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Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-23780-5

ISBN E-Book 978-3-688-11851-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-11851-9

Für Raffaele
und Luca Crovi

Der Autor bedankt sich
bei Edgardo Azzi für alle Informationen über
den Po sowie bei Simona Mammano, der Organisatorin
des Premio Fedeli, des Literaturpreises der Polizei
für Kriminalromane.

1

Feiner Regen fiel langsam vom Himmel. Durch die Tropfen, die stetig auf den Hauptdeich des Flusses niedergingen, war die Lampe des Circolo Nautico nur mühsam auszumachen, nicht mehr als ein schwaches Signallicht für die Schiffer, die ihre Lastkähne im Dunklen steuerten, nach dem Gedächtnis.

«Ein schlimmer Regen», sagte Vernizzi.

«Einer, der einfach nicht aufhören will», erwiderte Torelli, ohne aufzublicken.

Seit über einer Stunde saßen sich die beiden bei einem Kartenspiel gegenüber, das zu keinem Ende kam.

«Wie viel ist das Wasser gestiegen?», fragte Vernizzi.

«Zwanzig Zentimeter in drei Stunden», antwortete sein Gegenüber, ohne den Blick von dem Punkt zu wenden, wo die Karten lagen.

«Morgen früh wird die Sandbank unter Wasser stehen.»

«Und die Strömung wird allmählich an den Anlegern zerren.»

An den vier Tischen wurde weniger aufmerksam gespielt als sonst: Der Regen und der steigende Fluss beherrschten die Gedanken. Von Zeit zu Zeit hörte man das Ächzen einer Winde aus dem Flusshafen am Po, wo irgendwer im strömenden Regen die Boote an Land zog. Dazu im Hintergrund das leise Gluckern der Dachrinnen, das sich anhörte, als würde jemand an eine Mauer pinkeln. Seit vier Tagen regnete es: am Anfang stürmisch wie im Sommer, dann immer beharrlicher. Und jetzt floss vom Himmel eine Art Nebel herab, der alles in eine riesige Pfütze verwandelte. An der Tür des Circolo erschien der alte Barigazzi mit triefendem Hut, in einen schweren Umhang gehüllt, wie ihn früher die Hirten auf dem Feld trugen. Ein kalter, feuchter Luftzug fuhr durch den Raum, und Gianna erschauderte hinter dem Tresen.

«Hast du die Messlatten eingeschlagen?», fragte Vernizzi.

Barigazzi nickte und klopfte das Wasser von seinen Kleidern. Dann ging er zum Tresen und ließ sich von Gianna ein Glas einschenken. Schließlich verkündete er mit lauter Stimme: «Es ist schon wieder drei Zentimeter gestiegen. Wenn es in diesem Tempo weitersteigt, wird das erste Vorland noch heute Nacht überflutet.» Niemand widersprach. Niemals widersprach jemand Barigazzi, der den Fluss kannte wie seine Westentasche.

Von draußen hörte man einen dumpfen Aufprall von knirschendem Holz. Alle fuhren herum, als hätte der Strom bereits die Mauern des Circolo erreicht und würde die Fahrräder unter dem Vordach mit sich reißen. Doch stattdessen erblickten sie den wuchtigen Umriss des Lastkahns von Tonna, der so eckig war, dass er aussah wie die geschlossenen Schotten einer Schleuse.

Niemand hatte ihn kommen sehen, außer Barigazzi. «Er kommt aus Martignana», sagte er, «und hat Weizen für die Mühle geladen.»

Tonna war über achtzig und hatte die meisten seiner Jahre auf dem Fluss verbracht. Vor einiger Zeit hatten sie ihm den Sohn seiner Nichte aufgehalst, damit er sich endlich entschließen würde, für immer an Land zu gehen. Aber der Junge hatte zuerst aufgegeben. Abgeschreckt von all der Einsamkeit, ließ er seinen Großonkel in den Nächten auf dem Strom wieder allein.

«Wasser von oben und Wasser von unten», kommentierte Torelli und deutete auf den Kahn.

«Der Alte muss schon Moos angesetzt haben: Nässe verträgt er wohl besser als Noah», stimmte Vernizzi zu.

«Haben sie alle Boote aus dem Wasser gezogen?»

«Vier haben sie hochgehievt», antwortete Barigazzi, der aus dem Fenster spähte, wo man die Umrisse von Tonnas Kahn erkennen konnte. «Sie wollen sie in der Nähe der Häuser haben, weil sie sicher sind, dass der Fluss über den Hauptdeich steigt.»

Dann wandte sich Barigazzi ab, ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, und sie fingen wieder an, Karten zu spielen. Gegen elf hörte man im Saal des Circolo Nautico, dem Treffpunkt in Torricella für alle Po-Schiffer, nur noch das hartnäckige Tropfen der Dachrinne. Von Zeit zu Zeit flackerte das Licht. Der Kahn lag immer noch an der Mole, und seine Leinen widerstanden dem anschwellenden Strom, auf dessen Oberfläche dunkle Gegenstände vorbeitrieben. Von den Tischen aus konnte man die Tür zum Nebenraum sehen, wo das Funkgerät rauschte und ein Freiwilliger aus dem Circolo Wache hielt. Bei diesem Wetter würden sie die ganze Nacht dableiben und einander ablösen. Von Zeit zu Zeit nahm jemand das Mikrophon und sprach kurz mit den anderen Wächtern an beiden Ufern des Flusses. Sie tauschten ihre Informationen aus, um die Flut besser vorherzusehen.

«Steigt es bei euch stark an? Was hast du gesagt? Die Pappelhaine stehen schon unter Wasser?»

Eine Stunde verging. Barigazzi ging wieder nach draußen, um die Messlatten zu kontrollieren. Als er zurückkam, fiel durch die Tür ein trübes Licht, das von der Mole kam.

«Fährt Tonna jetzt los?»

«Er wäre dazu imstande», bemerkte Vernizzi. «Er kennt den Fluss gut.»

Alle drehten sich nach dem Kahn um: Das Licht kam aus dem Führerhaus, aber man konnte nicht erkennen, ob sich drinnen jemand bewegte.

«Er fährt nicht los», fuhr Vernizzi fort, «sonst hätte er die Bug- und die Hecklichter eingeschaltet.»

