ROMAN
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1. Auflage 2019
© 2019 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at
Lektorat: Johann Auer
Umschlagfotos: vorne © Neli Stefanova; hinten © Shutterstock, Dmitry Naumov, © Shutterstock, Ekaterina Zhigalskaya
ISBN 978-3-99200-258-0
eISBN 978-3-99200-259-7
Ein Haus steht in der Finsternis.
Finsternis steht ringsrum.
Ein Fenster leuchtet.
Einer sagt: Verzweiflung.
Einer sagt: Hoffnung.
Und eine Waage ist nicht zur Hand.
Nur Entscheidung.
Johannes Trojan (1837–1915), deutscher Humorist,
Dichter und Redakteur des »Kladderadatsch«
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
DANKSAGUNGEN
Das hier soll ihr neues Zuhause werden?
Ein kleines, hellbraun gestrichenes Haus am Hang. Es hockt da wie ein alter Steinpilz und schaut verschlafen auf die schmale, kurvige Landstraße herunter. Es ist das erste oder letzte Haus am Dorfrand, je nachdem, aus welcher Richtung man kommt. Ein geräumiger Obstgarten, umsäumt von einem halbverfallenen Holzzaun, erstreckt sich bis an den angrenzenden Wald. Auf der Steile unterhalb des Hauses wuchern üppige Sträucher: Brennnessel, Zitronenmelisse, wilde Brombeeren und Eselsdistel. Hier und dort erinnern eine Ringelblume, ein Löwenmäulchen oder eine verwaiste Rosenblüte daran, dass einst auf dieser Halde ein Blumengarten wuchs.
Die Landstraße, die am Haus vorbei ins Dorf zieht, ist voller Schlaglöcher. Sie ist mit ausgetrocknetem Schafkot übersät und riecht nach altem Mist. Auf ihrer anderen Seite breitet sich eine Wiese aus. Da grasen teilnahmslos ein schäbiger Esel und ein mageres Pferd. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Von einem versteckten Bach hört man kreischende Kinder baden.
Anja ließ ihren schwarzen Reisekoffer vor der halbverrosteten Gartentür zu Boden und blickte auf die Uhr. Es war bald ein Uhr mittags. Sie hatte mit der Frau von der Gemeinde Viertel nach eins für die Schlüsselübergabe abgemacht. Wie mochte das Haus wohl von innen aussehen? Es war einstöckig, hatte zwei Flügel, und allem Anschein nach war es aus Lehm gebaut. Anja würde zwei Zimmer im linken Hausflügel bewohnen.
„Bist du mit dem Mittagsbus gekommen?“, riss sie plötzlich eine laute, piepsige Kinderstimme aus ihren Gedanken.
Anja drehte sich um. Vor ihr stand ein schmächtiges Mädchen in einem verschmutzten weißen Sommerkleidchen und in halb zerrissenen Gummilatschen. Zwei dunkle Augen musterten sie fragend unter zerzausten dunkelblonden Locken hervor.
„Ja“, lächelte Anja. „Warum?“
„Hast du im Bus eine große Frau mit schwarzer Dauerwelle und Perlmuttohrringen gesehen? Ohrringe wie Wasserlilien?“
„Nein, habe ich nicht. Ich war allein im Bus. Auf wen hast du gewartet?“
„Auf Mama. Sie hat gesagt, sie kommt mich an einem Freitag holen. Heute ist Freitag. Sie kommt vielleicht mit dem Abendbus.“ Zwei traurige Kinderaugen blickten über die leere Landstraße, die weit vorne hinter dem Hügel verschwand.
„Bist du bei den Großeltern hier in den Ferien?“
Die Kleine schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
„Nein. Ich bin ein Heimkind. Ich wohne da. Da, weit oben im Heim.“ Das Mädchen hob den Zeigefinger und wies auf das graue, dreistöckige Gebäude, das sich rechts oberhalb des Hauses ein wenig zeigte.
Anja wollte das Mädchen gerade nach seinem Namen fragen, als eine aufgeregte Frau aus der Richtung des Dorfes auf sie zueilte und rief:
„Maria, was machst du hier?! Marsch, zurück ins Heim! Sofort!“
Das Kind zuckte zusammen, senkte den Kopf, traf aber keine Anstalten zu gehen.
„Und Sie sind wahrscheinlich unsere neue Ärztin?“, sagte die Frau fast im gleichen Atemzug und lächelte Anja einschmeichelnd an.
„Ja“, erwiderte Anja. „Und Sie sind vermutlich die Frau von der Gemeinde, auf die ich warte?“
„Maria, habe ich nicht gesagt, dass du gehen sollst? Weg mit dir! Verschwinde!“ Die Frau schubste das Kind, das sich nur widerwillig auf den Weg Richtung Dorfzentrum machte, dann wandte sie sich wieder Anja zu. „Ja, ich bin die Genossin von der Gemeinde.“
„Ach, diese Heimkinder sind manchmal schon eine Plage“, lächelte die Frau abschätzig.
„Eine Plage? Was für eine Plage?“, fragte Anja irritiert.
„Sie werden es selber sehen. Sie werden ja auch in der Schule tätig sein.“ Die Gemeindemitarbeiterin holte ein Taschentuch aus der Handtasche und wischte sich damit das verschwitzte Gesicht ab.
„Und was ist das für ein Heim?“
„Es ist für Kinder und Jugendliche aus zerrütteten Verhältnissen. Die meisten Heimkinder hier haben schreckliche Familien. Der größere Teil sind halt Zigeuner, aber was soll’s?“ Sie schüttelte überdrüssig den Kopf. Ihr hennagefärbtes Haar schimmerte in der Mittagssonne.
