image

image Ingrid Strobl, geboren 1952 in Innsbruck, Studium in Innsbruck und Wien. Dissertation über »Rhetorik im Dritten Reich«. Seit 1977 freiberufliche Tätigkeit beim ORF, Redakteurin bei EMMA, danach freie Buch-, TV- und Hörfunkautorin u. a. für WDR und SWR. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. In Untersuchungshaft von 1987 bis 1990. Währenddessen Herausgabe eines Sammelbandes mit eigenen Texten zu Frauen, Politik, Literatur und Kunst sowie Fertigstellung des Bandes Die Angst kam erst danach. Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung. Heute lebt Ingrid Strobl als freie Autorin in Köln.

Ingrid Strobl

VERMESSENE ZEIT

Der Wecker, der Knast und ich

image

image

Im Anhang dieses Buches

finden sich Dokumente zur

Erklärung der historischen

Hintergründe, wie den

Revolutionären Zellen, der

Roten Zora usw.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2019

Originalveröffentlichung

Erstausgabe März 2020

Umschlaggestaltung

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

© Porträt der Autorin:

Malin Kundi

ePub ISBN 978-3-96054-229-2

Für Peter Neff, Martina Domke und Beate Haensel

Inhalt

Teil 1: Justizvollzugsanstalt München Neudeck
(21. Dezember 1987 – 11. Januar 1989)

Teil 2: Justizvollzugsanstalt Essen
11. Januar 1989 – 19. Mai 1990

Danksagung

Anhang

Teil 1: Justizvollzugsanstalt München Neudeck
(21. Dezember 1987 – 11. Januar 1989)

1

Der Autokonvoi fährt langsam in den Hof ein. Der Hubschrauber kreist über dem Gefängnisgebäude. Großer Auftritt für die »Terroristin«. Ich wappne mich für das, was jetzt kommt: im Knast, der Justizvollzugsanstalt München Neudeck. Hinter mir liegen die Verhaftung in meiner Wohnung, die Nacht auf dem Polizeipräsidium in Köln, der Hubschrauberflug nach Karlsruhe zum Bundesgerichtshof, die halsbrecherische Autofahrt im Konvoi nach München. Ich fühle mich schmutzig, meine Klamotten riechen, zumindest bilde ich mir das ein, die Haare kleben mir fettig am Kopf.

Drei Justizvollzugsbeamtinnen nehmen mich in Empfang. Das bisschen, das ich bei der Festnahme mitnehmen durfte, muss ich ihnen nun aushändigen. Sie führen mich in das Gebäude, durch mehrere Flure, schließen einen Raum auf, die Kleiderkammer, bedeuten mir, einzutreten, schließen hinter uns wieder ab. Größe? Sie legen einen Lodenmantel, einen Wollrock, einen Pulli, Strumpfhose, Unterwäsche, Nachthemd, Wollsocken und ein paar klobige Schuhe auf einen Stapel.

»Ziehns Ihnen bitte aus.« Sie durchsuchen mich. Körperkontrolle. Nicht grob. Routiniert. Und dann fragt eine: »Wollns duschen?« Sie lassen mich lange unter der Dusche stehen, obwohl es schon Abend ist. Ich beginne, mich wieder ein wenig wie ein Mensch zu fühlen. Ziehe die Knastklamotten an, komme mir vor wie verkleidet, ausgestattet für einen Heimatfilm aus den Fünfzigerjahren. Eine Beamtin wickelt eine Zahnbürste, eine Tube Zahnpasta, einen Kamm, eine Mütze, ein Handtuch, einen Waschlappen, einen Becher, einen Teller, Löffel, Gabel und Messer in das Nachthemd und drückt mir das Bündel in die Hand: »Jetzt gehn ma in Ihren Haftraum.« »Ich brauche Zigaretten«, sage ich. Vor gut einem Jahr habe ich aufgehört zu rauchen. Aber ohne Nikotin stehe ich das hier nicht durch.

Auf dem Weg darf ich mir an einem Automaten eine Packung Tabak und Blättchen ziehen. Im Kellertrakt sperren sie eine Eisentüre in der Mitte des Flurs auf und lassen mich eintreten. Zeigen mir den Rufknopf. »Meldens Ihnen, wenn Sie was brauchen.« Tür zu, Schlüsselklirren, Schritte, Stille.

»Hallo? Hallo! Ist hier jemand? Hallo?« Langsam begreife ich, dass alle anderen Zellen leer sind, dass ich in diesem Keller alleine bin. Dass ich gerade am eigenen Leib erfahre, wovon ich bislang nur gehört und wogegen ich demonstriert habe: Isolationshaft. Ich stehe auf, will das Fenster öffnen, Luft holen. Aber da ist kein Fenster. Nur ganz oben unter der hohen Decke ein schmaler angestaubter Streifen Glas. Ich werde hier ersticken, denke ich. Irgendwann ist die Luft in diesem Raum aufgebraucht, und ich werde ersticken. Ich renne von einem Ende der Zelle zum anderen, überlege, ob ich auf den Knopf drücken soll, um ihnen zu sagen, dass ich hier nicht bleiben kann, unmöglich, geht nicht, ich komme hier um! Setze mich auf das Bett, zünde mir eine Zigarette an, versuche einzuschätzen, wie viel Sauerstoff die mir jetzt wegnimmt, rauche sie zu Ende, sage mir, so ist das jetzt, reiß dich zusammen. Geht schon. Muss irgendwie gehen. Du darfst sie nicht wissen lassen, dass du Angst hast.

