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Attica Locke

Heaven, My Home

Aus dem Amerikanischen von Susanna Mende
Herausgegeben von Wolfgang Franßen

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Copyright by 2019 Attica Locke
Originaltitel: Heaven, My Home
First published by Mulholland Books/Little, Brown and Company

Für Nigton

Wie einen Baum am Wasser
soll man mich nicht verpflanzen
.

nach
Jessie Mae Hemphill

Inhalt

Marion County

Texas, 2016

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zweiter Teil

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Dritter Teil

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Vierter Teil

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Camilla

Danksagung

Das Ende der Versöhnung von Sonja Hartl

Marion County

Texas, 2016

Dana würde ihm die Hölle heiß machen, wenn er es bis Sonnenuntergang nicht über den See nach Hause schaffte.

Jedenfalls hatte sie das gesagt, als sie ihn auf die Stufen des Trailers gesetzt hatte – genau in dem Moment, in dem Rory Pitkin mit ausgeschaltetem Motor auf seiner Indian Scout heranrollte und dabei die Spitzen seiner Motorradstiefel durch den Sand zog. Sie hatte Levi den Schlüssel zum Bootsschuppen ihres Großvaters und die letzten Dollar aus ihrem Portemonnaie gegeben und ihn angewiesen, wieder zu Hause zu sein, bevor Ma und Gil zurück wären, weil sie sonst vor seinen Augen alle seine Pokémon-Karten verbrennen würde. Mann, seine Schwester konnte ein echtes Miststück sein, und weil ihm der scharfe Klang des Wortes gefiel, sprach er es laut aus, Miststück, ein Geheimnis zwischen ihm und den Zypressen. Das rostrote Licht, das zwischen dem Spanischen Moos hindurchfiel, verriet ihm, dass er es niemals vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause schaffen würde, was bedeutete, dass er zwei Regeln seiner Mom gebrochen hatte: rechtzeitig daheim zu sein und nicht allein mit dem Boot hinauszufahren. Es war Levi nicht erlaubt, in Grandpa’s altem drei Meter fünfzig langen Skiff mit dem V-förmigen Rumpf auf das offene Wasser des Caddo Lake hinauszufahren – ein Gewässer, das so riesig war, dass man, wenn man Zeit und Lust auf einen Tag mit geräucherten Austern und sauberem Wasser hatte, bis nach Louisiana fahren konnte. Gil sagte, es gebe nirgendwo im Land etwas Vergleichbares, es war der einzige See, der sich über zwei Countys und eine Staatsgrenze erstreckte. Doch Gil behauptete alles Mögliche, wenn der Tag lang war – vor allem, dass er Ma liebte. Nur dass er sich nicht so verhielt. Levis richtiger Daddy war für gewöhnlich hinter sie getreten, wenn sie am Herd stand und Fleischwurst briet, hatte sie auf den Hals geküsst und zum Kichern und Lächeln gebracht und dazu, seinen Kuss zu erwidern. Jedes Mal wenn Gil ein Zimmer betrat, fing Mom entweder an, ihn zu beschimpfen, oder sie erstarrte vor Angst, so als könnte sie sich auf dem braunen Cordsamt unsichtbar machen, in den Gil mit der Zigarette ein Dutzend Löcher gebrannt hatte, seit er eingezogen war. Levi traute Gil nicht mehr als dem Lächeln eines Alligators. Aber jetzt, wo er allein über das Wasser fuhr, dachte Levi, dass Gil vielleicht doch recht damit gehabt hatte. Der Caddo Lake war ein Monster; ein Gewässer, das einen Jungen wie ihn einfach verschlingen konnte. An vielen Stellen ähnelte er mehr einem von Unkraut überwucherten Sumpf als einem richtigen See, einem Zypressenwald, der vor Äonen überschwemmt und verlassen worden war, und Levi gestand sich ein, dass er hier draußen allein Angst hatte. Durch die breite Wasserstraße südlich von Goat Island wäre es bis nach Hopetown, der kleinen Siedlung aus Trailern und Shotgun Houses am nordöstlichen Ufer, wo Levi mit seiner Mutter und Schwester und Gil lebte, nur ein kurzes Stück. Er blies eine blonde Haarsträhne weg, die ihm in die Augen gefallen war, und ließ den Bootsmotor aufheulen. Er riss die Pinne nach links und riskierte eine Abkürzung.

Allein in den letzten Minuten schien sich das Licht von der Farbe von Pflaumenbranntwein in das Blaugrau der hereinbrechenden Nacht verwandelt zu haben, und eine Dezemberbrise drang unter den dünnen Stoff seiner weißblauen KARNACK-HIGHSCHOOL-INDIANS-Windjacke, die er sich aus der Schrankhälfte seiner Schwester genommen hatte. Er stellte sich vor, wie sie und Rory Pitkin sich nackt in dem Zimmer herumwälzten, das er und Dana sich teilten, und spürte, wie ihn ein Schauer überlief, der ihm peinlich war. Er war nicht blöd. Er wusste, was sie taten. Vögeln. C.T. nannte es so.

Das hier war seine Schuld. Nicht die von C.T. wie er fand. Levi hatte auf C.T.s Xbox Fußball gespielt und die Zeit vergessen. Er war dabei gewesen, ein Fantasy Team zusammenzustellen, denn Mom hatte gemeint, dass dieses Jahr vielleicht eine Xbox unterm Weihnachtsbaum liegen würde, falls Gil mit dem Geschäft Erfolg hätte, das er von Jefferson aus betrieb. Doch in der ganzen Zeit, die er bei ihnen war, hatte keins von Gils Vorhaben je dazu geführt, dass Levis Leben einfacher wurde. Sie hatten noch immer die Hälfte der Zeit keine Milch im Kühlschrank.

Nachdem er am Nachmittag aus dem Trailer verbannt worden war, war Levi mit dem kleinen Boot die sieben Meilen am Seeufer entlang bis zur Hütte von C.T.s Familie auf der anderen Seeseite in Harrison County gefahren. Dort hatte er über dem Videospiel alles um sich herum vergessen. Er war in den Genuss von etwas gekommen, von dem er tief im Innern wusste, dass er es nie haben würde. Er war so eifersüchtig auf seinen Freund gewesen, dass er sich im Gehen einen der Gamecontroller geschnappt und in die Tasche seiner Windjacke gesteckt hatte. Er hasste es, wenn er so etwas tat, doch er konnte es auch nicht sein lassen. Manchmal überkam es ihn einfach. Es war, als würde sein Gehirn vor lauter Verlangen einfach abschalten – nach dem Eigentum der anderen Kinder, sei es eine Xbox oder ein Dad, der zu Hause war –, sodass er einfach zugriff. Er spürte, wie ihn die Ecke des Controllers durch seine Nylonjacke in die knochige Seite stach. Hier draußen auf dem Wasser, wo Gott allein sein Zeuge war, war ihm ganz heiß vor Scham.

Der Himmel sagte ihm, dass es schon nach fünf war.

