Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-87134-479-4
ISBN E-Book 978-3-688-11793-2
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11793-2
Dieses und alle folgenden Zitate in diesem Kapitel stammen aus den Protokollen der Zeugenvernehmungen.
Man gibt jemandem eine Bombe in die Hand
und wundert sich, wenn sie explodiert
Marina Zwetajewa
Das Buch ist durch die nachdrücklichen Fragen meiner Studenten angeregt worden, die selbst einmal Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums waren und die das Ereignis vom 26. April 2002 nicht mehr losließ. Eine von ihnen – Elsa – ist zur Protagonistin geworden. Ihre Fragen sind die Sonden des Buches und haben die wesentlichen Züge seiner Chronologie entschieden: die Klärung der Vorgeschichte der Tat, die detaillierte Rekonstruktion des Tathergangs in der Schule sowie den späteren Umgang mit dem Ereignis.
Die massive Flut der Medienberichterstattung über das Schulmassaker ließ den Eindruck entstehen, jener Schwarze Freitag von Erfurt sei zur Genüge ausgeleuchtet, zu diesem Tag wäre alles gesagt.
Das vorliegende Buch kommt zu einem anderen Ergebnis, womöglich auch deshalb, da es zum ersten Mal mit authentischen Quellen arbeitet, wie etwa den Vernehmungsakten der Staatsanwaltschaft und dem noch immer vorläufigen Abschlussbericht des Innenministeriums. Darüber hinaus bezieht es sich auf zahlreiche Interviews, wertet die Regionalpresse über ein ganzes Jahr aus, nimmt Rundgänge durch die Stadt auf wie auch eigene Erinnerungen. Erst die monatelange Recherche in Erfurt hat die Zusammenhänge und Hintergründe dieser Tat benennbarer gemacht, dabei allerdings zu beunruhigenden neuen Erkenntnissen geführt.
Vor nunmehr fast dreißig Jahren haben die terroristischen Akte der RAF den politischen Herznerv der Bundesrepublik tief angerissen und dem Land eine anhaltende Debatte über das eigene politische Selbstverständnis aufgezwungen. Der Umgang mit dem Terror von Erfurt – der größten Mordserie in Deutschland nach 1945 – erzählt nicht nur etwas vom mentalen Puzzle verschiedenster Nachwendephänomene in einem neuen Bundesland und damit von dessen politischer Kultur. Es ist ein exemplarischer Fall. Die so grauenvoll Getöteten glaubwürdig in den Blick zu holen heißt, diesen Fall rückhaltlos und verbindlich aufzuklären. Das steht aus.
Ines Geipel, im Oktober 2003
Berlin, 26. April 2002, kurz nach elf Uhr.
«Ist kein Witz. In unserer Schule wird geschossen! Zwölf Leute tot. Christian.» Elsa zieht den bunten Wollstrumpf über das Handy, lässt das Gerät zurück in die Tasche gleiten. Einfach zu blöd, seine Scherze, immer das Gleiche. Im Vorlesungssaal ist es kalt, und sie ist müde. Der Joint gestern Abend mit Anne hat ihr den Rest gegeben. Ihre Augen suchen gelangweilt die hohen Fenster ab. Ein kleiner schwarzer Vogel fliegt quer durch den Berliner Himmel.
Hochschule für Schauspielkunst, an der Parkaue: Die Blicke laufen halbherzig durch den Raum, streifen die Tafel – Jamben, Trochäen, Spondeen. Aussichtslos, das hat sie sowieso nie verstanden. Erneut also das Handy. Das Display zeigt zehn neue Nachrichten: «Elsa, in unserer Schule ist geschossen worden. Zwei Leute tot.» – «Amoklauf in der Gutenbergschule.» – «Wo steckst du denn? Melde dich! Hier ist das totale Chaos!» – «Elsa, schalt sofort den Fernseher ein!» – «Unsere Schule, Elsa!» Die letzte SMS kommt von der Mutter: «Hast du schon gehört? Deine Schule! 14 Leute verletzt. Ruf doch mal an!»
Elsa verlässt den Vorlesungssaal, läuft durch die Flure. Was soll das alles? Die Zeichen auf dem Display ergeben kein Bild, keinen Sinn. Hinten im Musikraum spielt ein Klavier, zwei Räume weiter klacken die Klingen der Fechter aufeinander, im Tanzsaal hämmern harte, eifrige Schritte. «Den Kopf, ja, ja!», hört sie eine diktatorische Stimme. «Schlanker, na komm schon, los, genauer!» Alles in Ordnung, alles wie immer, wie jeden Tag. Elsa riecht den herben Atem der Räume, den Schweiß, die Lust, den Schmerz. Sie beobachtet ihr Handy, zieht unruhig durch die Gänge, wartet. Keine Nachrichten mehr.
Im Laufen hat sie ihre Erfurter Schule vor Augen, den dunklen Koloss am Berg, an dem sie vor zwei Jahren Abitur gemacht hatte. In Gedanken betritt sie das Gebäude durch den linken Seiteneingang. «Lerne, um zu leben!», steht über der Empore. Wenn Elsa diesen Eingang nimmt, ist sie in der Regel zu spät. Der Unterricht hat schon begonnen, die braunen Türen sind geschlossen, und über die Flure kriecht eine unangenehm mächtige Stille. Fast automatisch duckt sie sich, huscht über die roten sechseckigen Fliesen, nah an der Wand. Die gesprungenen Steine muss sie überwinden, weil sie klappern und sie verraten könnten.
