Hans Bemmann
Band 1:
Die beschädigte Göttin
Hans Bemmann, geboren 1922 in Groitzsch bei Leipzig, begann 1940 sein Medizinstudium, das er abbrechen musste, als er 1941 zum Kriegsdienst einberufen wurde. Nach Kriegsende nahm er das Studium der Musikwissenschaft und der Germanistik in Innsbruck auf. Ab 1954 war er Lektor beim Österreichischen Borromäuswerk. Diese Tätigkeit setzte er 1956 in Bonn fort. Zusätzlich war er von 1971 bis 1983 Dozent für das Fach Deutsch an der Pädagogischen Hochschule Bonn. Sein größter Erfolg, Stein und Flöte, machte ihn beinahe über Nacht bekannt und gilt heute mit weltweit über 500 000 verkauften Exemplaren als Kultbuch der fantastischen Literatur. Hans Bemmann verstarb im April 2003 in Bonn.
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Hans Bemmann. Die Verzauberten. Band 1: Die beschädigte Göttin. Roman
Die Verzauberten-Trilogie besteht aus folgenden Bänden:
Band 1: Die beschädigte Göttin
Band 2: Die Gärten der Löwin
Band 3: Massimo Battisti
Copyright © 2019 by Nachlass Hans Bemmann
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Covergestaltung: Joachim Luetke (www.luetke.com) unter Verwendung eines Motivs von /shutterstock.com
Überarbeitete Neuausgabe © 2019 by hockebooks gmbh
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.
Die Originalausgabe ist 1990 in der Edition Weitbrecht in K. Thienemanns Verlag, Stuttgart, erschienen.
ISBN: 978-3-95751-299-4
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Damals, als die Figur plötzlich vom Licht der Scheinwerfer erfasst wurde und mich aus dem dunklen Gebüsch ihres Hintergrunds geradezu ansprang, damals meinte ich noch, ihre Bedeutung zu kennen. Damals besaß ich ja noch diese mir heute schon unbegreifliche Sicherheit, die dich anfangs so irritiert hat und die mir erst während all der Verwandlungen und Irrwege im Verlauf meiner Wanderung auf deiner Spur abhandengekommen ist.
Ich hatte am Bahnhof ein Taxi genommen und dem Fahrer die Tagungsstätte genannt, in der ich am nächsten Morgen den dort versammelten Märchenfreunden meine Vorstellungen zum gegenwärtigen Gebrauchswert solcher aus nebulösen Ursprüngen überkommener, in den sich zunehmend aufgeklärter gebärdenden Zeitläufen auf vielerlei Weise verachteter oder missdeuteter und neuerdings wieder in Mode gekommener Texte vortragen sollte. Damals war ich mir meiner Sache sicher, so unangemessen sicher, dass mir heute bei dem Gedanken daran die Schamröte die Ohren färbt. Du kennst ja auch meine gelegentlichen Fluchtbewegungen in die Bereiche des Wohlgeordneten. Ja, ich hatte mein Auftreten sorgfältig vorbereitet; denn ich wusste nur zu genau, was für einen jungen, nicht eben ehrgeizlosen Wissenschaftler davon abhängt, wie er sich in einem Kreis illustrer Kenner zum ersten Mal präsentiert. Jedenfalls trug ich ein ausgefeiltes, durch mannigfache Zitate abgesichertes Referat in der Tasche und dachte nicht einmal im Traume daran, dass mich etwas oder gar jemand aus dem Konzept bringen könnte.
Auf eine schon lächerliche Weise mit mir selbst zufrieden, lehnte ich mich in den Fond des Wagens zurück, blickte hinaus auf die säuberlich restaurierten alten Bürgerhäuser der mir bislang unbekannten Stadt und fühlte Sympathie zu jenen Restauratoren, denen es so vorzüglich gelungen war, die in der sich herabsenkenden Dämmerung bereits hell beleuchteten Schaufenster der Ladengeschäfte in frisch abgeputzte, von gestuften Renaissancegiebeln bekrönte Fassaden einzupassen. Ein Groteskenfries des 16. Jahrhunderts mit wohlbeleibten, durch das Rankenwerk taumelnden Amoretten als Einfassung blitzenden Verbundglases. Ob der Fries echt war? Wohl eher eine gekonnte Nachahmung oder Weiterführung nach dem Vorbild erhaltener Reste, denn die Fenster dürften seinerzeit beträchtlich schmaler dimensioniert gewesen sein. Aber immerhin: Ich fühlte nicht nur Sympathie, sondern obendrein auch noch so etwas wie Verwandtschaft zwischen der Tätigkeit dieser kreativen Restauratoren und meinem eigenen Vorhaben, die aus der kulturellen Ursuppe archaischer Gesellschaften in unser Säkulum herübergeschwappten Märchengeschichten auf eine neue, dem gegenwärtigen Zeitgefühl angemessene Weise in Gebrauch zu nehmen.
