Karen Foxlee, geboren 1971 in Queensland/Australien, arbeitete viele Jahre als Krankenschwester,
bevor sie sich dem Schreiben zuwandte und Creative Writing studierte. Sie lebt als
freie Autorin in Gympie/Queensland in Australien.
Bei Beltz & Gelberg erschienen bereits ihr deutschsprachiges Debüt »Das nachtblaue
Kleid«, »Ophelia und das Geheimnis des magischen Museums« sowie »Annabelle und die
unglaubliche Reise nach Unter-London«
FÜR MUM
3,2 KG • 51 CM • JULI 1969
Unsere Mutter hatte eine dunkle Ahnung in ihrem Herzen. Sie war so groß wie der Himmel, der in einen Fingerhut passt. Wie dunkle Ahnungen eben so sind. Sie haben riesige Ausmaße, können sich aber in den winzigsten Ecken verstecken. Man kann sie blitzschnell runterschlucken und in sich herumtragen, sodass niemand sie bemerkt.
»Irgendwas ist nicht in Ordnung«, sagte sie, als sie mit Baby Davey aus dem Krankenhaus kam.
Sie rieb sich mit den Fingern über die Brust und betrachtete ihn, wie er in ihrer Armbeuge schlief.
»Ich hab da so ein Gefühl«, sagte sie.
Sie war gut darin, das Nicht-in-Ordnung-Sein von Dingen zu erkennen, Kümmernisse und Krankheiten, und im Park entdeckte sie immer die eine hinkende Taube.
Sie wusste, wann Mrs Gaspars Lunge wieder pfeifen würde, bevor sie tatsächlich pfiff. Sie wusste, dass irgendein unerkanntes Leiden der Grund für mein dünnes Haar sein musste.
Manche Tage waren weniger in Ordnung als andere. Und manche waren überhaupt nicht in Ordnung. Und zwar von der Sekunde an, in der sie die Augen aufschlug: »Irgendwas ist nicht in Ordnung«, sagte sie.
»Tut es weh?«, fragte ich sie. Ich musterte meinen neuen kleinen Bruder, und er war so perfekt wie eine Walnuss in ihrer Schale.
»Nein, weh tut es nicht«, sagte sie, nahm meine kleine, dreijährige Hand und legte sie auf ihr Herz. Ich spürte ihre Rippen unter dem Nachthemd. »Das ist kein Schmerzgefühl. Nur ein Irgendwas-wird-passieren-Gefühl.«
»Etwas Gutes oder etwas Schlechtes?«, fragte ich.
»Gut oder schlecht oder irgendwas dazwischen«, sagte sie. »Das wird sich zeigen.«
Sechs Tage vor Daveys Geburt hatte Neil Armstrong seinen berühmten Schritt getan und alle waren noch im Mondlandungsfieber. Mutter erzählte immer gern Geschichten, wenn sie in der Sofa-liege-Laune war. In der Die-Haare-offen-tragen-Laune. In der Kraul-mir-die-Füße-dann-erzähl-ich’s-dir-Laune. Wir kannten ihre Geschichten alle auswendig, Wort für Wort, sodass wir sie, wenn nötig, auch selber hätten erzählen können. Die Geschichte von dem Tag, als ihr Vater nach dem Auspusten seiner Geburtstagskerzen einen Herzinfarkt bekam und starb. Die Geschichte von ihrem Freund Louis Martin, der vom Blitz getroffen wurde, als er im Gewitter von der Schule nach Hause ging. Die Geschichte von dem Fluss, in dem sie mit sieben Jahren fast ertrunken wäre, von dem allerersten selbst genähten Kleid, das ihre Mutter ihr aber zu tragen verbot, weil es kirschrot war. Die Geschichte von dem UFO, das sie neben dem Highway gesehen hatte, als sie mit Peter Lenard Spink durchgebrannt war.
»Du bist an einem perfekten Sommertag auf die Welt gekommen.« So fing Daveys Geschichte immer an.
Sie konnte diese Perfektion nur durchs Busfenster bemerkt haben, denn ein Taxi war zu teuer: die in der Hitze schimmernde und flimmernde Second Street, die trägen Schönwetterwolken, deren Schatten über die in der Sonne brutzelnden Autos hinwegglitten, die Ringelblumen im Park, die Eis essenden Kinder.
Mich hatte sie bei Mrs Gaspar in Nummer 17 gelassen. Mrs Gaspar hatte zwei rotblonde Zwergspitze, die Karl und Karla hießen. Die ganze Wohnung roch nach ihnen und nach den Aschenbechern voller weißer Zigarettenfilter, alle mit einem Ring aus pfirsichfarbenem Lippenstift verziert. Mrs Gaspars Wohnung war ein Kaleidoskop aus hellbraunen Häkeldeckchen und kürbisfarbenen Teppichen, und selbst ihre orange Turmfrisur, die immer ein bisschen Schlagseite hatte, passte farblich zur Einrichtung. Ihre selbst gestrickten Pullis ribbelten überall auf und ihre Plüschpantoffeln mit den Bommeln waren so ramponiert, als habe sie sie aus dem Müll gefischt. Mrs Gaspar segnete mich immer gern, wenn meine Mutter nicht hinsah, malte ein Kreuz auf meine kleine Stirn und flüsterte irgendetwas auf Ungarisch.
»Ja, der Tag war wirklich perfekt«, sagte Mutter. »Und ich wusste, dass du kommen würdest. Ich wusste es einfach, obwohl ich noch gar keine Wehe gehabt hatte. Keine einzige. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich ins Krankenhaus fahren sollte. Irgendetwas flüsterte, Cynthia Spink, du fährst jetzt sofort ins Krankenhaus.«
»Was war das für ein Etwas?«, fragte ich.
»Still jetzt«, sagte sie.
Aber ich wollte es gern wissen. Sie war mager vor Sorge, unsere Mutter. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr langes, blondes Haar und schloss die Augen. Sie bestand fast ausschließlich aus Sorgen und Magie.
»Eine Stimme?« Wenn es eine Stimme gewesen war, hatte sie sich bestimmt wie trockenes Laub angehört.
»Ich hab gesagt, du sollst still sein, Lenny, das ist meine Geschichte. Ich hab dich zu Mrs Gaspar gegenüber gebracht und dann die Linie 24 genommen. Die Stimme hat nämlich gesagt, Nimm die 24, Cynthia, die macht nicht den Schlenker am Supermarkt vorbei, sondern fährt direkt die Second Street hinunter, nur fünf Stationen.«
Ich stellte mir eine Stimme wie raschelndes Laub vor, die all das sagt. Ich schaute zu Davey rüber und verdrehte die Augen, aber er ging nicht darauf ein, weil er die Geschichte seiner plötzlichen Ankunft so gerne hörte.
