Die Erben Abaddons
Band 1: Nimmerland
von
Thomas Lohwasser
Vanessa Kaiser
Thomas Karg
Die Erben Abaddons
Band 1: Nimmerland
Thomas Lohwasser
Vanessa Kaiser
Thomas Karg
© 2019 Verlag Torsten Low
Rössle-Ring 22
86405 Meitingen/Erlingen
Besuchen Sie uns im Internet:
www.verlag-torsten-low.de
Alle Rechte vorbehalten.
Karte, Cover:
Christian Günther
Lektorat und Korrektorat:
T. Low
eBook-Produktion:
Cumedio Publishing Services –
www.cumedio.de
ISBN (Buch):978-3-96629-000-5
ISBN (mobi):978-3-96629-301-3
ISBN (ePub):978-3-96629-300-6
v1/ b7
Inhalt
-
1: Geh nach Nimmerland
-
2: Entdeckung
-
3: Glöckchen
-
4: Hinauf in den Himmel und dann tief, tief hinab
-
5: Nimmerland
-
6: Hook
-
7: Wendy und Peter
-
Danksagung
-
Die Autoren
Die Erben Abaddons
(»Abaddon«, von hebr. abad »Untergang, Vertilgung, Abgrund«)
Nur wenige überlebten die Ressourcenkriege.
Noch weniger überstanden die Globale Pandemie.
Das Leben war ein anderes für die Generationen,
die nach der Alten Zivilisation kamen.
Doch sie existieren noch heute - hundertfünfzig Jahre,
nachdem die Welt auseinanderbrach.
Sie sind die Erben des Untergangs.
»Das Leben und der Tod liegen nah beieinander. Viel zu nah. Dies zu begreifen, unterscheidet das Kind vom Erwachsenen, Wendira, merke dir das gut.«
»Und wenn ich nicht erwachsen werden will?«
1
Geh nach Nimmerland
Große Einöde, heute, im Jahre 2303
Der Koloss rannte auf sie zu, wollte sie zermalmen. Sie spürte sein schnelles Stampfen bis hinauf in die Brust. Er war jetzt nahe genug, dass sie weit oben sein Gesicht erkennen konnte. Sein Gesicht unter den wehenden, goldblonden Haaren. Es war Yori.
Sie riss die Augen auf. Tageslicht flutete in ihren Schädel. Das Stampfen in der Brust war noch da – ihr hämmerndes Herz. Es pumpte die Angst in eisigen Wellen durch ihre Adern.
Nur ein Albtraum, dachte sie. Doch sie wusste, dass das nicht stimmte. Die Wahrheit war, dass sie aus einem furchtbaren Albtraum in etwas noch viel Schlimmeres geflohen war, etwas, aus dem es kein Entrinnen gab: die Wirklichkeit.
Ihre Muskeln waren steif vor Angst. Sie konnte sich nicht bewegen, wollte sich nicht bewegen, denn das hätte bedeutet, sich dem Schrecken zu stellen, in den sie durch ihr Aufwachen zurückgekehrt war.
Der Blick, mit dem ihr kleiner Bruder Yori sie in dem Traum angesehen hatte, in dem er sie hatte zertreten wollen wie ein wertloses Insekt, war so eindeutig gewesen. Hatte sich wie ein glühendes Messer in ihr Herz gebohrt.
»Du hast mich verraten«, sagte dieser Blick. »Du hast mich im Stich gelassen, hast zugelassen, dass sie mich mitnehmen. Jetzt fürchte ich mich zu Tode, Wendy, und du bist schuld!«
Mit einem Ruck setzte sie sich auf, presste die Hände auf die Ohren. Sie wollte das nicht hören!
Ich wünschte, du hättest mich zertreten, Yori. Ich wäre nie wieder aufgewacht. Nichts anderes verdiene ich.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in das grelle Morgenlicht der Einöde. Etwas bewegte sich in ihrem Augenwinkel. Ohne den Kopf zu drehen, sah sie hin. Es war eine Eidechse, grün schillernd, handspannenlang. Ein fetter Brocken.
Wie auf Kommando knurrte ihr Magen. Sie lauschte darauf. Ihr war übel vor Hunger. Ein harmloses, ein normales Gefühl. Begierig griff sie nach diesem Gefühl, es drängte die Schrecken in den Hintergrund.
Behutsam nahm sie die Hand vom rechten Ohr, löste ihre Luftdruckpistole vom Gürtel und legte sie auf den Oberschenkel. Dann tastete sie nach ihrem Hüftbeutel und fingerte einen Stein heraus. Sie brauchte nicht hinzusehen, um ihn in der Abschusskammer zu platzieren. Den Kolben zog sie mit den Fingerspitzen Stück für Stück heraus, während sie die Waffe mit der Handfläche auf ihren Oberschenkel drückte.