Dann plötzlich Schritte. Ich springe auf. Alarm. Wer kommt? Warum?

Die Tür wird aufgeschlossen. Eine der Beamtinnen steht im Türrahmen: »Der Herr vom BKA lässt Ihnen bestellen, wenn Sie doch was sagen wollen, dann müssens das jetzt tun. Danach ist es zu spät.«

»Sagens ihm, ich hab ihm nichts zu sagen.«

Sie nickt. Offenbar hat sie diese Antwort erwartet.

Wie soll ich die Zeit hier herumbringen? Ich habe nichts zu lesen, was soll ich denn tun, den ganzen Tag? Ich muss fragen, ob die eine Knastbücherei haben. Und ob man mir Bücher schicken kann. Aber was mache ich bis dahin? Ich stehe auf, laufe herum, bekomme keine Luft mehr, presse mir die Hände auf die Brust, Panik, ich ersticke! Setze mich wieder hin, lehne mich an die Wand, versuche, in den Bauch zu atmen, ruhig bleiben, es wird schon!

Ich steige auf den Tisch und versuche, durch die Glasscheibe an der Decke etwas zu erkennen. Keine Chance. Ich setze mich auf die Bank. Starre die Tür an: Steht da jemand davor, auf der anderen Seite? Schaut da jemand durch das Guckloch? Werde ich beobachtet? Denke: Ich müsste jetzt bei den Eltern auf dem Sofa sitzen. Bei ihnen sein. Schicke ihnen stumme Nachrichten: Ich hab euch so lieb, es tut mir so leid, dass ihr das jetzt durchmachen müsst … Stelle mir vor, wie sie im Wohnzimmer sitzen, nachdem sie im Fernsehen die Nachrichten gesehen haben. Oder nachdem die Polizei bei ihnen war. Meine Mutter weint vielleicht. Mein Vater flucht stumm vor sich hin. Verflucht die Polizei, die seine Tochter ins Gefängnis sperrt, obwohl sie unschuldig ist. Natürlich ist sie unschuldig! Meine Mutter zerfrisst sich in Grübeleien. Hat sie das getan, was sie sagen? Ist sie eine Terroristin? Sie hat ja immer so radikal dahergeredet. Aber das war doch nur reden. Oder?

Nicht weinen! Ich darf hier nicht weinen. Eine politische Gefangene weint nicht. Sie würden es als ein Zeichen von Schwäche registrieren. Sie können alles sehen durch den Spion. Alles. Immer. Reiß dich zusammen!

Ich stelle mich mit dem Rücken zur Tür, zum Spion, schaue mich um. Inspiziere die Zelle. Das Bett an der Wand. Daneben ein kleines Waschbecken. Auf der anderen Seite ein Tisch, eine Bank, ein schmaler Schrank, alles, wie das Bett, im Boden fixiert. Zwei Schritte weiter eine Kloschüssel. Wenn ich sie benutze, kann mich auch dabei jeder, der vor der Tür steht, beobachten. Hör auf mit den Gedanken! So ist es jetzt eben. Ich hänge den Lodenmantel in den Schrank. Ziehe die klobigen Schuhe aus. Stehe auf, gehe zum Waschbecken, wasche mir die Hände. Das Wasser ist kalt. Warmes Wasser gibt es nicht. Zweimal die Woche, haben sie mir gesagt, kann ich duschen.

Wieder Schlüsselklirren. Die Essensklappe in der Tür wird einen Spaltbreit geöffnet. »Hallo Frau Strobl, mir haben leider nix mehr zu essen. Aber ich könnt Ihnen einen Tee machen. Wollns an Tee?«

»Ja gern!« Es rutscht mir heraus, bevor ich es mir verbieten kann.

»Was wollns denn für einen? Einen Pfefferminztee?«

Noch mal: »Ja, gern!«

Die Klappe wird geschlossen. Mein Hirn fängt an zu rotieren. Warum tut sie das? Ist das ein Trick? Ein Test? Kann die einfach nur freundlich sein? Ich entscheide mich für letzteres. Gefühl gegen Doktrin. Für politische Gefangene gehören »Wachteln«, »Schlusen«, »Schließerinnen« zur Armee des Feindes. Für mich sind sie gerade die ersten freundlichen Menschen seit meiner Verhaftung.

image

Ich hatte das Wochenende mit Freunden verbracht. In der Tagesschau war die Meldung gekommen: »Mehrere Frauen als mutmaßliche Mitglieder der Roten Zora festgenommen.« Man hatte in ihren Wohnungen Wecker der Marke Emes Sonochron gefunden – wie sie von der »terroristischen Vereinigung Revolutionäre Zellen« als Zeitzünder bei Anschlägen verwendet wurden. Und allein, dass sie diese Sorte Wecker besessen hatten, war offenbar der Grund für die anschließende Verhaftung der Frauen gewesen.