Das Licht ging aus, und Barigazzi schloss langsam wieder die Tür. Draußen regnete es immer noch.

«Und wie sieht’s aus?», fragte Gianna.

«Es steigt wie der Kaffee in der Espressomaschine: acht Zentimeter», meldete der Alte.

Es gab keinerlei Reaktion, alle schienen mit ihren Gedanken noch bei dem Licht in Tonnas Kabine zu sein. Die Einzige, die dem Ganzen keine Beachtung schenkte, war Gianna: «Wenn wir nachsehen würden, wäre er womöglich stinksauer», gab sie zu bedenken und lief weiter zwischen den Tischen hin und her.

«Er hat den Anlegesteg noch unten. Erwartet er noch jemanden?», fragte Torrelli.

«Er lässt ihn immer unten wegen seinem Neffen», erklärte Barigazzi. «Der kommt manchmal zu den unmöglichsten Zeiten zurück.»

«Acht Zentimeter, ja, acht Zentimeter», sagte der Mann am Funkgerät mit lauter Stimme ins Mikrophon. «Bei euch ist es neun gestiegen? Was für ein Hochwasser! Und wenn es weiterregnet … Wie? Ihr habt die Präfektur informiert? Wir sollten das auch tun?»

In diesem Moment fuhr ein Auto über den Deich und steuerte auf den Circolo zu. Für einen Augenblick fiel das Scheinwerferlicht durch die Fenster und wanderte von einer Seite des Raumes zur anderen. Wenig später wurde die Tür geöffnet. Gleichzeitig ging das Licht im Führerhaus des Kahns wieder an. Vor dem Tresen erschienen zwei völlig durchnässte Gestalten in Uniform. Unschlüssig schauten sie sich um, so, als wüssten sie nicht, wohin, bis Gianna mit einer Entschiedenheit, die wie ein Befehl klang, sagte: «Wollt ihr euch nicht setzen?»

Sie gehorchten. Dann holten sie den Erlass über den Voralarm bei Hochwasser hervor, auf dem alle Anweisungen standen für den Fall, dass das Wasser bis zum Hauptdeich ansteigen würde. «Ihr solltet das aufhängen», schlugen sie vor.

Der alte Barigazzi machte eine unwillige Kopfbewegung. «Kommt ihr her, um den Fischen das Schwimmen beizubringen?»

Die beiden schauten sich verständnislos an: Sie waren starr vor Kälte, klitschnass und fühlten sich sichtlich unwohl.

«Wir hängen’s hierhin, ja?», löste Gianna die Situation, heftete das Blatt an das Brett, wo sonst der Plan für das Fischen ausgehängt wurde, und schlug kräftig mit der Hand auf den Klebestreifen, damit er auch gut hielt.

«Glaubt ihr vielleicht, wir wissen nicht, was wir zu tun haben?», sagte Barigazzi.

Die beiden tranken einen Schluck Grappa. Im Saal nahm bereits niemand mehr von ihnen Notiz. Alle beobachteten das Licht auf dem Kahn, das noch immer brannte, obwohl das Führerhaus leer zu sein schien. Jetzt fiel auch ein matter Lichtschein auf den Bug, wo in großen Buchstaben der Namenszug TONNA stand.

Die beiden Uniformierten erhoben sich.

«Wisst ihr, dass es acht Zentimeter in der Stunde steigt?», frage Barigazzi.

«Der Krisenstab arbeitet daran.»

Sie sahen nicht so aus, als seien sie an derartigen Regen sonderlich gewöhnt, und machten den Eindruck, als wollten sie so schnell wie möglich wieder verschwinden. Ihre Hosen waren am Saum durchnässt, die leichten Schuhe vom Wasser durchtränkt, und ihre Mäntel waren von so vielen kleinen Tropfen übersät, dass es aussah wie Raureif.

Barigazzi musterte sie mit einem überheblichen Lächeln. «Nun, das letzte Mal ist das vor zehn Jahren passiert, damals ist es nicht gerade glimpflich verlaufen.»

«Der Präfekt steht kurz davor, die Anordnung zur Evakuierung zu unterschreiben.»

«Er kann machen, was er will, wir gehen nicht weg, wir haben keine Angst vor dem Wasser. Ihr macht euch nur Sorgen wegen eurer Straßen …»

Kurz darauf kroch der Wagen der beiden wieder langsam den Deich hoch.

Seine Scheinwerfer beleuchteten die riesigen Wassermengen, die weiterhin vom Himmel fielen. Tausende von Litern in der Sekunde quälten die Erde mit ihrem schlammigen Gewicht. Und während dieses langsame Unheil seinen Lauf nahm, flackerte das Licht im Führerhaus des Kahns und ging dann wieder an.

«Entweder träumt er schlecht, oder er kann nicht einschlafen», kommentierte Vernizzi.

«Es hat sicher etwas mit seinem Neffen zu tun», meinte Torrelli. «Womöglich ist er zurückgekommen, und er liest ihm die Leviten.»

«Das glaube ich nicht», widersprach Gianna, «sie reden wenig miteinander und verständigen sich vor allem durch Gesten. Und bei diesem Wetter bin ich mir sicher, dass der Junge vom Wasser möglichst weit weg bleiben wird.»

«Dann bedeutet es, dass der Alte es sich anders überlegt hat und losfährt.»

«Jetzt? Das würde bedeuten, die ganze Nacht in dieser Suppe zu fahren», warf Vernizzi ein.

«Und ständig die Ohren spitzen zu müssen wie ein Wachposten», brummte Gianna.

Barigazzi schaute sie fast vorwurfsvoll an. «Das Wasser ist hoch, und das schützt vor den Sandbänken. Schiffsverkehr gibt es in einer solchen Nacht nicht. Und Tonna ist einer, der sein Handwerk versteht.»

Es war mehr als eine halbe Stunde vergangen, daher ging er nach draußen, um die Messlatten zu kontrollieren.

Unterdessen kamen über Funk neue Meldungen von beiden Seiten des Flusses. «Die Nebenflüsse führen viel Wasser. Wie? Es gibt bereits einige Rückstaus? Und die Evakuierung hat auch schon angefangen?»