Die Eidechse saß reglos da, schien Wendys andere Hand zu beobachten, die noch immer auf das linke Ohr gepresst war. Als wollte sie sagen: »Was machst du da? Tut dir was weh?«
Ja, mir tut etwas weh. Mein Herz tut mir weh. Es fühlt sich an wie ein blutiger Klumpen.
Wendy biss sich auf die Lippe, um sich durch den körperlichen Schmerz vom seelischen abzulenken.
Konzentrier dich!
Sie hob die Waffe. Kurz zuckte die Zungenspitze des Tieres hervor, der Kopf ruckte eine Winzigkeit herum. Wendy stoppte in der Bewegung. Langsam. Ganz langsam weiter. Bis vor die Augen. Sie kniff eines zu, mit dem anderen starrte sie durch die Zielvorrichtung. Die Eidechse schillerte im Sonnenlicht.
Kimme.
Korn.
Wendy atmete aus. Ihre Hand war jetzt vollkommen ruhig.
Schuss.
Swiffff! Der Luftdruckkolben zischte, als der Stein abgeschossen wurde. Der Kopf der Eidechse prallte zurück, das Tier brach zusammen.
»Guten Morgen, Wendy, Frühstück!«, hörte sie die warme Stimme ihrer Mutter in Gedanken sagen. Dann brach sie in Tränen aus.
Hitze flirrte über dem hartgebackenen Sand der Einöde, nur hier und da krallten sich trockene Büsche in die Risse im Boden, gaben dem Auge Halt und vermittelten die Illusion von Lebendigkeit. Genau genommen gab es zwischen den Büschen Leben, aber es war spärlich und rau wie die Landschaft. Hier draußen war es anders als zu Hause in der Schluchtsiedlung. Zwar wurde diese ebenfalls von Schmirgelsand beherrscht, der sich unter die Kleidung schummelte und in jede Ritze der Behausungen zwängte, doch gab es dort auch Schatten und Wasser und Grünpflanzen. Das Wasser zog Vögel und Molche an, sogar Fische verirrten sich des Öfteren aus den verborgenen Zuflüssen zu ihnen in die felsenüberdachte Enklave.
Zu Hause. Ein Begriff, dessen Bedeutung sich am Vortag – dem Tag der Schuld – in Luft aufgelöst hatte.
Wendys Schritte knirschten gleichmäßig. Sie ließ sich von dem dünnen Geräusch und dem krümeligen Gefühl unter den Ledersohlen einlullen. Anfangs stellte sie sich noch vor, ihre Füße wären Zähne, die mürbes Gebäck zermalmten. Später dachte sie nichts anderes mehr als: Links, rechts, links, rechts. Blick auf den Boden heften, gelegentlich aufsehen, einen Fuß vor den anderen setzen.
Links, rechts, links, rechts.
Die Hitze nahm beständig zu. Wendy verfolgte, wie ihr Schatten sich mit der Zeit wandelte. Nach dem Eidechsenfrühstück hatte er noch zwei Schritt Länge gehabt, mittlerweile war er zu einem bescheidenen Flecken vor ihren Füßen zusammengeschmolzen und Wendy wusste, dass es nicht mehr lang dauern würde, bis die Hitze ein schier unerträgliches Ausmaß erreichte.
Die Sonne brannte auf ihr kurzes, braunes Haar und ihren ungeschützten Nacken. Doch Wendy nahm den Schmerz kaum wahr. Das Feuer, das in ihrem Herzen tobte, war ungleich schlimmer.
Ihr Mund schien mit trockenem Pelz ausgekleidet zu sein, die Zunge klebte wie ein dicker Fremdkörper am Gaumen. Dennoch zog sie den Wasserschlauch nur selten hervor, den sie vor ihrem Aufbruch von zu Hause geklaut hatte. Sie musste sparen. Denn auch, wenn sie nichts anderes verdient gehabt hätte, als hier draußen in der Hitze qualvoll zu verrecken, musste sie weiterkommen. Einfach deshalb, weil sie vielleicht noch etwas wiedergutmachen konnte. Wenn sie Glück hatte.
Nochmals sah sie auf. Und endlich waren sie nähergekommen: die hohen Gebäude jener Siedlung, die sie von weitem durch die »Zauberblick«-Brille gesehen hatte. Das da war der Ort, an dem sie ihren Fehler wiedergutmachen würde.