»Du warst schon eine Woche überfällig. Was habe ich geschwitzt in diesem Bus. Literweise muss ich geschwitzt haben. Vorm Krankenhaus bin ich dann ausgestiegen, und ob du’s glaubst oder nicht, ich stand noch nicht ganz auf dem Fußweg, da hatte ich eine so starke Wehe, dass ich mich zusammenkrümmen musste, und keine Minute später die nächste. Und dann noch zwei, und dann hab ich es nicht mal mehr ins Krankenhaus geschafft, Davey. Von allen Seiten rannten Leute auf mich zu, und dann bist du auch schon gekommen, auf den Stufen direkt vorm Eingang, wo ständig jemand vorbeiging.«
»Heiliger Batman«, sagte Davey.
Aber wir hörten die Geschichte ja nicht zum ersten Mal. Er wusste, dass da noch was kam.
»Aber das Verrückteste war«, sagte sie, »als du dann da warst, haben sie mir erzählt, du hättest einen Knoten in der Nabelschnur gehabt. Einen richtigen Knoten, ganz festgezogen, und dass du deshalb so schnell rausgekommen bist, weil mein Körper und dein Körper wussten, dass du sonst zu wenig Blut und Sauerstoff bekommst.«
Blut und Sauerstoff. Den Teil habe ich immer in Gedanken wiederholt. Blut und Sauerstoff.
»Ach herrje«, sagte Davey.
»Um ein Haar hätte es dich nie gegeben«, sagte Mutter.
»Ein Glück, dass du die 24 genommen hast«, sagte Davey.
»Du warst so ein hübsches Baby«, sagte Mutter.
»Ja?«, fragte Davey.
»Wunderhübsch«, sagte Mutter.
Aber von ihren dunklen Ahnungen erzählte sie ihm nichts, nie, kein einziges Mal. Das blieb unser Geheimnis. Tauchte nicht auf in der Geschichte.
Und sie erzählte ihm auch nie, wie sie Dr. Leopold gefragt hatte, ob wirklich alles in Ordnung war.
»Aber sicher, putzmunter, das Kerlchen«, sagte Dr. Leopold.
»Sind Sie sicher?«
»Aber ja, er ist absolut normal«, sagte Dr. Leopold an diesem perfekten Sommertag.
Also hat sie gelächelt und genickt.
»Name des Vaters?«, fragte der Arzt. Er füllte gerade den Geburtsschein aus.
»Peter Lenard Spink«, sagte Mutter. »L-e-n-a-r-d.«
»Und kommt Mr Spink denn morgen mal vorbei, um sich seinen Sohn anzusehen?«, fragte der Arzt.
»Ja«, sagte Mutter. »Ja, das macht er.«
*
Als ich älter war, habe ich seinen Namen abends im Bett vor mich hingesagt. Peter Lenard Spink. Peter Lenard Spink. Peter Lenard Spink. Sein Name holperte mir über die Zunge wie ein platter Reifen. Ich flüsterte ihn so lange vor mich hin, bis Davey sagte, ich soll still sein. Aber es war ein Name, der ausgesprochen werden musste.
Er kam weder am nächsten noch am übernächsten Tag. Ganze Wochen vergingen. Davey schlief und meine Mutter machte sich Sorgen, weil er so viel schlief. Weil er so wenig aß. Weil er ein Junge war. Weil so viele Rechnungen kamen, die sie nicht bezahlen konnte, und weil sie nicht wusste, wer auf uns aufpassen sollte, wenn sie wieder arbeiten ging.
Die Wochen waren sonnig, aber voller Sorgen. Mrs Gaspar kam jeden Tag zu uns herüber, kümmerte sich um Davey und sang ihm traurige Wiegenlieder vor. Jeden Nachmittag gab es ein Gewitter, das die Straßen von Schmutz und Staub befreite, aber nichts konnte unsere Mutter von Peter Lenard Spink befreien.
Bis sich eines Nachts der Schlüssel im Schloss drehte und Peter Lenard Spink erschien. Er blieb ganz still stehen, als wüsste er nicht so genau, ob er hier richtig war. Er lächelte sein schmales, backenbärtiges Lächeln. Er hatte gearbeitet. Er hatte diese Arbeit annehmen müssen. Er hatte auf dem Bau gearbeitet, weit unten im Süden. Die Gründe wurden in verschiedenen Varianten vorgebracht, aber Mutter schüttelte zu allen den Kopf. Dann nickte sie zu uns rüber.
»Klein Lenny«, sagte er und neigte leicht den Kopf.
»Und Baby David«, sagte Mutter.
Und immer noch warteten wir auf das, was passieren würde. Mutters dunkle Ahnung im Herzen ging nicht weg. Sie fand einen winzigen Riss und kroch in sie hinein. Ließ sich dort dauerhaft nieder. Sie trug diese Ahnung überall mit sich herum, zusammen mit Baby Davey auf ihrer Hüfte.
»Irgendwas ist nicht in Ordnung«, sagte sie. Manchmal, wenn sie Davey mit Brei fütterte. Einmal auch, als sie sah, wie er quiekend hinter mir her krabbelte, durch das kleine Nest von Räumen, die unser Zuhause waren, so schnell, dass er sich die Babyknie abschürfte. Als er seine ersten, absolut normalen Schritte machte.
Manchmal wurde es monatelang nicht erwähnt.
Und dann wieder zehnmal am Tag.
»Irgendwas ist nicht in Ordnung«, sagte sie leise.
»Was denn nicht?«, fragte ich. Ich legte ihr die Hand auf die Brust, wie sie das gerne mochte. Ich wusste, dass sie das beruhigend fand. Ich spürte ihren Herzschlag unter meinen Fingerkuppen.
»Ich weiß es einfach nicht«, sagte sie.
Peter Lenard Spink saß am Esstisch und blätterte langsam die Zeitungsseiten um.
»Du machst dir immer viel zu viel Sorgen«, sagte er. »Hier, in Pensacola gibt es Arbeit. Das wäre doch was. Ist ab sofort. Verpflegung inbegriffen.«
Er las uns die Annonce vor. So fingen seine Abschiede jedes Mal an. Meine Hand lag noch immer auf der Brust meiner Mutter. Sie lächelte mir zu, aber ihr Herzschlag unter meinen Fingerkuppen wurde schneller.
Neben uns zog sich Davey an Mutters Rock hoch. Er lächelte und wir lächelten zurück, wir konnten gar nicht anders. Baby Davey hatte das fröhlichste Lächeln der Welt.
