Der Autor

David Nicholls – Foto © joSon / Gallery Stock

David Nicholls, Jahrgang 1966, ist ausgebildeter Schauspieler, hat sich dann aber für das Schreiben entschieden. Mit seinem Roman Zwei an einem Tag gelang ihm der Durchbruch, seine Romane wurden in vierzig Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit über acht Millionen mal. 2014 wurde sein Roman Drei auf Reisen für den Man Booker Prize nominiert. Auch als Drehbuchautor ist David Nicholls überaus erfolgreich und mehrfach preisgekrönt, zuletzt erhielt er den BAFTA und eine Emmy-Nominierung für Patrick Melrose, seine Adaption der Romane von Edward St Aubyn, die als HBO-Serie Furore machte.

Das Buch

Manches im Leben strahlt so hell, dass es nur aus der Entfernung wirklich gesehen werden kann. Die erste große Liebe ist so eine Sache, die immer noch leuchtet, auch wenn sie längst verglüht ist. Genauso ist es Charlie Lewis ergangen. Nichts an ihm ist besonders. Dann begegnet er Fran Fisher, und seine Welt steht kopf. In den langen, hellen Nächten eines unvergesslichen Sommers macht Charlie die schönsten, peinlichsten und aufregendsten Erfahrungen seines Lebens. Und steht zwanzig Jahre später vor der Frage, ob er sich traut, seine erste große Liebe wiederzutreffen.

David Nicholls

Sweet Sorrow

Weil die erste Liebe unvergesslich ist

Roman

Aus dem Englischen
von Simone Jakob

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter
dem Titel Sweet Sorrow bei Hodder & Stoughton, London.

Deutsche Erstausgabe
© 2019 by David Nicholls
© der deutschsprachigen Ausgabe
2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Favoritbüro GbR Lena Kleiner
Titelabbildung: GettyImages / © ulimi (Gräser), shutterstock / © Cat_arch_angel (Gräser) und shutterstock / © Mrs. Opossum (Schmetterlinge)
Autorenfoto: © joSon / Gallery Stock
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2206-3

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Widmung

Für Hannah, Max und Romy

Motto

Was wir, oder zumindest ich, überzeugt als Erinnerung ausgeben – womit wir einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meinen, die einem Fixierbad ausgesetzt und so vor dem Vergessen bewahrt wurden – , ist in Wirklichkeit eine Form des Geschichtenerzählens, die sich unaufhörlich in unserem Geiste vollzieht und sich noch während des Erzählens verändert. Zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen stehen auf dem Spiel, als dass das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte, und möglicherweise ist es das Werk des Geschichtenerzählers, die Dinge so umzuordnen, dass sie sich diesem Zweck fügen. Wie dem auch sei, wenn wir über die Vergangenheit reden, lügen wir mit jedem Atemzug.

William Maxwell, Also dann bis morgen

Erster Teil: Juni

Es war der Sommer, als sie ganz allein war. Sie gehörte zu keinem Klub noch zu sonst was auf der Welt. Frankie gehörte zu niemandem, trieb sich in der Stadt herum und fürchtete sich.

Carson McCullers, Frankie

Das Ende der Welt

Die Welt würde an einem Donnerstag enden, um fünf vor vier, gleich nach der Disco.

Das Einzige, was bisher annähernd an einen solchen Super-GAU herankam, waren die apokalyptischen Gerüchte, die ein-, zweimal pro Halbjahr an der Merton Grange die Runde machten. Der Anlass war immer ähnlich, nichts Banales wie Sonneneruptionen oder Asteroiden, meist hatte irgendein Klatschblatt über eine Maya-Prophezeiung, eine beiläufige Bemerkung von Nostradamus oder eine mysteriöse kalendarische Parallele berichtet, und innerhalb kürzester Zeit sprach sich herum, dass uns heute, mitten in der Doppelstunde Physik, das Gesicht wegschmelzen würde. Der Lehrer legte angesichts der allgemeinen Hysterie ergeben seufzend eine Pause ein, während wir uns stritten, wessen Uhr am genausten ging; wenn der Countdown begann, klammerten sich die Mädchen mit zugekniffenen Augen und eingezogenem Kopf aneinander, als würden sie gleich mit Eiswasser übergossen, während wir Jungs es cool aussaßen und dabei insgeheim an den verpassten Kuss, die noch nicht beglichene Rechnung, unsere Jungfräulichkeit und die Gesichter unserer Freunde und Eltern dachten. Vier, drei, zwei …

Wir hielten den Atem an.

Dann rief jemand »Bäng«, und wir lachten, erleichtert und ein bisschen enttäuscht, dass unser Leben noch nicht zu Ende war, die Doppelstunde Physik allerdings auch nicht. »Zufrieden? So, und jetzt zurück an die Arbeit«, sagte der Lehrer, und wir wandten uns wieder dem zu, was passiert, wenn man ein Objekt mit einer Kraft von einem Newton einen Meter weit bewegt.