Mein Taxi hatte den Altstadtkern schon verlassen, bog nach rechts von der Hauptstraße ab, durchfuhr eine wogenartig aufbrandende barocke Toranlage und gelangte in ein weitläufiges Parkgelände. Die Scheinwerfer streiften über Gebüsch, erfassten im Weiterschwenken hohe Baumgruppen, ließen für wenige Augenblicke die spiegelnde Fläche eines Teichs aufblitzen, und als der Fahrweg scharf nach links abbog, sprang dieser Torso aus schneeweißem Marmor ins Gesichtsfeld, trat mir geradezu in den Weg und ließ mein Herz für einen Schlag aussetzen.
»Halt!«, schrie ich.
Der Fahrer trat dermaßen kräftig auf die Bremse, dass der Wagen fast ins Schleudern geriet und dicht an der Bordsteinkante nicht weit von der Figur stehen blieb. Der Körper einer Frau, so viel war noch zu erkennen. Die fast unverletzte Rundung der Brüste, die geschwungene Kontur der Hüften, vor der Scham die Reste eines gefältelten Schleiers, gehalten von einer Hand, deren verbergende Geste unaufhebbar schien; denn der zugehörige Arm war wie der andere und auch die Beine abgeschlagen. Die Schultern endeten in Stümpfen, die einstige Bewegtheit andeuteten, und wo darüber ein Gesicht mich hätte anblicken sollen, sah ich nur die durch Schläge zerstörte Oberfläche des leicht nach links geneigten Kopfes. Das alles erfasste ich mit einem Blick, starrte es weiß der Himmel wie lange an, erregt von der noch immer erahnbaren Schönheit dieses Körpers und zugleich voller Entsetzen angesichts seiner brutalen Zerstörung.
Der Taxifahrer war so erschrocken, dass er eine Weile regungslos dasaß und nichts sagte. Dann drehte er sich um. »Ist was passiert?«
Ich schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dieser nächtlichen Erscheinung lösen zu können.
»Ah so«, sagte er da beruhigt. »Ein Freund von Altertümchen. Oder von plastischen Formen? Ist ja ziemlich kaputt, die Dame, aber noch alles dran, was bei einer Frau wichtig ist. Haben die Leute vom Museum ausgebuddelt, hier an dieser Stelle. Soll so eine antike Liebesgöttin darstellen. Wollen Sie aussteigen und sich’s aus der Nähe anschauen?«
Nein, aussteigen wollte ich nicht. Überhaupt begann mir diese Angelegenheit peinlich zu werden. Wie kam ich dazu, mich einer Situation auszusetzen, die es diesem Taxifahrer erlaubte, Spekulationen über meine geheimen Gelüste anzustellen? Was war das hier schon? Eine schlecht erhaltene, ja reichlich derangierte Venusfigur, obendrein eine nicht sonderlich bemerkenswerte provinzialrömische Arbeit, vermutlich aus einer örtlichen Werkstatt des dritten Jahrhunderts. Ich wendete endlich meinen Blick ab, versuchte eine gleichgültige Miene aufzusetzen und sagte: »Nun fahren Sie doch endlich weiter!«
Das also war das Vorspiel meiner Ankunft. Ich habe dir weder damals noch später davon erzählt, anfangs wohl, weil mir meine Rolle in dieser Episode ein wenig lächerlich vorgekommen sein mag; später gab es dann noch andere, tiefer begründete Hemmungen, von denen ich damals nichts ahnte.
Als all das, was ich hier im Folgenden zu erzählen versuche, vorüber war, hast du mich gefragt, wie das anfing mit uns. Beim Nachdenken über diese Frage wurde mir eines klar: Es ist diese Figur, mit der alles begann. Nicht nur dieser verwitterte, in Teilen bis zur Unkenntlichkeit zerschrundene Stein, sondern vor allem das, was er einmal dargestellt hat. Oder: Was er auch heute auf eine Weise für mich in ein Bild setzt, die es mir zugleich immer mehr erschwert, die Bedeutung dieses Bildes zu begreifen.