„Maria sieht nicht wie ein Zigeunermädchen aus“, bemerkte Anja.
„Sie ist auch keins, aber die meisten anderen Heimkinder kommen aus Zigeunerfamilien. Maria ist acht. Sie ist seit zwei Jahren im Heim und wartet permanent auf ihre Mutter. Sie habe ihr versprochen, sie abzuholen. Wird sie aber in den nächsten Jahren nicht tun.“
„Warum?“
„Die Mutter steckt im Gefängnis wegen Gewalttaten und Raubüberfällen. Die kommt nicht so schnell heraus“, erklärte die Gemeindemitarbeiterin trocken weiter.
Die Frau wurde Anja immer unsympathischer. Je länger sie miteinander sprachen, desto mehr fragte sie sich, ob alle in diesem Dorf so ungenießbar waren wie diese Gemeindeangestellte. Am liebsten hätte Anja auf der Stelle umgedreht und wäre mit dem Abendbus wieder abgereist. Wieder nach Varna, zurück ans Schwarze Meer, woher sie gekommen war. Aber die Uni-Zeit in Varna war vorbei. Wie ein Tagtraum erschien vor ihren Augen das Bild der Feier, als sie und hundertzwanzig weitere frischgebackene Ärztinnen und Ärzte ihre Diplome erhielten. Wie sie alle, hochoffiziell gekleidet und frisch duftend, in der großen Aula mit der rechten Hand auf dem Herzen und voller Ehrfurcht dem Rektor Satz für Satz den Hippokratischen Eid nachsprachen: „Ich schwöre bei Appollon, dem Arzt … Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht … Lauter und gewissenhaft werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren …“
Sie hatte geschworen. Es konnte also kein Zurück geben.
Sie kletterten die schmale, steile Steintreppe zum Haus hoch. Während die Gemeindemitarbeiterin in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln wühlte, schaute Anja sich um. Auf der anderen Straßenseite, links weit oben, schimmerten zwischen zwei hohen Tannen die rötlichen Dachziegel einiger Bauernhäuser und des Rathauses. Unmittelbar vor dem Haus und neben der Steintreppe beugte sich ein Wasserhahn über einen Futtertrog aus Blech. Der Futtertrog schien als Waschbecken zu dienen. Ein leergepflückter Birnbaum spreizte sein spärliches Geäst über den Trog und über einen engen Pfad aus Backsteinen, der weiter hinten zu einem Plumpsklo-Häuschen führte. Vom Haus aus ergoss sich rechts der Blick zum hügeligen Obstgarten und zum angrenzenden Mischwald. Ein sanfter Wind wehte vom Wald her. Es duftete nach Bergkräutern.
„Übrigens, fließendes Wasser gibt es nur hier draußen“, sagte die Gemeindefrau, als sie bemerkte, dass Anja die einfache Wasseranlage nachdenklich musterte. „Im Winter muss man das Wasser immer leicht laufenlassen, damit der Brunnen nicht einfriert.“
„Und wo kann man hier duschen?“, fragte Anja.
„Duschen? Hier?“, wunderte sich die Frau. Anja schien es, als würde sie sie schadenfroh belächeln. „In der Stadt gibt es ein öffentliches Bad, man kann mit dem Bus hinfahren. Und sonst könnten Sie im Heim einmal in der Woche warm duschen. Am Donnerstag, aber nur dann, wenn genug warmes Wasser übrigbleibt, nachdem die Heimkinder geduscht sind. Ich nehme an, Sie haben einen Wasserkocher dabei, zum Geschirrwaschen und so? Sonst können Sie im Dorfladen einen kaufen.“
Natürlich hatte Anja einen Wasserkocher, einen großen sogar – und auch einen kleinen, zum Kaffeekochen. Dass es auf dem Land nicht immer fließendes, warmes Wasser geben könnte, daran hatte sie gedacht. In ihren Riesenkoffer hatte sie nach dem Stethoskop, dem Blutdruckmesser, dem neurologischen Hammer und den dicken medizinischen Fachbüchern als erstes die Wasserkocher gepackt. Dazu ihren Radio-Kassettenrecorder. Eigentlich hatte sie einige Dinge eingepackt, die sie sonst in die Ferien mitnahm, auch wenn sie wusste, dass es jetzt nicht für Ferien in die Berge ging, sondern in ein neues Leben hinein.
Die Gemeindefrau schloss die Haustür auf und beide betraten eine enge, finstere Diele. Als sie das Licht anknipste, zeigten sich zwei Türen, die zum linken und rechten Hausflügel führten. Da war ein Wandschrank am oberen Ende der Diele, an der Wand neben der Eingangstüre hing ein Wasserbehälter aus Aluminium. In den kleinen Zementplot darunter war ein winziges Becken eingelassen. Es roch leicht nach Staub und Mottenkugeln.
„Hier kann man sich im Winter waschen, wenn es draußen zu kalt ist. Im Winter wird es hier sehr kalt, manchmal bis zu minus fünfundzwanzig Grad.“ Die Frau wies auf den Wasserbehälter und das Zementwaschbecken.
Das Holz für den Ofen befinde sich draußen. Es sei bereits zugestellt worden, gespalten und unter dem Vordach an der Hauswand aufgeschichtet. Falls sie lieber mit Strom heizen wolle, müsse Anja die Elektrizität selber bezahlen. Die werde von der Gemeinde nicht übernommen, erklärte die Frau weiter.