Eine halbe Treppe, elf kaputte Fliesen, und sie ist am Sekretariat vorbei und hat das Schlimmste überstanden. Doch Frau Hajna, die stellvertretende Direktorin, hat ausnahmsweise ihre Tür offen. Keine Chance. «Na, meine Liebe, hab dich auch schon flotter gesehen!» Elsa hört das typisch Hajna’sche Lachen schon nach der siebten, zerbrochenen Fliese. Zuspätkommen heißt, den Weg über dieses resolute Lachen zu nehmen, über diese selbstverständliche Art, in der Tür zu stehen und die schwarzen Locken zu schütteln. So fängt der Tag nicht gut an.
Als sei sie nie weg gewesen, hört Elsa ihre hastigen Schritte auf dem roten Stein, hört, wie die Tauben in die Luftschächte fallen, ein dumpfes, dunkles Gurren. Sie spürt den Zwang, die Tiere greifen zu wollen, ihnen ihre Freiheit zurückzugeben. Doch es bleibt nur der Ton, eingeschlossen in die Mauern, im Inneren abgeschnitten, bis er irgendwann verstummt.
Endlich, im ersten Stock, drei Klassenräume, auch dort nur verschlossene braune Türen und diese viel zu große Stille. «Ein Mops kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei.» Nein, bloß nicht – Herr Mittelstädt mit seinem ewigen Spott auf ihre Trödeleien. Sie würde sich jetzt liebend gern an ihm, dem Theaterleiter der Schule, vorbeimogeln. Dieser Ton ist im Moment nicht zu ertragen. «Luise Millerin,» ruft er, «na, hast du die Rolle drauf?» – «Hot dogs», erwidert Elsa lässig. Im Grunde unpassend, sie weiß es, doch sie muss noch in den dritten Stock, jetzt bloß nicht aufhalten lassen. Das gefällt dem Theaterleiter natürlich nicht, und so wird sie sich Grundsätzliches anhören müssen.
Wie oft er diese Sätze gesagt hat: «Du gehst jetzt auf die Bühne und redest, egal, was. Lass etwas entstehen. Nur du und das Publikum, mehr ist nicht. Such dir ein Gesicht, einen Punkt, lass die Arme einfach hängen. Warte. Such dir zwei Augen, halt sie fest, und dann fang an. Vertrau darauf, dass du etwas zu erzählen hast. Nun geh schon, geh einfach los und erzähl!»
Wie oft hat er uns Science-Fiction schreiben lassen, erinnert sich Elsa. Eine Geschichte erfinden, aus skurrilen Worten: Sandtaler, Jules Verne, Digedags, Hagestolz – damit fing er an, und dann musste man was draus machen. Fabulieren, die Dinge übereinander legen, sich was einfallen lassen. Eine Art Fischen im Trüben, denn wer weiß schon, wer Hagestolz ist. Ihm eine Geschichte in den Mund legen und noch heute nicht wissen, wer er war. Sich dennoch irgendwann zuständig fühlen für seine Welt, als sei man schuld an ihr. In den gefundenen Worten das erste Mal allein sein. Das ist Elsa geblieben, die Lust an den komischen Worten – Sandtaler, Wartburg, Schwarzwurzel, Totenkleid. Ein Ausflug in ein Leben, das man nicht kennt. Hagedorn, Hagebutte, Hagel. Hagestolz? Hat wohl kein Glück gehabt. War es nicht der mit dem Speer?
Die Erinnerungen laufen weiter, sind endlich im zweiten Stock. Elsa kann die Augen schließen und mit jedem Schritt wissen, in welchem Teil der Schule sie ist. Eine Sache der Geräusche, der Gerüche, des Lichts. Und auch eine Sache der Lust, ganz in die Nähe des anderen zu kommen, jemanden zu berühren. Das seltsame Leben der Dinge in so einem riesigen Kasten wie dieser Schule. Endspiele, Unruhe, Langeweile, glückliche Tage. Die Zeit, in der jeder jeden auf besondere Weise im Auge hat. Am Ende auch nur der Duosan-Geruch im Kunstraum oder der Zimt-Geruch von Rainer Heise, Elsas Geschichtslehrer, der die ganze erste Etage bestimmt und ihr Verhältnis zu ihm. Mitunter denkt sie heute, ging es allein darum, in diesem Geruch unterzukommen, in ihm für diese Minuten geborgen zu sein. Damals hat sie sich höchstens von Lehrer Heise die Geschichte von Hagestolz erzählen lassen, um sie gleich darauf wieder zu vergessen.
Elsa ist im dritten Stock, steht endlich vor ihrem Unterrichtsraum, zusammen mit der Stille, die mit jedem Stockwerk stärker wird. Dieser beklemmende Moment, erneut etwas nicht geschafft zu haben: Nur noch zehn Minuten, dann ist die Stunde zu Ende. Das wird sie Hans Georg Lippe, dem Chemielehrer, nicht gönnen. Sie steht vor der Tür, legt die Hand auf die Klinke. Nein, es ist entschieden: gelangweilt am Fenster stehen, in Ruhe eine Zigarette rauchen und auf den Schulhof blicken. Mehr ist hier nicht drin.