Jetzt lachst du wahrscheinlich schon und sagst: Aber es ist doch alles so einfach! Doch du kennst ja auch meine Begriffsstutzigkeit angesichts solcher Dinge.
Wann haben wir einander eigentlich zum ersten Mal gesehen? Ich meine, nicht nur beiläufig mit dem Blick gestreift, sondern bewusst wahrgenommen? Ich weiß nicht, wie sich das bei dir verhält. Ich jedenfalls habe dich erst beim gemeinsamen Abendessen bemerkt, und zwar zunächst eine dieser sprechenden Gesten deiner Hände, mit denen du manchen deiner Äußerungen erst die gemeinte Richtung weist. Irgendwie mittelmeerisch kam mir das vor, und ich war – nun erst auf dich aufmerksam geworden – fast überrascht, dich deutsch sprechen zu hören, wenn ich auch nicht genau verstehen konnte, was du sagtest. Der Tisch, an dem du zusammen mit zwei Kollegen gesessen hast, war zu weit entfernt. Einmal hast du zu mir herübergeschaut – erinnerst du dich? –, und ich habe vergeblich versucht, den Blick deiner dunklen Augen festzuhalten.
Kurz danach hast du deinen Stuhl zurückgeschoben und bist aufgestanden, um den Raum zu verlassen. Dein Weg führte dicht an meinem Platz vorbei. Ich sah dich auf mich zugehen, für einen Augenblick schob sich die Vision der lädierten Marmorfigur vor den Umriss deiner Gestalt, dann warst du schon vorübergegangen. Nur ein mir heute vertrauter Duft blieb für kurze Zeit spürbar. Übrigens habe ich keine Erinnerung mehr daran, wer damals mit mir am Tisch gesessen hat und was wir miteinander gesprochen haben.
Es kann auch sein, dass ich bei Tisch überhaupt kein Wort gesprochen habe. Inzwischen habe ich gemerkt, dass ich dazu neige, mich auf solchen Tagungen bis zu dem Zeitpunkt abzukapseln, zu dem ich mein Referat loswerden kann. Das mag seinen Grund darin haben, dass ich mich, sobald ich in ein Gespräch verstrickt werde, immer wieder genötigt sehe, Teile meiner Überlegungen schon vorab preiszugeben, und wenn ich dann später vor dem gesamten Publikum spreche und zu diesem Punkt meines Referates komme, verliert mein Vortrag beträchtlich an Überzeugungskraft, da ich mich des Gefühls nicht erwehren kann, das alles schon einmal gesagt zu haben. Zumindest blicke ich in einer solchen Situation verständnisheischend zu meinem früheren Gesprächspartner, den ich notgedrungen mit einer Wiederholung des schon einmal Geäußerten langweilen muss, einer These womöglich, die dieser schon vorher beim Tischgespräch widerlegt zu haben meint, die ich jedoch nicht weglassen kann, ohne den schlüssigen Aufbau meines Vortrags zu gefährden.
Genau besehen fürchte ich demnach um den Verlust meiner Sicherheit, sobald ich mein Ohr Argumenten öffne, die meine Position erschüttern könnten. Idiotisch, nicht wahr? Was wäre denn das für eine Sicherheit, die sich so leicht außer Kraft setzen ließe? Wäre es nicht besser, eine solch trügerische Fiktion von vornherein aufzugeben? Wenn ich keine meiner Vorstellungen für absolut verlässlich hielte, könnte mich kein Mensch ins Unrecht setzen. Aber ich greife mit allem, was hier im Konjunktiv geschrieben steht, schon um einiges vor und vergesse, dass ich in der Rückschau über eine Zeit berichte, zu der mir solche Gedankengänge noch fremd waren.