Aber am Donnerstag um 15.55 Uhr, gleich nach der Disco, würde die Welt, wie wir sie kannten, nicht mehr existieren. Fünf lange Jahre war die Zeit nur so dahingekrochen, aber jetzt, in den letzten Wochen und Tagen, lagen Hochstimmung und Panik, Freude und Angst in der Luft, und ein unberechenbarer Nihilismus machte sich breit; blaue Briefe und Nachsitzen konnten uns nichts mehr anhaben, und womit kam man in einer Welt ohne Konsequenzen nicht alles davon? Die Feuerlöscher in den Fluren und den Aufenthaltsräumen kriegten plötzlich ein teuflisches Potenzial. Würde Scott Parker Mrs. Ellis wirklich Kackbratze nennen? Würde Tony Stevens noch einmal den Geisteswissenschaftstrakt abfackeln?

Und dann, unfassbarerweise, war er da, der letzte Tag, begann strahlend schön und sonnig, mit Rangeleien vor dem Schultor, Krawatten, die als Stirn- und Schweißbänder oder in walnuss- bis faustgroßen Knoten getragen wurden, dazu genug Lippenstift, Schmuck und blau gefärbte Haare, dass es für eine futuristische Nachtclub-Szene gereicht hätte. Was sollten die Lehrer machen: uns nach Hause schicken? Seufzend winkten sie uns durch. Da es keinen plausiblen Grund gab, ein Biotop zu definieren, verging die letzte Woche mit halbherzigen, deprimierenden Lektionen über etwas namens »der Ernst des Lebens«, der anscheinend hauptsächlich darin bestehen würde, Formulare auszufüllen und Lebensläufe zu erstellen. Heute lernten wir, wie man über seine Finanzen Buch führt. Wir starrten aus dem Fenster, sahen das traumhafte Wetter und dachten: Jetzt dauert’s nicht mehr lang. Vier, drei, zwei …

In der Pause machten wir uns daran, unsere weißen Schulhemden mit Filzstift- und Edding-Graffiti zu verzieren, saßen im Aufenthaltsraum über die Rücken der anderen gebeugt wie Tätowierer in russischen Gefängnissen und bekritzelten jeden verfügbaren Quadratzentimeter mit sentimentalen Beleidigungen wie Mach’s gut, du Hurensohn. Melde dich, du Wichser, schrieb Paul Fox, Dieses Hemd stinkt, schrieb Chris Lloyd. Mein bester Freund, Martin Harper, schrieb in einer nostalgischen Anwandlung friends4ever unter einen unglaublich detailliert gezeichneten Schwanz mit Eiern.

Harper, Fox und Lloyd. Das waren damals meine besten Freunde, nicht nur irgendwelche Jungs, sondern die Jungs, und auch wenn einige Mädchen – Debbie Warwick, Becky Boyne und Sharon Findlay – unsere Clique umkreisten, blieb sie autark und undurchdringlich. Obwohl keiner von uns ein Instrument spielte, betrachteten wir uns als Band. Harper war, wie allen klar war, Lead-Gitarre und Gesang. Fox war der Bass, ein tiefes, schlichtes Wumm-wumm-wumm. Lloyd, der sich selbst als »völlig durchgeknallt« bezeichnete, war Schlagzeug, und so blieben für mich nur …

»Maracas«, hatte Lloyd gesagt, wir hatten gelacht, und so war »Maracas« auf der langen Liste unserer Spitznamen gelandet. Fox zeichnete sie jetzt auf mein Schulhemd, gekreuzte Rasseln unter einem Schädel, wie ein militärisches Rangabzeichen. Debbie Warwick, deren Mutter Flugbegleiterin war, hatte eine Tüte voller Mini-Likörfläschchen in Praliné-Geschmacksrichtungen wie Kaffeesahne, Minze und Kokosnuss in die Schule geschmuggelt, und wir versteckten sie in der hohlen Hand, tranken hin und wieder einen Schluck, verzogen das Gesicht und prusteten, während Mr Ambrose, die Füße auf das Pult gelegt, den Blick starr auf den Fernsehbildschirm richtete, wo gerade Free Willy 2 lief, eine besondere Belohnung, die niemand beachtete.

Die Likörfläschchen dienten als Aperitif für unser allerletztes Schulessen. Die legendäre Essensschlacht von ’94 war immer noch in aller Munde; unter Schuhsohlen explodierende Ketchuptütchen, panierter Fisch, geworfen wie Ninja­sterne, Backkartoffeln wie Granaten. »Los, trau dich«, sagte Harper zu Fox, der versuchsweise eine ledrige Wurst in der Hand wog, aber die Lehrer patrouillierten in den Gängen wie Gefängniswärter, und mit Verheißungen wie Schokoladenbiskuittorte und Pudding, die noch folgen sollten, ging der gefährliche Moment vorüber.

Bei der Verabschiedung der Schulabgänger hielt Mr Pascoe genau die Rede, die wir erwartet hatten; er ermutigte uns, in die Zukunft zu sehen und gleichzeitig aus der Vergangenheit zu lernen, die Höhen des Lebens zu genießen, aber auch die Tiefen nicht zu scheuen, an uns zu glauben, aber auch an andere zu denken. Das Wichtigste sei jedoch nicht das, was wir gelernt hätten – und wir hatten hoffentlich eine Menge gelernt! – , sondern dass wir zu jungen Erwachsenen herangereift seien, und wir, die jungen Erwachsenen, lauschten, gefangen zwischen Sentimentalität und Zynismus, äußerlich laut und ausgelassen, insgeheim eingeschüchtert und bedrückt. Auch wenn wir höhnisch grinsend die Augen verdrehten, griffen überall in der Aula Hände nach anderen Händen, und als Mr Pascoe uns drängte, die Freundschaften, die wir geschlossen hatten, zu pflegen – Freundschaften, die ein Leben lang halten würden – hörte man ein Schniefen.