Im Saal lauschten sie dem Funk und unterbrachen bei jeder neuen Nachricht das Spiel. Ein tanzendes Licht huschte über den Vorplatz des Circolo und ging langsam aus. Ghezzi kam herein, nachdem er sein Fahrrad untergestellt hatte. «Der LKW mit den Säcken ist eingetroffen. Der Bürgermeister schickt die Vigili herum, um die Familien zu informieren, dass sie sich für die Evakuierung bereithalten sollen», verkündete er.

«Der spinnt», brummte Torelli. «Bevor das Wasser nicht an der Haustür steht, geht keiner weg.»

«Tonna macht sich auf den Weg.» Vernizzi hatte die Mole im Blick behalten.

Der Kahn wirkte noch höher und stattlicher. Er war dabei, auf den Fluss hinauszufahren, als es für einen Moment aussah, als ob er stampfte. Langsam schob er sich am Anleger vorbei und stellte sich leicht quer. Dann verließ er schwankend den Hafen und glitt davon, getragen von dem trägen Strom.

«Er hat nicht einmal die Signallichter eingeschaltet», bemerkte Torelli und beobachtete den Lichtschein im Führerhaus, den man noch einen Augenblick lang sah, bevor der Kahn die Flussmitte erreichte.

«Tonna wird langsam alt», stellte Vernizzi fest, «habt ihr gesehen, welches Manöver er gefahren ist? Er wollte mit dem Wind hinausfahren und wäre um ein Haar mit dem Bug auf den Sand des Wellenbrechers aufgelaufen. Die Flut hat ihn gerettet.»

Niemand fügte dem etwas hinzu, und die Stille wurde nur durch das Funkgerät unterbrochen, das weitere Informationen über die Wasserstände verbreitete. «Es hat angefangen, vom Vorland herüberzuschwappen … Sie müssen die Kanäle öffnen, damit es abfließen kann … Sie füllen die Sandsäcke …»

Alles war in heller Aufregung wegen des Flusses, der scheinbar ruhig durch die Nacht floss, die einzige Bewegung außer dem endlosen Regen. Barigazzi blieb stumm und starrte weiterhin auf die Mitte des Po, auf den Kahn, der sich immer weiter entfernte. Jetzt erkannte man nur noch drei Viertel seines Umrisses und das Licht in der Kabine, das immer noch brannte. Der Alte hob die Hände und senkte sie wieder, eine Bewegung, die Ratlosigkeit oder Skepsis bedeuten konnte. Dann war es ein paar Minuten ganz still, nur das Funkgerät rauschte.

«Er ist davongeschwommen wie ein Brett, das man in den Fluss geworfen hat», sagte Torelli.

«Sah so aus, als hätte der Fluss ihn mit sich genommen», ergänzte Ghezzi.

«Was? Ein Wasserdurchbruch? Und wo? Wer ist dort im Einsatz? Ihr müsst die Säcke dort aufschichten, wo der Deich am niedrigsten ist …» Der Dialog über Funk ging weiter, immer wieder von Störungen unterbrochen.

«Sag ihnen, dass Tonna losgefahren ist», rief Vernizzi zu dem Jungen hinüber, der am Funkgerät saß.

Der nahm das Mikrophon und verlangte eine Verbindung. Dann informierte er alle Stationen flussabwärts, dass der Kahn vorbeikommen würde. In dem Moment fiel ihnen auf, dass Barigazzi fehlte. Gianna wies mit dem Kopf nach draußen. «Er ist rausgegangen», sagte sie, «er kontrolliert wieder seine Messlatten.»

Torelli schaute auf seine Armbanduhr. «Kontrolliert er jetzt jede Viertelstunde?»

Das helle Licht der Scheinwerfer kündigte ein Auto an, das sich auf der schlammigen Straße unter dem Hauptdeich näherte. Es beleuchtete den Regen, fuhr langsam und zog einen Anhänger, auf den man ein Boot gehievt hatte.

«Sie bringen es nach Hause», sagte Ghezzi.

«Bei diesem Wetter ist es sinnvoller, es in der Scheune zu haben als im Hafen», kommentierte Vernizzi.

«Der braucht aber lange», bemerkte Torelli und meinte Barigazzi, der immer noch draußen war.

«Wenn er weiter so oft nachschaut, wird er so viele Kerben machen, dass er irgendwann nicht mehr durchblickt», meinte Gianna. «Na, was ist, genehmigen wir uns noch eine Runde?», fragte sie unvermittelt und hielt die Flasche hoch.

Einen Augenblick lang überragte der Fortana alles, wie San Rocco bei der Prozession, aber niemand antwortete. Alle warteten auf Barigazzi. Seltsam, dass er so lange wegblieb.

«Es ist noch Zeit bis zum Morgengrauen», entschied Torelli und schaute nach draußen in die dichte Dunkelheit. Er versuchte sich vorzustellen, wo Tonna auf seiner Fahrt den Fluss hinunter angekommen sein mochte. Er konnte bereits in Boretto sein, und vielleicht sah er die Lichter der schwankenden Bagger, gepeitscht von dem unaufhörlichen Prasseln des Regens.

Schweigend kam Barigazzi herein. Dann setzte er sich und starrte auf die Mole, wo bis vor kurzem noch der plumpe Umriss des Kahns zu erkennen gewesen war.

«Ist es noch weiter gestiegen?», fragte Vernizzi.

Der alte Schiffer antwortete nicht. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, erhob sich mühsam und wandte sich an den Jungen am Funkgerät.

«Kannst du damit Alarm geben, oder ist es besser über Telefon?»

Der Junge schaute Barigazzi fragend an.

«Tonna?», fragte Torelli.

Barigazzi nickte: «Er muss losgefahren sein, als wäre der Teufel hinter ihm her. Den Anlegesteg hat er einfach hingeschmissen und ein Tau an der Mole vergessen. Das habe ich bei ihm noch nie erlebt.»

«Ich hab’s ja gesagt», sagte Vernizzi, «das war doch einfach kein Manöver.»

«Niemand hat gesehen, ob er auf der Mole gearbeitet hat.»

Torelli spähte nach draußen wie ein Bocciaspieler, der sein Ziel anvisiert.

«Von hier aus konnte man nichts sehen», sagte er schließlich. «Und bei dieser Dunkelheit …»

«Ein Tau scheint durchgeschnitten zu sein, mit einem glatten Schnitt, wie mit einer Hippe.»