Nach dem Abendessen ging ich durch eine der hohen, nach Art französischer Fenster geöffneten Saaltüren hinaus in den nächtlichen Park, um eine Pfeife zu rauchen. Von anderen Teilnehmern der Tagung, die in kleinen Gruppen hier draußen auf dem durch die Kronleuchter des Saals erhellten Vorplatz im üblichen Small Talk des ersten Abends beieinanderstanden, hielt ich mich fern und ging tiefer hinein ins Dunkel, geleitet von der matten Helligkeit der Kiesstreuung auf dem Weg. In das Knirschen meiner Schritte mischte sich bald das Quaken von Fröschen und lockte mich weiter bis zu einem Teich, auf dem im milchigen Dunst über dem Wasser Seerosen schwammen. Inmitten der ovalen Wasserfläche war im Licht des aufsteigenden Mondes eine kleine Insel zu erkennen. Unter aufeinandergetürmten Steinblöcken schimmerte an ihrem Rand das Gefieder von Enten, die sich hier ihren Schlafplatz gesucht hatten. Zuweilen war ihr leises Quarren neben dem Quaken der Frösche zu hören.
Der Weg folgte dem Ufer rings um das Gewässer, und so kam ich, nachdem ich einige Male stehen geblieben war und vergeblich Ausschau nach Fröschen gehalten hatte, wieder zu meinem Ausgangspunkt zurück. Vor den erleuchteten Saalfenstern sah ich noch immer einzelne Teilnehmer auf und ab gehen, aber dich konnte ich nicht unter ihnen entdecken. Da klopfte ich schließlich meine Pfeife aus, ging auf mein Zimmer und legte mich zu Bett.
Lange Zeit konnte ich nicht einschlafen, ließ mir mein Referat durch den Kopf gehen, um mich noch einmal der Verlässlichkeit meiner Gedankenführung zu vergewissern, und konnte keinen Fehlschluss entdecken, obwohl mich eine Irritation plagte, deren Gründen ich vergeblich nachzuforschen versuchte, bis ich schließlich darüber einschlief. Irgendwann gegen Morgen – es war draußen noch dunkel – wachte ich abrupt auf und hatte einen Traum so deutlich vor Augen, dass ich ihn noch heute in allen Einzelheiten beschreiben kann:
Ich suche etwas ganz Bestimmtes, für mich außerordentlich Wichtiges und gehe dabei nach einer Methode vor, die mir völlig vertraut ist: Ich benötige dazu ein kleines Tier, das mir helfen soll, vielleicht eine Maus oder auch einen Frosch. Auf jeden Fall würde das Tier auf meine Tabakspfeife reagieren, dessen bin ich mir sicher.
Ich werfe also meine Pfeife auf den Boden. Dies geschieht, wie mir erst jetzt bewusst wird, im Freien. Es ist kühl, der Himmel bewölkt. Offenbar hat es vor Kurzem geregnet; auf dem erdigen Weg stehen flache Pfützen.
Die Pfeife fällt in eine dieser Pfützen. Wasser spritzt auf. Sofort höre ich ein schrilles Quieken und bemerke, wie ein kleines Tier hochspringt. Ich suche in der Pfütze zunächst nach einer nassen Maus, entdecke dann aber einen sehr kleinen hellbraunen Frosch, der sich auf den Kopf meiner Pfeife gesetzt hat. In der Pfütze schwimmen weitere, noch kleinere Frösche, manche mit dem Schwänzchen der Kaulquappe zwischen den Hinterbeinen.
Als ich mich bücke und meine offene Hand hinhalte, springt der Frosch hinein. Er ist kühl und feucht und fühlt sich sehr lebendig an. Ich stecke ihn vorsichtig in die rechte Tasche meiner Jacke und mache mich auf die Suche.
Mit diesem Gedanken wachte ich auf, hatte jedoch keine Ahnung, wonach da gesucht werden sollte, und fragte mich, welchen Gewinn ein kleiner brauner Frosch auf solch zielloser Suche bringen könnte.
Frösche haben es in sich. Ausgeburten des Unterbewussten sind das. Eine Maus, das wäre eine klare, stocknüchterne Angelegenheit gewesen. Mäuse sind verfressen. Wohin soll einen eine Maus schon führen? Zum Käse oder zum Speck, wobei es lediglich darauf ankommt, ob Käse und Speck auf einem Teller liegen oder an einem Haken aufgespießt sind, dessen Bewegung möglicherweise eine Falle zum Zuschnappen bringt. Jedenfalls gibt es da eindeutige Alternativen.