Sie betraten das Zimmer im linken Hausflügel. Das kleine Fenster ließ nur wenig Sommerlicht in den Raum, in dem ein Tisch, zwei uralte hölzerne Stühle, zwei Einzelbetten und ein breiter Holzofen mit Kochstelle zu sehen waren. Die weißliche Decke hing tief, der knarrende Holzboden war zur Hälfte mit einem verblassten Teppich bedeckt. Im Zimmer war es halbdunkel. Eine Zwischentür führte zum zweiten Raum, der zwar mit zwei großen Fenstern ausgestattet und genügend hell war, dafür aber einen nackten Betonboden hatte. Dort standen ebenfalls ein Bett, ein weiterer Tisch vor einem Fenster, eine Kommode und ein Kleiderständer. Das eine Fenster schaute zum Brunnen mit dem Birnbaum und auf die Steintreppe, die durch den verwilderten Blumengarten zum Hofeingang führte. Tief unten sah man die Landstraße. Das andere Fenster bot einen freien Blick über den Obstgarten zum Wald hinüber.
„Gibt es vielleicht irgendwo einen Kühlschrank?“, öffnete Anja endlich wieder den Mund.
„Nein.“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Ihre Vorgänger haben alle in der Heimkantine zu Mittag und zu Abend gegessen. Das Essen im Heim ist gut, die Köchinnen geben sich Mühe.“ Und als hätte sie Anjas Gedanken erraten, setzte sie fort: „Alle bleiben höchstens die obligatorischen drei Jahre hier und gehen nachher wieder. Sowohl die Ärzte wie auch die Lehrer. Der Staat sollte sie eigentlich verpflichten, länger zu bleiben. Das findet auch der Bürgermeister.“
„Wie viele Lehrer arbeiten hier?“, fragte Anja.
„Etwa dreizehn – die Aushilfelehrer und die Erzieher im Heim dazugezählt. Die Aushilfslehrerschaft arbeitet am Wochenende auch als Aufseher, um die Erzieher zu entlasten.“
Im Heim würden um die achtzig Kinder und Jugendliche wohnen, erzählte die Frau. Die meisten von ihnen seien schwer erziehbar. Häufig müssten sie am Wochenende verarztet werden, denn wenn sie frei hätten, würden sie jede Menge Unfug treiben und sich dabei oft verletzen. Die bisherigen Ärzte seien über das Wochenende fast nie da gewesen. Alle im Dorf wünschten sich aber, dass der Arzt immer da sei. Schließlich habe er doch den Hippokratischen Eid geschworen, und demzufolge müsste er Tag und Nacht für die Menschen zur Verfügung stehen. Die Gemeindefrau schaute Anja streng an.
„Was ist mit Notfällen, wenn am Wochenende kein Arzt da ist?“, wollte Anja wissen.
„Der Krankenwagenfahrer Kiro, den Sie auch gleich kennenlernen werden, fährt sie ins Krankenhaus in der Stadt, dreißig Kilometer von hier … Aber das ist keine Lösung. Kiro kann keine medizinische Hilfe leisten. Er ist nur ein Chauffeur, und es sind schon Leute auf dem Weg gestorben. Schade, dass man den Dorfarzt nicht gesetzlich dazu verpflichten kann, immer da zu sein … So sieht es auch der Bürgermeister.“
Ich schwöre bei Appollon, dem Arzt …, drängte sich wieder die Stimme des Rektors in Anjas Kopf.
„Ja, ich werde da sein, wann immer es geht …“ Sie hatte keine Lust, sich auf dieses Thema einzulassen. Die Frau von der Gemeinde wirkte abstoßend mit ihrer knochigen Figur, ihrem rötlichen Haar, mit dem Schweißgeruch nach Kreuzkümmel und ihrer lauten Feldwebelstimme. Jeder Satz machte sie für Anja noch unausstehlicher.
„Woher kommen Sie eigentlich, Doktorin? Sie sind sicher eine Städterin? Kommen Sie vielleicht aus Varna?“, fragte die Frau neugierig und mit aufgesetztem Lächeln.
„Ja, ich komme aus Varna“, antwortete Anja knapp.
„Aha, wie die meisten Ihrer Vorgänger also.“ Sie runzelte die Stirn. „Wir hätten uns im Dorf so sehr jemanden gewünscht, der aus unserer Region kommt. Aus der Nachbarstadt, aus der Kreisstadt oder so … Jemand Erfahrenen, mit Familie, welche auch hier wohnen würde. Jungen Anfänger-Ärzten wie Ihnen wird es hier schnell langweilig. Sie brauchen Abwechslung, Diskos, oder was weiß ich …“
Anja schaute zu Boden. Sie fühlte sich angegriffen. Sie sehnte sich nach Michail. Noch heute Abend würde sie ihm schreiben und ihre merkwürdigen Eindrücke vom Land schildern.
„Wie ist es hier mit dem Empfang von privater Post?“, wandte sich Anja an die Gemeindefrau, die gerade mit einer alten Zeitung ein Spinnennetz wegwischte, das von der Glühbirne im großen Zimmer hing.
„Die müssen Sie von der Poststube abholen. Post kommt hier am Montag und am Donnerstag. An diesen Tagen wird auch der Dorfladen mit neuen Waren und Lebensmitteln beliefert“, erwiderte die Frau.
„Übrigens, ich bin Penka Nakova.“ Sie übergab Anja den kleinen Bund mit Schlüsseln. „Möchten Sie noch etwas wissen?“
„Nein, für den Moment nicht.“ Anja schüttelte den Kopf.
„Sonst können Sie bei der Gemeinde nach mir fragen, sollten Sie mit etwas nicht klarkommen.“
Darauf gingen die beiden nach draußen und machten sich auf den Weg zur Medizinischen Dienststelle. Ein kurzer Pfad führte sie durch die hintere Gartentür aus dem Obstgarten hinaus und an einem weiteren Haus vorbei in den Hof der Dienststelle.