Er hatte keine Zeit, denselben Weg, den er gekommen war, zurückzufahren – an der nördlichen Uferlinie des Sees und einen schmalen, relativ sicheren Kanal entlang, mit Verandalampen an Bootshäusern und heruntergekommenen Hütten, die Spuren von Zivilisation verrieten. Das würde beinahe eine Stunde dauern. Bis dahin wäre es stockdunkel, und Levi hatte keine Taschenlampe dabei. In einer dünnen Jacke und mit nichts an Bord als dem alten Radio seines Grandpa und einem einzelnen Paddel, das teilweise verrottet und von seinem Grandpa dazu benutzt worden war, sich an Land zu ziehen, hatte er sich aufgemacht. Der Radioempfang war unbeständig. Die Antenne war auf halber Länge abgeknickt, und in den stillen Momenten packte ihn eine bohrende Angst. Er hatte gehört, dass der See bei Einbruch der Nacht verstummte, dass das Spanische Moos auf den Bäumen sämtliche Geräusche schluckte, sodass man sich in diesem urzeitlichen Gewässer an der Staatsgrenze wie am Ende der Zeit fühlen konnte, beinahe so, als wäre man der letzte Überlebende.

Nicht dass er je so spät draußen auf dem Wasser gewesen wäre, nicht einmal, als sein Grandpa noch lebte. Der hatte an Abendessen um Punkt fünf Uhr geglaubt. Die Swamp Loon hätte längst im Bootsschuppen zum Trocknen gelegen und Grandpa vor dem Fernseher mit seinem dritten oder vierten Bier gesessen. Der alte Mann hatte sich nach Einbruch der Dunkelheit vom See ferngehalten und Levi stets gewarnt, dass man sich allzu schnell verfuhr, wenn man sich lediglich mit Hilfe eines schwachen Scheinwerfers oder blassen Monds zu orientieren versuchte. Der See war so groß und verzweigt – die vielen Bayous, Neben- und Zuflüsse wie ein Schlangengewirr auf der texanischen Seite, jedenfalls der Teil, der sich in Marion County befand –, ein labyrinthisches Feuchtgebiet, das Fremde seit zwei Jahrhunderten in die Irre führte. Wenn man den See nicht gut kannte, konnte man schnell eine Zypresse mit einer anderen verwechseln, in den falschen Bayou einbiegen und nicht mehr herausfinden, jedenfalls nicht, wenn es stockfinster war. Bei dem Gedanken begann Levis Herz zu rasen. Das Radio plärrte wieder los und erschreckte ihn, als Patsy Cline durch ein plötzliches Rauschen hindurch erklang. Es war ein Sender außerhalb von Shreveport, der gegen Abend von Zydeco auf Country umstellte – ein weiterer Hinweis darauf, dass er spät dran war.

I go out walking after midnight …

Midnight. Mitternacht.

Das Wort fühlte sich wie eine Warnung an. Sein Grandpa hatte es »eine Nacht im Caddo Motel verbringen« genannt. Komm ja nicht auf die Idee, rumzutrödeln und dich nachts allein da draußen rumzutreiben, mein Sohn. Denn keine Menschenseele wird dich retten. Grandpa erinnerte sich an die Geschichten von Schwarzbrennern und Mördern, die sein Großvater erzählt hatte, und die sich angeblich auf den zahllosen großen Inseln auf dem See versteckten. Sowohl Rothäute als auch Neger, mein Junge, und Diebe und Yankees ebenfalls. Grandpa war mit Schauergeschichten von Schießereien und Messerstechereien aufgewachsen, ganz zu schweigen von den Geistergeschichten über Seelen, die sich auf dem Wasser tummelten, und Gespenster, die sich in den Bäumen versteckten. Laut Grandpa ließ sich nicht sagen, wie viele Menschen auf diesem Gewässer verschwunden waren.

Levi versuchte, die Jolle um den dicken Stamm einer Zypresse zu manövrieren, rutschte jedoch mit den feuchten Händen von der Pinne ab, die nach links schnappte. Als er den Kurs zu korrigieren versuchte, stieß er mit dem Bootsheck gegen Baumwurzeln. Der Motor klackerte ein paarmal, wie wenn eine Murmel eine Treppe hinabhüpfte. Er schaltete das Radio aus und lauschte, ob der Motor weiter Schwierigkeiten machte. Doch das Klackern war schnell wieder vorbei, und der Motor tuckerte gleichmäßig. Er rieb sich die Hände an seiner schmutzigen Jeans ab und lenkte das Boot in Richtung Heimat. Levi war nicht so versiert auf dem Wasser wie Grandpa, weil man ihm nur ein paarmal erlaubt hatte, das Steuer des Skiffs zu übernehmen, bevor Grandpa im September starb, womit es mit dem Bootsunterricht endgültig vorbei war – und das nur wenige Wochen, bevor er bei der Weihnachtsbootsparade in Karnack sein Debüt als Skipper geben und an der Pinne der Swamp Loon stehen sollte. Er hatte elf Dollar gespart, um sämtliche Lichterketten zu kaufen, die er dafür bei Dollar General in der Stadt kriegen konnte. Aber jetzt, wo er hier draußen allein unterwegs war und die Sonne ihn wie eine herzlose Geliebte im Stich gelassen hatte, hatte er plötzlich ein Bild seines Boots vor Augen, wie es bei der Parade leer dahintrieb, Grandpa tot und er vermisst. Er wusste nicht, woher der Gedanke kam, doch er kam ihm so real vor, dass er ihm regelrecht in die Knochen fuhr und er sich eingestehen musste, dass er Angst hatte. Ein Paar Krähenflügel flappten in der Luft über ihm, und Levi erschrak so sehr, dass er hochschoss. Das Boot kippte leicht, woraufhin trübes braunes Wasser hereinschwappte und die Spitzen seiner Sneaker durchnässte. Er schätzte, dass er nicht einmal mehr eine Meile vor sich hatte, und plötzlich wollte er nur noch nach Hause und sich bei Dana darüber beschweren, dass sie immer ihren Kram auf seiner Bettseite liegenließ. Selbst dabei zuzuhören, wie Gil furzte und im Minutentakt Flüche ausstieß, klang in diesem Moment gut. Das schwindende Sonnenlicht hatte den See schwarz gefärbt, so als hätte Gott dunkle Wolle auf der Oberfläche ausgebreitet, um den See für die Nacht zuzudecken. Levi schloss einen direkten Handel mit ihm ab: Falls er ihn hier herausbringen würde, und das schnell, würde er alles beichten. Er würde Mom sagen, dass er ohne ihre Zustimmung rausgefahren war, und die Tracht Prügel von Gil wie ein Mann nehmen. Er würde von jetzt an brav sein und sogar Mr. Page und seine Indianer in Ruhe lassen.

Er wollte einfach nur nach Hause.