Aber ein Frosch! Natürlich fiel mir mein Abendspaziergang ein, der mich unter dem Gequake von Fröschen am Teich entlanggeführt hatte. Traum als Weiterführung vorangegangener Eindrücke, das gibt’s ja. Aber diese Erklärung, so einleuchtend sie auch sein mochte, befriedigte mich nicht und konnte mein Gefühl, auf unsicheres Terrain geraten zu sein, nicht vertreiben. Allzu deutlich spürte ich noch, wie die Frösche rings um meine Knöchel durchs flache Wasser sprangen und wie sich winzige Finger auf der Haut meines Handtellers regten. Was mir sonst noch zu diesem Thema einfiel, kannst du dir ja denken: Der Frosch als Fruchtbarkeitsfigur und Sexualsymbol – so etwas hüpfte also durch meine Träume. Ich will das einstweilen nicht weiter vertiefen – es wird sich noch hinreichend Gelegenheit bieten, auf das verwirrende Treiben dieses schlüpfrigen Gelichters zurückzukommen.
Vom Frühstück weiß ich nichts mehr, erstaunlich genug für einen Menschen wie mich, der außerordentlich großen Wert auf eine solide Morgenmahlzeit legt und ohne eine solche sich zu keinerlei Aktivitäten fähig fühlt. Ich werde also mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendetwas zu mir genommen haben – mein Selbsterhaltungstrieb lässt mich selten im Stich –, aber ob Tee oder Kaffee, Marmelade oder Wurst ist mir ebenso wenig erinnerlich wie die Gesellschaft, in der ich dergleichen vermutlich verspeist habe.
Das Nächste, dessen ich mich deutlich entsinne, ist der Augenblick, in dem ich aufs Podium stieg, mein Manuskript aus der Tasche zog und vor mich auf das Vortragspult legte. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Märchenfreunde!«, sagte ich und blickte erst dann auf das oberste Blatt, das sich zu meinem nicht geringen Entsetzen als völlig unlesbar erwies. Ich muss ziemlich lange auf die fremdartige und doch irgendwie vertraut wirkende Schrift geblickt haben, bis ich begriff, dass sie nur auf dem Kopf stand.
Zugegeben, ein lächerliches Versehen, das sich leicht beheben lässt, was ich auch sofort mit einem hastigen Zugriff tat. Aber von da an überkam mich die Vorstellung, die verkehrten Buchstaben seien nur ein Signal dafür, dass auch all das, was sie ausdrücken sollten, auf eine mir undurchschaubare Weise verkehrt sei. Während ich also meine Wörter herunterhaspelte, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, irgendwelchen zusammengefaselten Unsinn zu produzieren. Wie ein Ertrinkender klammerte ich mich an meine Wörter und blickte zunächst nicht ein einziges Mal von meinen wie stets handschriftlich abgefassten Blättern auf.
Nun habe ich jedoch die Angewohnheit, mir bei Vorträgen dieser Art während der ersten Minuten des Sprechens einen Partner, häufiger wohl auch eine Partnerin im Publikum zu suchen, die ich gleichsam persönlich anrede und immer wieder anschaue, um ihre Reaktionen auf meine Äußerungen zu beobachten. Die Wahl eines solchen Partners treffe ich zumeist sehr emotional, geleitet von spontaner Sympathie, etwa von einem Aufmerksamkeit oder gespanntes Interesse verratenden Blick oder von einem Lächeln, mit dem ein Zuhörer auf einen ironischen Schlenker in meinen Ausführungen antwortet und mich dadurch zum Weiterreden ermutigt. Das ist es wohl überhaupt, was mich zu einem solchen Verhalten treibt: die Gier nach Bestätigung meiner Ansichten und nach Ermutigung, auf gleiche Weise fortzufahren. Vielleicht bin ich so etwas wie ein Unterhaltungstalent mit wissenschaftlichen Ambitionen.
Wie dem auch sein mag – nach und nach stellte sich die Routine des Vortrag-Haltens ein, und als ich zu jener Passage kam, mit der ich meine besonderen Erwägungen zum Märchenmotiv des Tierbräutigams einleiten wollte, war meine Contenance so weit wiederhergestellt, dass ich beschloss, den Kopf zu heben, um Ausschau nach einem möglichen Ansprechpartner zu halten. Du wirst dich vielleicht erinnern, dass ich diesen Entschluss bei jenem Satz in die Tat umsetzte, mit dem ich solche in Gestalt von Fröschen, Löwen, Bären oder nicht näher benannten grausigen Untieren auftretenden Sexualpartner als schamanistische Relikte aus abgetanen Vorstellungswelten bezeichnete, die wir mit unserem weiterentwickelten Bewusstsein längst hinter uns gelassen hätten. Genau bei diesen Worten blickte ich auf und schaute dir in die Augen.