So einen Wecker hatte ich auch gekauft. Ich hatte zu der Zeit große Sympathien für die Revolutionären Zellen. Es war mir sogar gelungen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Wir hatten diskutiert und waren nicht immer einer Meinung gewesen. Und dann fragten sie mich, ob ich diesen speziellen Wecker für sie kaufen würde. Sie brauchten ihn für einen Anschlag auf das Lufthansagebäude in Köln. Das würde zu dem Zeitpunkt leerstehen, es würden keine Menschen verletzt. Ich habe Ja gesagt. Und habe mich gefreut, dass sie mir vertrauten.

Doch dann hatte ich begonnen, für mein Buch über Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung zu recherchieren. Hatte mich diesem Thema, den Menschen, die ich dafür interviewte, völlig verschrieben. Alles andere interessierte mich nur noch marginal, wenn überhaupt.

Und nun überlegte ich, leicht panisch, ob die Polizei womöglich auch bei mir gewesen war und meine Wohnung auf den Kopf gestellt hatte. Der Paragraf 129a, auch »Anti-Terror-Paragraf« oder »Lex RAF« genannt, hätte ihr das ermöglicht. Denn genau dafür war er im August 1976 eingeführt worden: Um »im Kampf gegen den Terrorismus« der Justiz eine Sonder-Rechtsprechung und der Polizei Befugnisse zu geben, die sie sonst nicht hatte.

Als ich schließlich, zurück in Köln, in meine Straße einbog, war es dort ungewohnt still. Sonst war um diese Zeit mehr Verkehr. Ich ignorierte das schlechte Gefühl, das mich befiel, die Angst, die sich in meinem Magen festsetzte.

Das Licht im Hausflur ging nicht an. Als ich versuchte, im Dunkeln den Schlüssel in das Schloss meiner Wohnungstür zu stecken, flog sie auf, ein Pulk schwarz gekleideter, vermummter und bewaffneter Männer drängte mich gegen die Wand. Einer hielt mir seine Waffe an die Schläfe. Wenn jetzt unten die Haustür zufällt, dachte ich, und der erschrickt, bin ich tot. In der Wohnung fesselten sie mich an meinen Schreibtischstuhl. »Wo ist meine Katze?«, fragte ich. Gab keine Ruhe, bis einer sie suchen ging. Sie lag im Schlafzimmer auf dem Bett. Fauchte. »Ich will meine Anwältin«, sagte ich.

Im Polizeipräsidium versuchte ein Beamter, mich zu verhören. Edith Lunnebach, meine Anwältin, die schließlich kam, erklärte er, warum ich festgenommen wurde und fügte noch etwas von einem Mord hinzu. Wir überlegten, ob die mir tatsächlich einen Mord anhängen wollten. Oder was sie sonst damit bezweckten. Edith abschrecken? Mich in Panik versetzen? Klar war nur, dass sie mich nach Paragraf 129a festgenommen hatten.

Irgendwann brachten sie mich in eine der Zellen auf dem Präsidium. Ich bekam nichts zu essen und durfte mich nicht waschen, geschweige denn duschen. Am nächsten Morgen flogen sie mich nach Karlsruhe, zum Bundesgerichtshof. Als sie mich dort dem Untersuchungsrichter vorführten, dachte ich: Der sieht jetzt ein wildes Tier vor sich. Eine ungepflegte Terroristin. Fragte mich, ob das Absicht war.

2

Ein Schlüssel rasselt, die Tür geht auf, eine Beamtin, die ich noch nicht kenne, kommt herein. »Grüß Gott, Frau Strobl.« Sie legt eine kleine Tüte auf den Tisch und einen Tannenzweig. »Das ist vom Herrn Pfarrer. Wegen Weihnachten. Und er lässt fragen, ob Sie mit ihm reden möchten.«

»Nein, danke.«

»Ich sag’s ihm. So, ich hab Ihnen Formulare mitgebracht, wenn Sie etwas beantragen wollen. Und den Katalog von unserer Bücherei. Suchen Sie sich was aus, drei Bücher maximal, dann schau ich, dass Sie die vielleicht noch bis Heiligabend kriegen.«

»Ich brauche Schreibpapier und Briefumschläge und Briefmarken.«

Sie nickt. »Das könnens beantragen. Briefmarken dürfens keine kriegen.«

»Warum nicht?«

»Ja, das geht halt nicht bei Ihnen.«

Ich fülle die Antragsformulare für Papier, Briefumschläge und einen Kugelschreiber aus. Blättere hektisch in dem Katalog: Bastelbücher, Nähanleitungen, Kochbücher, das, was man Frauenromane nennt, uralte Krimis, Bände, in denen es um Technik, Autos und Sport geht. Verzweiflung steigt in mir hoch, die haben nichts für mich, ich habe nichts zu lesen, das überlebe ich nicht …

»Lassens Ihnen Zeit, ich komm später noch einmal vorbei.«

Nein, will ich schreien, bleiben Sie hier, bitte! Ich finde schon etwas, sonst klappt es nicht bis Heiligabend. Aber ich reiße mich zusammen. Sage: »Danke.« Bloß keine Gefühle zeigen, keine Angst, keine Schwäche!