Wieder in Berlin. Zwölf Schritte, acht, vier – Elsas Atem stockt vor dem Vorlesungssaal. Die fetten Farben der Krokusse und Osterglocken, an denen sie in der Parkaue heute morgen vorbeigestürzt ist – denn natürlich war sie zu spät –, warum denkt sie jetzt daran? Die gleichen trüben Flure, ganz ähnlich abgerundete Aufgänge, dasselbe matte Gründerzeit-Licht, derselbe verhalten dumpfe Ton – warum ist ihr die Ähnlichkeit der beiden Schulgebäude nie aufgefallen? Plötzlich ist alles sehr eilig: Adieu, ihr Jamben und Trochäen! Vielleicht ein andermal! Sie muss zum Bahnhof. Wann nochmal ging der nächste Zug nach Erfurt?
Der Intercity, der von Hamburg kommt und in Berlin Bahnhof Zoo hält, ist überfüllt. Kaum jemand, der aussteigt, und auf Gleis 4 stehen noch viele, die gen Süden wollen. Das kann ja heiter werden. Elsa jedoch ist schmal, fast ohne Gepäck, und ihr Charme stimmt die Umgebung oft erstaunlich milde. Noch also ist sie guter Dinge und braucht nur ein paar wendige Manöver, um in einem Sechserabteil einen letzten freien Platz zu ergattern.
Ein vielleicht dreißigjähriger Mann – helle, offene Augen, braun gebrannt, edler Dreiteiler, Glatze, Springerstiefel – sitzt ihr gegenüber. Seine Lippen bewegen sich unablässig, die Stirn ist leicht schweißig, die Augen huschen über die Neue im Abteil hinweg, auf seinen Oberschenkeln liegt ein Buch, geöffnet und in fliederfarbenem Einband. Kaum eine Zeile ist unmarkiert geblieben, jede Seite hat ihr Eselsohr. Ein vollständig durchgearbeitetes Lebensbuch, glaubt Elsa zu erkennen. Die Sache hier sieht ernst aus. Sie will endlich den Titel wissen.
Immerhin hat sie das Cover-Foto auf der oberen Hälfte des Einbandes mittlerweile ausgemacht: den nackten Rücken eines braun gebrannten, sportiven Mannes, die Arme im Nacken entspannt verschränkt, sein Blick ruht auf einem himmelblauen Meer, knapp darüber flirrt ein himmelblauer Himmel, mit sanft fliehenden Zirruswolken, das Ganze umrahmt von der Fliederfarbe. Bisschen fett für die Glatze in Springerstiefeln, findet Elsa, doch sie hält sich vorsichtshalber zurück. Nach und nach können ihre Augen immerhin einzelne Sätze entschlüsseln: «Angst ist etwas völlig Unlogisches – Aber unsere Hirne sind voll davon – Ein Weltkonzern hat keine Gefühle, kein Unterbewusstsein, keinen Biorhythmus, keine Wunden – Ich bin die Führungsmacht – Gehen Sie den Weg der Rose: Einfach dastehen, blühen und duften!»
Nichts geschieht zufällig, alles gesetzmäßig, wie oben so unten, wie innen so außen, wie im Größten so im Kleinsten – Elsa ergänzt in Gedanken das therapeutische Spiel und betrachtet ihr lernwütiges Gegenüber. Worüber man so ins Schwitzen kommen kann. Elsa zieht es vor, ihre Jacke zu nehmen und das Abteil zu verlassen.
Der Zug fährt eine Biege. Dessau, Halle, Merseburg sind vorbei. Mit halbem Auge entdeckt sie den Bismarck-Turm, links oberhalb von Weißenfels. Das heißt noch acht Minuten, dann kommt Naumburg, und es beginnt, was Elsa ihre Landschaft nennt: Hügel, Kalkfelsen, weite Blicke, ein einzelner Baum am Horizont, Windräder und Burgen. Burg Saaleck oder die Rudelsburg, lange fest in den Händen von Raubrittern, hatte Lehrer Heise auf einem der Schulausflüge erzählt. Ob auch Hagestolz dort sein Unwesen getrieben hat? Der Zug windet sich durch die Mulden des Saaletals. Auf jeder Fahrt nach Hause lässt Elsa ihren Körper stückchenweise von der Landschaft aufnehmen, Kilometer für Kilometer, als könne sie auf diese Weise deren Weichheit in sich hineinziehen. In diesem Moment hat sie nichts gegen das Wort Heimat.
«Willst ’n Bier?» Im Raucher sitzen zwei Hip-Hopper, haben diverse Sixpacks vor sich und grinsen sie an. «Dir geht’s nicht so, was? Na, komm schon, ’n Bier wirkt manchmal Wunder. Das brauchst du jetzt!», wiederholt einer der beiden, nicht mal unfreundlich. «Seh ich etwa so aus?», entgegnet Elsa grantig. «Wo fährst’n hin?», fragt der zweite. «Erfurt.» Die beiden Jungs sehen sich an. «Die absolute Härte, was da heute passiert ist, jede Stunde mehr Tote», sagt der erste. Elsa merkt auf, sie will mehr, muss Genaueres wissen, erhält jedoch nur beider Achselzucken. «Haben vor drei Tagen in Frankfurt unser Abi geschrieben und sind danach gleich auf und davon. Berlin!» Elsa lächelt matt und setzt sich nun doch neben die beiden. Ein Bier schafft sie schon in der halben Stunde bis Erfurt.