Svescht, 15.08.1987
Hallo Darling!
Ich sitze nun in meiner neuen Bude und schreibe Dir, wie versprochen, sofort nach meiner Ankunft in Svescht.
Du glaubst es nicht, ich habe heute den Schock meines Lebens gehabt, als ich aus dem Bus im Dorfzentrum ausstieg. Vor mir blickt stumpfsinnig ein Allzweckladen mit verstaubten Vitrinen. Nebenan glotzt eine Kneipe aus ihren verschmutzten Fensterscheiben. Weiter rechts kauert ein hässliches zweistöckiges Haus – das Rathaus mit der Post im ersten Stock. Auf der anderen Seite der Landstraße hockt noch ein schreckliches, graues und großes Gebäude – ein Kinder- und Jugendheim. Es war mir zum Heulen! Das Dorf hat um die siebenhundert Einwohner und die Medizinische Dienststelle ein Einzugsgebiet von weiteren fünf Kleindörfern. Für diese werde ich auch zuständig sein. Als ich die Einrichtung sah, habe ich meinen nächsten Schock erlebt: zwei wenig vertrauenswürdige Blutdruckmessapparate, ein uraltes Stethoskop und ein schäbiger Notfallkoffer im Untersuchungszimmer, ein dürftiges Instrumentarium und ein Notfallschrank mit zum Teil abgelaufenen Ampullen im Behandlungszimmer. Das ist alles, was die da haben …
Ich konnte Kiro, den Krankenwagenfahrer, und seine Frau Malina kennenlernen. Kiro sieht aus wie ein rotblonder Riese mit großen Händen und scheint sehr hilfsbereit zu sein. Malina arbeitet als Köchin in dem Heim. Sie ist kräftig, beleibt und redefreudig. Die beiden wohnen über der Dienststelle.
Nach der Besichtigung meines Arbeitsplatzes haben wir Kaffee getrunken. Dazu kam die Dorfhebamme, „Hebamme Angelina“. Eine herzliche, ältere Frau mit weißem Haar und blauen Augen. Meine Krankenschwester werde ich erst am Montag sehen. Sie wohnt im Nachbarstädtchen und ist nur unter der Woche da. Sowohl die Hebamme als auch die Krankenschwester sind Rentnerinnen, die weiterarbeiten. Das ist für mich beruhigend, da solche Frauen sehr erfahren sind. Wir können uns wunderbar ergänzen, wenn sie mir wohlgesinnt sind: ich bringe das neueste theoretische Wissen aus der Uni mit, und sie bringen mir ihre praktische Erfahrung bei. In der Wundversorgung zum Beispiel, beim Anlegen einer Infusion, beim Verabreichen einer intravenösen Injektion, oder auch bei anderen Dingen, die wir im Studium nie geübt haben.
Ich bin gespannt, wie übermorgen mein erster Arbeitstag verlaufen wird. Jetzt sitze ich am Tisch vor dem Fenster, das auf die Landstraße unten blickt und höre „The Long And Winding Road“ von den Beatles. Es geht mir besser als am Mittag (vielleicht, weil ich die Beatles höre).
Wie bist Du in Deinem Dorf angekommen? Wie wurdest Du aufgenommen? Ich beneide Dich, dass Du an der Poliklinik Arztkollegen haben wirst, die Du fragen kannst, wenn Du nicht weiterweißt. Ich bin hier auf mich allein gestellt.
Wenn Du nur wüsstest, wie sehr ich Dich vermisse und wie schrecklich Du mir fehlst … Ich darf jetzt nicht weiterschreiben, sonst heule ich wieder los, zumal ich nicht weiß, wann und wo wir uns das nächste Mal sehen. Am besten gehe ich jetzt ein bisschen im Dorf spazieren.
Love, Deine Anja
Anja trug ihren roten Lippenstift dick auf und versah ihre Unterschrift mit einem saftigen Kuss. Danach legte sie den Brief in ein Kuvert, klebte eine der wenigen mitgebrachten Briefmarken drauf und ging aus dem Haus. Sie stieg die Steintreppe hinunter und begab sich in Richtung des Dorfzentrums, den Brief in der Hand. Am Rathausgebäude unter dem Fenster der Poststube hatte sie einen gelben Briefkasten gesehen.
Die Sommernacht spreizte langsam ihre Flügel wie ein schwarzer Vogel über das Dorf. Anja warf den Brief in den Kasten und ging weiter am Rathaus vorbei. Die Dorfkneipe war voll. Laute, belustigte Männerstimmen drangen heraus. Vis-à-vis lag das Heim, ein vieläugiges, schlummerndes Tier, in der nächtlichen Stille versunken. Anja kam am Ende des Dorfplatzes an und stieg die steile und enge, mit Kopfsteinpflaster bedeckte Gasse hinunter, die tiefer ins Dorf hineinführte. Sie spazierte an bescheidenen Gärten mit großen Walnussbäumen vorbei, an alten zweistöckigen Holzhäusern, die sich mit neueren einstöckigen, hellgrau gestrichenen Häuschen abwechselten. Sie hielt an einer kleinen, halbverfallenen Kirche, deren Hof von hohem Gras und Unkraut verschluckt war. Im abendlichen Schein einer Straßenlampe entdeckte sie unterhalb der Kirche die Dorfschule mit ihrem Sportplatz. Von hier aus hörte man deutlich das Rauschen des Baches. Und da sie noch nicht zurückgehen wollte, entschied sie sich, zum Bach zu spazieren. Hin und wieder durchbrach der Ruf einer Eule die Stille. Im Zirpen der Grillen fiel das Dorf langsam in seinen Schlaf. Als Anja vor der großen Brücke am Dorfbach ankam, versprühte der Mond sein Licht mit voller Kraft über das Wasser und die dunklen Felder jenseits des Ufers. Unweit lagen zwei große Ställe, aus denen man es grunzen und blöken hörte. In den angrenzenden Häusern brannte gelbes Licht. Kinderstimmen aus den geöffneten Fenstern. Hier lebten Leute, die Anja neugierig machten.