Er hörte das Klackern erneut. Und dann erstarb der Motor ganz plötzlich und unerwartet. Keine röchelnden letzten Atemzüge, wie er es bei Schussverletzten im Fernsehen erlebt hatte, nichts von dem unverständlichen Gebrabbel an Grandpas letzten Tagen – voller Bedauern und Reue wegen seines Freunds Leroy –, nur Stille, die so vollkommen war, dass er sie in seiner Brust spürte. Er merkte, dass er den Atem anhielt, während er darauf wartete, dass der Motor wieder zu brummen begann. Doch er war stumm und kühlte sich mit jeder Minute stärker ab. Zwischen hier und Zuhause sah er keine anderen Boote; die Fischer, Freizeitskipper und Touristen mit Kajaks waren alle verschwunden. Hilfe. Es hätte sowohl ein Flüstern als auch ein Schrei sein können, es hätte keine Rolle gespielt. Er war hier draußen allein, und er wusste das. Wenn er sich genau westlich hielt, würde er irgendwann nach Hause kommen. Doch alles, was er hatte, um voranzukommen, war das verrottete Paddel, und es war durchaus denkbar, dass er im Kreis fahren und von seinem Kurs in Richtung Louisiana abweichen würde. Nein, besser, er blieb bis morgen, wo er war. In ein paar Stunden würden sich Mom oder Dana bestimmt ein Boot leihen und auf die Suche nach ihm machen. So lange würde er es aushalten, oder? Wenn er sich keinen Millimeter über den Bootsrand hinausbeugte, wo, wie er spüren konnte, eine wilde Tierwelt unter der Wasseroberfläche lauerte. Er spürte, wie hinten etwas gegen das Boot stieß. Alligator, dachte er und geriet in helle Panik, schoss senkrecht hoch und stand kerzengerade da, als könnte er jederzeit losrennen. Das Boot kippte erneut, und noch mehr Wasser schwappte herein und stand ihm jetzt bis zu den Knöcheln. Direkt vor sich sah er etwas.

Es war ein dunkler Schatten, der auf ihn zukam.

Er meinte, das leise Brummen eines Motors zu hören.

War sich aber nicht sicher, ob er sich das nur einbildete, ob er nicht gerade ein bisschen durchdrehte. Eine Nacht im Caddo Motel. Alles in ihm sträubte sich gegen die Vorstellung. Ein Licht ging an und leuchtete ihm direkt in die Augen, während der Schatten näherkam. Levi blieb aufrecht stehen und winkte mit hocherhobenen Händen, was das Boot mal auf die eine und dann wieder auf die andere Seite kippen ließ. Es schwankte so stark, dass es fast gekentert wäre. Doch Levi war verzweifelt genug, um das Risiko einzugehen. »Hier«, rief er, und es klang ganz erstickt, denn das Spanische Moos verschluckte seine Worte fast, wie um sich von den Rufen verlorener Seelen zu nähren, so wie es den Saft der Zypressen brauchte, um im Sumpf zu überleben.

Erster Teil

1

An dem Abend, als Darren Mathews in den Trailer seiner Mutter einbrach, hatte er seit über einem Monat keinen Drink mehr gehabt. Nun, jedenfalls nicht mehr als ein, zwei Bier einmal oder zweimal die Woche – und stets im Beisein seiner Frau, deren Blick er vor dem ersten Schluck sekundenlang standhielt, um ihr die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen oder zu schweigen, wobei er für ihr Schweigen stets dankbar war. In dieser neuen, höchst prekären Phase ihrer Ehe machten beide Zugeständnisse. Ihr Privatleben hatte sich stabilisiert und war seit ihrer Trennung und seiner Zeit in Lark, Texas, in der rauen Strömung fest verankert – durch das Vergnügen von gutem Sex, der einem die besten Momente einer Ehe in Erinnerung brachte und die hässlichen vergessen ließ. Er hatte ganz vergessen, wie gut es sich anfühlte, seine Frau zu vögeln, und wie leicht der Akt zwei Seelen miteinander verflocht. Er hatte vergessen, wie sicher er sich bei Lisa fühlte, wie sehr sein Ich-Gefühl von ihrer Liebe und Aufmerksamkeit bestimmt wurde. Und von Lisa begehrt zu werden – ihre fast konstante Bereitschaft im Bett – hatte die Balance zwischen ihnen auf eine Weise verschoben, die neu war für Darren, der sich während ihres gesamten Liebeswerbens und ihrer Ehe gefühlt hatte, als müsste er sie fortwährend aufs Neue erobern und rumkriegen. Jetzt war es Lisa, die jeden Tag tat, was sie konnte, um ihm zu gefallen, um seiner wert zu sein.

Sie wusste, dass er beinahe nicht zu ihr zurückgekommen wäre, wusste, dass ein Leben allein in seinem Geburtshaus in Camilla eine Option für ihn war, wusste, dass ein Teil seiner Seele den Rest seines Lebens dort verbringen und auf dem Land seiner Vorfahren sterben könnte. Er zog einen Abend auf der hinteren Veranda in Camilla, von wo aus er das Wild in den umliegenden Wäldern beobachten konnte, den Annehmlichkeiten einer Stadt wie Houston vor. Er war noch immer ein Junge vom Land.

Er hatte seine Frau und sein Leben wieder.

Aber es hatte ihn auch etwas gekostet.

Mehrere Termine bei einer Eheberaterin im Stadtzentrum von Houston – einer korpulenten Weißen, die viel zu viel Türkisschmuck trug – hatten ihn zu dem Entschluss gebracht, den Außendienst zu quittieren. Zumindest glaubte er, dass es seine Entscheidung war. Es war hitzig zugegangen und ziemlich schweißtreibend gewesen, kleinliche Ressentiments hervorzukramen, nur um sie anschließend wieder zu begraben, diesmal endgültig. Ein paarmal hatte er dem Bedürfnis nachgegeben, gedanklich abzuschalten. Doch sie hatten ihre vier Termine durchgezogen – Ich glaube, Sie schaffen das –, und Darren hatte zugestimmt, in das Büro der Texas Ranger in Houston zurückzukehren und vom Schreibtisch aus für die Sondereinheit zur Arischen Bruderschaft von Texas zu arbeiten. Von Montag bis Freitag parkte er seinen Chevy vor dem Büro und trug sein Mittagessen zu seiner engen Arbeitsnische, wo er Stunden damit verbrachte, die digitale Überwachung der Arischen Bruderschaft zu überprüfen. Telefon- und Bankdaten. Austausch in Chatrooms. Er war jetzt ein Schreibstubenhengst und, je nach Verkehrslage, meistens gegen achtzehn Uhr zu Hause. Dass Lisa ihn nicht dazu zwang, das alles in stocknüchternem Zustand zu tun, brachte ihn dazu, sie noch ein bisschen mehr zu lieben. Genug, wie er hoffte, um den Zorn zu kaschieren, den er angesichts ihrer Forderung verspürte, von der Straße wegzubleiben. Nicht dass zu Hause zu sein so schlimm gewesen wäre.

Es gab Bier.

Und Sex.