Ein lethargischer Abendhimmel hängt über der Stadt, als der Zug den Bahnhof endlich erreicht. Elsa geht schnell, sie hat es eilig: Bahnhofstraße, quer über den Juri-Gagarin-Ring bis vor zum Anger, sie nimmt immer denselben Weg. Linker Hand ein großes gelbes Gebäude, das Museum. Mit beiden Händen stemmt sie sich gegen das hohe Gemäuer – ihre Begrüßungszeremonie für die Stadt. Die kann sie nicht auslassen. Den überwölbten Raum hinter den Eckmauern kennt sie genau. In einer Melange aus Terracotta-Ton und expressiven Farben hat Erich Heckel in ihm seine Lebensstufen gemalt: eine Art Höhle aus wilder Ornamentik. Efeu, Clematis, Amaryllis, Mohn, üppig wuchernde Lilien, das weiße Pferd und die Eule, die Wappenteppiche, der Zirkus, die Reiterin, die Schlittschuhläuferin.
Elsa liebt diesen Raum, hat oft stundenlang allein darin gesessen und seinen skurrilen Kosmos befragt. Seit er wegen Sanierungen geschlossen bleibt, wandert sie in Gedanken durch die expressionistische Lebenshöhle, bevor sie Erfurt betritt. Hinter dem Stück Wand – dort, wo jetzt ihre Hände liegen – hängt das Bild «Freundschaft», ein Fenster weiter «Trennung», noch eins weiter «Der Schreitende». Auf der Pfeilerwand zwischen den Fenstern steht Roquairol. Ein Name, flirrend zwischen Rock und Idol, irgendeine Figur aus der Romantik, glaubt Elsa sich zu erinnern. Kauzig und zerrissen, wie er ist, steht er in Heckels Panorama für den Kampf ums Böse. Dem er erliegen wird. Sein Gesicht, sein gesamter Gestus verraten es.
Stück für Stück läuft Elsa Heckels Stufenraum ab. Wenn sie den hinter sich hat, kommt ihr Erfurt ein Stück moderner, geräumiger, selbstgewisser vor, ohne dass sie recht sagen könnte, warum. Jetzt eine Zigarette, dann links in die Schlösserstraße, kurz darauf in die Weitergasse. Sie läuft immer schneller, sie wartet auf das Wehr. Sind seine Schleusen geöffnet, wird die ansonsten plätschernde Gera zum Strom. Laut ist es dann, und man hat das Gefühl, das Zentrum der Stadt komme ins Rutschen. Ab und an stellt sich jemand auf die Brücke, direkt vor das Geräusch des Wassers, schließt die Augen, steht einfach nur da und wartet. Worauf eigentlich? Es ist der Ort, an dem die Stadt Pause macht, die Kinder auf der Brücke sitzen, die Enten beobachten und ein Eis ums andre schlecken.
Wenn Elsa Zeit hat, geht sie zu Breuninger, dem Kaufhaus direkt gegenüber, setzt sich im zweiten Stock ins Café und schaut auf den Fluss. Im Hintergrund anonymer Kaufhaus-Ton, über der Bar zehn laufende Fernseher, die Fensterfront vollständig aus Glas, mit Blick aufs Wehr. Wer was zu erörtern hätte, der säße wohl hier. Doch Elsa hat keine Zeit. Seit sie in Berlin lebt, nimmt sie die Bewegungen der Stadt als zu beschaulich und still wahr. Wie sich in diesem angehaltenen Rhythmus der eigene Körper beschleunigt, spürt sie. Wie leise hier das Leben geht.
Auf dem Weg zum Fischmarkt füllt sich die Straße. Die Menschen laufen, als würden sie nur eine Richtung kennen, ihrer eigenen Choreographie folgend, auf einen imaginären Punkt zu. Etwas soll erreicht werden, und zwar schnell. Was geschieht, geschieht ohne Worte. Magnetisch angezogen, muss es irgendwo einen Ort geben, an dem man zusammenkommen kann. Kerzen, Tränen, eingezogene, leere Gesichter. Vor dem Rathaus entdeckt Elsa Stefan, einen alten Freund vom Gutenberg-Gymnasium. Sie haben sich lange nicht gesehen, fallen sich in die Arme, laufen zum Domplatz, zur «guten Stube der Stadt». Es ist fast 20 Uhr, mittlerweile recht kühl. Der Regen tröpfelt vor sich hin. Stefan legt seinen Pullover um Elsas Schultern, beginnt leise zu erzählen, nennt zum ersten Mal einen Namen – Robert Steinhäuser.
«Robert Steinhäuser?» Elsa sieht den Freund ungläubig an. Der dickliche, ewig verschwitzte Steini, mit dem sie ihre Kindheit verbracht hat? Steinhäuser, der Schwammi von gegenüber? «Den kenne ich», wehrt sie ab, «der nicht.» – «Doch», beharrt Stefan, «ebender. Viel weiß man nicht im Moment, aber wer es war, daran gibt’s keinen Zweifel. Schon mittags kurz nach zwei Uhr lief es über alle Kanäle.» Elsa hört die Sätze und hört sie auch wieder nicht, versucht, in Gedanken den alten Wegen zu folgen: Ihre Kindheit, das waren die Hinterhöfe zwischen Ludwig- und Ottostraße. Pflaumenbäume, Apfelbäume, Indianerspiele, Verstecken im Dunkeln. Auf den Bäumen sitzend, mit ihrer Freundin das Leben entwerfen und das dann gegen die Jungs verteidigen.
Gegen einen etwa wie Robert Steinhäuser, den von der Otto-Straße, jenen Background-Typ. An seine unruhigen Augen erinnert sie sich, seinen schleifenden Gang, seine idiotische Art, Witze zu machen. Mit sechs, acht Jahren trafen sie sich ziemlich oft, ihre Cliquen aus den beiden Straßen, es ergab sich einfach so. Mit wem sollte man auch spielen – in der Gegend gab es zu der Zeit nicht sonderlich viele Kinder. Ein Ego-Taktiker, dachte sie, wenn sie ihn später ab und an mit schwarzer Lederjacke und seinem blödsinnigen Kindsbart die Biereyestraße runter zur Schule ziehen sah.