«Der erwähnte Kahn soll zunächst beobachtet werden», sagte der Junge ins Mikrophon. «Natürlich besteht Gefahr: Das sind mehr als zweihundert Tonnen auf dem Strom … Wir sind stutzig geworden, als wir gesehen haben, wie er aus dem Hafen rausgefahren ist. Tonna ist jemand, der sein Handwerk versteht, das dagegen … Ja, ja, ich sag’s dir nochmal, er hat die Signallichter nicht an, nur das Licht in der Kabine brennt und bei dem Wetter … Und außerdem ist er ohne Motor losgefahren … es ist schwierig, den Kahn nur mit dem Ruder auf Kurs zu halten …»

«Wenn er einen Brückenpfeiler rammt, könnte er die Brücke zum Einsturz bringen», bemerkte Vernizzi.

«Es reicht schon, wenn er sich daran verkeilt und zu einem Hindernis wird: Dann reicht allein die Strömung dafür, die Pfeiler aus der Verankerung zu reißen», ergänzte Barigazzi. «Jetzt ist der Wasserstand sehr hoch, und man muss sich ganz auf die Mitte konzentrieren.»

Vernizzi informierte die Carabinieri. Das Gespräch schien sich ziemlich schwierig zu gestalten. «Maresciallo, ich sage Ihnen doch, dass ich nicht weiß, ob Tonna auf dem Kahn war. Natürlich, man braucht Erfahrung, sonst … Wir haben gesehen, wie das Licht zweimal an- und wieder ausgegangen ist, und dann ist er auf den Strom hinausgefahren … Na ja, irgendjemand musste natürlich an Bord gewesen sein … Ja, die Leinen waren einfach hingeworfen …» Als er auflegte, schwitzte er regelrecht. «Der Maresciallo sagt, dass sie nur zu zweit sind», teilte er den anderen mit. «Wegen Allerheiligen sind sie alle nach Hause gefahren. Er wird sämtliche Stationen entlang der Strecke verständigen.»

Ghezzi betrachtete die riesige Wasserfläche, die ihm fast Angst einflößte. «Wo wird er inzwischen wohl sein?»

«Vielleicht an der Enzomündung», antwortete Barigazzi. «Wenn mein Lastkahn bereit wäre, würde ich ihm hinterherfahren. Vielleicht könnte ich ja seitlich beilegen …»

«Ich habe das Gefühl, dass wir keine angenehme Überraschung erleben würden», murmelte Torelli.

Niemand antwortete. Der angeschwollene Strom floss schnell, das Wasser wirkte schwer. Die Sandbank in der Mitte des Flussbettes verschwand langsam in den Fluten. Man sah nur noch bis zu den Anlegern. Dennoch konnte man in der Dunkelheit erahnen, dass die große Rinne aus den Tagen des Niedrigwassers inzwischen randvoll war und der Wasserstand fast das Maximum erreicht hatte. Der einzige Punkt, von dem aus man den Strom noch von oben betrachten konnte, war der Hauptdeich. Das Dorf hinter dem Deich schien angesichts der enormen Wassermasse, die bedrohlich über den Häusern hing, tief unten zu liegen.

Ein paar Autos kamen an, und ein halbes Dutzend Jugendlicher stürzte herein, um etwas über die Geschichte mit Tonna zu erfahren. Eine feuchte Bö fuhr durch den Circolo. Sie hörten zu und liefen dann wieder hinaus, um mit den Autos am Hauptdeich entlangzufahren. Inzwischen hatte die Geschichte mit dem Kahn dem Hochwasser den Rang abgelaufen.

«Ja, ich höre … Im Ernst? Er hat die Eisenbahnbrücke gestreift? Vor einer Viertelstunde?»

Es war still geworden. Alle lauschten dem Gespräch am Funkgerät. Der Junge musste nicht einmal wiederholen, was man ihm berichtete, auch so werde alles klar.

«Ich hab’s gesagt, er ist nicht einmal bis ins Reggiano gekommen», platzte Barigazzi heraus. «Dort wird das Flussbett breiter, und das Wasser fließt langsamer.»

«Inzwischen sind sie sicher auch am Ufer von Mantua in Alarmbereitschaft», bemerkte Vernizzi.

Man hörte das Schlagen mehrerer Autotüren, dann starteten die Wagen und fuhren schnell zum Hauptdeich hinauf. Im gebündelten Licht der Scheinwerfer sah der Regen noch dichter aus.

«Wenn der Rumpf aufgerissen ist …», spekulierte Ghezzi, «ist Tonna am Ende. Dann ist er reif für die Hechte.»

«Mit dem ganzen Getreide, das er im Laderaum hat, werden sie sogar aus Piemont kommen.»

«Er hat die Brücke nur gestreift», sagte Barigazzi, «und der Kahn ist stabil. Die Probleme könnten dann auftreten, wenn er wendet. Das hängt vom Steuer ab. Und von dem, der es führt», fügte er hintergründig hinzu.

«Wenn er anfängt, sich zu drehen, ist es vorbei. An der ersten Brücke, an der es ihn quer stellt, verkeilt er sich, und es zieht ihn nach unten», kommentierte Torelli.

«Bei manchen Brücken reicht es schon, wenn du sie mit dem Bug rammst: Das Gewicht der Ladung reißt die Pfeiler um», ließ sich der alte Schiffer wieder vernehmen.

Diesmal fragte Gianna gar nicht erst, ob sie noch etwas trinken wollten. Sie lief mit der Flasche von Tisch zu Tisch und füllte die Gläser. Jeder hielt ihr seines wortlos hin.

«Jetzt ist er an der Enzomündung», berichtete der Junge am Funkgerät.

«Da kann man nur hoffen, dass ihn die Strömung des Enzo nicht ans lombardische Ufer drückt», sagte Barigazzi und schaute ins Leere Richtung Mole.

Die Unterhaltung ging weiter, Vermutungen wurden geäußert, und im Geiste sah jeder den Abschnitt des Flusses vor sich, wo Tonna sich jetzt befinden musste. Doch darüber hinaus schwebte ein Gedanke im Raum, hartnäckig wie der Regen, der weiter langsam vom Himmel fiel, oder wie der Strom, der alles mit sich riss. Schließlich stieß Vernizzi, offenbar ganz gegen seinen Willen, einen Satz hervor: «Wenn er völlig überstürzt aufgebrochen ist, mit diesem seltsamen Manöver …»

Es folgte ein langes Schweigen, begleitet vom Tropfen der Regenrinnen. Dann sagte Gianna: «Vielleicht steht nicht er am Steuer …»

«Es sieht Tonna jedenfalls nicht ähnlich, Brücken zu rammen», bemerkte Barigazzi und ließ den Satz in der Schwebe.