Die Sache mit seiner Mutter nagte natürlich an ihm.

Doch eine Zeit lang gelang es ihm, sich einzureden, dass Bells Beweggründe weniger von Rachsucht als von Verzweiflung herrührten. Sie war kurz vor ihrem Sechzigsten und lebte allein in einem gemieteten Trailer, ihr einziger Sohn war kinderlos und mit Zuneigungsbekundungen sparsam, zufrieden damit, seine Mutter einmal im Vierteljahr zu treffen, oder noch seltener, wenn er glaubte, sich das erlauben zu können. Ihr Freund war sowohl verheiratet als auch ihr Chef, und er zahlte ihr weniger als den Mindestlohn dafür, dass sie an fünf Tagen in der Woche Toiletten schrubbte. Seit der Highschool hatte sie keinen Mann für sich allein gehabt, und sie hegte einen tiefen Groll gegen die Mathews-Familie, weil sie ihr das Leben gestohlen hatte, das ihr eine Ehe mit Darrens Vater ihrer Meinung nach ermöglicht hätte. Diese Verbitterung nährte sie wie ein Findelkind, das sie an ihre Brust hielt. Die Schuld lag jetzt bei Darren. Er hatte seine Mutter während der letzten beiden Monate täglich angerufen, war beinahe jedes Wochenende bei ihr vorbeigefahren, hatte freiwillig Büschel von Vogelmiere und Wiesenrispengras um den Trailer herum gerupft, die Stufen gefegt und die Dachrinne gereinigt und ihr jedes Mal ein paar hundert Dollar und eine Kiste Bier dagelassen.

Es war ein Tanz, den sie da veranstalteten, ein Country-Walzer, wobei sie so taten, als wäre Darren der Sohn, der nur auf die richtige Gelegenheit gewartet hatte, sich um seine älter werdende Mutter zu kümmern, und das hatte er jetzt davon: Erpressung. Obwohl sie nie ein so krasses Wort benutzte, und er ebenfalls nicht. Als er sie ein einziges Mal direkt nach der Waffe fragte, hatte sie das vielmehr als seine Art aufgefasst, darum zu bitten, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, und war sogar so weit gegangen, sich selbst bei ihm zu Hause in Houston zum Abendessen einzuladen, was Darren als die Strafe erkannte, die es war. Begonnen hatte alles mit ihrer lächerlichen Bitte um Venusmuscheln mit Semmelbröseln und Speck und eine Schwarzwälder Kirschtorte, deren Rezepte sie aus einem alten Exemplar vom Ladies Home Journal aus der Rubrik »Kosmopolitische Lebensweise« ausgeschnitten hatte, das sie schon seit Highschoolzeiten besaß und dessen vergilbte Seiten sie Lisa geschickt hatte.

Sie war betrunken, als sie bei ihnen in ihrem Loft im Zentrum von Houston auftauchte, und fragte, noch bevor sie den Mantel abgelegt hatte, wo denn die anderen Gäste seien. Lisa hängte Bells abgewetzten Kaninchenpelz in den Flurschrank – und vergaß nicht, solidarisch Darrens Hand zu drücken, bevor sie Bell zum Esstisch führte. Sie hatten einen Blick auf den Buffalo Bayou, aber Bell ließ sich auch davon nicht beeindrucken. »Wir haben auf dem Land auch schmutziges Wasser«, sagte sie, als ihr Darren den Stuhl hinschob. Lisa beeilte sich, den ersten Gang zu servieren, eine kalte Zwiebelsuppe, die sie bei Kerzenschein aßen. Darren trank nichts und sah dabei zu, wie Lisa und Bell um die Wette die Flasche billigen Chardonnay leerten, den seine Mutter mitgebracht hatte.

In den letzten beiden Monaten hatte seine Frau sehr wenige Fragen gestellt.

Sie hatte das neu entdeckte Interesse an einer Beziehung zu seiner Mutter als entwicklungsbedingte Tatsache hingenommen, etwas Unvermeidliches, das sie lange vor ihm kommen sah. Sie sah nichts Schändliches darin, als er ganz nebenbei verkündete, dass er mehr Zeit mit ihr verbringen und sich mehr um sie kümmern wollte, wenn er konnte. Zweimal hatte sie es sogar als reizend bezeichnet. Heute Abend, das Haar zu einem schlichten Pferdeschwanz hochgebunden und mit goldenen Hängern an den Ohren, die jedes Mal hin- und herschwangen, wenn sie lachte oder nickte, genoss sie es, Bell dabei zuzuhören, wie sie Kindheitsgeschichten über Darren erzählte: wie sie ihm roten Pfeffer auf die Hände gestreut hatte, während er schlief, um ihm das Daumenlutschen abzugewöhnen (Das hätte fürchterliche Hasenzähne gegeben, wenn ich nicht gewesen wäre); wie sie einen Faden an ihrer Eingangstür und Darrens losem Zahn befestigt hatte, um das blöde, kleine Mistding herauszureißen. Er wusste nicht, weshalb alle ihre Geschichten von Zähnen handelten. Aber was spielte das für eine Rolle? Seine Mutter hatte ihn nicht großgezogen und besaß nicht die Liebe oder das Vertrauen der Männer, die es getan hatten – seine beiden Onkel William und Clayton. Es war erfunden, und zwar alles zwischen Suppe und Hauptgericht. Bis auf die Geschichte, als sie vor dem Maschendrahtzaun seiner Grundschule stand und dabei zusah, wie ihr Sohn das Ampelspiel spielte, wie sie weinte, als Clayton Wind davon bekam und den Schuldirektor bat, sie vom Schulgelände zu verweisen. »Ist das wahr?«, fragte Darren. Als seine Mutter Ja murmelte, spürte er, wie ihm das die Kehle zuschnürte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Beim Dessert war Lisa ziemlich beschwipst. Mit feuchter Haut und glasigen Augen blickte sie ihn an und fragte: »Darren, wieso lerne ich deine Mutter erst jetzt kennen?«

Bell stieß ein kleines, bellendes Lachen aus.

»Wirklich eine gute Frage, Darren. Wieso lernt deine Frau mich denn jetzt erst kennen?«, sagte sie in einem Ton, mit dem sie sich offen über Lisa lustig machte, was diese aufgrund ihres Alkoholpegels nicht registrierte – Konsonanten und Vokale klar artikuliert, jede Betonung an ihrem Platz, nicht wie die verwaschene Sprache, die sonst aus Bells Mund kam. Sie schenkte ihrem Sohn ein kleines Lächeln, während sie darauf wartete, dass er sich seiner Frau erklärte. Und als sie mit tiefem Schweigen konfrontiert wurde, griff sie zu der Weinflasche auf der anderen Seite des Tisches und schenkte sich den letzten Tropfen ein, bevor sie ihre Handgranate auf den elegant gedeckten Tisch rollte: indem sie ganz nebenbei bemerkte, dass es doch schade sei, dass das Sheriffbüro des San Jacinto County nie die kleine 38er Pistole gefunden hätte, mit der Ronnie Malvo erschossen worden war – der Grund, weshalb Mack in der Mordsache noch nicht freigesprochen war –, dass das Ding überall sein könne und irgendjemand bestimmt Bescheid wisse. Mensch, es bräuchte nur einen Anruf bei Frank Vaughn, um das Verbrechen aufzuklären. Sie blickte Darren an, um sich zu vergewissern, dass er begriff, dass sie den Namen des Bezirksstaatsanwalts von San Jacinto County kannte, während sie sich die Leinenserviette auf ihre Lee-Jeans legte. Darren bedachte sie mit einem Kopfschütteln, einer kraftlosen Warnung. Er hatte niemandem erzählt, dass seine Mutter die mutmaßliche Mordwaffe auf dem Grundstück der Mathews in Camilla gefunden hatte, dass sie sich in ihrem Besitz befand – dass sie ihn an den Eiern hatte.