Ich weiß nicht, ob das Zufall war oder ob mein Unterbewusstsein deinen Platz im Raum längst geortet und mir diese Blickrichtung aufgezwungen hatte. Jedenfalls war ich von diesem Augenblick an unfähig, mich nach einem anderen Kommunikationspartner umzusehen, und die Art, wie du die Augenbrauen hobst im Verein mit dem eher Zweifel andeutenden Lächeln, das deine Lippen so reizvoll kräuselte, brachte mich völlig aus dem Konzept. Ich kam ins Stottern und versuchte, sobald ich mich einigermaßen gefasst hatte, meiner eben vorgebrachten Behauptung im Nachhinein einen ironischen Unterton beizulegen, was begreiflicherweise kaum gelingen konnte. Von diesem Zeitpunkt an lief das sorgsam auf Kurs gesetzte Schiff meines Referates jedes Mal aus dem Ruder, sobald ich wieder zu dir hinblickte, was zu vermeiden sich als völlig unmöglich erwies. Ich fürchte, am Ende meiner Ausführungen hätte keiner der Zuhörer sagen können, welche Meinung zum gegenwärtigen Nutzwert des Tierbräutigam-Motivs ich hatte vertreten wollen, und ich selbst am allerwenigsten.
Es fällt mir schwer, die Gefühle zu beschreiben, die mich damals in solche Verwirrung stürzten. Was mich so spontan auf deine Fährte gesetzt hatte, war wohl in erster Linie der Reiz deiner bezaubernden Körperlichkeit. Ob nun die Steinfigur, die sich mir kurz zuvor in den Weg gestellt hatte, meine Vorstellung noch dermaßen beherrschte, dass sich die durch ihren Anblick hervorgerufene Erregung auf dich übertrug, oder ob der Zauber deines bewegten Körpers, deine mittelmeerische Gestik, deine erahnbare Gestalt, als du auf mich zugeschritten kamst, der vorüberwehende Duft deiner Haut, ob all dies zusammen das sprungbereit in meinem Gedächtnis lauernde Abbild der Liebesgöttin hervorrief – wer will das entscheiden? Aber was spielen solche Fragen nach Ursache und Wirkung für eine Rolle angesichts eines Vorgangs, bei dem mythische Figur und individuelle Verkörperung miteinander zu verschmelzen scheinen?
Und doch vermute ich heute, dass schon damals mehr im Spiel war als bloße sexuelle Attraktion. Die redende Gestik deiner Hände, die mich als Erstes ansprach – ging davon nicht mehr und anderes aus als eindeutige Signale eines weiblichen Geschlechtswesens an die Adresse meiner männlichen Körpersäfte? Heute frage ich mich das, aber damals wurde mein Hirn überschwemmt und blockiert von ihren Ausschüttungen, und deshalb wurde ich durch deinen sichtbaren, wenn auch zunächst noch nicht formulierten Widerspruch zu meinen vorgetragenen Thesen nicht nur irritiert, sondern sogar verärgert, und zwar allein aus dem Grund, dass er den Reaktionen meines Körpers zuwiderlief und ein Hindernis zwischen uns aufbaute, das ein mögliches Einverständnis (was für eines wohl?) stören könnte.
Bei der meinem Referat folgenden Diskussion gerieten die literarhistorisch-philologisch orientierte Partei einerseits und die sozialpädagogisch oder gar soziologisch engagierten Teilnehmer andererseits sich dermaßen in die Haare darüber, was ich eigentlich hätte sagen wollen, und übertrumpften einander mit immer abwegigeren Interpretationen meiner Thesen, dass ich selbst kaum noch gefragt schien und mich aus dem Kampfgetümmel zurückziehen konnte. Du hast dich an diesem Meinungsstreit nicht beteiligt, sondern mich nur hie und da erstaunt angeblickt, wenn ich eine mehr als gewagte Deutung meiner Worte schweigend und ohne Protest hinnahm.
Bei Tisch saßen wir dann unversehens nebeneinander. Zufall kann das kaum gewesen sein, obwohl es zunächst so schien. Wahrscheinlich bin ich meiner Nase gefolgt wie ein läufiger Hund. Oder hast du dabei deine Hand im Spiel gehabt? Mit mir gespielt, während ich erst darauf aus war, mein Spiel mit dir zu treiben?
