchterliches
über Diebe im Mittelalter erfährt
13. Kapitel
Wie Helsin ihre Flucht plant und dann doch alles ganz anders kommt
14. Kapitel
Wie Helsin sich im Rückschmuggeln übt
15. Kapitel
Wie Helsin einen angenehmen Heimweg erlebt und ein Geschenk von Mama bekommt
16. Kapitel
Wie Louis sich in Helsins Zimmer beinahe ein bisschen zu genau umguckt
17. Kapitel
Wie Helsin erst Lakritz bekommt und dann einen Spinner
18. Kapitel
Wie Helsin doch wieder einen Grund zur Flucht bekommt und das mit dem Bootsbau leider
nicht so ganz klappt
19. Kapitel
Wie Helsin etwas über Louis und Schweden erfährt und mit Papa einen Einigermaßen-Frieden
schließt
20. Kapitel
Wie Helsin zum ersten Mal jemanden kennenlernt‚ der auch Spinner hat
21. Kapitel
Wie Helsin und Louis erst eine Präsentation machen und dann eine Finnland-Testfahrt‚ die beinahe ein Leben kostet
22. Kapitel
Wie Helsin und Louis Gott sei Dank Hilfe bekommen und Helsin fast alle ihre Geheimnisse
loswird
23. Kapitel
Wie Helsin und Louis ihre Reisepläne erstmal aufgeben
24. Kapitel
Wie Helsin neue Post aus Finnland bekommt und sich mit Tom versöhnt
25. Kapitel
Wie Helsin zum allerersten Mal einen Spinner besiegt
26. Kapitel
Wie der Opa wieder aufwacht und Louis am Ende doch noch erfährt‚ wer der Leguandieb gewesen ist
1. Kapitel
Angefangen hat alles mit einem einzigen superblöden Wort: Apelsin. Apelsin, Apfelsine, Orange.
Niemand aus der Klasse sagte Apfelsine zur Orange. Aber dann kam Louis. Louis war eher klein, dünn wie ein Gartenschlauch und seine halblangen Haare hatten ungefähr dieselbe Farbe wie Zitronenkuchen.
»Das ist Louis«, sagte Frau Coroni feierlich, als sie an diesem Montag im April mit dem Neuen ankam. »Und das sind meine Zwerge.«
So nannte sie ihre Klasse, die kleinste zweite Klasse aller Zeiten, nämlich am liebsten. Und dann präsentierte sie Louis ihre dreizehn Zwerge so stolz, als hätte sie jeden einzelnen höchstpersönlich gebastelt:
Als Erstes stellte sie ihm Elsa mit den rotgoldenen Feenhaaren vor und Alper, der absolut immer grinste und außerdem der schnellste Junge der Klasse war. Hier saßen Katja mit dem runden Gesicht und Zafira mit der Märchenvorlesestimme und daneben Finn, der zeichnete am allerschönsten. Und da saß Tom, der einzige Junge mit langen Haaren. Die fielen ihm immer wie ein Vorhang ins Gesicht, weil er auch der schüchternste Junge in der Klasse war.
Ja, und genau neben Tom, da saß Helsin. Klein und biegsam wie ein Grashüpfer, wild abstehende dunkelbraune Locken, Spitznase. Die Ohren waren so winzig wie Fledermausohren, und die Augen, schwarz wie Bitterschokolade, blitzten immer automatisch dahin, wo es gerade etwas zu entdecken gab.
»Und das ist Helsin«, sagte Frau Coroni und lächelte Helsin über ihren goldenen Brillenrand an.
Und da pustete dieser Louis sich zuerst seinen zitronenkuchengelben Pony aus dem Gesicht. Dann guckte er Helsin mit seinen sehr blauen Augen halb neugierig und halb spöttisch an. Und dann sagte er: »Helsin? Apelsin?« Gleich danach grinste er, nur so ein winzigwinziges bisschen, und sagte nochmal: »Helsin, Apelsin, Apfelsine!«.