»Was?«, sagte Lisa, presste ihren Finger auf Schokoladenkrümel auf ihrem Teller und leckte sie ab. Ihre Seidenbluse hatte einen winzigen Fleck. Ein Tropfen Kirschsaft von der Schwarzwälder Kirschtorte. Sie war noch immer beschwipst, und Darren hatte das Bedürfnis, sie und den Frieden, der sich auf ihre Ehe gesenkt hatte, zu beschützen. Seine Mutter würde auch diesen zerstören, wenn er es zuließ. Es genügte nicht, seine Stellung als Texas Ranger zu gefährden. Bell Callis wollte, dass auch seine Ehe am seidenen Faden hing. In der Nacht hatte er nicht geschlafen. Aber dann war er am nächsten Morgen aufgestanden und hatte es wieder getan.

Guten Morgen, Mom, brauchst du irgendwas? Ich habe gerade an dich gedacht.

Wochenlang hatte er fortwährend an sie denken müssen – mehr wollte sie auch nicht, sagte er sich. Die Bedrohung konnte kontrolliert werden. Natürlich hatte er vermutet, dass die 38er irgendwo in dem knapp vierzig Quadratmeter großen Trailer lag, den sie ihr Zuhause nannte, weshalb ihm der Gedanke gekommen war, eines Tages reinzustürmen und sie ihr einfach wegzunehmen. Doch seine Mutter hatte die Schnelligkeit und das Temperament einer Wildkatze. Irgendeine plötzliche Bewegung, und sie würde angreifen. Sie würde ihn dafür bezahlen lassen, wenn er ihr diese neue Macht wieder wegnahm. Also sagte er sich, er hätte alles unter Kontrolle, eine Lüge, die ihn abends einschlafen ließ. Bis sie das nicht mehr tat.

Der Freitag, an dem es schließlich mit ihm durchging, begann völlig harmlos.

Er war an diesem Abend mit ein paar Ranger-Freunden verabredet, wobei Darren an der Reihe war, sie zu bewirten. Doch nachdem sich Roland Carroll beim letzten Mal auf ihrer Gästetoilette übergeben und dabei die Toilette um knapp einen Meter verfehlt hatte, war Lisa zu dem Schluss gekommen, dass sie seine Ranger-Kumpel nicht mehr so bald in ihrer Wohnung haben wollte. Also hatte Darren die Party neunzig Meilen den Highway 59 hinauf verlegt, auf seinen Familiensitz in Camilla. In der Rückschau erkannte er, dass er bereits an einem Aktionsplan gearbeitet hatte, was seine Mutter betraf. Und das, bevor er hörte, wie an dem Nachmittag ein Wagen auf dem unbefestigten Weg zum Farmhaus vorfuhr. Er hatte gerade die Chilischoten neben der Veranda gegossen – und gedacht, dass er sie rechtzeitig für das Weihnachtsessen einlegen könnte –, als Frank Vaughn, Bezirksstaatsanwalt von San Jacinto County, in die Auffahrt einbog und die Reifen seiner Ford-Limousine Klumpen feuchter roter Erde aufwühlten. Darren hatte den Mann seit seiner Zeugenaussage vor der Grand Jury nicht gesehen – als Rutherford »Mack« McMillan, langjähriger Freund der Familie, einer Anklage wegen Mordes an Ronnie »Redrum« Malvo, einem Mitglied der Arischen Bruderschaft von Texas und ein Riesenarschloch, entkommen war. Damals verdächtigte Vaughn Darren, zu wissen, wo sich die Mordwaffe befand – Mack zu decken –, und die Grand Jury hatte schließlich eine Strafverfolgung abgelehnt. Bis zu welchem Grad Frank Vaughn Darren dafür verantwortlich machte, war schwer zu sagen. Aber Darren wusste, dass das kein zwangloser Besuch war. Als Vaughn aus seinem Wagen stieg, fiel die Mittagssonne auf sein dichtes Haar und den Diamantsplitter seines A&M-Absolventenrings. »Hallo«, sagte er mit zusammengekniffenen Augen, was seinem Gesicht einen fast maskenhaften Ausdruck mit dunklen Augenschlitzen verlieh. Er war ein paar Jahre älter als Darren, hatte vielleicht sogar schon die fünfzig erreicht und hätte beruflich längst den Sprung in eine Großstadt schaffen müssen, wenn er das Talent und die Lust dazu gehabt hätte. Sein Bezirk schloss mehrere umliegende Countys mit ein, alle in seinem Herrschaftsbereich; die Mühlen der Justiz in diesem kleinen Teil von Osttexas mahlten auf seine Weisung hin, und so gefiel ihm das.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Darren.

Er streckte die Hand nach dem Wasserhahn an der Hausseite aus, und als Vaughn die Verandastufen erreichte, war das lauwarme Wasser nur noch ein Rinnsal.

»Ich meinte, ich hätte Ihren Truck in Camilla gesehen.« Das Gebaren des Bezirksstaatsanwalts war grimmig, aber keineswegs unfreundlich – eher nachbarschaftlich, als würde er vorbeischauen, um Darren vor einem aufziehenden Sturm zu warnen, damit er die Fensterläden schloss und sich auf schweren Regen einstellte.

»Nun, Sie haben mich gefunden«, sagte Darren mit ruhiger Stimme, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die Vorstellung beunruhigte, dass ihn der Bezirksstaatsanwalt überhaupt aufsuchte. Darren war nur allzu bewusst, dass er wegen Justizbehinderung oder Schlimmerem angeklagt werden konnte, falls die Behörden von der kurzläufigen 38er Wind bekamen, die seine Mutter im Herbst genau auf diesem Grundstück gefunden hatte. Er würde seine Marke verlieren und ins Gefängnis wandern.