»Ein Leben lang? Oh Gott, bloß nicht«, sagte Fox, nahm mich in den Schwitzkasten und rubbelte mir liebevoll mit den Fingerknöcheln über die Haare. Dann war es Zeit für die Preisverleihung, und wir ließen uns tiefer auf unsere Stühle sinken. Die Preise wurden denselben Leuten verliehen wie immer, und der Applaus verebbte lange, bevor sie die Bühne wieder verlassen hatten, um für die Lokalpresse zu posieren, die Büchergutscheine unter das Kinn gehalten wie für Verbrecherfotos. Als Nächstes betrat die Merton Grange School Swing Band unter der Leitung von Mr Solomon, Musik, klappernd und scheppernd die Bühne, um mit einer schiefen, leiernden Version von Glenn Millers In the Mood unseren Durst nach amerikanischen Big-Band-Klängen zu stillen.

»Warum? Warum?«, fragte Lloyd.

»Um uns in Stimmung zu bringen«, sagte Fox.

»Was für ’ne Stimmung?«, fragte ich.

»Eine Scheißstimmung«, sagte Lloyd.

»›Rhapsodie in Braun‹ vom Glenn Miller Orchestra«, sagte Fox.

»Kein Wunder, dass der Typ sein Flugzeug geschrottet hat«, sagte Harper, und als die Kakofonie auf der Bühne zu Ende ging, sprangen Harper, Fox und Lloyd auf und jubelten: Bravo, bravo! Auf der Bühne hielt Gordon Gilbert mit irrem Blick seine Posaune mit beiden Händen fest, dann schleuderte er sie mit aller Kraft in Richtung Decke, wo sie einen Augenblick in der Luft zu schweben schien, bevor sie mit einem ohrenbetäubenden Scheppern auf dem Parkett aufschlug und sich wie Blech zusammenfaltete, und während Mr Solomon Gordon noch ins Gesicht schrie, schlurften wir nach draußen – zu unserer Disco.


Mir ist bewusst, wie abwesend ich in dieser Geschichte bin. Ich erinnere mich zwar noch ziemlich genau an die Ereignisse dieses Tages, aber wenn ich zu erzählen versuche, welche Rolle ich darin gespielt habe, greife ich instinktiv auf das zurück, was ich gesehen und gehört habe, nicht auf das, was ich getan habe. Als Schüler war meine Haupteigenschaft mein Mangel an Eigenschaften. »Charlie ist sehr bemüht, die Mindestanforderungen zu erfüllen, und meist gelingt es ihm auch« – besser wurde es nicht, und selbst dieser Ruf wurde von dem überschattet, was während der Prüfungszeit passiert war. Ich wurde weder bewundert noch verachtet, weder angehimmelt noch gefürchtet, war niemand, der andere mobbte, und obwohl ich etliche Mobber kannte, mischte ich mich nie ein oder stellte mich zwischen sie und ihr Opfer, denn mutig war ich auch nicht. Unsere Stufe enthielt viele kriminelle Elemente, Fahrraddiebe, Ladendiebe und Pyromanen, und obwohl ich mich von den übelsten Typen fernhielt, war ich auch nicht mit den intelligenten, braven Leuten befreundet, die sich Büchergutscheine unters Kinn hielten. Ich war weder angepasst noch rebellisch, weder engagiert noch widerspenstig, und wenn es Ärger gab, hielt ich mich raus. Witze waren unsere Hauptwährung, und auch wenn ich kein Klassenclown war, hatte ich durchaus so was wie Humor. Manchmal erntete ich einen überraschten Lacher in der Klasse, aber meine besten Witze wurden meist entweder von jemandem mit lauterer Stimme übertönt, oder sie kamen zu spät, sodass mir selbst heute, über zwanzig Jahre später, noch manchmal Dinge einfallen, die ich ’96 oder ’97 hätte sagen sollen. Ich war nicht hässlich – das hätte mir jemand gesagt – und war mir vage bewusst, dass Gruppen von Mädchen in meiner Nähe kicherten und flüsterten, aber was nützte es jemandem wie mir, der keine Ahnung hatte, was man sagen soll? Ich hatte die Größe, und nur die Größe, von meinem Vater geerbt, die Augen, Nase, Zähne und den Mund dagegen von meiner Mutter, was, wie Dad sagte, genau so war, wie es sein sollte, aber ich hatte von ihm auch die Gewohnheit übernommen, die Schultern einzuziehen, um mich der Durchschnittsgröße anzupassen. Dank irgendeines hormonellen Glücksfalls waren mir die leuchtend roten Pickel und Pusteln erspart geblieben, die so viele Teenager in meinem Alter buchstäblich fürs Leben zeichneten; ich war weder dünn vor Nervosität, noch wurde ich dick von den Chips und den Dosenlimos, die unsere Hauptnahrungsquelle bildeten, trotzdem war ich nicht selbstbewusst, was mein Äußeres anging. Oder irgendwas anderes.