Als Anja am Montagmorgen um halb sieben die Dienststelle betrat, warteten im Korridor bereits acht Leute, die zum Arzt wollten. Anja wunderte sich, dass alle so früh gekommen waren, denn sie sollte erst um halb acht beginnen. Vorher wollte sie noch ihre Krankenschwester kennenlernen und sich mit ihr austauschen. Und da es im Korridor aus der halbgeöffneten Tür des Untersuchungszimmers nach frisch gekochtem Kaffee duftete, nahm Anja an, dass auch die Krankenschwester schon da war.
Sie klopfte kurz an die Tür und trat ins Untersuchungszimmer. Auf dem Holzpult standen zwei Kaffeetassen und ein Tellerchen mit hausgemachtem Gebäck. Zwischen dem Wandschrank und dem Fenster entdeckte Anja eine kleine transportable Heizplatte, auf der eine italienische Kaffeekanne gurgelte. Da war niemand.
Anja packte Stethoskop, Blutdruckapparat, neurologischen Hammer und ihr dickes Lehrbuch „Innere Medizin“ aus und wollte sich gerade den weißen Arztkittel, der am Kleiderhaken an der Wand hing, überziehen, als die Tür aufging und eine Frau mit kurzen, dunklen Locken, auch in einen weißen Kittel gekleidet, hereinstürzte.
„Oh, Entschuldigung!“, rief sie überrascht, als sie Anja sah. „Sie sind vermutlich Doktor Anja Assenova? Ich habe Sie nicht so früh erwartet.“
Zwei Augen, die an Schwarzkirschen erinnerten, lächelten Anja warm an.
„Ja“, nickte Anja strahlend. „Und Sie sind die Krankenschwester?“
„Ja“, nickte die Frau ihrerseits und gab Anja die Hand. „Ich bin Krankenschwester Zarah Bobeva. Sie können mich aber einfach Schwester Zarah nennen. Ich habe eine kleine Begrüßung zubereitet, zum Morgenkaffee.“ Sie wies auf das Tellerchen mit dem Gebäck.
Anja setzte sich vor dem provisorischen Kaffeetisch an ihr Arbeitspult und bedankte sich. Schwester Zarah schenkte den duftenden Kaffee ein, dann nahm sie Anja gegenüber Platz. Aus dem Warteraum drang durch die geschlossene Tür zunehmend Unruhe. Man hörte laute Stimmen und immer wieder ungeduldiges Hüsteln.
„Warum stehen die Patienten schon so früh da?“, fragte Anja und schaute auf ihre Uhr.
„Das sind Leute aus den Nachbardörfern. Montag ist Markttag in Svescht. Bevor sie jedoch zum Markt gehen, kommen sie zum Arzt, um den Blutdruck zu messen, ein Rezept für ihre Medikamente zu holen, zur Nachkontrolle oder um sich untersuchen zu lassen“, erklärte die Krankenschwester. „Sie wissen, dass wir um halb acht beginnen, sind aber schon so früh da, um die ersten Plätze zu ergattern, damit sie nachher schneller auf den Markt können.“
„Wie viele Patienten kommen pro Tag?“, fragte Anja und trank einen Schluck Kaffee.
„Am Montag sind es um die vierzig, sonst zwischen fünfzehn und zwanzig, wenn man auch die Hausbesuche mitzählt. Bitte, nehmen Sie doch von meinen Plätzchen, Doktorin“, sagte die Krankenschwester und schob einladend den kleinen Teller vor Anja hin.
Anja biss gerade in ein feines Butterplätzchen, als mit lautem Klopfen die Tür aufging und ein großer Mann mit Glatze und langen Armen hereinstürmte.
„Ich komme für mein Rezept“, sagte er grußlos und würdigte Anja kaum eines Blickes.
„Wir beginnen in einer halben Stunde …“, sagte Anja mit vollem Mund. „Könnten Sie, bitte …“
„Sie können beginnen, wann Sie wollen, ich muss jetzt mein Rezept haben“, unterbrach der Mann sie mürrisch und holte aus seiner Hemdtasche ein Bündel leerer Rezepte, die Anja in einer solchen Form noch nie gesehen hatte.
Schwester Zarah blickte sie mit großen Augen an und gab ihr zu verstehen, dass sie dem Mann nicht widersprechen sollte. Anja schluckte ihren Bissen hinunter, nahm das Bündel Rezepte entgegen und griff nach dem Kugelschreiber. Auf dem Rezeptkopf stand rotgedruckt „Gratis Rezept für Aktive Kämpfer gegen Faschismus und Kapitalismus“. Zwei indigofarbene Blätter zwischen den ersten drei Rezeptformularen wiesen darauf hin, dass das Rezept in drei Exemplaren auszustellen war.
„Wie ist Ihr Name, bitte?“, fragte Anja eingeschüchtert und stand auf, um die Patientenkartei mit der Krankengeschichte aus dem Wandschrank zu holen.
„Wie ich heiße?“ Der Mann lächelte böse. „Fragen Sie doch Ihre Krankenschwester! Mich kennen hier alle, ich brauche Ihnen meinen Namen nicht zu nennen. Und Sie müssen überhaupt nicht nach meiner Kartei suchen.“
Er holte sein Portemonnaie aus der Hosentasche und legte eine Kopie seines letzten Rezepts, das vor einem Monat ausgestellt worden war, auf das Holzpult.