*
Peter Lenard Spink fuhr nach Pensacola. Er fuhr nach Tuscaloosa. Nach St. Louis. Er fuhr nach St. Marks und St. Cloud. Nach Norden und Süden. Osten und Westen. Manchmal durften wir vom Fenster aus zusehen, wie er zum Greyhound-Busbahnhof hinüberging. Dann winkte er zu uns hoch, nur so ein kleines Heben der Hand.
Aber manchmal sagte Mutter auch »Nein«.
Sie sagte: »Wagt es nicht, aus diesem Fenster zu schauen.«
Peter Lenard Spink ging los, und die Tür klickte ins Schloss, und Mutter legte sich aufs Bett, vollkommen reglos, wie eine steinerne Prinzessin auf einem Grab.
Ich erinnerte mich an Peter Lenard Spink als eine sonnenverbrannte Gestalt, die sich über ihre Schnürsenkel beugt. Seine langen Koteletten, sein unsicheres Lächeln und die Aufbruchsgeräusche: rostige Kofferschlösser und Reißverschlüsse. Das Klimpern einer Gürtelschnalle. Er fuhr nach Marietta und Blacksburg und sogar bis nach Buffalo, Wyoming. Von dort hat er mir mal einen Aufkleber mitgebracht. Ich habe ihn nicht aufgeklebt, sondern unangetastet in meinem Schmuckkästchen verwahrt, und Davey hat mich jahrelang darum beneidet.
Davey wurde größer. Er schwankte. Er lief. Sagte sein erstes Wort, das wie Dada klang und das schmale, backenbärtige Lächeln von Peter Lenard Spink erzittern ließ. Erster Geburtstag, zweiter Geburtstag, dritter Geburtstag und vierter. Fast der fünfte … Jeden Tag zog Mutter ihre pinkfarbene Uniform an. Band ihr blondes Haar oben auf dem Kopf zu einer Fontäne zusammen und fuhr zu ihrer Arbeit im Seniorenheim »Goldener Herbst«. Uns lieferte sie bei Mrs Gaspar und Karl und Karla ab. Mrs Gaspar sagte: »Meine kleinen Küken«, und nahm uns auf. Meine Mutter setzte ihr glückliches Cindy-Spink-Lächeln auf, aber wir warteten beide immer noch auf das, was passieren würde.
»Er kommt zurück«, sagte Mutter jedes Mal, wenn Peter Lenard Spink verschwand.
»Er kommt zurück«, flehte sie niemanden Bestimmtes an.
Beim letzten Mal war alles genauso wie die vorigen Male. Die Pinkelgeräusche, der Wasserhahn, ein angerissenes Streichholz, Schlüssel. Das Zuklappen eines Koffers. Ein Räuspern. Gürtelschnallengeklimper. Im Morgengrauen wisperte er sich aus unserem Leben, zog klickend die Tür hinter sich ins Schloss und kam nie mehr zurück.
Gleich am nächsten Tag wurde Davey fünf. Er bekam einen Kuchen, ein Cowboyhemd und einen blauen Spielzeugtrecker, den er über alles liebte. Abends hatte er einen Wutanfall. Er brüllte und stampfte und warf sich wegen nichts und wieder nichts auf den Boden. Mutter meinte, alle kleinen Kinder würden an ihrem Geburtstag weinen, aber das war gelogen, denn ich hatte das nie gemacht, kein einziges Mal. Davey brüllte grundlos weiter, bis er vor Erschöpfung einschlief, und im Schlaf ist es dann passiert. Das, worauf wir gewartet hatten. Als Mutter es am Morgen entdeckte, machte sie ein Geräusch, als hätte sie ein Gespenst gesehen.
»Davey«, flüsterte sie.
Aber dann ließ sie sich, plumps, aufs Sofa fallen, als wäre sie froh, dass es endlich eingetreten war. Stieß einen Seufzer aus und fragte: »Was ist denn mit dir passiert?«
5 JAHRE UND 5 MONATE • 1,30 METER • DEZEMBER 1974
Jeden Morgen weckte uns Mutter noch im Dunkeln. Wenn sie sich von uns verabschiedete, ging gerade erst die Sonne auf, ein blasser Lichtschein auf den grünen Wänden. Vor meinen Augen stieg er immer höher, dieser Lichtschein, während wir darauf warteten, dass Mrs Gaspar in ihrem fusseligen, orangefarbenen Morgenmantel zur Tür hereinkam.
»Was?«, rief Mrs Gaspar. »Ist er etwa schon wieder gewachsen?«
»Aber nein, kein bisschen«, sagte Mutter lachend. »Kein bisschen, Mrs Gaspar.«
Aber Davey war inzwischen sogar größer als ich, und ich ging in die dritte Klasse. Wie er da so im Flur stand, konnten alle sehen, dass seine neue Schlafanzughose schon wieder an den Waden endete.
»Cyn-thi-a«, sagte Mrs Gaspar und jede Silbe drückte ihre Enttäuschung aus. »Mrs Spink! Er muss zum Arzt. Das ist nicht normal!«
»Aber nein«, sagte Mutter. »Er ist einfach groß, meine Mutter hat immer erzählt, dass wir große Leute in der Familie haben. Aus Schweden.«
Mrs Gaspar schüttelte den Kopf. Sie strich Davey übers Haar, das wie Präriegras in die Höhe schoss. Sobald Mutter zur Arbeit gegangen war, segnete sie uns feierlich, wie ein rundlicher, oranger Priester, mit schwankendem Haarturm. Über ihrem Fernseher hing ein großes, gerahmtes Jesusbild. Ein lächelnder Jesus mit roten Wangen und einem pastellfarbenen Gewand, das wie ein Osterei aussah. Aus seinen Fingerspitzen kamen Lichtstrahlen hervor. Er sah eigentlich ganz freundlich aus, störte aber ein bisschen, wenn wir Zeichentrickfilme gucken wollten. Unter seinen huldvollen Blicken aßen wir unsere Cornflakes.
Wir beteten mit Mrs Gaspar. Dabei sollten wir die Augen schließen und ihre Hände nehmen, Davey eine und ich eine. Ich wollte nicht so gern die Augen zumachen, aber sie sagte: »Hier wird nicht geschummelt, mein Küken«, als wäre das irgendein lustiges Spiel. Ihre Hände waren aufgedunsen, kühl und ein bisschen feucht.
Mrs Gaspar betete für uns. Für unsere Mutter, damit die Linie 28 sie sicher ins Seniorenheim »Goldener Herbst« brachte, für die Rückkehr unseres abgängigen Vaters, für mein dünnes Haar, für ihre pfeifende Lunge, für ihre längst verstorbenen Eltern, für Karl und Karla, die zu unseren Füßen lagen und uns mit ihren schwarzen Knopfaugen beobachteten. Und sie betete dafür, dass Davey nicht mehr weiterwuchs.