Wendy kramte die Brille aus dem Rucksack und setzte sie auf. Zunächst war alles verschwommen, doch mit den Knöpfchen rechts und links der Augengläser stellte sie das Bild scharf. Zum ersten Mal erschienen die Häuser nicht mehr nur nah, sondern zum Greifen nah. So gut hatte sie sie noch nie erkennen können. Was sie sah, versetzte ihr einen Schock.
»Das ist sie also, die Siedlung deiner Hoffnung, in der du die Kinder vermutest, Wendy?«, flüsterte diese neue, hämische Stimme hinter ihrer Stirn, von der sie seit gestern verfolgt wurde. Seit sie sich mit jener schrecklichen Schuld beladen hatte. »Sieh genau hin. Da vorn sind nur ein paar Ruinen, nichts und niemand sonst, keine Menschenseele.«
»Das kann nicht sein …«, murmelte Wendy. Die Angst drückte gegen ihren Magen. »Sie sind doch in diese Richtung geflogen!«
»Na und?«, erhob sich das hämische Flüstern erneut. »Dann sind sie eben in diese Richtung geflogen, aber das war’s auch schon. Du hast dich geirrt. Gib es endlich zu: Du kannst es nicht wiedergutmachen. Geh zurück in dein gemütliches Zuhause und lass dich von Mutter und Vater trösten, weil du deinen Bruder und seinen besten Freund verloren hast, als du auf sie aufpassen solltest. Geh zurück und erklär ihnen, dass du ihr jüngstes Kind auf dem Gewissen hast, weil du mal wieder nicht gehört hast. Weil du deine Eltern mal wieder nicht ernstgenommen hast!«
Wendy blieb stehen und stützte sich mit den Händen auf die Knie. Die Angst drückte nun stärker, bis in ihre Kehle hinauf, vermischte sich mit dem Brennen in ihrem Nacken. Da war auch ein dumpfes Pochen in ihrem Kopf. Sie fühlte sich überhitzt. Ihr war schwindelig, übel. Ein plötzlicher Krampf presste ihren Magen wie in einer Faust zusammen. Das Frühstück schoss aus ihrem Mund und klatschte vor ihre Füße. Ein dünner, hellbrauner Streifen im gelben Sand – geradezu anklagend glänzte er in der Mittagssonne. Wendy konnte fast hören, was er ihr zu sagen hatte: »Du brauchst mich wohl nicht. Hast genug Nahrung und Flüssigkeit in dir, hm?«
»Verdammter Dreck«, murmelte sie, und ein Tropfen Erbrochenes baumelte ihr von der Unterlippe. Wendy ignorierte ihn.
Sie dachte an das Buch … das wundervolle Buch beim alten Ranek, das sie mehrmals verschlungen hatte, nachdem er ihr verbotenerweise das Lesen beigebracht hatte. »Peter Pan«. Das Buch war zerlesen und von den Jahren gezeichnet. Es stammte noch aus der »Alten Zivilisation«. Eine Zeit lang hatte sie fest geglaubt, die Geschichte in dem Buch wäre wahr. Sie hatte mit Peter gesprochen, tagein, tagaus, und er hatte ihr mit seinem Rat zur Seite gestanden. Er war es auch gewesen, der ihr erklärte, man müsste nicht erwachsen werden, denn das würde einem die Kraft aus den Gliedern ziehen, und man könnte dann nicht mehr fliegen. Lange hatte sie ihm geglaubt. Doch die Zeit hatte sie eingeholt, sie war neunzehn geworden, und die Siedlungsältesten hatten ihr einen Bund-Mann in Aussicht gestellt, den sie furchtbar ernst und langweilig fand.
Jetzt erst bemerkte sie, wie sehr ihr das »die Kraft aus den Gliedern gezogen« hatte. Wie wenig sie nur noch sie selbst gewesen war in der letzten Zeit. Kein Wunder, dass sie die Gefahr falsch eingeschätzt hatte.
Du hattest recht, Peter. Sag mir, was ich machen soll. Was würdest du tun?
Und endlich, endlich vernahm sie wieder seine Stimme.
»Das weißt du doch, Wendy. Als Hook mir meine Jungs geklaut hat, habe ich da etwa aufgegeben? Damals sagte ich: Diesmal gilt es, Hook oder ich! Ich habe sie mir zurückgeholt. Jetzt geh du nach Nimmerland und hol dir deine zurück.«
Wendy nickte. Sie wischte sich das Erbrochene vom Mund, spuckte den sauren Geschmack aus und ging weiter. Setzte einen Fuß vor den anderen.
Links, rechts, links, rechts …
Sie würde nicht stehenbleiben. Niemals.