«Der hat zu viel Druck in der Spur», hatte es später häufiger auf dem Schulhof geheißen. Warum eigentlich? Elsa findet kein Bild dazu, kann sich nicht erinnern. Schwachsinn! Nichts weiß ich von ihm, alles nur Äußerlichkeiten!, hält sie inne. Stefan zieht sie am Arm. «Komm», drängt er, «lass uns hoch zur Schule gehen. Wer weiß, vielleicht hören wir dort was Genaueres oder treffen jemand von uns.»
Das Gymnasium ist hell erleuchtet und weiträumig abgesperrt, als die beiden auf der Anhöhe ankommen. Überall Polizei- und Presseautos, Scheinwerfer, am Rand zwei Bereitschaftswagen. Man ist unendlich beschäftigt, das Set steht, jeder scheint zu wissen, was in einer solchen Situation zu tun ist. Eine große Filmkulisse oder eher ein Jahrmarkt, denkt Elsa, in dessen Hintergrund die Schule noch gigantischer wirkt. Stefan tritt an einen Polizisten heran, versucht, ihn anzusprechen. Doch Elsa hat mit einem Mal keine Lust mehr, winkt nur noch ab. Sie will nach Hause, hat der Kälte nichts mehr entgegenzusetzen.
Der Fernseher läuft laut, als sie kurz darauf die elterliche Wohnung in der Ludwigstraße betritt. «Da bist du ja», Elsas Mutter schaut kaum auf, «hab schon das Schlimmste befürchtet.» – «Was denn?», fragt die Tochter. «Ach, weißt du, zwischendurch hab ich heute mal gedacht, du seist das alles gewesen.» Elsa stockt der Atem. Deshalb war sie nicht gekommen: sich aufeinander zu freuen, um aufeinander loszugehen. Ihre Blicke gehen zum Vater, kurz darauf zurück zur Mutter. Keine Reaktion. Nur das Flimmern des Fernsehers. Elsa will es nicht glauben, heute nicht!
Kommt schon, los, sagt was! Redet! Irgendwas! Unentschieden lässt sie ihre Blicke zwischen den beiden hin- und herwandern, ringt nach Worten. Findet jedoch auch keine. Betrachtet stattdessen lange das Gesicht der Mutter, in deren Augen die Fernsehbilder ungestört weiterlaufen. Wie jung sie aussieht, wie sie es geschafft hatte, über diese wirren Wendejahre hin ihr Jungmädchengesicht zu behalten und, wie es aussieht, auch ansonsten unverändert zu bleiben: ihre ewige Tyrannisier-Lust, die sie kurze Zeit später mit großer Güte wettzumachen weiß. Als würde sie sagen: Guckt mal, ich mache hier was, von dem niemand weiß, was es soll, und danach sehen wir alle zusammen ziemlich alt aus. Wahrscheinlich langweilt sie sich, denkt Elsa. «Ätzend, das!», entfährt es ihr, damit der Vater endlich aufspringt und sie in die Arme nimmt. «Ja, Liebes», macht der einen Satz, «sieh dir das an, deine Schule!», und zeigt auf den Fernseher. So sitzen sie also zu dritt vor den Bildern.
23 Uhr, acht Stunden nach Bekanntwerden des Massakers – man spricht mittlerweile von 18 Toten –, überträgt das ZDF von Erfurt aus live ein «Johannes B. Kerner-Spezial». «Mike, wir werden mit aller Vorsicht mit dir reden», beharrt der immer bereite Kerner gegenüber einem elfjährigen Gutenberg-Schüler. Der versucht es mit redlicher Antwort: wann Schulanfang war, was auf dem Stundenplan stand, in welchem Gebäudeteil er war, als die Schüsse fielen, wann sie tatsächlich bemerkten, dass etwas passiert sei, dass er den Täter wirklich habe anschauen können, dass er eine tote Lehrerin gesehen habe. Mike steht unter einem Party-Zelt auf dem Gutenbergplatz, friert und redet. Ab und an fällt der Ton aus, meist sind nur die zuckenden Wangenknochen von Kerner auf dem Bildschirm zu sehen und sein mechanisches Nicken. Elsa erkennt das Zelt vor der Schule wieder, an dem sie vor Minuten noch mit Stefan gestanden hat. «Schalt um», fährt sie den Vater an, bevor Kerner seine Zuschauer mit dem Satz verabschieden kann, dass es nächsten Dienstag wieder «regulär mit sicherlich freundlicheren Gesprächen» weitergehe.
Im MDR ein «Extra» mit den Bildern vom Tag: Spezialkräfte im Sturm auf das Gebäude, hochgereckte Pistolen, jede Menge Polizisten, geduckt zwischen parkenden Autos, die Endlosreihe der Schulfenster, dahinter der Schock in den Gesichtern, Notärzte, die in einem Tuch eine tote Frau wegtragen, und immer wieder Schüler, die sich hinter den Absperrungen fassungslos in die Arme fallen. Wäre es nicht Erfurt, wäre es Austin, Dunblane, Santee, Brannenburg, Littleton, Port Arthur oder jeder andere Ort der Welt. Kriegsbilder, Realitätsbomben, die sich ähneln, assoziativ abgerufen und abgeglichen in einer fassbaren Reihe. Ein scheinbar überall verständlicher Code. Die Augen sind längst aufgeladen von jenem sachlich aggressiven Bildton, der das Reale so zwecksicher zu verbergen vermag. Hinter dieser vermeintlichen Irrealität wird Erfurt zu einem Fall unter Fällen.