Alle anderen um mich herum feilten mit derselben Zielstrebigkeit an ihrer Persönlichkeit, mit der sie sich etwas zum Anziehen oder einen Haarschnitt aussuchten. Wir waren noch formbar, jetzt war die Zeit, herumzuexperimentieren, unsere Handschrift, unsere politischen Einstellungen, unsere Art, zu lachen, zu gehen oder uns hinzusetzen, zu verändern, bevor wir aushärteten und uns endgültig festlegten. Die letzten fünf Jahre waren wie eine einzige große chaotische Generalprobe gewesen, bei der Kostüme, Haltungen, Freundschaften und Meinungen ausprobiert und ausgewählt oder aussortiert wurden und auf dem Boden landeten; beängstigend und aufregend für die, die daran teilnahmen, unerträglich und absurd für die Eltern und Lehrer, die gezwungen waren, diese nervenaufreibenden Improvisationen mit anzusehen und am Ende das Chaos zu beseitigen.

Bald war es Zeit, sich für eine Rolle zu entscheiden, die wir einigermaßen überzeugend verkörpern konnten, aber wenn ich versuchte, mich so zu sehen wie die anderen (manchmal buchstäblich, spät in der Nacht, wenn ich, die Haare zurückgegelt, forschend in den Rasierspiegel meines Vaters starrte), dann sah ich – nichts Besonderes. Auf Fotos von mir aus jener Zeit erinnere ich an frühe Inkarnationen von Comicfiguren, Prototypen, die der Endversion zwar ähneln, aber irgendwie unproportioniert, noch unfertig aussehen.

Nichts davon ist besonders hilfreich, um mich zu beschreiben. Man stelle sich also ein Foto vor, eins dieser Gruppenbilder von der gesamten Schule, die jeder hat, Gesichter, die zu klein sind, um etwas zu erkennen, es sei denn, man hält sie sich direkt vor die Nase. Egal, ob man zehn oder fünfzig ist, es gibt darauf immer jemanden in der mittleren Reihe, der einem vage bekannt vorkommt und zu dem einem keine Anekdoten, Skandale oder Triumphe einfallen, und man fragt sich: Wer ist das noch gleich?

Das bin ich, Charlie Lewis.

Sägemehl

Die Schulabgänger-Disco stand in dem Ruf, römische Ausmaße von Dekadenz zu erreichen, die nur noch von den Biologie-Exkursionen übertroffen wurden. Unsere Arena war die Turnhalle, die so groß war, dass darin bequem ein Passagierflugzeug Platz gefunden hätte. Um eine Illusion von Gemütlichkeit zu erzeugen, waren uralte Wimpel zwischen den Sprossenwänden aufgespannt worden, und eine Discokugel hing von einer Kette herab wie ein mittelalterlicher Morgenstern, trotzdem wirkte die Halle leer und kahl, und bei den ersten drei Liedern blieben wir auf den Bänken sitzen und beäugten uns über das verkratzte, staubige Parkett hinweg wie verfeindete Lager auf einem Schlachtfeld, während wir die letzten von Debbie Warwicks Likörfläschchen herumreichten und uns Mut antranken, bis nur noch Cointreau übrig war, und Cointreau war eine Grenze, die keiner von uns zu überschreiten wagte. Mr Dalton, Erdkunde, gab den DJ und wechselte verzweifelt von I Will Survive über Baggy Trousers zu Relax, bis Mr Pascoe ihn bat, es langsam ausklingen zu lassen. Noch eine Stunde und fünfzehn Minuten. Wir verschwendeten Zeit …

Aber dann kam Blurs Girls and Boys, und als wäre das das Signal zum Ausbruch, stürmten plötzlich alle auf die Tanzfläche, tanzten wild durcheinander und blieben dort, um auch bei den folgenden Pophymnen mitzusingen. Mr Hepburn hatte ein Stroboskoplicht angemietet, das er jetzt mit zügelloser Missachtung der Gefahr für Leib und Leben einsetzte. Wir starrten fasziniert unsere Hände an, saugten die Wangen ein und bissen uns auf die Unterlippe, wie die Raver, die wir im Fernsehen gesehen hatten, reckten die Fäuste in die Luft und stampften, bis unsere Hemden klatschnass waren. Ich sah, wie das »friends4ever« auf meinem Hemd zu verlaufen drohte, und in einer plötzlichen sentimentalen Anwandlung für das Erinnerungsstück bahnte ich mir einen Weg zurück zu der Bank, an der ich meine Tasche abgestellt hatte, schnappte mir meine alten Sportsachen, schnüffelte daran, um mich zu vergewissern, dass sie noch einigermaßen im grünen Bereich waren, und ging in die Jungenumkleide.