„Ich brauche Adalat, 10 mg, Euphyllin Retard, 250 mg und Nootropil, 800 mg. Sie können alles vom vorigen Rezept abschreiben“, sagte der Mann ungeduldig.
„Ich muss Sie aber vorher untersuchen. Ich kann kein Rezept ohne Untersuchung ausstellen“, entgegnete Anja ruhig und versuchte zu lächeln.
„Die Untersuchung erspare ich mir. Ich bin in regelmäßiger Behandlung in der Kreisstadt beim Spezialärztlichen Dienst für Aktive Kämpfer gegen Faschismus und Kapitalismus.“
Anja schaute hilflos zu Schwester Zarah hinüber, die sie nickend ermutigte, das Rezept zu schreiben.
Es waren sehr teure Medikamente aus dem Westen. In den gewöhnlichen Apotheken waren sie nicht erhältlich, und kein durchschnittlicher Mensch im Land konnte davon träumen, mit diesen Originalpräparaten behandelt zu werden.
Der Mann sei der Genosse Todor Nakov, ein „Aktiver Kämpfer gegen den Faschismus und Kapitalismus“, wie Schwester Zarah erklärte, als der Mann wieder gegangen war. Er sei der Vorsitzende der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft und sitze in den wichtigsten Dorf- und Gemeindekommissionen, auch im Vorstand der Schule und des Kinderheims. Es gebe ein paar wenige solche Leute hier.
„Er ist jetzt 63 Jahre alt, also muss er 1944 etwa zwanzig gewesen sein. Ein blutjunger Kämpfer, interessant …“, bemerkte Anja.
Schwester Zarah sagte nichts dazu.
Und warum nimmt er Medikamente, die aus den feindlichen kapitalistischen Ländern stammen, wenn er doch gegen den Kapitalismus kämpft? Es gibt ja die gleichen Medikamente auch im Ostblock, wozu also die westlichen Originalpräparate, wollte Anja wissen, verkniff sich jedoch die Frage, da sie nicht wusste, wo die Krankenschwester in ihrer Weltanschauung stand. Es konnte gefährlich sein, Staatsentscheidungen zu hinterfragen.
Anja verabscheute und fürchtete Leute mit dem Titel „Aktiver Kämpfer gegen den Faschismus und Kapitalismus“. Sie bedienten sich allerlei schamloser Privilegien und hielten sich für etwas Besseres, da sie entweder Partisanen geholfen oder Angehörige verloren hatten, die vor dem Umsturz von 1944 als kommunistische Partisanen umgebracht wurden. Unter ihnen gab es aber – und das wusste jeder im Land – viele Genossinnen und Genossen, die nichts zum September-Umsturz von 1944 beigetragen hatten, sondern den lukrativen Titel und seine Privilegien durch Beziehungen ergattert hatten. Die teuren westlichen Medikamente, die die „Aktiven Kämpfer“ gratis bekamen, gehörten zu diesen Privilegien. Anja waren solche Genossinnen und Genossen besonders zuwider. Sie waren nicht nur überheblich, sondern auch gefährlich, denn sie arbeiteten für die bulgarischen Geheimdienste.
„Seine Frau ist die Sekretärin des Bürgermeisters und die Schwiegertochter arbeitet bei der Gemeinde. Vielleicht war sie es, die bei Ihnen am Freitag die Einführung und die Übergabe gemacht hat? Eine Frau um die fünfunddreißig, groß, schlank, rötliche Locken?“ Schwester Zarah verzog fragend ihre dunkelrot geschminkten Lippen, die zu den gepflegten, ebenso dunkelrot lackierten Fingernägeln passten.
„Ja, wahrscheinlich war sie es … Die Frau hat sich als Penka Nakova vorgestellt“, sagte Anja.
„Ihr Mann und sie wohnen in einem schönen Haus in der Dorfmitte. Genosse Nakov hat es ihnen zur Hochzeit geschenkt. Sie hat es aber nicht einfach mit ihrem Mann. Oft muss der Arzt seinetwegen ausrücken, denn er trinkt bis zur Bewusstlosigkeit und stürzt manchmal. Darüber wird aber im Dorf nicht laut gesprochen“, flüsterte die Krankenschwester verschwörerisch. „Und sie hat oft Migräne. Ganz schlimme Anfälle, die sie tagelang ans Bett fesseln. Auch zu ihr muss man dann hin, um ihr eine Infusion anzulegen … Wenn Sie möchten, begleite ich Sie bei Ihren ersten Hausbesuchen, bis Sie die häufigeren Patienten kennengelernt haben?“
Anja hörte aufmerksam zu und merkte, dass sie Schwester Zarahs fürsorgliche Raucherstimme und ihre einfühlsame Art mochte.
„Oh ja, gern. Und ich muss Ihnen gestehen, ich habe noch nie eine Infusion allein angelegt, und auch noch nie eine intravenöse Spritze allein verabreicht … Ich kann einfache Wunden nähen, intramuskuläre Injektionen und Wundverbände machen kann ich auch …“
„Kein Problem, das kriegen wir rasch hin“, lächelte die Krankenschwester mütterlich und öffnete die Tür, um den nächsten Patienten reinzubitten.
Männer und Frauen kamen und gingen, und mit jedem Patienten und jeder Patientin wuchs Anjas Freude an der Arbeit, da sie jedes Mal wusste, was zu tun war.
Um zwölf Uhr legten Anja und Schwester Zarah die Arbeit nieder und machten sich auf den Weg zum Jugendheim, um in der Heimkantine zu Mittag zu essen.