Doch den Platz, auf dem Kerners Party-Zelt steht, den kennt Elsa nur zu genau. Auf dem Rasen vor der Schule hat sie noch vor kurzem mit Anne gesessen und Rügers Mohnkuchen und seine legendären Marzipanhörnchen verschlungen. Das Gymnasium ohne seinen Hausbäcker an der Ecke – unvorstellbar! Jeden Straßenzug, jeden Pflasterstein, jedes Fenster, jede Kirschblüte, jedes Auto auf dem Schulhof, die große Weide links vom Eingang – Elsa glaubt, sogar die Stimmen im Fernseher alle zu erkennen. Jetzt darf der thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel vom «Unheil, das vom Himmel gefallen ist», klagen. «Typisch!», winkt der Vater ab. «Die Katholiken und der Schrecken. Nichts können sie so wunderbar mythisch verklären wie den. So wird das Ganze mal wieder keine Ursachen haben!»
Gleich darauf die soundsovielte Live-Schaltung an den Ort des Geschehens. Wie denn die Stimmung dort sei, wird eine Reporterin in den Nieselregen hinein gefragt. «Absolut gedrückt.» Das ist alles, mehr Zeit bekommt sie nicht, dann werden auf ihre zwei Worte Archivaufnahmen geschnitten: aus Meißen, wo ein Schüler vor drei Jahren seine Lehrerin mit 22 Messerstichen tötete. Aus einem bayerischen Internat, in dem ein Zögling eine Aufsichtskraft erschoss. Von einem Blutbad eines weiteren bayerischen Schülers unter Passanten, mit Waffen aus dem elterlichen Waffenschrank.
Dass die Polizei die Wohnräume des Täters durchsucht habe, der bei seinen Eltern lebte, heißt es mittlerweile. Bilder vom Haus: ein vierstöckiger, gelber, renovierter Altbau, Blumen auf den Fensterbrettern, ein korrekt angeordneter Fußabtreter, glänzende Namensschilder, ein kleiner blühender Vorgarten – eine ostdeutsche Idylle. «Üblicherweise kommen an dieser Stelle die Spezialisten», weiß die Mutter. Sie kommen in der Tat: Von amerikanischen Verhältnissen an deutschen Schulen ist nun die Rede, von Drogen, müden Familien und der zunehmenden Kälte in der Gesellschaft. «Ach nee», leiert der Vater einem Psychologie-Professor hinterher, «Amokläufe kann man nicht generell verhindern, genauso wenig wie Autounfälle.» Er hat genug, steht auf, schlurft ins Badezimmer. Die Mutter gähnt. Nach dem Professor wird die Hotline 0800–1073107 bekannt gegeben, ein Info- und Beratungstelefon, unter dem sich noch immer Beunruhigte melden können. Darauf die Einblendung eines einzelnes Fotos – ein feistes, freundlich vor sich hin pubertierendes Gesicht. «Sieh mal!», ruft die Mutter in die Tiefe der Wohnung hinein. «Den kennen wir doch! Der wohnt hier gleich um die Ecke!» Der Vater kommt mit der Zahnbürste und betrachtet das Konterfei von Robert Steinhäuser. «Wohnte», korrigiert er und verzieht sich ins Bett.
Elsa will abschalten: genug vom Strom der Bilder, genug von der Welt aus der Kamera! 18 Tote! Und noch immer keine Namen. Wen von ihnen würde sie kennen? Was ist mit Herrn Mittelstädt, Herrn Heise, Frau Hajna, mit all den anderen? Was weiß sie überhaupt bisher vom Vormittag in ihrer Schule? Die Sender liefern pausenlos. «Unfassbar», sagt der Bundespräsident. Der Kanzler spricht von einem «singulären Ereignis, das alle Vorstellungen übertrifft». Jetzt wieder eine Direktschaltung vor Ort. Ein Reporter steht noch immer mit seinem pelzigen Mikrophon vor der Schule, hat aber nichts mehr zu berichten. «Auch in Erfurt ist es Nacht geworden», lautet sein Schluss.
Wie viel Nacht, fragt sich Elsa, rutscht zurück in die Sofakissen und dreht sich den letzten Joint. Sie würde gern schlafen, doch kann von den Bildern nicht lassen. Noch immer gibt es neue Details. Die Kriminalpolizei gibt eine Objektive Täterbeschreibung heraus: schwarze Cargohose mit Seitentaschen, schwarze Schnürschuhe, eventuell Leder (keine Springerstiefel), schwarze Gesichtsmaske mit Schlitzen, schwarze Fausthandschuhe, Leder, schwarze Umhängetasche mit Trageriemen, schwarzer Stoffrucksack Marke Camel, Zuckerrohrmesser in beigefarbigem Lederschaft, Pistole Glock 17, schwarz, Pump-Flinte Mossberg.
Kurze Zeit später läuft die Simulation einer männlichen schwarzen Gestalt, schwer bewaffnet und vermummt. Ein virtueller Killer, der eine Schule, ein Labyrinth, betritt und Tür um Tür öffnet. Seine Schritte schaffen sich Raum im Sog hart pulsierenden Techno-Beats. Es hämmert nur so, etwas läuft heiß, eine Maschine in Schwarz, auf der Jagd. Etwas, das hochdreht. Niemand und nichts, das sich ihr in den Weg stellt. Ihr immer knapper werdender Atem und nur ein Ziel – sich zu entladen: irrsinnig laut, blind, enthemmt, aus einem Rohr.