Als sie zurückkommt, habe ich drei Bände gefunden. Sie schreibt sich die Autoren und Titel auf. Geht und kommt eine halbe Stunde später wieder. »Ziehns Ihnen an, Frau Strobl, wir fahrn nach Stadelheim.« »Warum?«, frage ich sie, bemühe mich, meine Verzweiflung nicht zu zeigen, ich will nicht in das Männergefängnis, ich will hier bleiben!

»Anwaltsbesuch«, sagt sie. »Mir ham hier bei uns keine Trennscheibenzelle.«

Vor der Türe steht ihre Kollegin. Wenn ich meine Zelle verlasse, müssen mich immer zwei Beamtinnen begleiten. Ich bin ja eine mutmaßliche Terroristin. Also hochgefährlich. Eine von ihnen muss auch mit nach Stadelheim fahren. Die Polizisten geben ihr eine schusssichere Weste. Sie zieht sie widerwillig an, murmelt grantig: »Die ist aber schwer!« Wir fahren wieder im Konvoi. Vorne ein Polizeiauto, in der Mitte das, in dem die Beamtin, ich und zwei Polizisten sitzen, dahinter noch eines. In Stadelheim führen sie mich durch Kellerverliese, immer tiefer hinunter in immer unheimlichere Gänge, was haben die vor, denke ich, spüre schon wieder die Panik aufkommen. Nach Ewigkeiten, so fühlt es sich wenigstens an, sperren sie eine Zelle auf. »Eintreten! Der Herr Wächtler kommt gleich.«

Trennscheibenbesuch. Auch so etwas, das mir von draußen fast schon vertraut ist, aus den linksradikalen Publikationen und den Erzählungen von Leuten, die RAF-Gefangene besuchten. Jetzt, Frau Strobl, sage ich mir, um eine Ironie bemüht, die ich nicht fühle, wird aus dem Begriff eine ganz praktische Erfahrung.

Die dicke Glasscheibe zieht sich durch den gesamten Raum. Zu beiden Seiten befindet sich eine, klar, in den Boden eingeschraubte Sitzbank. Mit einem Stuhl könnte ich ja versuchen, die Scheibe zu zertrümmern.

Ich setze mich. Auf der anderen Seite geht die Tür auf, ein Mann tritt ein, etwas älter als ich, groß, Lockenkopf, Neugier in den Augen, aber keine unangenehme Neugier: »Hartmut Wächtler«, stellt er sich vor. »Die Edith Lunnebach hat mich gebeten, sie hier in München zu vertreten. Weil sie ja nicht dauernd aus Köln herunterfahren kann. Ich soll Sie von ihr grüßen.« Ich danke ihm, wir lächeln uns an, und dann sagt er: »Schick, die Collection Neudeck!«

»Ja, ne?«, erwidere ich. »Da kommt Jil Sander nicht mit.«

Von da an ist alles klar zwischen uns. Wir haben beide Sinn für Ironie. Einschließlich Selbstironie. Wir mögen uns. Ich bitte ihn, alles zu unternehmen, damit ich aus dem Horrorkeller herauskomme, meine Eltern anzurufen und ihnen zu sagen, dass es mir gutgeht und dass ich sie liebe, dafür zu sorgen, dass mir die Bücher, die Leute mir vielleicht, hoffentlich schicken, ausgehändigt werden, und dass ich mir von dem Geld, das ich bei mir hatte, zum Beispiel Tabak und Briefmarken kaufen kann. Er nickt bei jedem meiner Wünsche und guckt skeptisch. »Mach ich«, sagt er. »Aber machen Sie sich nicht zu viel Hoffnungen. Jetzt zu Weihnachten mahlen die Mühlen des BGH noch langsamer als eh schon.«

Beim Hinausgehen sagt er noch: »Ich komme nächste Woche wieder.«

Auf dem Rückweg spüre ich, dass ein wenig von der Spannung weg ist, die ich die ganze Zeit aufrechterhalten habe. Wenn wir zurück sind, beschließe ich, mache ich Gymnastik.

Ich stelle mich mit dem Rücken zum Spion, strecke die Arme aus, lasse sie kreisen, schüttle mich, lasse die Schultern kreisen, beuge mich nach vorne und ziehe mich langsam wieder hoch. Es schmerzt, tut aber gut. Dann inspiziere ich die milde Gabe des Pfarrers. In der Tüte sind Kekse und eine Scheibe Christstollen. Ich esse einen Keks und versuche, einen Plan zu entwerfen für den Fall, dass es mit den Büchern bis Heiligabend nicht klappt. Ich könnte mir Gedichte ins Gedächtnis rufen, die ich einmal auswendig konnte. Schauen, wie viel ich davon noch immer auswendig weiß. Mir diese Zeilen, Strophen laut vorsagen. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst. Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst. Aurea prima sata’st aetas quae vindice nullo, sponte sua sine lege fidem rectumque colebat …

Es geht doch nichts über eine humanistische Bildung, denke ich grinsend, aber auch ein bisschen dankbar. Genau: Gedichte! Und Songs. Ich kann meine ganzen Lieblingssongs hier absingen, die Stones rauf und runter, die Kinks, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Gianna Nannini, Billie Holiday, die »Winterreise«, »Es werd scho glei dumpa« – nein! Nein, das nicht. Auf keinen Fall. Keine Tiroler Weihnachtslieder.

Ich darf nicht weinen!