»Auf nach Nimmerland«, flüsterte sie.
2
Entdeckung
Tag der Schuld
»Wendy, Wendy! Jetzt komm doch mal, du guckst ja gar nicht!«
Die Stimme ihres zehnjährigen Bruders drang aufgeregt aus den Dornenranken. Was, um alles in der Welt, hatten die beiden da drin gefunden?
»Ihr sollt die Taube holen, Yori!«
Yori und Pit, der Sohn des Brotmachers, kicherten in dem Gebüsch. Dass sie dort waren, war verboten und Wendy wusste es. Die beiden hatten den Schutz des Felsendaches verlassen und damit gegen das Gebot der Siedlung verstoßen, denn die Dornenranken wucherten zwar innerhalb der von Felswänden umschlossenen Schlucht, nichtsdestotrotz aber unter freiem Himmel. Die Taube, die sie eben erlegt hatten, war aber nun mal da vorn abgestürzt, und sie alle freuten sich auf den Braten, also hatte Wendy eine Ausnahme gemacht. Was war schon dabei?
»Beeilt euch, ihr zwei!«, rief sie.
Ein kurzes Rascheln später standen sie ohne Taube, aber mit glühenden Wangen, vor ihr. Sie hüpften auf und ab und berichteten, was sie entdeckt hatten und – herrjeh, ja! – da hatte auch sie nicht widerstehen können.
Heute
Das Sengen der Sonne ließ nach, die Schatten wuchsen erneut zu jenen stattlichen Längen heran, die sie noch am Morgen vorzuweisen gehabt hatten, und der stete, rieselnde Atem der Einöde büßte einen Teil seiner Hitze ein.
Wendy fühlte sich gerädert von dem kräftezehrenden Marsch, und ihr Nacken brannte wie Feuer. Mühsam rappelte sie sich aus der halbsitzenden Position im Schatten eines großen Steinblocks auf, in dem sie die größte Hitze überdauert hatte. Sie schirmte die Augen mit der Hand ab und blickte zu den Gebäuden, von denen zwei wie abgebrochene Riesenzähne in den Himmel ragten. Wendy staunte aufrichtig. In der Schlucht hätte man diese Ungetüme keinesfalls verbergen können. Doch trotz der beeindruckenden Ausmaße dieser Häuser wirkte die Siedlung jetzt, aus der Nähe, noch entmutigender als zuvor: Der Wind fuhr mit hohler, klagender Stimme zwischen die Häuserschluchten und pfiff durch leere Fensteröffnungen und die Risse in den Wänden.
Aber selbst wenn sie sich wirklich geirrt haben sollte, und die Kinder nicht hierhergebracht worden waren, würde sie alles absuchen. Denn vielleicht gab es auch hier ein Gebot wie das zu Hause: »Sei niemals von außen sichtbar!«
Sie zog den Wasserschlauch aus dem Rucksack und trank. Dann lugte sie um den Steinblock und beäugte das Metallgeflecht, das umgekippt zwischen hohen Steinpfosten lag, die in regelmäßigen Abständen eine Linie um die Gebäude bildeten. Einige dieser Pfosten waren ebenfalls umgestürzt oder gar geborsten.
Eine Umzäunung. So etwas nutzten sie zu Hause für die Ochsenpferche.
Ihr Blick wanderte zu einem runden Platz zwischen den Bauwerken, in dessen Mitte eine vier Schritt hohe Metallsäule thronte. »Takashi-Corporations« stand darauf. Staubwolken wirbelten dort vom Boden auf, kreiselten in die Höhe, trieben ein paar Schritte weit und fielen wieder in sich zusammen. Etwas, das aussah wie ein vertrockneter Busch, rollte an Wendy vorbei und blieb wie in stummer Aufforderung inmitten der Staubwirbel liegen.
»Geh schon«, drängte Peter in ihren Gedanken.
Sie huschte durch die Schatten, die sich wie schwarze Stoffbahnen über den Platz legten und ihr Deckung gaben.
Eines der Gebäude zog Wendys Aufmerksamkeit besonders auf sich. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Es besaß ein Kuppeldach aus einem durchsichtigen Material – war das Glas? Sie schätzte, dass es über dreißig Schritt breit war. Konnte denn etwas so Großes aus Glas sein? Zu Hause waren die meisten Behausungen tief in den weichen Kalkfelsen geschlagen worden, andere aus Holz, Blech oder ähnlichem erbaut – eigentlich aus allem, was Lakin und Feral, die Händler der Siedlung, von außerhalb der Schlucht zum Bauen heranschafften.