Darren wickelte den Wasserschlauch um einen rostigen Haken, den Mack – der für die Mathews-Familie arbeitete – vor Jahrzehnten in den Rahmen der Holzveranda genagelt hatte. Es war kühl draußen, die Luft ziemlich frisch, der Himmel wie geschliffener Lapislazuli und der Regen prasselte aus grauen Wolken nieder, als schuldeten sie jemandem Geld. Sie waren noch ein gutes Stück von einem richtigen Dezemberfrost entfernt. Nicht nötig, die Zwiebeln und Kohlköpfe in den nächsten zwei Wochen abzudecken, dachte Darren, als er den Schlauch aufhängte. Er tat es sorgfältig und geduldig in Vaughns Beisein, eine Demonstration stoischer Ruhe.

»Nun, Sie wissen, dass wir die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen können«, sagte der Bezirksstaatsanwalt, als würden sie eine erst kürzlich begonnene Unterhaltung fortsetzen. »Mit dem Toten und alldem. Ronnie Malvo war Abschaum, das war kein Geheimnis. Aber wir können nicht zulassen, dass Leute einfach Selbstjustiz üben. Nicht in meinem Bezirk, Ranger.«

»Keine Ahnung, was das mit mir zu tun hat. Ich habe meine Aussage vor Gericht gemacht.«

»Das haben Sie.«

»Und Mack wurde freigesprochen.«

»Er schon, ja«, sagte Vaughn. »Vorerst.« Er kam ein wenig näher, sodass er und Darren sich neben dem Haus direkt gegenüber standen. »Aber falls da noch jemand in die Sache verwickelt ist, find ich’s raus. Sie wissen das, Ranger. Betrachten Sie das also als einen Höflichkeitsbesuch.« Er blickte hinunter auf seine Stiefelspitzen, dunkelbraune Roper, die in der Erde auf dem Mathews-Grundstück ihren Glanz verloren. Als er wieder aufblickte, hatte er ein leichtes Grinsen im Gesicht und sagte Darren auf den Kopf zu: »Ich hätte auch in das Ranger-Büro unten in Houston kommen und rumtönen können, dass sie in der Sache nicht unbedingt aus der Schusslinie sind.«

»Ich?«

»Ich hoffe, dem ist nicht so, wirklich«, sagte Vaughn. Trotzdem wurde das Grinsen breiter, und die Fältchen um seine schmalen Augen herum verzogen sich, als er hinzufügte: »Aber falls Sie vorhaben, Rutherford McMillan weiterhin zu decken, werden Sie vielleicht auf zwölf Männer und Frauen treffen, die über Ihr Schicksal befinden. Es wird auf jeden Fall eine weitere Grand Jury geben, merken Sie sich meine Worte, Ranger. Sie können vor ihr aussagen oder derjenige sein, der den Gerichtsbeschluss ausbaden muss.«

Darren erstarrte sichtbar.

In den Monaten, in denen der Mord an Malvo ein so verheerendes Chaos in Darrens Leben und Karriere angerichtet hatte, war der Bezirksstaatsanwalt einer Drohung noch nie so nah gewesen. Er versuchte sie abzuschwächen, indem er eine Hand auf Darrens Schulter legte, um ihm ein entspanntes Gefühl zu vermitteln, eine Geste, die irgendwie peinlich war, weil Darren gut fünf Zentimeter größer war, mit Stiefeln zehn, sodass sich keiner der beiden Männer mit der Machtverteilung wirklich wohlfühlte. »Ich hoffe, ich kann in dieser Sache auf Ihre Kooperation zählen«, sagte Vaughn, als er sich zu seinem Wagen umwandte. »Mein Büro wird sich den Fall noch mal in allen Einzelheiten vornehmen. Wir werden Zeugen befragen, neue«, sagte er und hielt inne, um die Wagenschlüssel aus der Tasche seiner marineblauen Hose zu fischen und den nächsten Schlag zu platzieren. »Ihre Mutter zum Beispiel.«

Darren spürte einen Anflug von Panik.

Er wusste, dass er vorsichtig sein musste, und trotzdem war seine Stimme so laut, dass es ihm peinlich war. Meine Güte, er klang erschrocken, sogar fassungslos. »Bell Callis ist Ronnie Malvo nie begegnet, sie hat überhaupt keine Ahnung, wer er ist.«

»Aber sie kennt Sie.« Vaughn sah Darren über den Rand der Fahrertür an. Das Grinsen wollte ihm nicht mehr aus dem Gesicht weichen. Darren erkannte jetzt das selbstgefällige Vergnügen, den Blick eines Mannes, der ein paar Hunderter mehr und ein gutes Blatt hatte. »Sie waren in letzter Zeit häufig bei ihr draußen. Jedenfalls haben mir die Deputys aus der Gegend das erzählt.«

»Keine Ahnung, was das Ihrer Meinung nach zu bedeuten hat«, erwiderte Darren.

»Vielleicht gar nichts … vielleicht aber doch.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte Darren und bereute die Worte in dem Moment, in dem sie ihm wie lockere Zähne aus dem Mund fielen. Er verspürte einen Kontrollverlust, der ihn zuerst beschämte und dann erschreckte. Als er wieder das Wort ergriff, geschah es voller gerechtem Zorn. »Meiner Mutter geht es nicht gut«, sagte er, weil es in gewisser Weise einfach so sein musste. »Falls ich herausfinden sollte, dass Sie sie belästigen …«

Vaughn hob eine Hand, nicht so, als wollte er sich verabschieden, sondern vielmehr so, als entließe er Darren vorerst nur. »Wir reden noch, Mathews«, sagte er und glitt auf den Fahrersitz seines Fort Taurus. »Wir reden noch.« Ein paar Sekunden später hörte Darren, wie der Motor angelassen wurde. Er stand reglos da, so als wären aus dem Boden Ranken hochgeschossen und hätten sich um seine Fußknöchel gelegt. Er konnte sich nicht bewegen, selbst als von Frank Vaughn nichts mehr zu sehen war außer aufgewirbelter roter Erde in der Auffahrt. »Scheiße«, murmelte er. Das Spiel war aus. Er würde wegen Bell etwas unternehmen müssen.

2

An diesem Freitagabend erwartete er lediglich fünf Ranger – Roland von der Company A, der gemeinsam mit Darren in Houston stationiert war; Buddy Watson, Company B, der in Henderson County südlich von Dallas arbeitete; Ricky Nuñez, Company G, der bis von Corpus Christi heraufgefahren war; Hector Martinez, Company E, Pecos County; und Patricia Nolan von der Company F in Austin. Darren wusste, dass es trotzdem ausufern konnte. Tatsächlich hoffte er sogar darauf; er brauchte eine Tarnung für das, was er vorhatte. Er hatte vier Kilo Fleisch und Hot-Link-Würste aus der Stadt mitgebracht und, Gott stehe ihm bei, tatsächlich geglaubt, er würde nichts trinken, auf den Schnaps verzichten, nur um zu beweisen, dass er es konnte. Aber er war echt dankbar wie ein Hund, dem man einen Knochen hinwarf, als Hector mit einer Flasche Tennessee Whiskey auftauchte und Patricia mit Mezcal und einem Margarita-Mix. Buddy und Roland bestückten den alten Frigidaire-Flair-Kühlschrank seiner Onkel mit Bier, Shiner Bock und Miller High Life. Alle hatten sich achtundvierzig Stunden dienstfrei genommen, hatten den Abend und nächsten Tag, um die Sau rauszulassen, denn es war für alle ein höllisch anstrengender Monat gewesen. Als er am Morgen in Houston aufgebrochen war, hatte Lisa ihm gesagt, dass er sich ruhig Zeit lassen solle – was neu war. Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, um ihn zum Abschied zu küssen, hatte Geist und Körper gestreckt, um ihre Unterstützung anzubieten. Seit den Wahlen vor vier Wochen hatte es im gesamten Staat über fünfzig hassmotivierte Gewalttaten gegeben, und Lisas Gefühle gegenüber seiner Dienstmarke waren nicht mehr so ablehnend. »Komm einfach heil wieder«, sagte sie.