»Es ist ein Ros entsprungen …« Nein. Das auch nicht. Nichts, was zu wehtut.

Ich darf auch nicht an zu Hause denken, an »Daheim«, das Innsbrucker Zuhause, Weihnachts-Zuhause. Ich würde jetzt mit meinen Eltern in der Küche sitzen und reden. Ihnen von der Arbeit erzählen, von den Recherchen für mein Buch über Frauen im bewaffneten Widerstand gegen den spanischen Faschismus und die deutsche Besatzung. Von den Interviews, die ich in Madrid, Amsterdam, Lyon und mit einer slowenischen Partisanin in Kärnten geführt habe, von den Menschen, die mir diese Interviews gegeben haben, von ihrer Offenheit, ihrer Bereitschaft, mich bei der Recherche zu unterstützen … Und sie wären stolz auf mich und würden alles ganz genau hören wollen.

Sie waren besorgt, als ich ihnen sagte, ich habe bei Emma gekündigt und baue mir jetzt ein Leben als freie Autorin auf. Als ich ihnen aber von dem Buchprojekt erzählte, haben sie zustimmend genickt und nur gemeint: »Das wird aber schwierig werden. Meinst du wirklich, die Leute wollen mit einer Österreicherin dadrüber reden?« Ich war mir da anfangs auch nicht sicher – angesichts der Menschenmassen, die Hitler beim Einmarsch in Österreich zugejubelt hatten, und, gerade jetzt, angesichts des mutmaßlichen NS-Kriegsverbrechers und nun österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim. Aber wir haben uns geirrt, die Eltern und ich. Wenn sie mich hier besuchen kommen, muss ich ihnen von den Interviews berichten, die ich letzte Woche noch in Lyon geführt habe, mit Dina und Henri Krischer und Herbert Herz.

Dina hat mich erst einmal verhört. Wollte herausfinden, warum ich mich ausgerechnet für ihre jüdisch-kommunistische Widerstandsgruppe interessiere: eine Österreicherin, die in Deutschland lebt, keine Jüdin ist und auch keine Geschichtsprofessorin an irgendeiner Uni. Warum ich überhaupt über dieses Thema schreiben will.

Nach einer guten Stunde hatte ich die Prüfung bestanden. Dina fragte mich, wo mein Gepäck sei. »Im Hotel.« »Wie, im Hotel? Du schläfst hier! Wir fahren jetzt deine Sachen holen.« Henri zwinkerte mir zu. Er war der Kommandant von Carmagnole gewesen, der Gruppierung des jüdisch-kommunistischen Widerstands MOI-FTP in Lyon, allein gelassen von der nationalen Résistance, gejagt von den deutschen Besatzern, alles junge Leute, die Eltern schon deportiert, wenn sie kein wirklich gutes Versteck hatten finden können. Eine der wenigen Widerstandsgruppen, in denen Frauen auch kämpfen durften.

Das war aber nur eines von vielem, erklärte mir Dina. Die tägliche Arbeit der Frauen bestand darin, die Verbindung zwischen den Kombattanten, der Führung und den anderen Gruppen zu organisieren, zu halten und nach Verhaftungen wieder aufzubauen. Konspirative Wohnungen, Lebensmittel, Kleidung für die Kombattanten zu besorgen. Waffen und Sprengstoff zu transportieren. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute riskierten sie ihr Leben. »Was hätten wir denn sonst tun sollen?«, fragte mich Dina. »Unsere Frauen waren die wahren Helden«, sagte Henri.

Mit Herbert, der Liberté geleitet hatte, die Gruppe der MOI-FTP in Grenoble, fuhr ich im Zug zurück. Er war nach Lyon gekommen, um beim Interview dabei zu sein. Mir von seiner Gruppe zu erzählen, den Frauen in seiner Gruppe. Eine von ihnen sollte ich ausfindig machen. Sie lebt angeblich noch, irgendwo in Deutschland. Möglicherweise in München.

Während der Fahrt erzählte mir Herbert weitere Geschichten. Erklärte mir, wie sie ihre Bomben gebaut hatten. Merkte, dass ich seine Erklärungen nicht begriff. Riss ein Blatt aus seinem Notizbuch und zeichnete es mir auf: Zünder, Drähte, Sprengstoff, was auch immer sonst noch dafür nötig war. Und wie sie das alles zusammengebaut hatten. Schenkte mir den Zettel. Als Erinnerung an ihn, an Carmagnole und Liberté, ihren Kampf gegen die Besatzer. Die Endlöser. Die ihre Eltern in die Lager verschleppt hatten. Die alle französischen Juden ermorden wollten, alle polnischen Juden, alle Juden in allen Ländern, die sie besetzt hielten. Die Kinder, die Alten, alle.

In Karlsruhe stieg ich um in den Zug nach Köln. Kämpfte lange mit mir. Herberts Zeichnung war ein historisches Dokument. Ein kostbares Geschenk. Ein Vertrauensbeweis. Schließlich zerriss ich sie, blutenden Herzens. Ich hatte vor einiger Zeit den Hinweis bekommen, ich würde observiert. Und eine Anleitung zum Bombenbauen wollte ich nun lieber doch nicht mit mir herumtragen. Drei Tage später wurde ich festgenommen. Die Zugtickets hatte ich noch im Rucksack.