Wenn es, wie in Horrorfilmen, tatsächlich so ist, dass die Mauern und das Fundament eines Gebäudes die Gedanken und Gefühle derjenigen absorbieren, die sich darin aufhalten, hatte diese Umkleide dringend einen Exorzismus nötig, denn hier waren schreckliche Dinge geschehen. In einer Ecke lag ein Haufen übelriechender Fundsachen – vergammelte Handtücher, unaussprechliche Socken, uralt und komprimiert wie Torfmoor –, in dem wir mal Colin Smart begraben hatten, und da drüben hatte man Paul Bunce so brutal die Unterhose hochgezogen, dass er in die Notaufnahme gemusst hatte. Dieser Ort war wie ein MMA-Kampfkäfig, in dem kein Tiefschlag, egal ob körperlich oder verbal, verboten war, und als ich mich zum letzten Mal auf die Bank setzte, wobei ich sorgfältig darauf achtete, mich zwischen die Garderobenhaken zu setzen, die schon zu viele Opfer gefordert hatten, überkam mich plötzlich eine sagenhafte Traurigkeit. Vielleicht war es nur ein Anfall von Nostalgie, aber das glaubte ich nicht; nostalgische Gefühle für Federmäppchen voller Flüssigseife und das Klatschen nasser Handtücher? Wahrscheinlich war es eher Bedauern über die Dinge, die nicht passiert waren, Transformationen, die nicht stattgefunden hatten. Eine Raupe spinnt sich in einen Kokon ein, und in der schützenden Schale verformen sich Zellwände, Moleküle wirbeln durcheinander, organisieren sich neu, und wenn der Kokon aufplatzt, kommt eine noch größere, haarigere Raupe zum Vorschein, die nicht mehr ganz so zuversichtlich in die Zukunft blickt.

Ich war in letzter Zeit ziemlich anfällig für solche grüblerischen Anwandlungen und schüttelte jetzt den Kopf, um sie buchstäblich abzuschütteln. Der ganze Sommer lag noch vor mir; sollte es in dieser Zeit zwischen Bedauern über die Vergangenheit und Angst vor der Zukunft nicht möglich sein, ein bisschen Spaß zu haben, das Leben zu genießen, etwas zu erleben? Alle meine Freunde waren nebenan und tanzten sich die Seele aus dem Leib. Rasch zog ich mir das alte T-Shirt über den Kopf, warf einen flüchtigen Blick auf die Sprüche auf meinem Schulhemd und entdeckte, ganz unten am Saum, die Worte:

Wegen dir hab ich geheult

Ich faltete das Hemd sorgfältig zusammen und packte es in meine Tasche.

In der Turnhalle hatte Mr Hepburn mittlerweile Jump Around aufgelegt, und auf der Tanzfläche ging es jetzt wilder und aggressiver zu, die Jungs warfen sich gegeneinander, als wollten sie eine Tür aufbrechen. »Mein Gott, Charlie«, sagte Miss Butcher, Theater-AG, »das alles ist so unglaublich emotional!« Den ganzen Tag über hatten sich die vertrauten Leidenschaften – Bosheit und Sentimentalität, Liebe und Lust – auf ein Maß hochgeschaukelt, das auf Dauer nicht haltbar war. Die Luft schwirrte förmlich, und in dem Versuch, allem zu entkommen, stieg ich auf das Klettergerüst, quetschte mich zwischen die Sprossen und dachte über diese fünf schnell, aber ordentlich und zielstrebig hingeschriebenen Wörter nach. Ich versuchte mich an ein Gesicht zu erinnern, es unter all den anderen Gesichtern in der Turnhalle auszumachen, aber es war wie bei einem dieser Krimis, in denen jeder ein Motiv hat.

Ein neuer Trend war entstanden: Jungs nahmen andere Jungs huckepack und rammten sich mit voller Wucht, wie bei einem Ritterturnier. Selbst über die Musik hinweg hörte man Körper auf dem Parkett aufschlagen. Eine wüste Schlägerei war im Gange, in einer Hand blitzte ein Schlüssel auf, und Mr Hepburn legte die Spice Girls auf, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, eine Art musikalischer Wasserwerfer für die Jungs, die sich an den Rand zurückzogen und deren Plätze von den Mädchen eingenommen wurden, die herumhüpften und mit den Fingern wackelten. Miss Butcher löste Mr Hepburn am Mischpult ab. Ich sah, wie er mir zuwinkte, über die Tanzfläche eilte und dabei ständig nach links und rechts schaute, als würde er eine Autobahn überqueren.

»Und, Charlie? Wie findest du’s?«

»Sie haben Ihre Berufung verfehlt, Sir.«

»Pech für das Nachtleben, Glück für die Geografie«, sagte er und quetschte sich neben mich zwischen die Sprossen. »Nenn mich Adam. Wir sind jetzt beide Zivilisten, oder zumindest in, na ja, sagen wir, einer halben Stunde? In einer halben Stunde kannst du mich nennen, was du willst!«

Ich mochte Mr Hepburn und bewunderte seine Hartnäckigkeit angesichts der lautstarken Gleichgültigkeit. Nichts für ungut, Sir, aber wozu das alles? Unter all den Lehrern, die sich darum bemühten, war ihm am ehesten der Balanceakt gelungen, anständig zu wirken, ohne sich anzubiedern, immer wieder hatte er dunkle Andeutungen über »wilde Wochenenden« oder Lehrerzimmer-Intrigen fallen lassen und gerade genug kleine Akte der Rebellion – eine schief gebundene Krawatte, ein Dreitagebart, ungekämmte Haare – an den Tag gelegt, um glaubhaft zu machen, dass er auf unserer Seite war. Manchmal fluchte er sogar, warf Schimpfwörter unters Volk wie Süßigkeiten.

Trotzdem gab es keine Welt, in der ich ihn Adam nennen würde.

»Und – freust du dich aufs College?«, fragte er. Anscheinend wollte er mir eine motivierende Rede halten.