Darren legte eine Platte von Ligthnin’ Hopkins auf den Plattenspieler, einen Blues mit zupfender Gitarre, der Buddy Watson dazu brachte, mit den Augen zu rollen und aufzustöhnen. Doch sie hatten folgende Regel aufgestellt: Der Gastgeber war Herr über die Musik und den Speiseplan. Heute Abend gab es ein Barbecue, aber Rickys Frau hatte trotzdem Tamales für sie gemacht. Als er sie im Ofen aufwärmte, erfüllten sie das Haus mit einer rauchigen Süße, als die Maishülsen braun wurden und das Schweinefett tropfte und zischte. Von den ungefähr einhundertfünfzig Texas Rangern im Staatsdienst bildeten sie zwar nicht den Querschnitt des Departments ab, aber sie gehörten zu den wenigen, die zugaben, dass der Job um einiges leichter war, wenn man Gleichgesinnte hatte, mit denen man reden konnte. Drei schwarze Ranger, zwei Latinos und eine von zwei weißen Frauen, die dieser inoffiziellen Bruderschaft der Solidarität beigetreten waren. Vicki Brennan, eins der Gründungsmitglieder dieses nicht autorisierten Privatclubs, hatte nach der Wahl aufgehört, ihre E-Mails zu beantworten.

Sobald die Drinks eingeschenkt waren, begannen die Spekulationen.

»Was ist bloß in sie gefahren?«, sagte Patricia.

»Hat wahrscheinlich Angst«, meinte Ricky. Er trug ein schlichtes schwarzes Sweatshirt und dazu passende Wrangler und kippte zwei Bier, bevor er sich setzte.

Roland verzog das Gesicht. »Glaubst du wirklich, sie hat ihn gewählt?«

»Sollte keine Rolle spielen«, sagte Ricky. »Hier jedenfalls nicht.«

Er meinte die Gruppe, die Freundschaften, die sie geschmiedet hatten. Aber Patricia schnaubte nur und schüttelte den Kopf. »Und ob das eine Rolle spielt«, sagte sie. Mit sechsundzwanzig war sie die Jüngste, war bereits seit ihrem Akademieabschluss vor acht Jahren Ranger. Als ehemalige Basketballspielerin an der Sam Houston State war sie beinahe so groß wie Darren, blond mit einem langen Gesicht und merkwürdig zarten Zügen. Sie leckte das Salz von ihrem Glas ab.

»Vicki hat ein Auge auf die Zentrale geworfen, will aufsteigen«, sagte Roland. »Wir sind nicht verpflichtet, sie zu unseren Treffen einzuladen.« Er zupfte ein Klümpchen Tabak aus der Blechdose in der Brusttasche seines Hemds und schob es sich unter die Zunge.

Hector nickte mit seinem kahlrasierten Kopf. »Sie war schon immer eine von ihnen«, sagte er.

Er ging nicht näher darauf ein, wen er damit meinte. Trotzdem nickten alle.

»Wir alle müssen tun, was wir können, um das durchzustehen«, sagte Ricky, und die anderen Ranger im Raum stimmten zu. Nacheinander räumten sie ein, dass sich in den letzten vier Wochen etwas geändert hatte, nicht nur in der Welt insgesamt, sondern auch im Job. Sie hatten mit Dingen zu tun, die sie noch nie erlebt hatten, Geschichten, die sie nur von den Älteren im Department kannten: brennende Kirchen; die Verschandelung einer Moschee in Bryan; schwarze und braune Kinder, die in Speisesälen geschubst oder in Turnhallen angespuckt wurden; und eine Mexikanerin in kritischem Zustand, nachdem sie in Anwesenheit ihres Ehemanns und der drei Kinder auf dem Parkplatz eines Kroger in Fort Worth angegriffen worden war. Buddy sprach von einem Tummelplatz für Unruhestifter in der Nähe von Jefferson im Marion County. Er mochte in dem Zusammenhang sogar ein vermisstes Kind erwähnt haben. Aber vielleicht täuschte sich Darren auch.

Danach wurde alles ein bisschen verschwommen.

Er schaffte es, erst nach einer Stunde von Bier auf Whiskey umzusteigen, doch die Wirkung setzte rasch ein. Der Schnaps machte Wachs aus seinem Rückgrat; machte alles weicher an den Rändern, ließ ihn das Gerede über das Department vergessen, ihre Geschichten von der Front, von denen Darren keine hatte. Er saß im Augenblick in Houston fest, war in einem Maße gelangweilt, wie er es nicht einmal sich selbst einzugestehen wagte, aus Angst, dass sich hinter dem Wort eine tiefere Wahrheit versteckte, so melancholisch wie die Platte, die lief. Darren war deprimiert und voller Wut, die ihn von innen heraus zerfraß. Täglich wunderte er sich ganz benebelt vor Wut darüber, was eine Handvoll verängstigter Weißer einer Nation antun konnte. Nie mehr wollte er hören, wie sie den Sinn der Ausschreitungen in Ferguson oder Baltimore infrage stellten, und übrigens auch der in Watts und Los Angeles, den Grund, warum Schwarze ihre eigenen Viertel abfackelten – nachdem weiße Wähler gerade in einem Akt blinden Zorns ein Streichholz an das Land selbst gehalten hatten, das sie zu lieben behaupteten, aber nur dann, wenn sie es mit niemandem teilen mussten. Das war der Teil, der wehtat, der Schmerz, der bis ins Mark ging. Nachdem er jahrelang von dem Glauben an eine universelle Neigung zur Gerechtigkeit eingelullt worden war, sah er, wie wenig Freunde und Nachbarn an sein Leben dachten, an sein Anrecht auf dieses Land.

Nach Obama war es Verrat an der Versöhnung.