Die Bilder bannen, ihre visuelle Rhetorik ist eindeutig. Aber woher weiß man das eigentlich alles? Vielleicht ist Töten eine sehr stille Sache, fragt sich Elsa, ohne einen einzigen Laut im Inneren. Vielleicht ist das ganze elende Rampage-Killing, von dem heute Abend so viel die Rede war, gar nicht so motivlos, wie die Experten uns weismachen wollen? Dabei ist ihr dieser ganze Militärkram seit je auf den Geist gegangen. Die Welt einschwören auf die eine Perspektive: ein Mann, ein Rhythmus, ein Gewehr.
Elsa sitzt mitten am Ort, keine fünf Minuten von der Schule entfernt, einen Katzensprung vom Haus der Steinhäusers. Sie hört die Wohnzimmeruhr ticken, ihr Blick fällt auf Platzdeckchen, Plüschgardinen, die massive Schrankwand der Eltern. Nichts mehr zu kiffen, nichts zu trinken. Ziemlich trostlos. Was bleibt, findet sich in den Wiederholungen der Bilder. Vielleicht war sie kurz eingeschlafen, vielleicht ist aber auch schon Tag geworden, oder hellt das Flimmern des Fernsehers das Zimmer derart auf? Als liefen die Augen eine Art Zeitschleife, lässt der Bildschirm den gestrigen Tag noch einmal von vorn beginnen. «Das Schlimmste war die Warterei», sagt ein Sanitäter. «Spürhunde haben uns nach Pulverdampf abgesucht. Jeder bekam ein Schild ans Handgelenk. Wir wurden markiert wie die Lämmer, die zum Schlachten müssen», so ein Schüler, der stundenlang auf dem Sportplatz hinter der Schule, der Evakuierungsstelle, zugebracht hat.
Die Version des zweiten Täters ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, mittlerweile fahndet man sogar in der Erfurter Kanalisation nach ihm. Die Polizei sucht einen Mann «mit modischen Kontaktlinsen, die strahlend blau sind, in der Pupille senkrecht wie bei einer Katze.»
«182 Schüler befanden sich über vier Stunden in Todesangst», heißt es bei Erfurt-TV. Die Toten Hosen canceln ihr Konzert für den 27. April und die Stadt Erfurt sagt den «Autofrühling» auf dem Domplatz ab. «Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Straftat von erheblicher Bedeutung. – Der Tattag war der letzte Tag der schriftlichen Abiturprüfung an seiner Schule. – Robert Steinhäuser hinterließ keinen Abschiedsbrief.»
«Am Morgen wurde die Zahl der Toten auf 17 korrigiert – zwei Schüler, zwölf Lehrer, eine Sekretärin, ein Polizist und der Amokläufer selbst», vermeldet der ARD-Nachrichtensprecher. «Die Politik hat sich auf kürzestem Weg verständigt», sagt der Erfurter Oberbürgermeister Ruge noch einmal im Erfurt-TV, «und stellt den Schülern des Gymnasiums die Rathausräume 243 und 244 zur Verfügung. Ein Angebot aller Fraktionen, um gerade jetzt miteinander zu sprechen. Ich hoffe auf eine gute Zeit.»
Elsa liegt noch immer auf dem Sofa, die Augen geschlossen, hört sie die Eltern entfernt auf dem Balkon rumwerkeln. Wie gern hätte sie sich gerade gestern Abend hier zu Hause gefühlt. Der Satz der Mutter geht ihr nicht aus dem Kopf: Denkt sie wirklich, ich könnte jemanden töten? Wie kommt sie nur darauf? Plötzlich ist sie hellwach. Die Stimme kennt sie doch. Klar, das ist Rainer Heise! «Als ich den Kindern auf dem Hof nachrief: Rennt! Rennt!, sagte die Gestalt: Die kriege ich noch. Ich hörte an der Stimme, dass es sich um einen männlichen Jugendlichen handelte mit richtigem Erfurter Dialekt. Er schoss mit seiner Pistole einmal in die Luft, zielte dann auf die Kinder und sagte: Verdammte Scheiße, ich muss nachladen. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, da er eine Maske über dem Kopf trug.»
Rainer Heise gibt ein Interview, in seiner Wohnung, zwischen Büchern, Bildern und all der sorgsam sortierten Gutbürgerlichkeit. Dunkle deutsche Eiche, alte Leselampen, schwere Teppiche. Anfangs hatte Elsa diese komische Ordnung der Dinge irritiert. Sie schien ihn um einiges älter zu machen, als er ist. In jener wohl abgestimmten Ordnung sah sie etwas festgehalten, was selbst schon zum Fossil geworden war. Später wird sie darin eine Art der Verschwendung erkennen: das Besondere in den Dingen festhalten und ihnen so noch einmal eine eigene Zeit gestatten. Was kann es Großzügigeres geben?