Wendy schlich zum Eingang. Er bestand ebenfalls aus Glas. Ihre breitschultrige, für eine Frau hünenhafte Gestalt spiegelte sich schwach darin. Sie versuchte vergeblich hindurchzusehen. Ob Yori und Pit da drin waren?
Entschlossen tastete sie nach der Luftdruckpistole und lud sie nach, dann drückte sie die Tür auf.
Tag der Schuld
»Beeil dich, Wendy!«
Yori war vor ihr durch den Felsspalt gekrochen und stand bereits neben Pit im gleißenden Sonnenlicht. Sie fühlte sich wie in einer verdrehten Welt. Sie hörte seine Stimme nur gedämpft, dafür waren ihr Rutschen und das angestrengte Atmen so laut, als gäbe es nichts anderes mehr. Der Zwischenraum im Fels, den Yori und der Brotmachersohn hinter den Dornenranken gefunden hatten, war eng, ständig hing sie an einer Felsnase fest oder stieß sich den Kopf.
Hoffentlich bleib ich nicht stecken!, dachte sie, dann war sie durch.
»Wenn du nicht so groß und breit wärst wie Papa, wärst du schneller gewesen«, tadelte Yori, als sie sich endlich neben ihm und Pit aufrichtete und die Hose und die Tunika abklopfte. Er und Pit kicherten.
»Du kleines Aas«, erwiderte sie, doch sie war ihm nicht böse, dazu war er einfach zu süß und lieb. Seine hellblonden Haare wurden ihm von der heißen Brise, die aus der Einöde auf den Felshang heraufzog, aus der Kinderstirn geweht. Seine kugelrunden Augen, braun wie ihre eigenen, blickten aufgeregt in die Weite. Er kam im Aussehen nach ihrer zarten Mutter.
»Wir sind draußen, Wendy!«, quiekte er.
Ja, sie waren draußen, zum ersten Mal im Leben, und Wendy wusste nicht, ob sie jubeln oder sich sorgen sollte, weil sie ihren Bruder mit ihrem Freiheitsdrang angesteckt hatte.
Sie ließ den Blick schweifen. Alles war so flach und weitläufig, wie der alte Ranek erzählt hatte. Und der Horizont … weit weg. Sie sog die Luft ein. Sie war trockener, heißer und roch anders als drinnen in der Schluchtsiedlung. Schwächer, nicht nach feuchtem Moos und algigem Wasser oder nach den Ausdünstungen der Menschen und Ochsen. Es roch auch nicht nach Räucherfisch oder Gewürzen oder gebackenem Brot. Hier draußen roch es nach nichts außer Sand und Freiheit.
»Wendy, guck!« Yoris Zeigefinger deutete auf ein brüchiges Gebäude, nördlich von ihnen. »Können wir dahin?«
Sie hob die Hand über ihre Augen. Von hier aus musste man noch ein Stück klettern, um in die Einöde hinabzugelangen, doch danach war das Gebäude ziemlich nah.
Der warme Wind aus der Ebene pustete in ihre struppigen Haare und zupfte an ihrer Kleidung, als wollte er sie zum Spielen auffordern. Und plötzlich war die Freude da und vertrieb alle Sorgen.
»Ob wir da hinkönnen? Darauf kannst du einen lassen«, sagte sie und grinste.
Sie war noch nie zuvor so schnell gerannt. Es war das befreiendste Gefühl, das sie je erlebt hatte. Sie preschte voran, ohne von einer Grenze wie der Schluchtwand aufgehalten zu werden. Wendy kam sich herrlich ungeschützt, kam sich sichtbar vor, ach, wie es in ihrer Magengrube kribbelte! Endlich fühlte sie sich lebendig.
Hinter ihr sausten die jubelnden Kinder über den harten Boden. Einholen konnten sie sie nicht. Im engen Felsspalt mochte sie mit ihrer Körpergröße unbeholfen gewesen sein, hier draußen trugen ihre kräftigen, langen Beine sie voran wie im Flug. Trunken vor Glück lauschte sie dem schnellen, festen Tappen ihrer Füße, fühlte den Gegenwind, der den Schweiß trocknete, der aus ihren Poren brach.
»Erster!«, schrie sie und riss die Arme hoch, als sie an dem Gebäude ankam. Keuchend stützte sie sich auf die Knie und lachte. Kurz darauf flitzten Yori und Pit heran.
»Schaut mal, da steht was geschrieben«, bemerkte Wendy. Sie näherte sich dem Haus, dessen Konturen brüchig und angeschlagen wirkten. Es musste vor langer Zeit verlassen worden sein. Sandhaufen türmten sich vor den Wänden und auf dem flachen Dach. Die dem Wind zugewandte Seite war zur Hälfte hinter der rieselnden Masse verborgen. Vorn gab es zwei Fenster und ein Tor, die mit seltsamen Metallquerstreifen verbarrikadiert waren.