Binnen Kurzem wurde der dritte Drink eingeschenkt, und als Hector ein paar Bier auf die hintere Veranda stellte und ein Päckchen Marlboro daneben legte, verlagerte sich die Party nach draußen. Patricia saß auf einem der grünen Gartenstühle aus Metall in eine Patchworkdecke gehüllt, die Darrens Großmutter noch vor seiner Geburt gefertigt hatte. Die abgewetzte Baumwolle roch nach den Zedernholzklötzen, mit denen sie den Flurschrank teilte, und der süßliche Duft mischte sich mit dem Pinienduft in der Luft. Es war kühl draußen und stockfinster hinter dem gelblichen Schein der Verandalampe. Roland, der nur außerhalb der Stadtgrenze schlief, wenn es gar nicht anders ging, zuckte jedes Mal zusammen, wenn er eine Eule rufen hörte. Bald schnorrte er Zigaretten von Hector und riskierte es, dass das jemand kommentierte. Buddy erzählte von der Dispatcherin in Corsicana, der er es dreimal die Woche besorgte. Sie kann einen Stein aus einem Pfirsich saugen. Patricia nannte ihn einen widerlichen Mistkerl und warf ihm eine Limettenschale an den Kopf. Ricky war bereits am Einnicken, seine schwarzen Krokodillederstiefel über der Armlehne des kleinen Verandasofas, ein Kissen mit Wasserflecken zusammengefaltet unter dem Kopf. Sie hatten die Hintertür offen gelassen, und der Geruch von Tamales und Barbecue breitete sich in der Nachtluft aus. Darren saß der Wärme des Hauses am nächsten und horchte auf den Timer des Backofens.

Er schenkte sich einen vierten Drink ein und wunderte sich über seine Torheit, tatsächlich zu glauben, dass er sich mit dem braunen Zeug nicht bis obenhin volllaufen lassen würde. Seine Haut war gerötet. Ihm wurde warm unter dem grauen T-Shirt, das er trug. Genau genommen wurde er wütend, wütend auf sich selbst. Sein Verstand gab mit jedem Drink ein Stück Kontrolle ab, und er gestand sich ein, dass er heute Nachmittag mit Frank Vaughn mächtig ins Schleudern geraten war. Der Mann blufft, sagte er sich, ganz bestimmt. Aber wenn Vaughn zu ihm gekommen war, um einfach ins Blaue hinein zu ermitteln, hatte Darren doch heftig genug reagiert, um ihn davon zu überzeugen, dass er an der Sache dranbleiben sollte.

Ausgeschlossen, dass seine Mutter mit dem Bezirksstaatsanwalt reden würde, oder?

Es ergab keinen Sinn, jedenfalls nicht in der Vorstellung von Bell Callis. Es würde ihr das Einzige nehmen, was sie immer gewollt hatte – die Aufmerksamkeit von einem der Mathews, ihren Sohn zu ihren Füßen zu haben. Wer würde sich um ihren Stellplatz und das Abwasserrohr der Toilette kümmern? Falls er ins Gefängnis ging, wer würde ihren Kühlschrank auffüllen und ihre Kabelfernsehrechnung bezahlen? Seine Mutter würde doch nicht absichtlich das Leben ihres einzigen Sohnes zerstören. Oder?

Lightnin’ hatte seine eigenen Ansichten darüber.

You got love just like hydrant … you know that turns it off and on.

Das Zupfen der Gitarre war wie ein Finger, der in Darrens Wunden bohrte.

Lisa wusste nichts von dem Geld.

Sie kannte nicht die ganze Geschichte, keiner tat das.

Wem könnte er sie erzählen, mal im Ernst? Mit schweren Lidern betrachtete er die anderen, die auf seiner Veranda saßen, Patricia mit den bloßen Füßen auf dem Holzgeländer, und alle ziemlich angeschickert. Es wäre so einfach, es jetzt zu erzählen, den Klatsch und Tratsch und die Gespräche über die Arbeit mit einem Geständnis zu unterbrechen. He, Leute, ich bin in Schwierigkeiten. Doch es wäre irgendwie rücksichtlos, ihnen diese Sache aufzubürden, Wissen, zu dem sie sich unter Eid bekennen müssten, falls es je so weit käme. Das Gleiche galt für Greg Heglund, einen seiner besten Freunde, aber auch ein Bundesagent. Darrens Onkel Clayton, ein ehemaliger Strafverteidiger und Professor für Verfassungsrecht, würde darauf bestehen, dass Darren sich einen Anwalt nahm – auch wenn er seinen Impuls, Mack zu beschützen, einen älteren Schwarzen, der beschuldigt wurde, einen miesen Rassistenarsch getötet zu haben, nachempfinden könnte –, aber Darren würde nicht darauf vertrauen, dass sich die Neuigkeiten nicht bis zu seinem Lieutenant in Houston herumsprächen. Wie viele Cops kannte Darren, die davon ausgingen, dass jemand schuldig war, wenn er sich »einen Anwalt nahm«, ein verfassungsmäßiges Recht, das irgendwie anrüchig war wie ein Betrugsdelikt?

Auf einmal wurde ihm bewusst, wie einsam er war, weil er niemanden hatte, mit dem er über den Schlamassel reden konnte, den er angerichtet hatte, über das Geheimnis, das er seit Monaten mit sich herumtrug, über die Tatsache, dass er seine Mutter nicht gut genug kannte, um zu wissen, was sie in solch einer Situation tun würde. Und was Lisa tun würde, wenn er es ihr erzählte. Sie hatten gerade erst wieder zu einem guten Verhältnis gefunden. Wenn sie herausfand, dass er seine Freiheit und ihr gemeinsames Leben für Rutherford McMillan aufs Spiel setzte, würde sie das verstehen oder wäre sie dann fertig mit ihm? Er wusste es ehrlich nicht. Die beiden Frauen in seinem Leben waren Chiffren. Vom Whiskey gelöst driftete sein Geist zu einem ganz anderen Menschen. Randie Winston. Er hatte vergangenen Oktober den Mord an ihrem Mann in Lark aufgeklärt. Er dachte an den Abend, den sie in dieser Spelunke in Garrison verbracht hatten, direkt hinter der County-Grenze von Lark, wo sie sich bei Bourbon und billigem Wodka unterhalten hatten – über seine Ehe und ihre – und er kurz davor gewesen war, sein ganzes Leben offenzulegen. Er erinnerte sich daran, wie Randie beinahe seine Hand auf dem Tisch ergriffen hatte. Er glaubte noch immer, dass er an jenem Abend alles hätte gestehen können.

Sie hatte ihn danach zu erreichen versucht.

Nur eine Nachricht auf seiner Mailbox, in der sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie seinem Rat gefolgt und die Überreste ihres Mannes in der kleinen Stadt in Osttexas begraben hatte, wo er geboren war. Sie hatten recht. Ihr Sinneswandel, Texas nicht mehr zu hassen, sondern den Einfluss auf den Mann, den sie einmal geliebt hatte, anzuerkennen, hatte ihn berührt, tat es noch immer. In seinem betrunkenen Zustand machte ihn der Gedanke daran trübselig. Es war einer seiner stolzesten Augenblicke als Ranger gewesen. Er lachte über eine Geschichte, die Buddy erzählte, obwohl er nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Und dann sagte er sich, dass er wusste, was zu tun war. Heute Nacht.