Eigentlich war das mehr gemurmelt als gesagt, aber Helsin hörte es natürlich trotzdem. Und sie hörte auch das Wispern, das jetzt von überall her zu ihr rüberwitschte: »Apfelsine? Helsine?« Denn Helsins Ohren sind zwar winzig, aber sie hören jedes Knistern, jedes Rascheln und jedes Flüstern. Fledermausohren eben. Und wenn einer etwas über Helsins Namen sagt, egal wie leise, dann hören sie das erst recht. Und dann kommt auch schon das Problem.
Mit Helsin ist das nämlich so: Helsin ist ein überdurchschnittlich fröhliches Mädchen. Sagt Papa, und es stimmt. Helsin hat meistens schon beim Aufstehen so gute Laune, dass sie sogar ein Lied singt, während sie ihre Strumpfhose anzieht, obwohl die Strumpfhose nie Lust hat, angezogen zu werden. Der Mond ist aufgegangen singt sie oder sonst irgendein Abendlied, weil Abendlieder einfach am traurigschönsten klingen.
Allerdings hat Helsin auch viel mehr Energie als andere Menschen. Die Extra-Energie ist schuld daran, dass Helsins Adleraugen so genau sehen. Und daran, dass ihre Beine dauernd hüpfen wie ein Flummi. Manchmal allerdings, da kocht die Energie über und spült eine rasende rote Welle in Helsins Körper hoch, und dann sieht und hört und riecht und schmeckt Helsin nichts anderes mehr als FEUERROT. Ihr ganzer Körper kribbelt von den Beinen bis in die Haarspitzen, die Nasenspitze zittert wie eine Autoantenne bei 200 Stundenkilometern, und die rote Kribbelwelle wird immer gewaltiger, bis sie überschwappt: schwupp, raus aus Helsin, und zack! hinein in die Welt. Und das, was dann kommt, das nennen alle nur den »Spinner«. Und genau so war das jetzt auch.
In einer Zwölftelsekunde war Helsin aufgesprungen, als sie dieses »Helsin, Apelsin, Apfelsine« hörte, und der Stuhl kippte hinter ihr um: kataplom! Ihre Nasenspitze zitterte, ihre Haare standen in alle Richtungen und ihre schwarzen Augen sprühten Funken.
Die Zwerge erstarrten zu Gartenzwergen. Manche guckten ängstlich, manche guckten gespannt. Alper grinste natürlich. Aber alle wussten ziemlich genau, was jetzt kommen würde.
»Washastdugesagt-washastdugesagt«, zischte Helsin und schwang dabei die rechte Faust über ihrem Kopf wie ein wild gewordener Indianerhäuptling. In der nächsten Sekunde krachte die Faust runter, und zwar exakt auf die Nase von diesem Apelsinen-Louis. Louis gab keinen Ton von sich, aber die Nase fing augenblicklich an zu bluten. Da guckten dann doch alle zwölf Zwerge erschrocken.
Im Hintergrund glotzten dreizehn wandhohe Riesen mit ihnen um die Wette. Die hatte die Klasse kurz nach Weihnachten an die Wand gemalt.
Helsin plumpste zurück auf ihren Stuhl. Direkt vor ihr tropfte das Blut aus Louis’ Nase auf ihren Tisch, plitsch, plitsch, plitsch, wie Wasser aus einem undichten Wasserhahn.
»Mist«, murmelte Helsin, und dann: »Ähm. Schuldigung.«
Der kleine Rest der feuerroten Spinner-Welle verschwindet nämlich immer auf mysteriöse Weise im Boden, ungefähr so wie Badewasser durch einen Badewannenstöpsel. Und dann, ja, dann wird es ganz still und friedlich in Helsin. Nur ihr Herz, das galoppiert noch eine Weile weiter.
Helsin schielte zu Louis’ Nase hoch. Und an seiner blutigen Nase vorbei guckte Louis runter zu Helsin. Er guckte ungefähr so, wie jemand guckt, der zum ersten Mal eine getigerte Riesen-Nacktschnecke sieht: erschrocken und fasziniert und angeekelt gleichzeitig.
Die anderen zwölf Zwerge atmeten auf, denn der Spinner war vorbei. Aber normal war das nicht, dass dieser Louis keinen Mucks von sich gegeben hatte, als er Helsins Faust auf die Nase bekommen hatte. Was er jetzt wohl machen würde? Aber der Neue machte erstmal gar nichts außer tropfen. In kurzen Abständen zog er die Nase hoch.