Sieht aus wie ein Gesicht, das Augen und Mund geschlossen hat.
Unterhalb des Daches, direkt über dem »Mund«, hing die Blechtafel, auf der sie die Schrift entdeckt hatte. Obwohl sie riesig war, fand Wendy es schwierig, die Buchstaben zu entziffern, da der ewige Sand sie blassgeschmirgelt hatte. Sie formte die Worte mit dem Mund: »Aaandroiiiden … ah … Androiden-Servicestation Zeloni. Wir reparieren Haushalts-Androiden jeglicher Art. Damit Ihre Helfer Ihnen wieder zu Hilfe kommen.«
»Haushalts-Androiden, was’n das?«, fragte Pit.
»Das sieht man doch auf dem Bild, Brotnase!«, rief Yori und deutete auf die verblichenen Farben neben den Worten. Und tatsächlich, wenn man genau hinsah, konnte man einen Metallmenschen erkennen, der mit Mütze und Suppenkelle hinter einem Topf stand. Daneben befand sich ein lächelnder Mann mit seltsam starren Augen und starrem Haar, der zwei kniehohe Tiere mit Schlappohren an Leinen hielt. Im Hintergrund saßen eine Frau und ein Mann in gemütlich aussehenden Polsterstühlen, davor spielten Kinder. Die vier lachten glücklich.
Menschen aus Metall, die Menschen aus Fleisch und Blut helfen?, dachte Wendy, während Pit und Yori sich mit den verrücktesten Schimpfnamen bedachten und kicherten.
»Da draußen lebten einst Menschen wie du und ich. Aber das ist sehr lange her«, hörte Wendy den alten Ranek in Gedanken. Sie hatte ihn oft zu »draußen« befragt, denn er schien alles zu wissen, und vor allem war er der Einzige, der bereit war, ihr ab und an zu antworten. »Was ist mit ihnen geschehen?«, hatte sie gefragt, und er hatte betrübt den Kopf geschüttelt. »Nun, es ging nicht gut aus. Nein, ging es nicht. Man sagte, sie zerstritten sich und nahmen sich gegenseitig alles weg. Lass uns nicht darüber reden, Wendira. Dazu war es zu schlimm. Oh ja. Schlimm war das.«
Wendy betrachtete nachdenklich die Blechtafel. Menschen wie du und ich … Warum hatten sie sich dann zerstritten?
Ein Rumpeln riss sie aus ihren Gedanken. Sie fuhr zusammen. Yori stand neben einer Kette, die nahe des Tores herabhing. Er hielt sie noch in der Hand und schaute schuldbewusst drein, während neben ihm die riesigen, ineinandergefächerten Metallstreifen mit Gequietsche und Geknirsche nach oben wanderten und eine große Öffnung freigaben. Etwa auf Drittelhöhe gab es ein Krachen, dann hing das Tor schief und bewegte sich nicht mehr. Das war sicher nicht richtig, dachte Wendy, aber zum Durchschlüpfen würde es reichen, sogar bei ihrer Größe.
Geh nicht da rein!, mahnte etwas in ihr, aber da bückte sie sich bereits und tauchte in die Schwärze hinter dem Tor.
Heute
Wendys Finger krampften sich um den Griff der Luftdruckpistole, als sie in das Kuppelgebäude schlüpfte. Es war dämmrig darin, denn die schrägen Strahlen des Abendlichts sickerten nur schwach durch das gewölbte Dach. Offenbar war das Glas vom ewigen Sand bereits stumpfgeschliffen oder zumindest völlig verdreckt.
Sie eilte geduckt durch den großen Eingangsbereich nach links zu einem merkwürdigen, halbmondförmigen Tisch, der brusthoch und unpraktisch schmal war. »Rezeption. Willkommen«, las sie auf einem silbernen Täfelchen, wobei sie nicht wusste, was »Rezeption« bedeutete.
So leise wie möglich schlich sie um den »Rezeptions-Tisch« herum. Dahinter gab es einen breiteren, niedrigeren Tischteil, der wie eine Stufe vom höheren abging. Darauf befand sich ein Durcheinander aus Papier, Stiften und Trinkgefäßen. »Takashi Computers« stand auf zwei schwarzen, tablettartigen Rechtecken, die sich gegen den höheren Tischteil lehnten. Auf dem Boden lag zwischen Unmengen an verstreutem Papier ein seltsamer Stuhl. Er hatte keine vier Beine, sondern nur eines in der Mitte, das sich am unteren Ende in mehrere kleine aufteilte, die in Kugelfüßen endeten.