Danach gab es Frühstück in ihrer kleinen Küche, die eine Art Apollo-11-Gedenkstätte war. Sie hatte ihren ganzen Kühlschrank mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln behängt und die Wand rund um den Türrahmen war mit farbigen Seiten aus dem National Geographic-Magazin tapeziert, gekrönt von einem Triptychon der drei Astronauten: ›Buzz‹ Aldrin, Neil Armstrong und Michael Collins. Davey war jedes Mal traurig, wenn ich zur Schule losmusste, als wäre das vorher noch nie passiert, dass ich mir die Jacke anziehe und den Ranzen aufsetze. »Len-niiiiieh«, sagte er ganz langsam und gedehnt. Klammerte sich an mir fest, drückte seinen großen, blonden Kopf gegen meine Schulter und weinte meinen frischen Pullover voll.
Er blieb bei Mrs Gaspar und sie schauten Zeit der Sehnsucht im Fernsehen. »›Zeit, die unvergänglich ist, Zeit der Sehnsucht‹«, zitierte Davey den Vorspann. »Braver Junge«, sagte Mrs Gaspar. Dreimal am Tag musste er beten, auf den Knien, was er auch tat, gutmütig wie er war.
Aber er hatte auch Wutanfälle. Er mochte Mrs Gaspars Suppe nicht. Er mochte den Tee nicht, den er trinken sollte, damit er langsamer wuchs. Es war der gleiche bittere, gelbe Tee, den sie mir wegen meiner dünnen Haare verabreichte. »Nun trink schon«, flüsterte ich nach der Schule, »trink ihn doch einfach.« Wenn Mrs Gaspar sich aufregte, fing ihre Lunge an zu pfeifen. Sie sagte, wir wären undankbar. Wo wir denn wären ohne sie? Ob wir vielleicht bei Mr Petersburg in der Nummer 16 bleiben wollten? Ob der uns morgens Frühstück machen würde? Oder eine anständige Suppe kochen würde? »Trink ihn doch einfach«, sagte ich zu Davey. »Da ist eh nichts drin.« Mein Haar war immer noch dünn. Aber Davey wollte nicht. Machte die Augen zu und den Mund auf, und ich wartete auf sein Gebrüll.
Davey brüllte wie ein verwundeter Stier. Daveys Gebrüll ließ die Wände erzittern.
Mrs Gaspar hob die Hände zur Decke und sprach ein stummes Gebet. Karl und Karla versteckten sich unterm Sofa.
»Dafür bin ich zu alt«, sagte Mrs Gaspar zu Mutter. »Ich liebe mein kleines Küken, aber dieses Geschrei … Das schnürt mir die Luft ab. Es muss doch irgendwo einen Kindergarten geben.«
Auf dem Weg zur Schule versuchte ich, möglichst nicht an ihn zu denken. Die Second Street in Grayford, Ohio, war lang und schnurgerade und ihre Häuser hatten fast alle die Farbe von Mondgestein: Hellgrau, Dunkelgrau und hin und wieder so ein seltsam blasses Grün. Das wusste ich, weil Neil Armstrong ein paar Felsbrocken mit auf die Erde gebracht hatte und Farbfotos davon im Fernsehen gezeigt worden waren. Irgendwann habe ich auch mal zu Mutter gesagt, dass ich fand, die Second Street sehe so aus, als wäre sie aus Mondgestein.
Und sie sagte: »Das mag ich so an dir, Lenny, dass du auch im Schlechten noch das Gute siehst.«
Mondgestein riecht nach verbranntem Schießpulver. Die Second Street roch nach Dieselabgasen und Taubenkacke. Nach dem Popcorn am Kinoeingang, nach dem faulenden Obst in Mr Kings Obstgeschäft namens Königliches Obst und nach dem kühlen, zischenden Atem der Automatiktüren in der Bank, der das Aroma von Anzügen, Dollarscheinen und parfümierten Damen verströmte.
Ich lief am Busbahnhof vorbei. Am Lebensmittelhändler und an Mr Kings Königliches Obst-Obstgeschäft. Ich lief am Kino und an der Bank vorbei. Vorbei an den Drei Brüdern Trapani, Maßschneiderei, und an Miss Finny, der Näherin. Vorbei an Mr Kelmendi, dem Schuhmacher. Der jeden Tag fragte: »Na, mein Fräulein? Bist du nicht noch zu klein, um allein zur Schule zu gehen?« Und jeden Tag funkelte ich ihn böse an und sagte: »Nein!«, und dann lachte er immer so schallend, dass die Tauben explosionsartig in die Luft aufstoben.
Ich lief am Park vorbei, wo die Bäume ihre fröstelnden grauen Finger in den Winterhimmel streckten. Ich sah meinen Nebelatem in der kalten Luft und stieß eine Wolke aus, wie ein Drache. Den ganzen Weg lang spürte ich noch die Geister von Daveys großen Händen auf mir und roch seine Tränen.
*
Meine Lehrerin in der dritten Klasse war Miss Schweitzer, und ihr Name klang, wie wenn man mit einem Lappen einen schmierigen Tisch abwischt. Sie war groß, eisblond und trug eine Schlaghose mit Bügelfalte. Sie ermahnte uns zum Geradesitzen, zog unsere Zöpfe in Reih und Glied und kontrollierte täglich unsere Taschentücher. Mutter sagte: »Diese Miss Schweitzer hat wohl zu viel Zeit, wenn Taschentücher ihre einzige Sorge sind.«
Aber auch ich sorgte mich unaufhörlich um meine Taschentücher. Um ihre Sauberkeit, ihre Glattheit. Ich bügelte das Taschentuchset mit Blumenmustern, das ich glücklicherweise von Nanny Flora zum letzten Geburtstag bekommen hatte, als hinge mein Leben davon ab. Matthew Milford war nämlich schon mal vor allen bloßgestellt worden, als Miss Schweitzer bei der Taschentuchkontrolle ein mehrere Tage altes Taschentuch bei ihm fand, ganz hart vor lauter getrocknetem Rotz. »Was ist denn das?«, hatte sie gefragt.
»Ein Taschentuch«, hatte Matthew Milford geantwortet, was in Wirklichkeit allerdings sehr viel länger dauerte, weil er stotterte. Erst hatte er eine halbe Minute mit dem Ein zu tun und hing dann ewig an dem Ta- von Taschentuch fest. Alle warteten geduldig. Matthew Milford hatte ein großes Muttermal auf der Wange, aus dem sogar Haare wuchsen. Die habe ich regelmäßig gezählt, wenn er nicht hinsah. Es waren immer fünf.