Draußen, irgendwo über meiner Zelle, die offenbar zum Hof hin liegt, erklingen Frauenstimmen. Singen »Stille Nacht, heilige Nacht«. Ich sage stumm mein Mantra: Nicht weinen! Versuche wieder, an Dina, Henri und Herbert zu denken. An das Buch, das ich schreiben will. Daran, wie ich es schaffen könnte, es hier, im Knast, zu schreiben. Aber denken geht gerade nicht. Ich stehe auf, stampfe durch die Zelle und singe so laut ich kann: »La matina mi son alzato … o bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao …« Ich singe alle Strophen von Anfang bis Ende. Und dann noch einmal. Und dann noch »Bandiera rossa«. Und dann noch »Siamo i ribelli della montagna …« Bis schon wieder der Schlüssel rasselt.

»Frau Strobl, wollns in die Freistunde?«

Ja. Nichts lieber als das. Raus, an die frische Luft, Bewegung. Die Krähen sehen, die ich immer nur krächzen höre.

Sie führen mich den Flur entlang, sperren eine Tür auf, hinter uns wieder zu, neuer Flur, dasselbe Procedere, Treppen hinauf ins Parterre. Öffnen die Hoftür, Schlösser, Riegel, lassen mich nach draußen treten: »Eine Stunde, Frau Strobl. Wenn Ihnen zu kalt wird, meldens Ihnen.« Die beiden bleiben unter dem Vordach stehen, schauen auf die Uhr, zünden sich Zigaretten an.

Es ist kalt, und es schneit leicht. Ich gehe ein paar Schritte, vorsichtig, die Schuhe sind mir zu groß, kleinere gab es in der Kleiderkammer nicht. Der Pulli kratzt. Aber der Lodenmantel wärmt.

Der Himmel hängt tief, changiert von mittel- zu dunkelgrau. Der Betonweg führt rund um den Rasen, es gibt hier Rasen, und noch besser: Es gibt einen Baum! Er ist klein, ein wenig verkrüppelt, aber er hat einen Stamm und Äste und auf den Ästen liegt ein wenig Schnee. Ich schaue die Wände der Gefängnisgebäude hoch, die vierkant den Hof umschließen, durchbrochen von den Reihen der vergitterten Fenster. Stelle mich in die Mitte des Hofes und schaue erneut hoch, so weit, wie ich meinen Nacken nach hinten biegen kann, bis ich nur noch den Himmel sehe. Und die Flocken, die auf mein Gesicht herabsinken.

Krah.

Wo sitzt sie? Ich würde sie am liebsten anlocken, wie lockt man eine Krähe an?

Krah. Krah.

Da! Ich sehe sie! Sie sitzt im Baum, ganz nahe am Stamm, so dass sie auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist. Liebe Krähe, sage ich stumm, flieg nicht weg, bleib hier!

Ich drehe weiter meine Runden, eine nach der anderen, komme mir vor wie in einem Film, einem klassischen Knastfilm, bloß meine grüne Lodenausstattung passt nicht. Falsches Kostüm. Die Krähe ist verstummt, dafür machen sich jetzt die Tauben bemerkbar. Eine hat damit angefangen, und nun gurren sie unermüdlich im Chor. Eintönig, ergeben, enervierend.

Es schneit jetzt stärker. Die beiden Schließerinnen stehen unter dem kleinen Vordach der Tür und frieren. Aber ich kann sie nicht erlösen. Ich muss diese eine Stunde an der Luft bis auf die letzte Sekunde ausnutzen. Atmen. Gehen. Mit weit ausladenden Schritten, die nicht sofort wieder von einer Wand gestoppt werden.

3

Schlüsselrasseln. Langsam gewöhne ich mich daran. Eine Frau in Zivilkleidung, dunkles Wollkostüm, älter als die Beamtinnen, öffnet die Tür. »Grüß Gott, Frau Strobl.« Sie kommt in die Zelle, ich stehe auf, wir sehen uns an. Sie ist die Gefängnisdirektorin, stellt sie sich vor. Prüfender, nicht unfreundlicher Blick. Ich schaue fragend zurück. »Ich hab Ihnen etwas mitgebracht«, sagt sie. Legt einen DIN-A4-Schreibblock und Briefumschläge auf den Tisch. Und drei Bücher. Das andere Geschlecht. Die Buddenbrooks. Eine zweisprachige Ausgabe der Göttlichen Komödie. Diese drei hatte ich mir aus dem Katalog der Gefängnisbücherei bestellt. Es waren die einzigen Bücher im Angebot, die ich lesen wollte, und ich habe dankbar gestaunt, dass es sie da gibt. Briefmarken, sagt die Direktorin mir noch, müsse der Bundesgerichtshof genehmigen. »Und schöne Weihnachten!«

»Danke, Ihnen auch.«

Sie erlaubt sich ein Lächeln.

Ich frage mich, warum sie gekommen ist. Es ist bestimmt nicht ihr Job, Gefangenen Bücher zu bringen. Sie will mich abchecken, überlege ich. Ich passe nicht ins Bild. Richtige politische Gefangene reden nicht höflich mit den Schließerinnen.