Niemand zog die Schlussfolgerung. Alles schien mysteriös. Das Telefon schrillte, es war einer der Jungen, die mit dem Auto losgefahren waren. «Alle Orte sind in Alarmbereitschaft, und viele Leute sind auf den Deich gestiegen, um nach dem Kahn Ausschau zu halten», brüllte er Vernizzi ins Ohr.

«Hast du ihn gesehen?»

«Ja, gerade eben. Er scheint aufs Geratewohl zu fahren, schwankt und dreht sich manchmal etwas zur Seite, aber die Strömung hält ihn auf Kurs. Auf einer Seite sieht man die Spuren des Aufpralls, dort ist der Lack weg.»

«Brennt das Licht in der Kabine noch?»

«Ja, es ist noch an. Der Kahn ist ein paar Mal näher ans Ufer gekommen, und man konnte hineinsehen, aber da war nicht viel zu erkennen. Jemand hat behauptet, einen Mann am Steuer gesehen zu haben. Doch ich hatte den Eindruck, dass dort niemand ist.»

Barigazzi saß ruhig und in Gedanken versunken da, den Kopf auf die linke Hand gestützt, und vergegenwärtigte sich noch einmal den Flusslauf, als sähe er ihn von Tonnas Bug aus. Er stellte sich vor, wo dieser gerade war, sah, wie die Brücken durch die Nacht näher kamen, dunkle Skelette, deren Schatten auf dem riesigen Strom trieben. Die Gespräche am Funkgerät bestätigten seine Vermutungen.

«Was sagst du? Die Carabinieri haben alle Brücken bis hinunter nach Revere gesperrt? Nur die Eisenbahnbrücke ist offen? Sie überlegen, die Züge zu stoppen?»

«Er wird nicht dagegen fahren», murmelte Barigazzi mit abwesender Miene.

«Er wird die Eisenbögen von Pontelagoscuro rammen», warf Vernizzi ein, «falls das passiert, kümmern wir uns morgen gegen Mittag darum.»

Wieder wurde es ganz still im Saal. Der Regen prasselte nun heftiger aufs Dach.

«Er wird stärker», sagte Torelli.

Barigazzi schüttelte den Kopf, so wie die wilden Pferde, die im Po-Delta lebten. «Er kommt nicht bis ins Ferrarese. Bei diesem Wetter fährt Tonna nie und nimmer bis dahin. Er wird vorher anhalten.»

In der Zwischenzeit hatte wieder das Telefon geklingelt. Gianna sprach mit den Jungen, die dem Kahn folgten. «Ach ja? Wann? Nur einer oder mehr als einer?»

Ghezzi stand dicht neben ihr, als wolle er ihr den Hörer aus der Hand reißen.

«Sie haben Schatten im Schein des Kabinenlichts gesehen. Vielleicht mehr als einen, aber offenbar haben sie Tonna nicht erkannt», gab Gianna weiter.

Barigazzi sah im Geist immer noch den Fluss vor sich, der so breit war, dass man von der Mitte aus die Ufer nicht erkennen konnte. Stellte sich das leichte Vibrieren des Ruderblattes vor, während das Schiff sich ächzend seinen Weg durch die unberechenbaren Wassermassen bahnte. Dachte an die Deiche, auf denen die Anwohner im Regen Wache hielten und den Lichtschein auf dem Fluss begrüßten, obwohl er kaum wahrnehmbar war, wie die Lampe eines langsamen Fahrrads, das auf dem Treidelweg in einer Nebelnacht vorüberfährt. Daran, wie der Kahn jedes Mal schlingerte, wenn er in einen starken Wirbel oder Strudel geriet, wie er für eine Weile Schräglage hatte, um dann wieder Trimmung aufzunehmen und der schlammigen Strömung zu folgen.

Es würde absolut unmöglich sein, etwas zu erkennen. Auch nicht die Schleife von Luzzara. An dieser Stelle war das Wasser besonders tief. Dadurch wurde die Strömung schneller und drückte gegen den Deich. Ohne Motor bliebe man dort stecken, wenn man nicht dreihundert Meter vorher auf die lombardische Seite zuhalten und dicht daran vorbeifahren würde. Wenn jemand keine Erfahrung hatte, würde die Strömung den Kahn wie einen Pflock in den Deich rammen.

«Sag ihnen, sie sollen in Luzzara auf ihn warten», murmelte Barigazzi, «er wird heute Nacht so gegen drei dort ankommen.»

Aber er sagte es so leise, dass niemand es verstand. Ein Regenschauer prasselte gegen die Scheiben.

«Südwestwind!», rief Vernizzi. «Schlechtes Zeichen.»

Der Regen war stärker geworden, und jetzt dröhnten die Dachrinnen.

«Habt ihr ihn vorbeifahren sehen?», fragte der Junge am Funkgerät. «Wie? Er kommt gerade vorbei? Schaut genau hin, ob ihr in der Kabine jemanden seht. Nein? Das Licht brennt, aber die Kabine ist leer? Vorhin haben uns Leute gesagt, dass sie vom Deich aus gesehen hätten, wie sich drinnen jemand bewegt hat. Sicher, klar. Das denke ich auch. Wenn der Kahn von Tonna gesteuert würde, würde er anders fahren. Und hätte niemals die Eisenbahnbrücke gerammt. Tonna? Wir wissen es nicht. Vielleicht ist er an Bord, und vielleicht steuert auch sein Neffe. Ob wir daran gedacht haben? Natürlich, aber wer könnte bei diesem Wetter gesehen haben, wie er geflüchtet ist? Ja, ich weiß, er ist ein alter Fuchs, aber es kommt mir seltsam vor …»

Die Unterhaltung schallte durch den Saal des Circolo Nautico, ohne dass jemand dazwischenredete, alle lauschten, als wäre es ein Kriegbericht. Barigazzi warf einen Blick auf die Uhr, erhob sich und ging nach draußen: Es war an der Zeit, die Messlatten zu kontrollieren. Auf der Türschwelle blickte er sich noch einmal um und verzog das Gesicht: Für ihn war bereits alles klar.