»Nein, Milford«, sagte Miss Schweitzer. »Das ist kein Taschentuch.«
Matthew machte ein verwirrtes Gesicht. Starrte sein Taschentuch an, das Miss Schweitzer in die Höhe hielt, damit alle sehen konnten, was in der Schule nichts verloren hatte. Matthew Milford stotterte, hatte ein Muttermal und eine schreckliche Frisur – mehr Probleme konnte er wirklich nicht gebrauchen.
Außer Matthew Milford gab es in meiner Klasse auch noch ein Mädchen namens Frankie Pepelliani, die Stepptanz machte und von allen um ihre Steppschuhe beneidet wurde. Und ein anderes Mädchen, das Tara Albright hieß und genau wie eine Puppe aussah. Sie war so makellos und ihr Blick so glasig und ihr Haar immer so ordentlich zurückgebunden, dass man sie manchmal gern angestupst hätte, um zu sehen, ob sie echt war. Und dann gab es noch ein Mädchen namens CJ Bartholomew, und CJ Bartholomew war meine beste Freundin.
CJ Bartholomew klang nicht nach einer Drittklässlerin, sondern eher nach jemandem, der zahnmedizinische Fachbücher schreibt. CJ stand für Cassandra Jane, was das Bild von Mädchen in langen Kleidern auf einer grünen Rasenfläche heraufbeschwört. Aber so war Cassandra Jane überhaupt nicht. Sie war ein wildes kleines, quirliges Ding, mit blonden Haaren, die sich niemals bändigen lassen würden. Von ihren beiden Zöpfen war abends oft nur noch einer übrig, der dann seitlich vom Kopf abstand wie der Henkel an einer Tasse.
CJ Bartholomew wurde schneller dreckig als andere Kinder. Im Sonnenlicht tränten ihr die Augen, und wenn sie dann mit den Händen an ihnen herumwischte, bildeten sich zwei schmale Schmutzspuren auf ihren Wangen, wie die Tränenstreifen eines Geparden. Außerdem lief ihr ständig die Nase. CJ war Miss Schweitzers schlimmster Albtraum.
»Bartholomew, wasch dein Gesicht. Sofort!«
Ich mochte sie von Anfang an. CJ aß ihre dreieckigen Schulbrote verkehrt herum, erst die Kruste und zuletzt die Spitze. Schob ihre Wackelzähne mit Zunge hin und her. Zog die Nase kraus, wenn sie etwas ansah, und kniff die Augen zusammen. CJ hatte fünf Schwestern und sagte mir ihre Namen auf, bis ich sie auswendig konnte: Bonnie-Anne, Nancy Jane, Lorelai Marie, Susan Louise, Josephine Claire.
»Ich hab nur einen einzigen Bruder«, sagte ich, »und der will gar nicht mehr aufhören zu wachsen. Mrs Gaspar sagt, wir müssen mit ihm zum Arzt. Kein Kindergarten will ihn aufnehmen. Aber meine Mutter sagt, er ist einfach groß, das kommt schon mal vor. Bei uns in der Familie gibt es Leute aus Schweden.«
»Wie bei Hans und die Bohnenranke, der wächst auch immer höher und höher.«
»Die Bohnenranke wächst immer höher und höher«, sagte ich.
»Stimmt«, sagte CJ, die sehr weise war. »Aber ist doch dasselbe.«
*
Davey war nur einmal für zehn Minuten in einem Kindergarten gewesen. Der hieß Unbeflecktes-Herz-Mariä-Kindergarten, was ein ziemlich langer Name war, und auch noch ohne jeden ersichtlichen Grund. Ich hatte schon ein schlechtes Gefühl, bevor wir aufbrachen. Mutter ging es offenbar ähnlich, denn sie verbrachte Ewigkeiten damit, Daveys Haare mit Brillantine zu glätten, als wäre das sein größtes Problem. Sie schmierte ihm so viel davon rein, dass er sagte, sein Kopf fühle sich ganz schwer an. Außerdem kratzte seine neue Hose. Und die neuen braunen Schuhe quietschten. Aber ich wusste, dass er einfach nur Angst hatte.
Alle drei liefen wir die Second Street hinunter, um uns herum eine Wolke aus düsteren Vorahnungen. Die dann so schlimm wurden, dass ich an der nächsten Ecke nicht mehr weiterlaufen konnte, weil ich mir ganz sicher war, dass wir einen Fehler machten. Wir konnten Davey nicht einfach irgendwo abgeben.
Meine Angst saugte alle Geräusche auf. Die vielen Autos und Busse und Lastwagen machten gar keinen Lärm mehr. Die Tauben flogen lautlos auf. Die Wintersonne blinzelte hinter einer Wolke hervor. Sie blinkte eine Nachricht für uns: Geht nicht dorthin.
Davey sah ebenfalls stirnrunzelnd zu der blinzelnden Sonne hinauf.
»Was macht ihr denn da?«, fragte Mutter, als wir beide wie erstarrt in den Himmel hinaufschauten. »Los, sonst kommen wir zu spät.«
Im Unbeflecktes-Herz-Mariä-Kindergarten war es still wie in einer Kirche. Schwester Agnetha öffnete uns die Tür. Sie lächelte und suchte nach einem Fünfjährigen. Schaute einfach über Daveys Kopf hinweg. Meine Mutter schob ihr Davey hin. Kiloweise Brillantine im Haar, kratzige Hose und nagelneue braune Schuhe. Schwester Agnethas Lächeln verschwand.
»Der ist zu groß«, sagte sie.
Sie war die Erste, die es einfach so aussprach.
Nicht: Der ist aber ziemlich groß. Sondern: Der ist zu groß. Er passte einfach nicht rein. Dabei hatten wir bisher nicht mal versucht, ihn irgendwo einzupassen. Es war unser erster Versuch. Meiner Mutter kamen sofort die Tränen.
»Er ist nur etwas groß für sein Alter«, flüsterte sie.
»Wie soll er denn mit den anderen Kinder spielen, wenn er doppelt so groß ist wie sie?«, fragte Schwester Agnetha. Doppelt so groß war ziemlich übertrieben. Davey war keine zwei Köpfe größer als der durchschnittliche Fünfjährige. Schwester Agnetha bemühte sich, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten. Aber Davey, der sonst immer lächelte, erwiderte es nicht. Er wusste, wie Gemeinheit aussah, wenn sie ihm begegnete, und klammerte sich an Mutters Rock.