Muss ich mich wie eine »richtige« politische Gefangene benehmen? Wecke ich falsche Hoffnungen, wenn ich bin, wie ich bin? Denken sie dann: Die kriegen wir noch zum reden? Muss ich anders auftreten? Aber sie war freundlich. Die Beamtinnen waren bisher auch freundlich. Ich bin keine RAF-Frau, ich unterliege auch sonst keinem Gruppenzwang, ich muss die Beamtinnen nicht als Feinde sehen und mich weigern, mit ihnen zu sprechen. Es gibt für mich keine Verhaltensregeln. Und es gelingt mir nicht, diese Direktorin und die Aufseherinnen zu hassen.

Draußen, aus der Ferne, war das leicht. Das Knastpersonal fiel nicht unter die Kategorie Mitmensch. Das waren die Schließer, die in den Hungerstreiks die Gefangenen zur Zwangsernährung schleppten. Mit denen die Gefangenen aus der RAF nicht sprachen. Büttel des Staates. Der Repression. Des Systems. Ich habe die Terminologie übernommen und ansonsten nicht darüber nachgedacht. Höchstens darüber, wie man freiwillig einen solchen Job machen konnte. Widerlich!

Jetzt sitze ich hier und habe es mit Menschen zu tun. Mit Frauen, die mir bisher nichts Böses wollten. Die bayerisch sprechen. Was fast wie Tirolerisch klingt. Vertraut. Kann es sein, überlege ich, dass die sich alle verstellen? Um mich unvorsichtig zu machen? Um etwas aus mir herauszukriegen? Mein Instinkt sagt: nein. Aber kann ich meinem Instinkt noch trauen? Ist er durch den Schock der Verhaftung geschwächt? Versuche ich, mir etwas schönzureden? Weil ich diese fensterlose Zelle nicht ertrage, die Einsamkeit, das Verlorensein in diesem leeren Kellertrakt?

Ich fühle mich unsicher, verunsichert, trotzig, ratlos. Die Gedanken flattern in meinem Kopf herum wie aufgescheuchte Tauben, die aneinanderprallen, taumeln, in die andere Richtung fliegen, erneut aufeinander losgehen … Im Hintergrund thront die Angst. Die Angst davor, was die mit mir vorhaben. Das Bundeskriminalamt. Die Bundesanwaltschaft. Und wer sonst noch immer. Die Angst, verurteilt zu werden, zu vielen Jahren verurteilt zu werden, meiner Mutter nicht beistehen, nicht zu ihr ins Krankenhaus kommen zu können, wenn sie wieder operiert werden muss. Die Angst, zu ersticken.

Apropos, denke ich. Zünde mir eine Zigarette an. Hallo, Selbstironie, danke, dass du wieder aufgewacht bist! Die Gedanken-Tauben fliegen davon, fürs Erste. Ich beschließe, dass ich fünf Zigaretten pro Tag rauchen darf. Und morgen bitte ich die Schließerin, dass sie, während ich Hofgang habe, die Klappe in der Tür aufstehen lässt und das Fenster gegenüber auf dem Flur öffnet. Dann käme eine Stunde lang frische Luft in meine Zelle.

Ich lege die Bücher nebeneinander. Am meisten freue ich mich über den Dante. Ich wollte die Divina Commedia schon immer in der Originalfassung lesen, im alten Italienisch, und nun kann ich das. Und habe sogar die Zeit dafür, denke ich und muss grinsen. Aber ich muss mir die Lektüre einteilen wie die Zigaretten. In der Knastbücherei gibt es nichts, das ich sonst noch lesen möchte. Und ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis sie Bücher durchlassen, die mir Freundinnen und Freunde schicken. Also?

Ich schiebe die Bücher hin und her. Am besten, ich lese den Dante morgens, da bin ich noch am frischesten, da ist mein Kopf am klarsten. Eine Stunde morgens. Zwei Stunden? Nein, ich muss sparen! Nachmittags eine Stunde Beauvoir. Abends eine Stunde Thomas Mann. Mal sehen, wie sich Tony Buddenbrook im Knast ausnimmt. Und was mache ich, wenn ich nicht lese? Oder singe?

Die Panik kommt immer aus dem Hinterhalt. Sie kündigt sich nicht an, sie schnürt mir die Kehle zu, einfach so, aus dem Nichts. Die Luft gelangt aus der Kehle nicht mehr in die Brust, ich springe auf, strecke den Kopf nach oben, als könnte die Luft leichter durchkommen, wenn ich den Hals lang mache. Ruhig bleiben, ganz ruhig bleiben, gleich geht es wieder! Hysterie breitet sich in mir aus, überall, im Körper, im Geist, in der Seele, ich will schreien, toben, auf die Wände einschlagen, gegen die Tür treten, ich bin kurz davor es zu tun, ich will das hier nicht, bitte, ich will das nicht!

Ich setze mich auf das Bett, ziehe die Beine an, wiege mich vor und zurück. Vor und zurück. Schau, es geht schon. Geht schon wieder.

Wenn ich weder lese, überlege ich, noch singe, noch Gedichte aufsage, dann schreibe ich eben. Und denke nach. Denken kann man immer.