Ghezzi stellte sich auf Wachposten ans Fenster. Es sah jetzt aus, als würde Tinte vom Himmel tropfen. Man erkannte nur den Umriss des vorbeifließenden Wassers, das eine endlose Prozession von Treibgut mit sich führte. Und, weiter vorne, den Pappelhain, eine dunkel aufragende Masse, die einzige Erhebung in einer flachen Landschaft.

«Das Wasser hat das Vorland überflutet», sagte er. Es war nur eine Vermutung, er konnte es nicht sehen.

«Seit einer halben Stunde», bestätigte Barigazzi, der wieder hereingekommen war.

«Können wir nur hoffen, dass es langsam steigt», meinte Torelli.

«Es steigt konstant und wird sich langsam ausbreiten», versicherte Barigazzi. «Im Pappelwald steht es schon kniehoch. Die Altwasser werden schon voll gelaufen sein.»

Er stellte sich vor, wie sich das Wasser über das Vorland ergoss, so wie Milch aus einem überkochenden Topf auf die Herdplatte.

«Inzwischen wird es schon den Gedenkstein der Partisanen erreicht haben.»

«Es wird ihn segnen.»

Wieder wurde über Funk gesprochen. In Casalmaggiore hatte der Fluss den kritischen Pegel erreicht, und die Häuser im Vorland wurden vom Militär geräumt. Die Alten mussten fast mit Gewalt auf die Gummiboote der Feuerwehr geschleppt werden. Einige hatten sich in den obersten Stockwerken verschanzt und widersetzten sich allen Rettungsversuchen. Für die Anwohner war der jährliche Besuch des Po nichts Ungewöhnliches. Kein Anlass, ihre Häuser zu verlassen.

Der Jeep der Carabinieri näherte sich auf dem Treidelweg und kam zum Circolo Nautico herunter. Der Maresciallo betrat den Raum. Sein Regenmantel war vollkommen durchnässt.

«Der Evakuierungsbefehl für das gesamte Gebiet innerhalb des Hauptdeichs ist eingetroffen», verkündete er. Das gilt auch für den Circolo, sollte das heißen. Niemand sagte ein Wort, und der Maresciallo deutete dies als eine Art Protest.

Barigazzi kam ihm zuvor: «Denken Sie, nach siebzig Jahren am Po wüssten wir nicht, wann es an der Zeit ist, den Deich hinaufzuklettern?»

Der Maresciallo betrachtete die aufgereihten Flaschen hinter Giannas Rücken. Er wusste, mit wem er es zu tun hatte. Wenn es dem Fluss nicht gelungen war, die Leute vom Ufer zu vertreiben, hatte er erst recht keine Chance.

«Gehen Sie zu den Pächtern in den Pappelhainen, vielleicht brauchen die den Rat des Präfekten. Hier gibt es nur erfahrene Leute und Fischerhütten.»

Der Maresciallo verzog missmutig das Gesicht und wechselte das Thema, indem er auf das Funkgerät zeigte. «Wo ist er inzwischen?»

Barigazzi schaute auf die Uhr und erklärte dann: «Er müsste jetzt Guastalla passieren. Aber machen Sie sich keine Sorgen, er wird die Brücke nicht rammen, weil die Strömung ihn dort in der Fahrrinne in der Mitte des Flusses hält.»

«Meine Kollegen werden ihn trotzdem stoppen.»

«Sollen sie ruhig machen. Es ist nur eine Frage der Zeit: Früher oder später hättet ihr ihn wegen des Hochwassers ohnehin stoppen müssen.»

Der Mann fluchte. Das lange Wochenende wegen Allerheiligen hatte die Kaserne leer gefegt. Sie waren nur zu zweit. Und das bei dieser Flut!

«Jedes Jahr gibt’s um Allerheiligen herum Hochwasser», sagte Barigazzi. «Auch der Fluss gedenkt seiner Toten und besucht die Friedhöfe. Er streicht ein paar Tage zärtlich um die Grabsteine, dann beruhigt er sich und bleibt zwischen den Mauern stehen, sodass sich die Beinhäuser in ihm spiegeln.»

Der Maresciallo lauschte schweigend diesem schroffen Alten, der richtig poetisch werden konnte, wenn er über seine Welt sprach. Einen Moment lang beobachtete er noch diese dickköpfigen Männer, die an den Ufern des Po verwurzelt waren, und überlegte, dass es weder Sinn hätte zu diskutieren noch auf seinem Vorhaben zu bestehen. Sie erinnerten ihn an seine Fischer, drunten in Sizilien.

Gleich darauf fuhr er mit dem Jeep wieder weg. Die Uhr über dem Tresen zeigte Mitternacht, und Barigazzi verfolgte in Gedanken wieder den Kahn auf seiner Reise den Po hinab. Dadurch, dass der Fluss das Vorland überschwemmt hatte und das Bett sich allmählich erweiterte, musste die Strömung inzwischen schwächer geworden sein. Auf dem Deich fuhren jetzt Lastwagen und Traktoren. Sie transportierten Möbel, die man, so gut es ging, mit Planen abgedeckt hatte, um sie vor dem Regen zu schützen, der nun stoßweise mit dem Wind kam. Hinter dem Wellenbrecher, da, wo früher die Ställe der Treidelpferde gewesen waren, wogten jetzt die kahlen Pappeln in der weiten Biegung des Deiches.

«Mittlerweile steht der Gedenkstein für die Partisanen schon komplett unter Wasser», bemerkte Vernizzi.

«Wie eine Mauer in der Flut.»

«Irgendwann wird es passieren, dass keiner sich mehr daran erinnert und der Fluss ihn mit sich reißt. Und dann zermalmt ihn der Wellenbrecher», brummte Torelli bitter.

«Auch Tonna reißt die Flut mit sich», fügte Barigazzi leise hinzu, als spräche er mit sich selbst. Er war sicher, dass es bei dieser Fließgeschwindigkeit an der Crostolomündung um alles gehen würde.

Die ganze Zeit über wurden ihre Gespräche vom Funk im Hintergrund begleitet. «Unter den Bögen von Boretto ist er glatt durchgekommen? Ein perfektes Manöver? Als stünde Tonna selbst am Ruder?»