»Mich hat keiner informiert, dass er so groß ist«, sagte Schwester Agnetha. »Das ist doch nicht normal. Das könnte sogar gefährlich sein.«
Mein Bruder war wirklich ziemlich stark. Wenn meine Mutter etwas Schweres zu heben hatte, packte er schon richtig mit an, aber nie hätte er jemandem etwas zuleide getan. Bei dem Wort ›gefährlich‹ hoben plötzlich alle Kinder im Raum den Kopf. Hörten auf, mit Bauklötzen zu bauen, auf Staffeleien zu malen und auf Sitzsäcken zu lesen. Alle starrten Davey an.
»Ich habe sämtliche Unterlagen eingereicht«, sagte meine Mutter. »Er ist wirklich erst fünf. Und ich hatte ihn doch auch dabei. Alle haben ihn gesehen. Sie hätten mir doch gesagt, wenn es ein Problem gibt.«
Davey schlang die Arme um die Taille meiner Mutter. Meine Ohren wurden wieder taub, weil ich ahnte, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Ich versuchte zu verstehen, was Schwester Agnetha erwiderte. Man sah, dass sie sich Mühe gab, ihre Gemeinheit zu verstecken, aber das war nur Flickwerk, sodass sie trotzdem überall durchschimmerte. Irgendein Handel wurde abgeschlossen. Ihre Lippen bewegten sich, aber es gab kein Geräusch. Und dann hatte Davey seinen Wutanfall.
Er öffnete den Mund zu einem schrecklich verzerrten Oval. Der Ton wurde wieder eingeschaltet. Wildes Gebrüll war zu hören. Sein Gebrüll. Schwester Agnetha wich entsetzt zurück. Die Fensterscheiben klirrten.
»Nein!«, brüllte er.
»Sei nicht albern, Davey«, sagte meine Mutter in die kurze Stille hinein, die dann folgte. Die Pinsel hingen schlaff in den Händen der Kinder. Ein Bauklotzturm stürzte krachend ein.
Sie versuchte, ihn von ihrer Taille zu lösen. Sein Griff wurde noch enger. Sie bog jeden einzelnen seiner Finger zurück, aber er verkrallte sich nur noch mehr. Schwester Agnetha machte vorsichtig ein paar Schritte zurück. Streckte die Hand nach dem roten Wandtelefon aus. Ich beobachtete das Geschehen, als sei ich gar nicht richtig dabei, sondern nur der Geist von Lenny Spink.
Schließlich gelang es meiner Mutter, sich von Davey zu befreien. Sie sprang mit einem Satz von ihm weg.
»Schnell«, sagte sie zu mir, aber er starrte sie mit solcher Verzweiflung an, dass sie ebenso verzweifelt aufschluchzte.
Und dann stürmte Davey los. In einem weiten Bogen galoppierte er durch den Raum, warf zwei Bücherregale um, schleuderte sie einfach zu Boden, und riss ein Bild von einer Staffelei. Pfefferte einen Sitzsack gegen die Wand, spritzte mit Farbe und stieß krachend den Lehrerstuhl um. Sein brillantiniertes Haar richtete sich wieder auf und stand ihm in zwei verklebten Hörnern vom Kopf ab, heiße Tränen strömten ihm über das rot angelaufene Gesicht, und glitzernder Rotz lief ihm aus der Nase. Die Kinder kreischten und duckten sich.
Davey vollendete seine Runde der Verwüstung und drückte sich wieder an unsere Mutter. Versteckte das Gesicht an ihrer Brust und schrie und weinte wegen all des Schrecklichen, das er getan und was man ihm angetan hatte.
»Gehen Sie jetzt«, sagte Schwester Agnetha, den roten Hörer schon in der Hand. »Jetzt gleich. Nehmen Sie Ihr Mon…«
Sie ließ das Wort unvollendet. »Und gehen Sie.«
Ich glaube, sie wollte Monster sagen. Ich war fast sicher, dass sie Monster sagen wollte.
»Er ist kein Monster«, schrie ich empört, und meine Worte waren so laut wie ein Gongschlag, und dass ich sie ausgesprochen hatte, machte alles nur noch viel, viel schlimmer.
Aber wir gingen. Setzten uns draußen auf die Stufen, bis Mutter wieder laufen konnte. Ihre Beine zitterten zu sehr. Sie hielt Davey an sich gedrückt. Sie hielt ihn so fest, als wollte sie ihn nie mehr loslassen.
*
»Wie läuft’s bei Davey im Kindergarten?«, fragte Nanny Flora.
Es regnete. Eisiger Regen fiel draußen vorm Fenster, und die Tauben froren. Die ganze Stadt war grau und die Kummerblume in meiner Brust erblühte.
»Er geht nicht hin«, sagte ich.
»Er geht nicht hin?«, wiederholte Nanny Flora.
»Sie wollten ihn nicht nehmen, er war ihnen zu groß«, flüsterte ich, weil Mutter mich nicht hören sollte. Die Sache regte sie immer noch auf. Machte sie wütend. Sorgte dafür, dass sie uns den Hackbraten auf die Teller knallte und verächtlich die Worte »Zu groß?« ausstieß.
»Nun ja, groß ist er wirklich«, sagte Nanny Flora am Telefon. Mutter hatte ihr ein Foto aus dem Fotostudio geschickt. Ich saß auf einem kleinen Bambushocker, die Füße brav über Kreuz, die weißen Socken ganz hochgezogen. Mein gelbes Kleid verlieh meiner Haut die Farbe von Dosenwürstchen. Davey dagegen sah aus, als wäre er soeben mit seinem Wikingerschiff gelandet. Er war blond und riesig, die Füße weit auseinandergestellt in einer Pose der Standhaftigkeit. Sein neues rotes Cowboyhemd rutschte schon wieder aus der Hose. Er grinste und ich schaute grimmig.
Nanny Flora wohnte ziemlich weit weg. Weder Davey noch ich hatten sie je leibhaftig gesehen. Einmal im Monat rief sie uns an, immer sonntags, zwölf Sonntage im Jahr. Eine regelmäßig wiederkehrende Formalität. Im Geschirrschrank stand ein Foto von ihr, eine zierliche Frau mit einem goldenen Helm aus drahtigen Löckchen um den Kopf und sehr weißen Zähnen. Sie trug einen blauen Mantel und wirkte sehr sauber, wie aus einer Reklame für Desinfektionsmittel. Am Telefon sprach sie von irgendwo weit oben herab, von einer Wolke vielleicht, natürlich blütenweiß und absolut keimfrei.
»Aber wir haben auch große Leute in der Familie, weißt du?«, sagte sie. »Aus Schweden. Ich finde ja, er sieht Onkel Gus ziemlich ähnlich, der kam auch aus der Ecke.«
Ich stellte sie mir vor, eine ganze Schar von schwedischen Riesen, mit tellergroßen Händen und einem zerklüfteten Lächeln voller Zahnlücken.