Wendy nahm einige Blätter zur Hand und betrachtete sie. Sie waren randvoll mit Wörtern wie »Takashi-Besucherausweis«, »Anmeldeformular« und noch vielen mehr, deren Sinn sie nicht begriff. Seufzend legte sie sie zurück. Wäre sie aus Neugier hier gewesen, hätte sie sich Zeit genommen, die Blätter einzusammeln und zu lesen. Schließlich hatte sie, seit sie denken konnte, hinausgewollt, um Neues zu entdecken. »Viel zu gefährlich«, hatte es stets geheißen. Nur die Händler Lakin und Feral durften die Siedlung verlassen. Und doch war es ihr mit zehn Jahren fast gelungen, einen Blick auf »draußen« zu werfen.
Sie hatte sich unter der Plane des Ochsengespanns zwischen all den Waren versteckt, die Lakin und Feral zum Tauschen aufgeladen hatten. Der intensive Geruch der Gewürzmoose und Heilflechten hatte ihr in dem beengten Raum den Atem geraubt, doch sie hatte tapfer zwischen den Säcken mit dem Hirsereis ausgeharrt, den die Gemeinschaft in den Tümpeln unter dem Felsendach anbaute. Sie hatte es sogar genossen: die Aufregung, die Ungewissheit, dazu das leise Knarren der Kanister, in denen das wertvollste Tauschgut der Siedlung, klar gefiltertes Wasser, im schaukelnden Rhythmus der Ochsenschritte hin- und herschwappte. Erst kurz vor dem verborgenen Ausstieg aus der Schlucht hatten Lakin und Feral sie gefunden und sofort zurückgebracht. Einen ganzen Morgen hatte ihr Ungehorsam die Männer gekostet, aber das war ihr egal gewesen, sie hatte vor Enttäuschung und kindlicher Wut geweint. Jetzt trieb ihr die Erinnerung heiße Scham in die Wangen.
»Weil du weißt, dass sie recht hatten, nicht wahr? Hast jetzt am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich es »draußen« ist. Nein, warte – nicht du hast es am eigenen Leib erfahren, sondern dein Bruder Yori und sein bester Freund. Sie erfahren es noch immer, gerade in diesem Augenblick, da sie wer-weiß-wo sind und das mit wer-weiß-schon-wem. Ja, Wendy, sie sind in der Gewalt von irgendwelchen Männern, die vermutlich böse sind, denn warum hätten sie die Kinder sonst gegen ihren Willen mitnehmen sollen?«
Wendy presste die Lippen aufeinander, versuchte, die schrecklichen Bilder zu unterdrücken: die angstvoll geweiteten Augen ihres Bruders, die Männer mit den Sandschutzmasken …
Das ist doch nur passiert, weil ich übermütig war. Ein letztes Mal vor der Bundhochzeit gegen die Regeln spielen, mehr wollte ich nicht … Ich war aus der Übung, ich hab früher immer aufgepasst!
»Wendy, Wendy … willst du dich herausreden? Ist es das, was du willst?«
Nein, das wollte sie nicht, das konnte sie auch gar nicht, denn sie war schuld an der Katastrophe. Aber sie wollte es wiedergutmachen.
Sie umrundete die »Rezeption« mit dem Willkommen-Täfelchen und ging tiefer in den Raum hinein. Im nächsten Augenblick flammte helles Licht auf. Es schien von überall zu kommen und doch nirgends gezielt aufzutreffen. Es war golden, weich und einfach da. Wendy stieß einen Schrei aus und ließ sich in die Hocke sinken. Hektisch zielte sie mit der Luftdruckpistole in alle Richtungen. Sie erkannte nun auch andere Gegenstände in dem runden Raum, alle mit einer feinen, beigegrauen Sandschicht überzogen. Gegenüber von ihr gab es weich aussehende Polsterstühle mit hohen Rückenlehnen, aber auch davon waren einige umgestürzt, als wären diejenigen, die einst darauf gesessen hatten, panisch aufgesprungen. Ganz in der Nähe befand sich ein runder Topf mit Erde und einer verdorrten, baumartigen Pflanze. Sie war ebenfalls von feinem Sand bedeckt und schien Wendy geradezu anzuschreien: »Ich bin tot! Nichts ist von mir übrig bis auf tote Fasern, und wenn du nicht genau so enden willst, dann verschwinde von hier!«
Es gab noch mehr solcher Töpfe mit toten Pflanzen im Raum, bei genauerem Hinsehen entdeckte Wendy sieben Stück, und alle schienen ihr das Gleiche zuzurufen.