«Der Kahn ist da so oft durchgefahren, dass er es ganz allein kann», schmunzelte Ghezzi.

Dann klingelte wieder das Telefon, und Gianna wiederholte mit lauter Stimme, was sie aus dem Hörer vernahm:

«Wie? In der Kabine ist keine Menschenseele zu sehen? Und das Licht brennt immer noch? Es ist jetzt viel schwächer? Der Kahn hat sich zur Seite gedreht? Als er die Stelle passiert hat, wo es die starken Strudel gibt? Dann hat er sich wieder gerade gestellt?»

«Das ist ein prima Schiff», bemerkte Barigazzi. «Auch ohne Ruder behält es in der Strömung die Trimmung.»

«Wenn es von der Beccabrücke geradeaus losfährt, kannst du dich schlafen legen bis Porto Tolle», ergänzte Vernizzi leicht übertreibend.

Alle nickten zustimmend. Dann stieß Barigazzi hervor: «Ich glaube nicht, dass Tonna am Steuer steht.»

Daraufhin erhob er sich, um die Messlatten zu kontrollieren und den Wasserstand um Mitternacht zu markieren.

Auf der Deichstraße war mehr Verkehr als an einem Sonntag. Unzählige Male fuhren die Carabinieri vorbei, die mit Blaulicht Traktoren und Lastwagen eskortierten. In den Führerhäusern konnte man Mütter mit Kindern auf den Armen erkennen, die in bunte Decken gehüllt waren, und Männer mit Rucksäcken. Im Radio empfahlen sie, in den Dörfern Wachen für die leer stehenden Häuser abzustellen.

«Weitere acht Zentimeter», verkündete Barigazzi, als er von seiner Inspektion zurückkehrte.

Der Junge am Funkgerät verlangte eine freie Leitung und gab die Neuigkeit sofort weiter: Der Fluss war mehr als drei Meter über dem Normalpegel.

«Was haben sie über Tonna gesagt?», fragte Barigazzi dann.

«Er fährt immer noch in der Mitte der Strömung.»

«Wenn das so ist, wird er um drei an der Biegung von Luzzara hängen bleiben. Wenn man erst einmal an der Brücke von Viadana vorbei ist, gibt es keine Möglichkeit mehr, näher ans mantovanische Ufer zu kommen, es sei denn mit Ruder und Motor», erklärte Barigazzi.

«Wenn er tot ist, wäre es besser, er würde mit dem Kahn untergehen. Er hätte sich das gewünscht», warf Gianna ein.

Es war das erste Mal, dass sie über Tonna sprachen wie über einen Toten, auch wenn alle bereits daran gedacht hatten.

Keiner sagte ein Wort. Dann fing der Funk wieder an, Befehle zu senden. Die gefüllten Sandsäcke sollten an den Deichen und in der Nähe der früheren Wasserdurchbrüche aufgeschichtet werden.

Erneut verließ Barigazzi den Circolo, ging durch den Regen, der jetzt von der Seite kam, über den Vorplatz und stieg auf den Deich. In den vergangenen Stunden war der Fluss gewaltig angeschwollen. Die Sandbank, die den Hafen vom Strom trennte, war verschwunden, und die Boote, die noch dort lagen, zerrten an den Leinen, als seien sie junge Hengste. Die Lichter des Dorfes verschwammen im Regen. In wenigen Stunden würden die Fische über den Elsternestern schwimmen. Ein ungeheurer Druck arbeitete gegen den Deich und suchte eigensinnig nach einem Abfluss. Eine riesige Wassermasse bedrohte die Häuser. Barigazzi kehrte zurück zum Circolo, aber vorher schaute er noch einmal nach seinen Messlatten: Die Markierungen, die er um Mitternacht gemacht hatte, standen bereits deutlich unter Wasser. Auf dem Vorplatz schwankte das dampfende Licht des Circolo im Wind. An der Tür schüttelte sich der Alte, dann trat er in die wohlige Wärme des Lokals. Im Funk wurde über Tonna gesprochen. «Sie haben ihn aus den Augen verloren? Das Licht ist jetzt ganz aus? Du meinst, es liegt an der Batterie? Ach so! Es wurde immer schwächer, bevor es ganz verschwand? Und jetzt sieht man überhaupt nichts mehr. Wie? Die Carabinieri haben die Scheinwerfer in der Nähe der Brücke von Guastalla angemacht? An anderen Stellen haben sie die Scheinwerfer der Jeeps auf den Fluss gerichtet?»

«Ende der Vorstellung», sagte Vernizzi.

«Dann fangen sie jetzt wenigstens an, sich um das Hochwasser zu kümmern.»

Erneut schrillte das Telefon.

«Wir wissen es schon, das Licht ist ausgegangen», antwortete Gianna. «Ihr kommt zurück? Barigazzi», fügte sie hinzu und blickte ihn an, «sagt, dass er an der Biegung von Luzzara hängen bleibt. Wie? Er meint, gegen drei.»

Nachdem sie aufgelegt hatte, erklärte sie:

«Sie fahren zur Brücke von Guastallo, um zu kontrollieren, ob alles gut geht, dann warten sie auf ihn in Luzzara.»

Barigazzi hob die Schultern. «Jetzt, wo das Licht aus ist, überlassen sie ihn seinem Schicksal.»

Das Funkgerät wiederholte die Meldung mit irritierendem Nachdruck: «Tonnas Kahn fährt flussabwärts. Er ist auf Mittelkurs, und am Ruder scheint jemand zu stehen, der keine Erfahrung hat. Ja, ja, ich sag dir doch, dass er ohne Motor fährt.»

«Wer sonst würde bei diesem Wetter fahren?», sagte Torelli ungeduldig.

«Ohne Motor ist die Batterie inzwischen leer.»

«In wenigen Stunden?»

«Tonna ist knausrig wie das Niedrigwasser von 61. Er benutzt Batterien, die die LKW-Fahrer ausmustern.»

«Er hockt immer im Dunkeln oder verwendet Grablichter. Nach Sonnenuntergang macht er am nächsten Anleger fest, geht von Bord, um etwas zu essen, und legt sich dann schlafen.»