Der weißhaarige, drahtige Mann sitzt in seinem Ohrensessel, sein Gesicht ist rot und schweißig, die Halsschlagader stark angeschwollen. Die Hände rudern fahrig. Er will klären, Bericht geben, er muss sprechen. Doch es ist nicht die Zeit, und es gibt auch keinen Platz dafür. Wie die Kameras mit einem Schlag sein Wesen zerstören, denkt Elsa. Sie kennt ihn doch und erinnert sich an einen Nietzsche-Satz, den Rainer Heise früher ab und an zum Einsatz gebracht hatte und den sie nie so recht verstanden hatte: «Im Verborgenen leben, damit man nicht verwechselt werden kann.» Jetzt scheint es ihr, als ob der Satz genau für diese Situation gefunden wurde. Elsa betrachtet ihren gestikulierenden Lehrer in dem viereckigen Kasten: «Ich sagte: ‹Was soll denn das?› Und sah ihm dabei in die Augen. Dann zog ich meinen Pullover mit beiden Händen vor die Brust und sagte: ‹Na, dann erschieß mich auch.› Er nahm die Pistole, legte sie links neben sich auf das Regal und sagte: ‹Nein, Herr Heise, für heute reicht’s!›»
So früh es noch ist – Elsa zieht es in die Stadt. Sie braucht Gesichter, sie muss hören. Am Gutenberg-Gymnasium: Kameras, Absperrungen, Presseautos. Dasselbe Szenario wie gestern Abend. Über den Schulhof verteilt, stehen zwölf Autos – die Autos der Lehrer, die den gestrigen Tag nicht überlebt haben. Kripo-Beamte suchen mit Metalldetektoren die Außenfassade des Gebäudes und die Autos nach Bomben ab. Auf den Eingangstreppen entsteht ein Meer aus Blumen und Kerzen, dazwischen stecken Fotos, ab und an ein Teddybär. Die Erfurter kommen mit Tränen, mit all ihrer Fassungslosigkeit und der Frage nach dem großen Warum. Die liegt auf der Treppe zwischen den Blumen, einfach auf weiße Blätter oder Transparente geschrieben, steckt in den Gesten der Schüler, die den Gutenberg-Platz nicht mehr verlassen. Dieses Wort nimmt die Stadt fest in den Griff.
Ein Tag und jene Einwortfrage, die Einschlagstelle, um die herum sich völlige Sprachlosigkeit ausbreitet. Warum? Warum? Warum? Wie groß ein einzelnes Wort werden kann. Fünf Buchstaben – eine Mauer, hinter der sich die gewohnte Welt versteckt hält, denkt Elsa. Blödsinn! Der Himmel ist oben und hat heute hohe, schnelle Wolken, als käme das Wetter vom Meer. Der Tag ist ein Tag, ihm folgt der Abend, und nach ihm wird es einen nächsten geben. Was soll schon sein? Diese Stadt ist die Stadt, in der ich aufgewachsen bin und in der ich jeden Straßenzug kenne, beharrt sie. Was soll sich verändert haben? Doch so ist es nicht, Elsa weiß es. Gestern war nicht einfach gestern, und heute wird nicht dieses Heute sein, was es noch vor 24 Stunden hätte sein können. Es gibt sie nicht, die sorglose, unabänderliche Folge der Tage.
Doch werden nicht ununterbrochen neue Zeiten beschworen, neue Ordnungen, neue Welten? Das neue Jahrtausend! Der neue Terror! Der neueste Film, der jeden bis auf den Grund verändert! Das neue Super-Gen! Nie wieder sein, was man noch gestern war. Doch für wen gelten diese vielen neuen Ordnungen eigentlich, und hat das was mit dem, was gestern hier geschehen ist, zu tun? Elsa läuft zum Domplatz, unterwegs ein Blick zum Zeitungskiosk: Die Bild titelt «Deutschlands schlimmster Tag». Sie kauft alle Zeitungen, stopft sie unter den Arm, läuft weiter, ihrem inneren Wegenetz folgend. Auch auf den Domstufen liegen schon jede Menge Blumen. Im Rathaus wolle man ein Kondolenzbuch auslegen, hatte sie heute Morgen in den Nachrichten gehört. Da wird sie hingehen und sich eintragen. Vor dem Haus der Stadt trifft sie auf das dritte Blumenmeer. Ein tröstender Haufen aus Farbe und Frühling – Tulpen, Forsythien, Flieder, Krokusse, Osterglocken.
Als hätte jemand in Windeseile die Einwortfrage über die ganze Stadt verteilt, wiederholt sich das Warum auch im Kondolenzbuch der Stadt: Robert S. – warum hast du uns das angetan? Warum wolltest du auf diese Weise Berühmtheit erlangen? Warum lässt Gott so etwas zu? Warum heute, warum hier? Die meisten halten sich kurz und schreiben nur: Warum?
Hinter dem Warum im Eingangsbereich des Rathauses lauert eine zweite Mauer: mindestens vierzig Journalisten, mit Kameras im Anschlag, ihrem metallenen Hüsteln und hektischen Geschiebe. Was kann schon noch kommen, fragt sich Elsa und denkt an Lady Diana und ihre Paparazzi-Armee. Als sie dann endlich dran ist und vor dem Buch steht, blättert sie wahllos darin herum, liest die Eintragungen. Etwas missfällt ihr: Die ganze Situation hier ist künstlich, das Intime der Trauer im Raum ausgeleuchtet, die Gedanken der Wartenden sind schmerzlich durchsichtig wie auf einer Röntgenplatte. Ihre Augen bleiben an einer Kinderschrift hängen: «Unfassbar. Ich kann es nicht verstehen. Mama leb wohl, Dein Sohn E.» In diesem Moment stürzt eine Ordnungskraft auf sie zu und herrscht sie an: «Beeilen Sie sich! Sie können hier nicht rumstehen. Wir erwarten hohen Besuch! Unser Außenminister kommt jeden Moment!»