Das Heim war sauber geputzt und die Toiletten schienen überall frisch mit Chlor desinfiziert zu sein, denn der brennende Geruch stieg Anja in die Augen und brachte ihre Nase zum Laufen. An den frischgestrichenen blassgelben Wänden hingen Portraits von Lenin, Stalin, dem Helden von Leipzig – Georgi Dimitrov – und dem ganzen Politbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei. Über dem Eingang zur Kantine hing ein riesiges Bild, auf dem der von allen bewunderte sowjetische Heimpädagoge Anton Semjonowitsch Makarenko zu sehen war. Das Bild sollte wohl den Eindruck vermitteln, dass hier die Erziehungsmethoden von Makarenko galten, die Prügelstrafen durch Selbstdisziplin und Eigenverantwortung ablösen wollten.
Als die beiden Frauen über den langen mosaikbesetzten Korridor zur Kantine im ersten Stock schritten, sah Anja die kleine Maria in ihrem ärmellosen Kleidchen zusammen mit ein paar anderen Mädchen Fangen spielen. Sie kreischten ausgelassen, sobald sie aber die zwei Frauen in Arztkitteln sahen, schraken sie zusammen.
„Oh, Horror, heute werden wir wahrscheinlich wieder gestochen! Heute kriegen wir wieder Impf-Spritzen“, schrie eine der Älteren mit angsterfülltem Gesicht.
Die kleine Maria heulte auf der Stelle los.
„Ich will keine Spritze“, versuchte sie sich weinend hinter einem größeren Mädchen zu verstecken.
„Ach, du hast sowieso vor allem Angst, du bist einfach ein Angsthase“, lachte das Mädchen laut und schubste Maria vor sich her. „Also los, du kommst jetzt gleich als Erste dran für die Spritze …“
„Es gibt heute keine Spritzen!“, rief Schwester Zarah und versuchte die verängstigten Kinder zu beruhigen.
„Du lügst! Du lügst uns an, damit wir nicht davonlaufen!“, schrie ein Junge.
„Sie lügt uns an, sie lügt uns an, das stimmt!“, schrie ein anderer Junge.
„Nein, ich lüge euch nicht an. Heute gibt es keine Spritzen.“ Schwester Zarah machte ein Zeichen mit den Händen, dass das kein Thema war.
„Und wenn es keine Spritzen gibt, was macht diese Frau aus der Stadt hier? Immer, wenn jemand Unbekannter mit weißem Kittel aus der Stadt kommt, ist es ein Kinderarzt, der uns Spritzen gibt!“, rief zänkisch ein dritter Junge.
„Das ist die neue Doktorin. Sie hat heute ihren ersten Arbeitstag. Ab jetzt werdet ihr sie jeden Tag im weißen Kittel hier zu Mittag essen sehen. Wie die früheren Ärzte, das wisst ihr doch …“, erklärte Schwester Zarah.
Ein Dutzend neugieriger Kinderaugen musterten Anja. Maria kam mutig hervorgekrochen und lächelte sie an.
„Ich kenne sie“, deutete sie mit dem einen Zeigefinger auf Anja, während sie mit dem anderen in der Nase bohrte. „Sie ist eine Gute. Sie ist gestern gekommen und hat mit mir gesprochen, als ich nach Mama schauen war …“
„Na also, seht ihr, ich lüge euch nicht an! Weiß jemand, was es heute zu essen gibt?“, lächelte Schwester Zarah in die Kinderrunde.
„Hühnersuppe, Frikadellen mit Sauce, und Waffeln zum Dessert“, rief einer der Buben und begann laut zu pfeifen.
Die Kinder strömten in den Essraum und stellten sich in einer Schlange vor der Theke an. Eine ältere Köchin in weißer Schürze, die Haare sorgfältig unter der Haube verstaut, wartete mit zwei Schöpfkellen ausgerüstet schon auf das ungeduldige Heimvolk und die Angestellten aus dem Dorf, die hier zu Mittag aßen.
Anja und Schwester Zarah stellten sich ebenfalls für das Essen in die Warteschlange. Und da es ein bisschen dauerte, bis sie an die Reihe kamen, nutzte Schwester Zarah die Gelegenheit, Anja zu erklären, wer alles vom Dorf noch da war: der Vorsitzende der Gewerkschaften mit seiner Sekretärin, die Dorfladen-Verkäuferin, die zwei Telefonistinnen von der Post, die Heimerzieher. Normalerweise aßen auch die Hebamme Angelina und der Krankenwagenfahrer Kiro hier zu Mittag, aber am Montagvormittag sei Angelina mit Kiro und dem Krankenwagen auf Hausbesuch bei allen Neugeborenen in der Region unterwegs. Und in zwei Wochen kämen auch noch die Dorflehrerschaft dazu und der Rest der Heimkinder, die momentan noch bei ihren Familien in den Sommerferien weilten. Im Heim blieben über den Sommer nur die Waisenkinder oder die, deren Eltern nichts von ihnen wissen wollten.
„Ach, seien Sie gegrüßt, Doktorin!“, lächelte die Köchin Anja an, als sie ihr den Teller voller Suppe reichte. „Meine Kollegin Malina hat mir erzählt, dass Sie heute beginnen. Unsere neue Ärztin! Wie schön, dass sie auch hier essen wird!“, schwärmte die Frau ein wenig übertrieben.
„Die neue Doktorin, die neue Doktorin …“, erhob sich eine Flüsterwelle hinter Anjas Rücken in der Warteschlange.
Während des Essens erzählte Schwester Zarah von jenen Dorfbewohnern, mit denen es oft medizinische Probleme gab. Ihre Stimme war ruhig und so angenehm, dass Anja das Gefühl bekam, sie könnte ihr stundenlang zuhören. Dazu kam, dass jeder problematische Patient eine spannende Geschichte hatte, die Schwester Zarah mit Fürsorge und Achtung vortrug.