»Ich glaub, das wird nichts, Sir.«

»Das weißt du doch noch gar nicht. Du hast dich doch beworben, oder?«

Ich nickte. »Kunst, Informatik und Grafikdesign.«

»Großartig.«

»Meine Noten sind nicht gut genug.«

»Das ist doch noch gar nicht raus.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, Sir. Ich war doch die Hälfte der Zeit nicht da.«

Er wollte mir mit der Faust aufs Knie klopfen, überlegte es sich jedoch anders. »Tja, falls nicht, gibt es andere Möglichkeiten. Wiederholen, was Unkonventionelleres tun. Ein Junge wie du, mit so vielen Talenten …« Ich zehrte immer noch von dem Lob, mit dem er vor Jahren mein Vulkan-Projekt überschüttet hatte, als wäre es das Nonplusultra in Sachen Vulkanquerschnitten gewesen, als hätte ich irgendeine fundamentale Wahrheit entdeckt, nach der die Vulkanologie jahrhundertelang gesucht hatte. Aber das Wort »Talent« war in dem Zusammenhang wohl doch zu hoch gegriffen.

»Nein, ich besorge mir einen Vollzeitjob, Sir. Ich gebe mir noch bis September, dann …«

»Ich erinnere mich immer noch an deine Vulkanquerschnitte. Deine Kreuzschraffur war wirklich ein Meisterwerk.«

Unerwarteter- und beschämenderweise merkte ich, dass mir die Tränen kamen. »Lange her, das mit den Vulkanen«, sagte ich achselzuckend. Sollte ich die Sprossenwand weiter hochklettern, um ihm zu entkommen?

»Aber vielleicht hilft dir das irgendwie weiter.«

»Vulkane?«

»Das Zeichnen, Grafik und so. Wenn du mit mir darüber reden willst, sobald deine Noten feststehen …«

… oder ihn runterschubsen? War ja nicht allzu tief.

»Ich komm schon klar.«

»Na schön, Chaz, aber ich verrate dir jetzt ein Geheimnis …« Er beugte sich zu mir herüber, und ich konnte seine leichte Bierfahne riechen. »Also: Ist alles scheißegal. Das, was jetzt passiert, spielt später überhaupt keine Rolle. Ich meine, irgendwie schon, aber nicht in dem Maß, wie man glauben würde, und du bist noch jung, so jung. Du kannst aufs College gehen, jetzt oder auch später, wenn du dazu bereit bist, aber du hast so unglaublich. Viel. Zeit. Mann …« Versonnen schmiegte er die Wange an eine Sprosse. »Wenn ich eines Morgens aufwachen würde und wieder sechzehn wäre …«

Und gerade als ich mich von der Sprossenwand stürzen wollte, fand Miss Butcher den Knopf für das Stroboskop und hielt ihn einen langen, langen Moment gedrückt, bis plötzlich jemand aufschrie, ein Strudel in der wogenden Menge entstand und sich im zuckenden Licht zu den Klängen von MMMBop ein panischer Kreis um Debbie Warwick bildete; sie würgte, und ein Schwall magnesiumweißer Kotze quoll ihr aus dem Mund, die in einer rasenden Reihe von Momentaufnahmen wie in einem höllischen Stop-Motion-Film über Schuhe und nackte Beine spritzte, und die Hand, die sie sich auf den Mund presste, ließ den Strahl noch höher sprudeln, als würde man einen Finger auf einen Wasserschlauch pressen, bis sie schließlich zusammengekrümmt und allein in einem Kreis aus lachenden, kreischenden Teenagern zurückblieb. Erst jetzt nahm Miss Butcher den Finger vom Knopf, bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die Menge und strich Debbie beruhigend mit den Fingerspitzen der ausgestreckten Hand über den Rücken.

»Hier geht’s zu wie im Studio 54«, sagte Mr Hepburn und sprang von der Sprossenwand. »Stroboskop-Überdosis.« Die Musik verstummte, während die Jugendlichen sich mit rauen Papierhandtüchern die Beine abwischten und Parky, der Hausmeister, Sägemehl und Desinfektionsmittel holte. »Noch zwanzig Minuten, Ladys und Gentlemen«, sagte Mr Hepburn, der an den Plattenteller zurückgekehrt war. »Das bedeutet, es ist Zeit für etwas Langsameres …«

Langsamere Lieder boten Gelegenheit zu schulisch sanktioniertem Steh-Petting. Die ersten Akkorde von 2 Become 1 hatten die Tanzfläche leer gefegt, aber jetzt fand am Rand der Tanzfläche eine Reihe von hektischen Verhandlungen statt, als, dank einer freundlichen Spende des Chemielaboranten, eine kleine Menge Trockeneis zum Einsatz kam, eine Tarnvorrichtung, die bis auf Hüfthöhe anstieg. Sally Taylor und Tim Morris wateten als Erste durch den Nebel, gefolgt von Sharon Findlay und Patrick Rogers, den Sexpionieren der Schule, deren Hände ständig tief in der Hose des anderen vergraben waren, als wollten sie Lose ziehen, dann sprangen Lisa »The Body« Boden und Mark Solomon, Stephen »Shanksy« Shanks und »Queen« Alison Quinn leichtfüßig über das Sägemehl.