Ihr Herz pochte bis in die Kehle. Sie wagte kaum zu atmen. Wer hatte das Licht eingeschaltet? Die Männer, die Yori und Pit mitgenommen hatten? Hatte man sie entdeckt?
»Willkommen! Wir begrüßen Sie in der neu entstandenen Niederlassung der Takashi Corporations«, sagte eine Frauenstimme.
Blitzschnell riss Wendy die Luftdruckpistole herum und zielte auf die kleine Frau, die in ihrer fremdartigen, weinroten Kleidung so sanft auf sie zukam, als schwebte sie.
»Halt! Keinen Schritt weiter!«, rief Wendy, doch die Frau kümmerte sich nicht darum. Mit einem Lächeln, das mild und gleichzeitig steinern wirkte, näherte sie sich. In etwa drei Schritten Entfernung blieb sie stehen.
Ich hätte fast abgedrückt, verdammt!, wollte Wendy sie anschreien.
Die Frau lächelte ungerührt, legte den Kopf schräg und fuhr mit ihrer überfreundlichen Stimme fort: »Takashi Corporations ist marktführender Hersteller mobiler, autonomer Robotersysteme sowie von Mikro- und Nanocarbonwaffen. Wir freuen uns sehr über Ihr Interesse. Bitte folgen Sie mir zur Besichtigung des Informationszentrums im dritten Stock.«
Was redete sie da? Wendy betrachtete sie nun genauer: die schwarzen, glänzenden Haare, straff und ordentlich am Hinterkopf aufgedreht, die schmalen, fast schlitzartigen Augen, die Wendy unverwandt und ohne jede Scheu ansahen, ihr herzförmiges Gesicht mit den Grübchen, die vom ständigen Lächeln regelrecht in die Wangen gekerbt wurden und die zierlichen, vor dem Bauch übereinandergelegten Hände.
Wendy zielte noch immer auf sie. »Was habt ihr mit Yori und Pit gemacht?« Sie zwang sich, fest zu klingen.
Lächelnd drehte die Frau sich um und ging mit weichen Schritten durch den Raum. Wendy sah ihr nach, und ihr schoss der sinnlose Gedanke durch den Kopf, wie merkwürdig das Schuhwerk an den kleinen Füßen der Frau aussah. Hohe, dünne Stielchen unter den Fersen, was sollte das bringen?
Es wundert mich, dass sie auf den Dingern überhaupt laufen kann.
»Wenn Sie mir bitte folgen würden?«
Wendy sprang auf. Sie führte sie zu ihnen! Also waren sie tatsächlich hier. Die Pistole auf den Rücken ihrer eigenartigen Führerin gerichtet, folgte sie ihr quer durch den Raum. »Was soll das, wo habt ihr sie hingebracht? Geht es den beiden gut?«
Die Frau drehte sich um und strahlte sie an. »Wir freuen uns sehr über Ihr Interesse an Takashi Corporations. Der Umsatz des vergangenen Jahres war der höchste seit der Gründung des Unternehmens. Wir sind sehr stolz auf diesen Erfolg.«
»Was hat das mit den Kindern zu tun?«, fragte Wendy.
»Das Informationszentrum befindet sich im dritten Stock«, kam es von der Frau zurück. Soeben näherte sie sich einem der umgekippten Sitze und Wendy wollte eine Warnung rufen, da war sie auch schon daran vorbei. Oder … Wendy blinzelte. War das Bein der Frau durch den Sitz geglitten?
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hatte die kleine Person, die Wendy kaum bis zum Kinn reichte, die gegenüberliegende Seite des Raumes erreicht und blieb vor einer geschlossenen Tür stehen. Einer Tür, die keine Klinke besaß. Wendy runzelte die Stirn, dann erkannte sie das dunkle Feld daneben. Als die Frau es mit der Hand streifte, erstrahlte es sofort in gelbgrünem Licht. Anschließend tippte sie mit ihren milchweißen Fingern auf einen von zwei Leuchtpunkten.
Ein Berührfeld! Wendy kannte so etwas aus der Schluchtsiedlung, dort gab es an manchen Behausungen ebenfalls diese tollen Dinger, die Lakin und Feral von ihren Handelsreisen mitgebracht hatten. »Irgendwann haben wir genug von denen für alle«, hieß es immer.
Kurz darauf zischte die Tür beiseite. Wendy erstarrte. Dahinter befand sich nichts als ein schwarzes, viereckiges Loch, ein senkrechter Schacht, nach oben und unten offen. Die Frau machte Anstalten hineinzugehen.