»Hand«, sagte jetzt Frau Coroni, die alles genau gesehen hatte, mit dunkler Stimme und guckte dabei streng über ihren dünnen goldenen Brillenrand. Laut wurde sie schon lange nicht mehr, wenn so ein Helsin-Spinner kam. Trotzdem schob sie sich schnell eine Haarsträhne hinters Ohr, wie immer, wenn sie sich aufregte.
Helsin stand wieder auf und streckte diesem Louis schnell ihre rechte Hand hin.
Louis aber, der wollte jetzt keine Hand schütteln. Am allerwenigsten wollte er die Hand von Helsin schütteln, die ihm gerade die Nase blutig geschlagen hatte.
»Ich bräuchte mal ein Taschentuch«, sagte er stattdessen. Seine Stimme war ein bisschen rauer als vorher, aber er heulte nicht. Kein winziges bisschen.
»Achgottja, Taschentuch«, sagte Frau Coroni, guckte kurz auf die Blutpfütze auf dem Tisch und wurde blass. Sie konnte kein Blut sehen, das wussten alle Zwerge. Aber dann zog sie entschlossen eins ihrer karierten Stofftaschentücher aus der Jackentasche.
Louis wischte sich damit ohne zu zögern das Blut weg. Dann drückte er noch so ein bisschen an der Nase rum und guckte dabei aus dem Fenster. Draußen ließ der Frühlingswind die Äste des Kirschbaums aufgeregt wippen.
Drinnen trommelte Helsins Herz: tatam, tatam, tatam. Eine Spinner-Entschuldigung musste man nämlich annehmen. Mit Hand. Immer. Darauf hatten sie sich in der Klasse schon vor ewigen Zeiten geeinigt! Alle wussten das und alle machten das. Immer.
Der Neue aber knüllte stattdessen mit seiner Hand das blutige Lehrerinnentaschentuch zusammen, pustete sich in den zitronenkuchenblonden Pony und nickte. So als wolle er sagen: Aha, so ist das also hier. So ist das also mit Helsin, der Apfelsine, und so ist das, wenn sie einen Spinner kriegt. Das Wort Spinner kannte er natürlich noch nicht. Aber eigentlich sah Louis da schon so aus, als hätte er es sich direkt mitgedacht.
»Kann ich mich jetzt hinsetzen?«, erkundigte er sich.
»Achgottja.« Frau Coroni schüttelte sich kurz, so wie sich ein Hund nach einem Bad im Meer schüttelt. Dann führte sie den Neuen auf den freien Platz neben Alper, schräg vor Helsin.
Helsin plumpste zum zweiten Mal auf ihren Stuhl.
Dass Louis jetzt erstmal nichts Apfelsinenmäßiges mehr murmeln würde, das war ziemlich klar. Aber die anderen Zwerge, die hatten natürlich genau gehört, was er da gemurmelt hatte. Helsin, Apelsin, Apfelsine. Helsin wusste also, dass da noch was kommen würde. Und es dauerte überhaupt nicht lange, bis was kam.
2. Kapitel
»Brauchst du vielleicht auch ein Taschentuch?«, flüsterte Tom zu Helsin und schielte zur Blutpfütze auf Helsins Tischseite. Wie immer hatte er alles genau beobachtet.
Helsins Bauch wurde in einer Sekunde so warm, als hätte sie gerade eine große Tasse Kakao getrunken. Tom war der allerbeste beste Freund, den man haben konnte. Für diesen Louis hatte Tom kein Taschentuch gehabt. Aber für sie. Sie wischte das Nasenblut von der Tischplatte, dann trug sie das Taschentuch mit spitzen Fingern zum Papierkorb.
Auf dem Rückweg kam sie an Alper und Louis vorbei. Beide schauten sie an. Alper grinste, Louis nicht. Gewitterwolkendunkelblau waren seine Augen jetzt. Helsin verstand genau, was sie sagten: »Niemals werde ich dir die Hand geben!« Schnell guckte Helsin weg, raus zu den Kirschzweigen.