Aber sie alle waren in unseren Augen alte Ehepaare. Wir brauchten einen neuen Kick. Aus einer entfernten Ecke hörte man anfeuernde Schreie, als der kleine Colin Smart Patricia Gibsons Hand nahm, und ein Korridor bildete sich, als sie halb ins Licht gestoßen, halb gezerrt wurde und mit der freien Hand ihr Gesicht schützte wie eine Angeklagte vor einem Gerichtsprozess. Überall in der Halle begannen Jungen und Mädchen mit Kamikaze-Aufforderungen, die mal angenommen, mal abgelehnt wurden, und die Verschmähten lächelten verkrampft, während die Umstehenden höhnisch Beifall klatschten.

»Ich hasse diesen Teil, und du?«

Helen Beavis hatte sich zu mir gesellt, ein großes, kräftiges Mädchen mit künstlerischen Ambitionen und eine preisgekrönte Hockeyspielerin, die manchmal auch »der Maurer« genannt wurde, wenn auch nicht in ihrer Gegenwart. »Sieh dir das an«, sagte sie. »Lisa versucht, Mark Solomon die Zunge in den Hals zu schieben.«

»Ich wette, er hat das Kaugummi noch im Mund …«

»Vielleicht schieben sie ihn hin und her. Kleines Tischtennismatch. Pock-pock-pock …«

Helen und ich hatten ein paar vorsichtige Versuche unternommen, Freundschaft zu schließen, aber es war nie was daraus geworden. Im Kunsttrakt gehörte sie zu den coolen Leuten, die große, abstrakte Gemälde mit Titeln wie »Sektoren« malten und die immer was im Tonbrennofen stehen hatten. Wenn es bei Kunst um Emotion und Selbstausdruck ging, dann war ich höchstens ein geschickter Zeichner – detaillierte, stark schraffierte Skizzen von Zombies, Weltraumpiraten und Totenschädeln, alle mit nur einem Auge, eine aus Computerspielen, Comics, Sci-Fi und Horror entlehnte Symbolik, die Art von detaillierten gewaltaffinen Bildern, die bei Schulpsychologen die Alarmglocken losschrillen lassen. »Eins muss man dir lassen, Lewis«, hatte Helen mal ironisch gesagt, als sie einen meiner intergalaktischen Söldner auf Armeslänge von sich hielt, »du kannst echt männliche Torsos zeichnen. Und Capes. Man stelle sich vor, was du erst zustande bringst, wenn du mal was Echtes zeichnest.«

Ich hatte nicht geantwortet. Helen Beavis war zu clever für mich, und das auf eine unprätentiöse, persönliche Art, die keine Büchergutscheine zur Bestätigung brauchte. Sie war auch witzig, murmelte ihre besten Jokes allerdings nur halblaut vor sich hin, zu ihrer privaten Belustigung. Sie benutzte mehr Wörter als nötig, wobei sie jedes zweite ironisch betonte, sodass ich nie ganz sicher war, ob sie etwas wörtlich meinte oder das Gegenteil. Das mit den Wörtern war schon knifflig genug, wenn sie nur eine Bedeutung hatten, und unsere Freundschaft scheiterte vor allem daran, dass ich nicht mit ihr mithalten konnte.

»Weißt du, was wir in dieser Turnhalle dringend bräuchten? Aschenbecher. Ausziehbare Aschenbecher am Ende jeder Sprosse. Hey, dürfen wir schon rauchen?«

»Erst in … zwanzig Minuten.«

Wie alle unsere besten Sportler war Helen Beavis eingefleischte Raucherin und zündete sich schon am Tor eine an, und ihre Marlboro Menthol hüpfte auf und ab wie Popeyes Pfeife, wenn sie lachte; einmal hatte ich gesehen, wie sie sich ein Nasenloch zugehalten und fast vier Meter weit über eine Ligusterhecke gerotzt hatte. Sie hatte so ziemlich den hässlichsten Haarschnitt, den ich je gesehen hatte: oben stachelig, hinten lang und strähnig und an den Seiten zwei spitz zulaufende Koteletten, die aussahen wie mit Kugelschreiber aufgemalt. In der komplizierten Algebra des Oberstufen-Aufenthaltsraums waren eine schreckliche Frisur plus künstlerische Ambitionen plus Hockey plus unrasierte Beine gleich Lesbe, für uns Jungs damals ein überaus machtvolles Wort, das ein eigentlich interessantes Mädchen komplett uninteressant machen konnte. Es gab zwei – und nur zwei – Arten von Lesben, und Helen war nicht die Art, die man in Martin Harpers Männermagazinen fand, und so beachteten die Jungs sie kaum, was ihr aber vermutlich nicht den Schlaf raubte. Trotzdem mochte ich sie und versuchte sie zu beeindrucken, was meist damit endete, dass sie langsam den Kopf schüttelte.