»Wie haben dir eigentlich die Taschentücher gefallen?«, fragte Nanny Flora von ihrer blitzsauberen Wolke herab.
»Die fand ich toll, vielen Dank«, sagte ich.
»Wie fandst du das blau geblümte?«, fragte Nanny Flora. »Oder hat dir ein anderes noch besser gefallen?«
Auf das Muster der Taschentücher hatte ich gar nicht so geachtet, nur ihre Steifheit und Reinheit bewundert und beschlossen, mir niemals mit ihnen die Nase zu putzen.
»Das blau geblümte fand ich sehr schön«, sagte ich.
»Und das gelbe?«, fragte Nanny Flora. »Das ist auch sehr hübsch, oder?«
Es war wie ein Verhör der Geheimen Taschentuch-Polizei. Vielleicht wollte sie mir eine Falle stellen. Vielleicht gab es gar kein gelbes Taschentuch. Mir schien, einer Stimme wie ihrer wäre das durchaus zuzutrauen.
»Das blaue ist am schönsten«, sagte ich.
Einen Moment lang war es still.
»Also zu groß, sagst du?«, sagte sie schließlich. Und dann: »Tja, und wie geht es dir so? Erzähl doch mal.«
Die Frage war schwierig zu beantworten. Sie kannte mich nicht. Sie wusste nichts von den Löchern in meinen Strümpfen. Nichts von meiner abgenutzten Zahnbürste. Nichts von den drei dreieckig angeordneten Warzen auf meinem Knie, die ich meine Heilige Dreifaltigkeit nannte. Sie wusste nicht, dass ich auf dem ganzen Schulweg so tat, als wäre ich ein Drache.
»Gut«, sagte ich mit klopfendem Herzen.
Sie wusste nicht, dass ich bei Regen manchmal am liebsten geweint hätte, als wäre irgendetwas tief in mir drin – eine Kummerblume, die sich öffnete, sobald die Regentage kamen, und in mir erblühte, bis ich kaum noch Luft bekam.
»Erzähl mir mal was Neues«, sagte sie.
Das klang ein bisschen drohend. Ich langweilte sie.
»Wir machen bei einem Preisausschreiben mit«, sagte ich, als es mir endlich einfiel. Ach, diese Erleichterung! Ich lehnte mich gegen die Wand, den Hörer immer noch ans Ohr gedrückt, und atmete tief durch.
»Ja wirklich?«, sagte Nanny Flora.
»Da kann man ein Lexikon gewinnen. Komplett, mit allen Bänden. Und ganz umsonst. Wenn es klappt.«
»Sieh an«, sagte Nanny Flora von ihrer Wolke herab. »Das wär doch mal was, oder?«
»Oh ja«, sagte ich.
»Gib mir jetzt mal deine Mutter«, sagte Nanny Flora, also tat ich das.
Mutter wandte uns den Rücken zu und klemmte sich den Hörer ans Ohr. Seit dieser Unbeflecktes-Herz-Geschichte war die Magie endgültig aus ihr herausgesickert. Sie bestand jetzt nur noch aus Sorgen. Ihre Beine waren ganz dünn, ihre Arme auch; sie war mager vor Sorge. Sie machte sich Sorgen wegen Daveys Verstopfung. Sie machte sich Sorgen, ob er eine Brille brauchte. »Wovon soll ich die denn bezahlen?«, fragte sie mich, obwohl ich doch gar keine brauchte und sich niemand meine Augen auch nur angesehen hatte. Sie machte sich Sorgen wegen der Kiste Apfelsinen, die sie von Mr Kings Königliches Obst-Obstgeschäft mit nach Hause gebracht hatte, und ob es richtig gewesen war, sie anzunehmen.
»Ich weiß«, hörte ich sie zu Nanny Flora sagen.
»Ich weiß, aber …«
»Ja, ich geh mit ihm zum Arzt …«
»Mama«, hörten wir sie sagen. »Ich will jetzt nichts mehr von Onkel Gus aus Schweden hören.«
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Aber beeilen Sie sich!
Die Teilnahmefrist endet am 15. Januar.
(Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen entnehmen Sie bitte dem Kleingedruckten in dieser
Zeitung)
Cynthia Spink
762 Second Street, Apartment 15
Grayford, Ohio 44002
5. Januar 1975
Sehr geehrter Burrell-Verlag,
herzlich willkommen bei den Spinks. Ich heiße Cindy und habe zwei Kinder, Lenore und David. Ihr Vater ist vor fast einem Jahr gestorben. Ich ziehe sie alleine groß, indem ich im Schichtdienst als Pflegerin im Seniorenheim »Goldener Herbst« arbeite. Wir kommen zurecht, wir haben genug zu essen und ein Dach über dem Kopf. Die Kinder sind mein Ein und Alles. Sie sind beide sehr hübsch, auch wenn David sehr groß für sein Alter ist. Ich war mit ihm beim Arzt, und jetzt soll untersucht werden, woher das kommt. Lenore ist sehr lieb zu ihrem Bruder und eine gute Schülerin in der dritten Klasse. Sie kann schon sehr gut lesen. Wir würden uns sehr freuen, das Lexikon zu gewinnen, damit DAS WISSEN DER WELT auch in unserer bescheidenen Hütte Einzug hält.
Mit freundlichen Grüßen
Cynthia Spink
WIR SCHENKEN IHNEN DAS WISSEN DER WELT
Burrell Verlag GmbH
7001 West Washington Street
Indianapolis, IN 46241
3. Februar 1975
Sehr geehrte Mrs Spink,
herzlichen Glückwunsch! Sie sind eine der glücklichen Gewinnerinnen von Burrells Großem Sammellexikon fürs heimische Regal. Wir schenken Ihnen das Wissen der Welt. Die ersten drei Hefte sind diesem Schreiben bereits beigefügt, alle weiteren Lieferungen erfolgen wöchentlich frei Haus. So haben Sie den Buchstaben A im Handumdrehen beisammen! Falls Sie Ihr Lexikon noch schneller erhalten wollen, wenden Sie sich bitte an unsere Vertriebsabteilung. Wir bieten mehrere Finanzierungsmodelle an.
Mit freundlichen Grüßen
Martha Brent
Vertriebsleitung
1,35 METER • FEBRUAR 1975
Meine Mutter log wie gedruckt. Schon der erste Satz war eine Lüge: Herzlich willkommen bei den Spinks. Uns kam eigentlich nie jemand besuchen, außer Mrs Gaspar und Karl und Karla. Wenn doch mal jemand an die Tür klopfte, wurde unsere Mutter sofort misstrauisch, spähte durch den Spion und murmelte ärgerlich: »Wer kann denn das schon wieder sein?«
Und das mit dem Arztbesuch war auch eine Lüge. Kein einziges Mal war sie mit ihm beim Arzt gewesen, sie redete bloß ständig davon, jeden Tag.