Und dann war erstmal Ruhe, ziemlich genau zwei Minuten lang. Die Frühlingssonne schien ins Klassenzimmer und brachte die dreizehn Riesen so zum Leuchten, dass sie beinahe lebendig aussahen. Zwölf Zwerge saßen gemütlich an ihren Tischen und ließen die Beine von ihren Stühlen baumeln oder verknoteten sie unterm Tisch, je nach Beinlänge.
Nur zwei Zwerge saßen ungemütlich.
Der Neue saß ungemütlich, weil er immer noch mit dem karierten Lehrerinnentaschentuch an seiner Nase rumfummelte. Wahrscheinlich wollte er unbedingt, dass ihm alle dabei zuschauten, wie er sich seine Nase tupfte wie so ein Prinz auf der Erbse.
Und Helsin, die saß auch ungemütlich. Weil ihre Beine vor Ärger über diesen Erbsenprinzen weiter zuckten. Deshalb rutschte sie mit dem Po jetzt ganz nach vorne auf die Stuhlkante, damit ihre Füße fest auf dem Boden standen, und fing mit der Wochenaufgabe für Mathe an. Krakelig schrieb sie: 3 mal 6 gleich 18. Dabei brach ihr Bleistift ab und die Acht sah aus wie ein betrunkener Hase ohne Ohren.
Die erste Stunde wurde wegen Helsin immer still angefangen. Frau Coroni hatte nämlich rausgefunden, dass Helsin bei diesem »stillen Anfang« am wenigsten Grund für einen Spinner hatte und danach vielleicht auch den Rest des Tages ohne Spinner überstehen würde. Und das war für alle gut. Dann wurde nämlich keinem der Füller vom Tisch gefegt, das Heft zerfetzt oder die Brille aus dem Fenster geworfen.
Der Neue schrieb allerdings nicht, sondern guckte Löcher in die Luft, weil ihm bisher keiner den stillen Anfang erklärt hatte. Als Frau Coroni das endlich bemerkte, holte sie aus ihrer riesigen grünen Tasche ein nagelneues Matheübungsheft heraus. Und während sie sich mit dem Prinzen über das Übungsheft beugte, wurde es drum herum weniger leise. Radiergummis rubbelten über Papier, Stuhlbeine quietschten über den Boden.
Ja, und dann hörte Helsin es. »Apelsin«, hörte sie es nämlich wispern, von hinten und von vorne und von rechts. Immer genau von da, wo sie grade nicht hinguckte. »Helsin, Apelsin, Apfelsine«, hörte sie und dazu leises Kichern.
Helsins Ohren wussten gar nicht, in welche Richtung sie sich spitzen sollten. Und schräg vor ihr glotzte der Neue zu ihr nach hinten und grinste schon wieder sein winziges Grinsen. Ein absolut blödes Erbsenprinz-Grinsen!
Stattdessen hätte er ihr lieber mal die Hand gegeben, damit sie sich vollständig beruhigte. Aber keiner hatte ihm gesagt, dass er das unbedingt musste, kein Einziger! Und jetzt flüsterten sie auch noch alle. Helsin schnaubte, bevor sie schon wieder aufsprang und ihr Stuhl so heftig am hinteren Tisch anstieß, dass Finns komplette Buntstiftsammlung auf den Boden kullerte.
Zehn Mal machte es pling, immer, wenn ein Stift auf dem Boden aufkam, und mittenrein brüllte Helsin mit der Stimme eines ausgewachsenen Löwen, der soeben zum Angriff übergeht: »Ich bin keine Apfelsine!« Ihre Fäuste knallte sie dabei so heftig auf den Tisch, dass die abgebrochene Bleistiftspitze in ihrer Hand stecken blieb, so wie ein vom Himmel gefallener Meteorit in der Erde stecken bleibt. Wenigstens war diesmal keine Nase im Weg.
Alle hielten still, bis Helsin erschöpft ihre Arme baumeln ließ und ihr zweites »Schuldigung« an diesem Tag nuschelte und diesmal Frau Coroni die Hand hinstreckte.
Drinnen in Helsins Kopf schwirrten immer noch das Kichern und das Geflüster und das blöde Apfelsinenwort durcheinander wie ein Schwarm hungriger Spatzen. Und als die schwirrenden Gedanken sich langsam wieder hinsetzten, da fand Helsin zum allerersten Mal in ihrem Leben ihren eigenen Namen blöd.