Jetzt endlich kam die Discokugel zum Einsatz und verwandelte die Turnhalle in ein Planetarium. »Ah. Wie magisch«, sagte Helen und deutete mit einem Nicken auf die sich langsam drehenden Tanzpaare. »Immer im Uhrzeigersinn, ist dir das aufgefallen?«

»In Australien drehen sie sich andersrum.«

»Und auf dem Äquator stehen sie einfach da. Sehr verlegen.« 2 Become 1 ging in das kitschig-süßliche Greatest Love of All von Whitney Houston über. »Ach du Schande«, sagte Helen und lockerte ihre Schultern. »Ich hoffe für uns alle, dass Kinder nicht unsere Zukunft sind.«

»Ich glaube nicht, dass Whitney Houston dabei die Schüler dieser Schule im Kopf hatte.«

»Nee, vermutlich nicht.«

»Und die zweite Sache, die ich an diesem Song nie kapiert hab: Learning to love yourself, it is the greatest love of all – ich meine, wieso soll Selbstliebe die größte Liebe sein?«

»Es wär logischer, wenn sie statt ›love‹ ›loathe‹ singen würde.« Wir lauschten.

»Learning to loathe yourself …«

»… is the greatest loathe of all. Der größte Hass überhaupt. Ja, klingt gleich viel machbarer. Und das Beste ist, das funktioniert bei praktisch jedem Liebeslied.«

»She loathes you …«

»Genau.«

»Danke, Helen. Jetzt ergibt alles einen Sinn.«

»Gern geschehen.« Wir wandten uns wieder der Tanzfläche zu. »Trish sieht überglücklich aus«, sagte sie, und wir beobachteten Patricia Gibson, die immer noch mit der Hand ihr Gesicht schützte, und versuchte, gleichzeitig zu tanzen und zurückzuweichen. »Colin Smarts Hose ist an komischen Stellen ausgebeult. Seltsamer Ort, um sein Geodreieck aufzubewahren. Boing!« Helen tat, als würde sie eine Gitarrensaite zupfen. »Ist mir auch mal passiert. Bei der Weihnachtsdisco der Methodisten, mit jemandem, dessen Namen ich aus rechtlichen Gründen nicht nennen darf. War nicht schön. Als würde einen die Ecke eines Schuhkartons in die Hüfte piksen.«

»Jungs haben wohl mehr davon als Mädchen.«

»Dann reibt es doch an einem Baum oder so. Es ist einfach unhöflich. Tu sowas nicht, Charles.« Andernorts suchten Hände Pobacken, blieben schlaff und ängstlich darauf liegen oder kneteten das Fleisch wie Pizzateig. »Mann, das ist echt ein unappetitliches Spektakel. Und das sage ich nicht nur wegen meines vielgepriesenen Lesbianismus.« Ich rutschte unruhig auf meiner Sprosse herum. So viel Offenheit und Direktheit war ich nicht gewohnt. Am besten ignorieren. Dann, nach einer kurzen Pause:

»Und, hast du Lust zu tanzen?«, fragte sie.

Ich runzelte die Stirn. »Och, nö. Keine Lust.«

»Ja, geht mir genauso«, sagte sie. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Aber wenn du jemand anders fragen willst …«

»Nein, wirklich, keine Lust.«

»Kein heimlicher Schwarm, Charlie Lewis? Nichts, was du dir in diesen letzten Augenblicken von der Seele reden willst?«

»Ich hab … damit einfach nichts am Hut. Und du?«

»Ich? Nee, ich bin eine Maschine. Dieser ganze …« Sie deutete mit dem Kopf auf die Tanzfläche. »Das ist kein Trockeneisnebel, das sind tieffliegende Hormone. Riech mal. Liebe ist wie …« Wir schnüffelten. »Cointreau und Desinfektionsmittel.«

Eine Rückkoppelung, dann Mr Hepburns dröhnende Stimme, zu nah am Mikro. »Letzter Song, Ladys und Gentlemen, der allerletzte Song! Ich will euch alle mit jemandem tanzen sehen – nur Mut, Leute!« Careless Whisper ertönte, und Helen deutete auf eine Gruppe, aus der sich ein Mädchen löste. Emily Joyce kam auf uns zu und fing an zu reden, noch ehe sie nah genug war, dass wir sie verstehen konnten.

»…«

»Was?«

»…«

»Ich kann dich nicht hören.«

»Hi! Ich wollte nur Hi sagen, mehr nicht.«

»Hallo, Emily.«

»Helen.«

»Hallo, Emily.«

»Was macht ihr?«

»Wir spannen«, sagte Helen.

»Was?«

»Wir schauen zu«, sagte ich.

»Hast du gesehen, wie Mark Lisa die Hand unter den Rock geschoben hat?«

»Nein, das haben wir leider verpasst«, sagte Helen. »Aber wir haben sie knutschen sehen. Was für ein Anblick. Hast du schon mal gesehen, wie ein Netzpython ein Pinselohrschwein frisst, Emily? Anscheinend haken sie ihren Unterkiefer aus, bis ganz nach hinten …«

Emily sah Helen mit schmalen Augen an. »Was

»Ich sagte, hast du je gesehen, wie ein Netzpython ein …«

»Also, willst du jetzt tanzen oder nicht?«, fuhr Emily mich ungeduldig an und pikste mir mit spitzem Zeigefinger gegen die Kniescheibe.

»Kümmert euch nicht um mich«, sagte Helen.

Ich glaube, ich habe die Wangen aufgepustet und dann die Luft entweichen lassen. »Na schön«, sagte ich und sprang von der Sprossenwand.

»Passt auf, dass ihr nicht auf der Kotze ausrutscht, ihr Turteltäubchen«, sagte Helen, als wir die Tanzfläche betraten.