»Ich geh mit dir zum Arzt«, drohte sie ihm, als würde er deshalb aufhören zu wachsen.
»Und was macht der dann?«, fragte Davey.
»Der gibt dir eine Spritze, damit du aufhörst zu wachsen«, sagte Mutter.
»Aber ich mag keinen Spritzen«, heulte Davey los.
Was unser Aussehen anging, hatte sie immerhin nicht gelogen, denn Davey war wirklich sehr hübsch, mit seinen blauen Augen, den langen Wimpern und dem verträumten Blick. Allerdings hielt er sich auch schon ein bisschen schief. Er war zwar erst fünf, aber so groß wie ein Fünftklässler, deshalb knickte er seitlich so ein bisschen ein, wie ein Halm, der in der Sonne welkt.
Ich dagegen war überhaupt nicht hübsch, da war nicht dran zu rütteln. In der Schule gab es viele hübsche Mädchen, mit hübschen Frisuren und hübschen Gesichtern und hübschen Kleidern. Denen fiel immer alles leicht, Seilspringen, Kreischen, Lächeln. Sie hatten Namen wie Tara oder Tabitha oder Mary-Lynne. Keine von ihnen hatte einen Namen wie Lenore.
Und auch über Peter Lenard Spink hatte Mutter in ihrem Brief gelogen.
Peter Lenard Spink. Peter Lenard Spink. Peter Lenard Spink, flüsterte ich nachts im Bett vor mich hin, um ihn nicht zu vergessen. Peter Lenard Spink hatte Nikotinflecken an Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Seine Haut war dort so hart wie Leder, rissig und leuchtend gelb. Und er konnte diese Fadenspiele.
»Komm mal her, Klein Lenny«, sagte er manchmal, und dann wusste ich, dass er gleich die Schnur aus der Tasche ziehen würde. Eine alte, zerschlissene Schnur. Ich kniete mich vor ihn, um ihm zuzusehen.
Ich wollte es.
Ich wollte es nicht.
Ich wollte es.
Und auch wieder nicht.
Er machte einen Schmetterling, blitzschnell wand er sich die Fäden um die Finger, und zack, löste er sie wieder auf. Eine Tasse mit Unterteller, ein Stern, die Schnurrhaare einer Katze. »Miau«, sagte er.
»Erinnerst du dich noch an seine Fadenspiele?«, fragte ich Davey in der Dunkelheit unseres Zimmers.
»Na klar«, sagte er.
»Tust du nicht«, sagte ich, um ihn zu ärgern.
Hexenhut. Hexenbesen. Kirchturm. Spinnennetz.
»Steck mal die Hand durch, kleine Lenny«, sagte Peter Lenard Spink.
Aber das wollte ich nie. Ich wollte, dass er es ganz langsam machte, damit ich sehen konnte, wie es ging.
»Wenn ich es langsamer mache, ist der Zauber weg«, sagte er. »Steck mal die Hand durch.«
Das war immer der letzte Trick. Das Ende der Vorstellung. Ich steckte die Hand durchs Spinnennetz und er tat so, als wollte er mich fangen, aber im nächsten Moment war das Netz auch schon weg und nur ein leerer Ring blieb zurück.
»Peter Lenard Spink«, flüsterte ich, als könnte das ihn davon abhalten, zu verschwinden.
»Hör auf«, sagte Davey. »Mama, Lenny macht mir Angst.«
»Ihr sollt schlafen«, rief sie aus dem Wohnzimmer.
»Peter Lenard Spink«, flüsterte ich mit Gruselstimme.
Denn auch über mich hatte meine Mutter in dem Brief gelogen.
»Sie hört aber nicht auf, Mama«, rief Davey.
»Ich komm euch gleich da rüber«, schimpfte Mutter aus dem Wohnzimmer. »Hör sofort auf, ihn zu ärgern, Lenny, verstanden? Ihr weckt noch Mr Petersburg auf.«
Mr Petersburg war unser Nachbar in Nummer 16. Aber wir konnten kaum glauben, dass es ihn wirklich gab. Aus seiner Wohnung war nie ein Laut zu hören. Kein einziger. In meinem ganzen Leben hatte ich ihn überhaupt erst zweimal gesehen, und bei diesen Gelegenheiten war er groß und blass gewesen und hatte einen Anzug getragen. Lautlos und verstohlen war er die Treppe hinaufgeglitten, wie ein Geist. So hatte ich es Davey jedenfalls erzählt, der ihn noch nie gesehen hatte.
Und ich erinnerte ihn auch gern daran.
»Mr Petersburg, der Geist«, flüsterte ich.
»Ich sag’s Mama«, drohte er.
»Komm, wir schauen den Bussen zu«, sagte ich, damit er nicht petzte.
Sein Bett stand an der Wand, aber meins direkt vorm Fenster. Nachts ließ der Verkehr ein bisschen nach, hörte aber nie ganz auf. Gleichmäßig summte er unter uns dahin, nur unterbrochen von den Müllautos, den Straßenkehrern und dem Lieferwagen, der Mr Kings Königliches Obst-Obstgeschäft mit Obst belieferte. Die ganze Nacht lang gurrten die Tauben draußen auf der Fensterbank. Davey hatte ihnen Namen gegeben: Frank, Roger und Martin. Ich hatte ihm zwar erklärt, dass mindestens eine von ihnen mit Sicherheit ein Weibchen war, aber er glaubte mir nicht.
Davey krabbelte neben mir ins Bett. Wir knieten uns hin und schauten hinaus, vorbei an Frank und Roger und Martin, schräg rüber zum Greyhound-Busbahnhof auf der anderen Straßenseite. Tausende von Abschieden müssen wir von unserem Kinderzimmerfenster aus beobachtet haben, Davey und ich, vielleicht sogar noch mehr. Kleine Abschiede und große Abschiede. Armselige und grandiose. Manche Leute konnten einfach nicht losfahren, ohne dass sich alle, die sie kannten, bei ihrem Abschied versammeln mussten: Onkel und Tanten, Großmütter am Stock, sämtliche Cousins und Cousinen und Freunde, Mädchen in ihren besten Kleidern und Jungs in gebügelten Hosen. Und all das Gedränge, Geküsse und Gewinke, das dann stattfand. Die Grimassen hinter dem Busfenster. Das wilde Gestikulieren. Andere Leute stiegen einfach ein, mit nichts außer ihrem Fahrschein in der Hand. Sie gingen die Stufen hinauf, ohne sich noch einmal umzudrehen.