Frau Coroni seufzte tief und strich sich diesmal auf jeder Seite eine Haarsträhne hinters Ohr. Eine rechts, eine links. Die linke Haarsträhne fiel gleich wieder nach vorne, weil Frau Coronis linkes Ohr ein Abstehohr war.
»Bitte weitermachen«, befahl sie ruhig.
Aber da gongte es zur Pause und Helsin raste aus dem Klassenzimmer, riss ihre Jacke vom Haken, sauste los und war wusch! beim Bodentrampolin angekommen. Boing, boing, boing! Zwanzig Kängurusprünge schaffte sie jedes Mal, bevor Tom rauskam. Mindestens.
»Zweimal um den Sportplatz?«, fragte Tom atemlos. Helsin landete mit ihrem einundzwanzigsten Kängurusprung neben ihm und nickte.
Der Wind pustete aprilwild ein paar zerknüllte Taschentücher über den Hof und zerrte am tomatenroten Sonnensegel. Aus den Kirschbäumen schneite es hellrosa Blüten. Tom und Helsin rasten quer über den Schulhof, bogen am Klettergerüst ab und verschwanden hinter der Turnhalle.
»Das war aber bisschen viel Spinner heute«, sagte Tom. Extravorsichtig sagte er das, mit seiner leisen Tom-Stimme, die immer ein bisschen klang, als würde er gurgeln.
Tom wusste genau, wie man es anstellte, keinen Spinner abzukriegen. Wenn man Helsins bester Freund war, war das lebenswichtig. Helsin zuckte mit den Schultern. Hatte Tom vorhin mitgekichert? Quatsch! Das konnte ja überhaupt nicht sein!
»Wie findest du denn den Prinz?«, fragte sie stattdessen.
»Den Prinz?«, gurgelte Tom. Er konnte ja nicht wissen, dass sie beschlossen hatte, Louis ab jetzt so zu nennen. Wegen dem hochnäsigen Erbsengesicht.
»Na, diesen Louis, wie findest du den?« Jetzt zuckte Tom mit den Schultern.
»Also, ich find ihn bescheuert!«, verkündete Helsin.
Statt einer Antwort zog Tom etwas Kleines, Silbernes aus der Tasche. »Guck mal, meine Kaugummi-Oma war da«, nuschelte er.
Immer, wenn Toms Oma zu Besuch war, brachte sie ihm Waldmeisterkaugummi mit. Tom fand, dass Waldmeisterkaugummi nach Kloputzmittel schmeckte, aber das sagte er seiner Oma nicht, weil Helsin den Kloputzmittelkaugummi liebte.
»Ouuu! Danke!«, jubelte Helsin, schnappte das Päckchen und steckte sich blitzschnell drei Kaugummis auf einmal in den Mund. Dann musste sie erstmal sehr lange sehr angestrengt kauen, weil drei Kaugummis nicht so schnell weich zu kauen sind, und als sie wieder sprechen konnte, da war die Pause schon vorbei.
So kam es, dass Tom und Helsin nicht weiter über Louis redeten. Und das war vielleicht besser so. Weil dieser Louis womöglich das erste Thema jemals war, bei dem sich Tom und Helsin nicht einig waren.
»Wer als Erster auf dem Stuhl sitzt!«, schrie Helsin, sobald es gongte. Klar gewann sie wieder.
»Zweiter!«, rief Tom normalerweise, wenn er sich neben sie auf den Stuhl plumpsen ließ. Es machte ihm nie etwas aus, gegen Helsin zu verlieren. Aber heute guckte er nur neugierig nach vorne zum Prinzen. Deshalb musste Helsin auch dorthin hingucken. Und deshalb bemerkte sie den Fleck. Der Fleck war groß und länglich und giftgrün und saß auf Louis’ Schulter wie eine widerliche fette Raupe. War das Senf?
»Guck mal, der Fleck! Wie eklig«, flüsterte Helsin Tom zu.
Genau in diesem Augenblick ging das mit Louis und dem Rechnen los. Frau Coroni wollte nämlich rausfinden, ob Louis so gut rechnen konnte wie die Zwerge. Das konnte er nicht. Er konnte nämlich besser rechnen. Viel besser!