4

In der Nacht hat es geschneit. Auf dem Boden liegt Schnee, auf einigen Fenstergittern glitzert Reif. Es ist Heiligabend. Ich gehe meine Hofrunde. Konzentriere mich auf den Schnee, den Weg, wage es nicht, den Blick zu heben, denn dann könnten mir die Tränen in die Augen schießen.

Seit ich von zu Hause ausgezogen bin, fahre ich Weihnachten zu meinen Eltern. Immer. Mein Vater hat dann den Baum schon geschmückt. Die roten, goldenen und silbernen Christbaumkugeln an die Zweige gehängt, die roten und weißen Vögelchen und die kleinen Kerzenhalter darangeklemmt, die neuen Kerzen in die Halter gesteckt. All das hätte er auch in diesem Jahr gemacht. Er wäre ein, zwei Schritte zurückgetreten und hätte übermütig das Lametta an den Baum geworfen. Es zurechtgezupft. Mit seinem ironischen Lächeln zu meiner Mutter gesagt: »Jetzt ist sie schon so groß, die Ingrid, und braucht immer noch einen Christbaum.«

Dieses Jahr nicht, Papa. Nicht, dass ich ihn nicht brauchen würde. Aber ich kann nicht zu euch kommen.

Ich möchte mich auf den kalten Boden setzen, in den Schnee, die Augen schließen, mein Gesicht mit den Händen bedecken und weinen. Weinen um meine Eltern, die meinetwegen diesen Horror durchmachen müssen. Die sich vermutlich nicht vor die Tür wagen, denn es könnten sie ja Nachbarn ansprechen. Womöglich lauern sogar Journalisten im Hausflur darauf, dass sie doch noch irgendwann herauskommen. Ich höre das Telefon klingeln, immer wieder und meine Mutter zu meinem Vater sagen: »Geh nicht dran! Geh bitte nicht dran!« Panik in der Stimme, Angst. So viel Angst.

Mama, sage ich stumm, Papa, es tut mir so leid. Es tut mir so furchtbar leid.

»Frau Strobl?« Die beiden Beamtinnen, die mich während der Freistunde bewachen, kommen auf mich zu: »Sie sollen zur Frau Direktor.« Sie führen mich in einen Gebäudetrakt am anderen Ende des Hofs. Die Direktorin sitzt in einem kleinen engen Büro hinter einem großen beladenen Schreibtisch.

»Grüß Gott, Frau Strobl.« Sie deutet auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Ich setze mich. Sie entlässt die Beamtinnen mit einem Kopfnicken.

Dann zieht sie unter einem Stapel Akten einen Umschlag hervor. Sieht mich nachdenklich an. Fährt mit der Hand darüber. Mustert mich noch einmal, schiebt mir den Umschlag hin: »Das ist ein Telegramm von Ihren Eltern. Es ist grad bei uns eingegangen. Ich darf es Ihnen aber nicht geben, ich muss das zuerst an die Bundesanwaltschaft schicken. Zur Überprüfung. Aber an Heiligabend … ja, da kann das dauern mit dem Überprüfen.«

Ich kann es nicht fassen, aber ich habe begriffen. Krächze: »Danke!« Ziehe das Telegramm aus dem Umschlag. »Wir glauben an dich«, steht da. »Wir haben dich lieb. Mama und Papa.«

»Danke«, sage ich noch einmal. Sie schiebt den Umschlag wieder unter die Akten. Ruft die Beamtinnen. »Bringens die Frau Strobl zurück auf den Hof.«

»Sie haben noch eine Viertelstunde«, sagt die eine von ihnen. »Oder wollns lieber hinein?« Ich schüttle den Kopf. Stampfe über den verschneiten Boden, eine Runde, noch eine, noch eine … Der Schnee lastet schwer auf den dünnen Ästen des kleinen Baumes. Ich würde gerne hingehen, den Schnee berühren, mit der Hand darüberstreichen, ein wenig davon nehmen und mir an das Gesicht halten. Tue es nicht. Keine Schwäche zeigen! Keine Emotionen.

»Jetzt müssens aber wieder hinein, Frau Strobl, die Stunde is rum.« Die Beamtinnen ziehen ihre Hände aus den Manteltaschen, in denen sie sie vergraben haben. Als wir vor der Zelle ankommen, schließt die eine Aufseherin das Fenster im Flur, die andere die Klappe in der Tür. Sie haben meine Bitte tatsächlich erfüllt.

»Danke.«

Sie sehen mich erstaunt an. »Ach so, ja, wir haben gefragt, das ist okay. Aber halt nur, solang Sie auf dem Hof sind.«

Ich setze mich auf das Bett und schiele auf das Päckchen Tabak. Ich habe heute von den fünf Zigaretten, die ich mir pro Tag zugestehe, schon drei geraucht. Also, basta! Oder? Heute ist Heiligabend, sage ich mir. Und wenn ich mir noch nicht einmal Tee machen kann, dann darf ich wenigstens eine mehr rauchen als sonst.

Ich habe inzwischen begriffen, dass es nur morgens heißes Wasser gibt. Es wird mit dem Frühstück ausgegeben, und wenn man eine Thermoskanne hat, kann man sich etwas davon abfüllen. Ich habe aber keine. »Thermoskanne beantragen!«, schreibe ich mir auf einen Zettel. Und »Radio plus Batterien«.