«Das ist vielleicht ein tristes Leben! Auch deshalb ist sein Neffe …»

«Und dass das Licht hier am Anleger so lange gebrannt hat …», ergänzte Barigazzi. Er machte mit den Händen eine kreisende Bewegung wie zwei Zahnräder, die nicht ineinander greifen.

«Das ist nicht so schwer zu verstehen», meinte Vernizzi.

«Nein», murmelte Barigazzi und schaute auf die Uhr, «in weniger als zwei Stunden werden wir alles wissen.»

Sie blickten zur Wand über dem Tresen: Auf der Uhr des Circolo war es kurz nach eins.

Die Carabinieri kamen zurück. «Ich tu so, als hätte ich euch nicht gesehen», schniefte der Maresciallo, der nass und aufgedunsen war wie ein Löffelbiskuit in Marsala. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske aus unterdrückter Wut und beginnender Grippe.

«Maresciallo, Sie sind an so viel Wasser nicht gewöhnt», sagte Barigazzi.

Der Maresciallo musterte ihn feindselig.

«Wieder neun Zentimeter mehr, es steigt wie frisch entkorkte Fortanina», fuhr der Alte fort.

Der Junge am Funkgerät gab die Nachricht weiter, und vom anderen Ende kamen ebenso alarmierende Zahlen.

«Jetzt wird auch in der Kaserne zum Rückzug geblasen», kommentierte Barigazzi. «Aber es wird nicht so schwer sein, sie zu räumen», fügte er mit einem Blick auf den einzigen verbliebenen Soldaten hinzu, einen schüchternen und steifen jungen Mann.

Der Maresciallo trank den Grappa, den Gianna ihm eingeschenkt hatte, ohne dass er ihn verlangt hatte.

Barigazzi wurde ernst und ging auf ihn zu. «Es passt Ihnen doch gut, dass sich um den anderen Fall Ihre Kollegen aus Luzzara kümmern.»

«Welchen Fall?», fragte der Maresciallo düster unter dem Schild seiner Mütze hervor.

«Na, den mit dem Kahn.»

Das Gesicht des Carabiniere hellte sich auf: Er wirkte tatsächlich erleichtert. «Warum Luzzara?»

«Dort wird er ankommen», erklärte Barigazzi, «verständigen Sie besser die Kaserne. Falls dort noch jemand ist.»

Vernizzi ging hinaus, um zu pinkeln. «Es bringt Glück, ins Wasser zu pissen», rechtfertigte er sich.

Er wohnte zwar im Dorf, hatte sich aber nie daran gewöhnt, in einer geschlossenen Toilette zu pinkeln. Als er sich übers Ufer beugte, wurde ihm bewusst, wie sehr der Fluss gestiegen war. An den Anlegern arbeitete jemand mit der Winde, um ein Boot, das an der Reede geblieben war, ins Trockene zu ziehen. Der scharfe Südwestwind trieb den Regen vor sich her, der jetzt peitschend von der Seite kam.

«Du hast dich angepinkelt», zog Torelli ihn auf, als er sah, wie Vernizzi mit triefender Hose hereinkam.

«Ach was, ich hab das Meer gesalzen.»

Das Funkgerät verkündete, dass der Kahn jetzt in der Nähe der Brücke von Guastalla war.

«Ruf sie an und frag, ob sie ihn sehen», befahl Ghezzi Gianna.

Bereits wenige Augenblicke später hörte man sie sprechen: «Er fährt langsam? Die Lichter sind noch aus, oder? Man kann ihn kaum sehen? Die Autos haben die Scheinwerfer eingeschaltet, und ab und zu taucht er auf?»

Barigazzi stellte sich vor, auf dem Deich zu stehen, bei den Scheinwerfern, die über die Wasserfläche streiften auf der Suche nach Überresten eines Schiffes inmitten all des Unrats, den der Fluss jetzt mitführte: Fässer, Baumstämme, Tierleichen, Laub …

«Er fährt vorbei?», brüllte Gianna in den Hörer. «Ja? Und du siehst nichts? Alles dunkel? Er ist mittendurch gefahren? Auch das ist glatt gegangen.»

Barigazzi blickte nach oben zur großen Uhr an der Wand.

«Jetzt kommt das Finale», brummte er.

Die anderen schauten ihn an, ohne zu verstehen, ob er auf Tonna oder auf den Fluss anspielte. Möglicherweise auf beide. Vernizzi erinnerte sich daran, wie er das Plätschern seines Urins auf der Wasserfläche kaum einen Meter unter sich gehört hatte.

«Gianna, fang an, die Sachen wegzuräumen», befahl Barigazzi.

Der Junge am Funkgerät schraubte die Verankerungen los und begann, den Umzug vorzubereiten. Alles, was man wegtragen konnte, wurde in große Kartons gepackt, und bald sah der Circolo Nautico verlassen aus. Torelli wendete auf dem Vorplatz, und für einen Augenblick leuchteten die Scheinwerfer über die große Wasserfläche, ohne das andere Ufer zu finden. Dann begannen sie einzuladen. Währenddessen wiederholte das Funkgerät litaneihaft seine Meldungen von einem Ufer zum anderen, wie eine Art Rosenkranz für all die Dinge, die von der Strömung fortgerissen wurden.

«Und die?», fragte Vernizzi und deutete auf die Wanduhr.

«Dort kommt das Wasser nicht hin», antwortete Barigazzi bestimmt, und in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass es nur noch wenige Minuten bis drei war. «Wir sind beim Epilog», erinnerte er die anderen.

Da wurde es in dem Raum, der nun fast völlig kahl war, ganz still. Auf einem Tisch stand noch eine Flasche Weißwein. Gianna nahm Pappbecher und verteilte den Wein, bis kein Tropfen mehr übrig war. Wartend verbrachten sie einige Minuten. Regen trommelte aufs Dach, die Regenrinnen gluckerten. Um zehn nach drei läutete das Telefon. Beim ersten Klingeln sprang Gianna auf, doch Barigazzi gebot ihr mit einer Geste Einhalt und ging selbst an den Apparat. Ohne «Pronto» zu sagen oder den anderen zu Wort kommen zu lassen, fragte er: «Ist er aufgelaufen?»

Die anderen sahen nur, wie er schweigend nickte. Dann legte er langsam, wie betäubt, den Hörer auf. «Auf dem Kahn ist niemand.»

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