Der Neue löste eine Einmaleins-Aufgabe nach der anderen und schaukelte dabei mit den Beinen. Er saß mit dem Po ganz hinten an der Stuhllehne und berührte nur mit den Zehenspitzen den Boden. Beim Hin- und Herschaukeln machten sie dieses feine, schleifende Geräusch: Hin-ritsch, her-rätsch, hin-ritsch, her-rätsch. Genau wie bei Helsin. Aber bei Helsin zeigte Frau Coroni nach spätestens zehn Sekunden Zehenspitzenschleifen ihr schlimmstes Sauerkirschen-Gesicht und Helsin musste sofort aufhören.
Jetzt hingegen guckte Frau Coroni entzückt zu, wie der Neue beineschaukelnd seine Antworten abfeuerte wie Dartpfeile. Alle richtig! Das hatte noch keiner vor ihm geschafft! Am allerwenigsten Helsin. Helsin hasste Rechnen. Und den Prinzen, den hasste sie noch mehr.
Immer noch klebte Helsins Blick am giftgrünen Schulter-Fleck. Iiiih! Helsin schüttelte sich und stupste Tom an, aber der reagierte nicht. Zusammen mit allen anderen Zwergen starrte er den rechnenden Louis an wie eine vierstöckige Sahnetorte.
»Weißt du denn auch etwas über Eichhörnchen, Louis?«, fragte Frau Coroni jetzt. Ihr Abstehohr leuchtete vor Aufregung hellrot wie Himbeermarmelade.
»Das europäische Eichhörnchen hat ein rötliches Fell. Seine hinteren Beine sind Sprungbeine, die vorderen können besonders gut greifen…«, sagte der Prinz wie aus der Pistole geschossen.
Jetzt hatte Helsin aber wirklich genug. Sie nahm ihren Spitzer und fing an, Buntstifte zu spitzen, einen nach dem anderen. Jeden gespitzten Stift knallte Helsin vor sich auf die Tischplatte. Himmelblau: krchkrchkrch – knall! Gelb: krchkrchkrch – knall! Hellgrün: krchkrch!
Und erst als das Hellgrün schon fast ganz weggespitzt war, hörte Frau Coroni endlich auf, über den Wunderprinzen zu staunen. »Na gut, Louis«, sagte sie. »Du arbeitest in Toms Eichhörnchen-Gruppe mit. Ihr könnt gleich die Gruppentische aufbauen.«
Da freute sich Helsin zum allerersten Mal in ihrem Leben, dass sie nicht in Toms Gruppe war.
Da saß dieser Erbsenprinz dann nämlich und quasselte weiter über Eichhörnchen. Und daneben saß Tom und lauschte und guckte so fasziniert, als würde er einem Zaubertrick zusehen.
»Der Schwanz muss viel puscheliger aussehen!«, fuhr Helsin Finn an, der gerade am Eichhörnchen-Plakat ihrer Gruppe malte.
»Okay«, stammelte er und schielte ängstlich auf Helsins Nase, um festzustellen, ob sie schon wieder zitterte. »Mach ich.«
3. Kapitel
Nach der letzten Stunde flitzte Helsin wieder als Erste aus der Tür, zog sich ihre Erdbeermütze über den Kopf, schmiss ihren Ranzen neben das Klettergerüst und fädelte sich zwischen den Sprossen der Leiter durch. Mit ihrem spitzigen Grashüpfer-Po rutschte sie auf der mittleren Sprosse herum, guckte in den Himmel und wartete auf Tom und Elsa. Die Wolken sahen aus wie Rüschen am Kleid einer Prinzessin: Kumulus-Wolken!
Endlich ging die Schultür auf und Elsa kam raus. Sie sah mit ihren wehenden goldenen Haaren nicht nur aus wie eine Elfe, sondern sie ging auch so, mit kleinen, zarten Schritten, als würde sie schweben. Tom schlurfte hinterher. Helsin schlüpfte durch die Sprossen und schleuderte sich den Ranzen auf den Rücken.
Da ging die Tür nochmal auf und heraus stolzierte der Prinz. »Ich lauf mit euch«, rief er Tom zu, »ich muss in die gleiche Richtung!«
Tom blieb stehen, Elsa auch. Helsin hüpfte weiter. Sie würde sich nicht