Zum Beispiel müsse man oft zu den Bärern ausrücken, führte Schwester Zarah aus. Dies entweder wegen eines kranken Kindes, oder wenn Großvater Hassan im Suff Streit mit seiner Frau habe, auf sie eindresche und Großmutter Hassanitza darauf eine Bluthochdruckkrise bekomme. Die Bärer seien ein Zigeunerklan, der jenseits des Bachs in Ställen lebe und dort die Schweine und die Schafe der LPG versorge. In den Ställen lebten nebst den alten Bärern auch die zwei Söhne und die Tochter mit ihren Familien. Die Söhne seien bei der LPG als Hirten angestellt, alle anderen aus der Großfamilie als Stallarbeiter. Nur im Sommer sei es um die Bärer ruhiger, wenn der Alte mit seinem Tanzbären im Land unterwegs sei. Wochenlang halte er sich bei einem Cousin an der Schwarzmeerküste auf und unterhalte Touristen mit seiner Gadulka-Geige und der tanzenden Bärin Mara.
„Übrigens, wenn wir schon bei den Besonderheiten der Dorfbewohner sind“, setzte Schwester Zarah fort, als sich die beiden für Frikadellen mit Sauce einreihten, „Für die Zigeuner ist man nur dann ein guter Arzt, wenn man ihnen eine Spritze gibt. Sonst taugt der Arzt nichts. Sie verstehen unter medizinischer Hilfe ausschließlich die Verabreichung einer Spritze und streiten mit dem Arzt so lange, bis er ihnen wirklich eine macht.“
„Na so was! Und wenn der Zustand gar keine Spritze erfordert?“ Anja machte große Augen.
„Man kann immer ein harmloses Beruhigungsmittel verabreichen …“, lächelte Schwester Zarah.
Anja versuchte alle Informationen zu behalten. Aber sie merkte, es waren zu viele. Deshalb holte sie den Kugelschreiber aus der Brusttasche ihres Kittels und noch ein Rezeptformular, um es als Notizzettel zu benutzen.
Anja notierte. Die Bibliothekarin Snejana: meistens wird Arzt nach Fest- oder Feiertagen zu ihr gerufen; bekommt nach Festmahlzeiten fast immer heftige Gallenkoliken.
„Die Bibliothekarin? Gibt es im Dorf eine Bibliothek?“, wunderte sie sich.
Oh ja, die Bibliothek befinde sich am Ende des Dorfplatzes, gegenüber dem Rathaus. Die Literaturabende in Svescht, setzte Schwester Zarah fort, seien etwas ganz Besonderes. Unter dem Schuljahr würden sie wöchentlich in der Bibliothek von den Dorflehrerinnen durchgeführt – und von Snejana organisiert.
Dass das Dorf eine Bibliothek besaß, in der sogar Literaturabende stattfanden, empfand Anja als kleinen Trost. Sie liebte Bücher, las viel und hatte als Schülerin im Gymnasium das eine oder andere Gedicht geschrieben.
Schwester Zarah blickte zur Eingangstür, durch die gerade ein beleibter Mann mit Hängekropf eintrat. Er stellte sich in die Warteschlange und blickte mürrisch vor sich hin.
„Das ist Ginjo, er ist Ihr Nachbar“, sagte die Krankenschwester. „Lebt mit seiner Familie im Haus zwischen der Medizinischen Dienststelle und Ihrem Obstgarten. Die Familie hat ein behindertes Kind und kommt häufig, da die Eltern ständig um seine Gesundheit bangen.“
„Ich habe schon gerätselt, wer meine Nachbarn sind – ich habe aus der Ferne Schweine grunzen gehört.“ Anja schaute Schwester Zarah neugierig an.
Ginjo arbeite neben der Schweinezucht als Chauffeur des Bürgermeisters. Er sei ein ungehaltener Mensch, könne wohl schlecht mit der Behinderung seines kleinen Sohnes umgehen, erläuterte Zarah. Er sei auch Jäger und wenn er mit seinen Jagdgenossen in die Dorfkneipe einkehre, betrinke er sich bis zur Besinnungslosigkeit. Manchmal setze sogar sein Atem aus, worauf der Wirt den Arzt rufe. Man müsse sofort in seinen Mund greifen und ihm die Zunge herausziehen, damit er nicht erstickt. Seine Frau Slavka sei der Vorwurf in Person und suche bei jedem Arzt nach Versäumnissen. Sie arbeite als Kassierin bei der Gemeinde und zahle am Ersten des Monats allen Gemeindeangestellten die Gehälter aus.
„Hallo, Ginjo“, begrüßte Schwester Zarah den Mann, als er sich mit seinem Serviertablett an einen der freien Nachbartische setzte.
„Hallo!“, grüßte er missgelaunt zurück, griff nach einer dicken Scheibe Brot und begann seine Suppe zu löffeln.
„Ginjo, das ist die neue Ärztin, Doktor Assenova. Sie ist deine neue Nachbarin“, stellte Schwester Zarah Anja vor, die freundlich zu dem Mann hinüberblickte.
„Ich grüße Sie, Doktorin“, sagte dieser kauend und würdigte Anja eines kurzen, gleichgültigen Blicks. „Meine Frau wartet mit dem Kleinen schon eine Weile an der Dienststelle auf Sie“, legte er nach und schlürfte weiter seine Suppe.
„Wir gehen gerade wieder hin.“ Anja, die seine Worte als Aufforderung verstanden hatte, stand vom Tisch auf, obwohl die Mittagspause noch nicht zu Ende war.
Schwester Zarah folgte ihr.