Die Frage, was du bei alledem empfunden und gedacht haben magst, ist ja bislang überhaupt noch nicht gestellt worden. Ich war zu diesem Zeitpunkt so befangen im Dunstkreis meiner eigenen Gefühle und Fantasien, dass mir gar nicht in den Sinn kam, einen Gedanken darauf zu verschwenden.
Du hast dich zunächst mit deinem linken Nachbarn unterhalten, einem jungen Mann mit sorgsam gestutztem schwarzen Kinnbart und randloser Brille (Mikoleit hieß der, meine ich mich zu erinnern). Ich fürchtete schon, er gehöre auf irgendeine Weise zu dir, und schloss erst während der Suppe aus einigen Floskeln eures Gesprächs zu meiner Erleichterung, dass eure Bekanntschaft erst auf dieser Tagung geschlossen worden sein konnte. Und doch regte sich schon so etwas wie Eifersucht in mir. Als dieser Herr Mikoleit oder wie auch immer für einen Augenblick mit dem Öffnen einer Bierflasche beschäftigt war, nahm ich meine Chance wahr und fragte dich kühn nach deiner Meinung zu meinem Vortrag. Ich hätte so etwas wie Widerspruch oder gar Missbilligung in deiner Miene gelesen, sagte ich und fügte hoffnungsvoll hinzu: »Oder habe ich mich da getäuscht?«
Begierig wartete ich auf ein Ja, aber du hast den Kopf geschüttelt, den Löffel zur Seite gelegt und mich eine Weile nachdenklich angeschaut. Und dann folgte dieser Satz: »Was halten Sie nun wirklich von der Wahrheit der Märchen?«
Wahrheit, hast du gesagt. Das verschlug mir erst einmal die Sprache. Dieses Wort hatten weder ich noch die Teilnehmer der Diskussion gebraucht. Da war die Rede gewesen von mythischen Figuren, von Chiffren für Grunderfahrungen, von Symbolgestalten oder narrativen Weltdeutungen. Aber Wahrheit?
»Ist das nicht zu naiv, so zu fragen?«, sagte ich und merkte, noch während ich sprach, dass ich damit meine Hilflosigkeit angesichts einer solch absoluten Kategorie zugab.
Dein Lächeln war völlig unbefangen bei deiner Erwiderung, naiv hieße dem Wortsinn nach angeboren, also auf natürliche Weise entstanden, und damit wärst du ganz zufrieden.
»Demnach waren mein Referat und die nachfolgende Diskussion nichts als Spiegelfechterei?«, sagte ich aggressiver, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. Doch deine Freundlichkeit war nicht zu erschüttern.
»Ich fand’s ganz aufschlussreich, was da gesagt wurde«, hast du geantwortet. »Aber ich bezweifle, ob es das Wesentliche traf.«
»Und was halten Sie für das Wesentliche?«
»Das Leben.«
Spätestens an dieser Stelle überkam mich das Gefühl, dass du dich nicht an die Spielregeln hältst, die auf solchen Tagungen üblich sind. Wie soll ich dir das erklären? Hast du in deiner Kindheit mit deinen Freunden Indianer gespielt? Wäre ja möglich. Oder liegt ein solches Beispiel deinem weiblichen Erfahrungshorizont allzu fern? Ich will’s trotzdem versuchen. Stell dir also vor, du hockst mit ein paar anderen friedlich im Obstgarten unter den Johannisbeerstauden in Erwartung eines fiktiven Angriffs eurer Spielkameraden, und statt ihrer kommt über den Zaun schreiend und Tomahawk schwingend eine Horde leibhaftiger Irokesen gesprungen, die dein Blut sehen wollen.
So etwa empfand ich die Situation. Was ich bislang für einen ernsthaften Meinungsstreit gehalten hatte, war in deinen Augen offenbar nichts als eine Spielerei, und du wolltest jetzt wissen, wie ernst mir’s nun wirklich mit diesem Thema ist, nämlich, ob es mir ans Leben rührt. Ich fühlte mich bloßgestellt vor deinen oliv-braunen Augen, die mir noch immer aufmerksam und mit einer Spur von Ironie entgegenschauten; dieser Blick jedoch und die Bewegung, mit der deine Lippen diese vitale Vokabel formten, weckten mir zugleich Lust auf diese Augen und diese Lippen.
Ich weiß nicht, ob du bemerkt hast, dass ich nun selbst drauf und dran war, von der dürren Theorie zum konkreten Leben hinüberzuwechseln oder – genauer gesagt – zu dem, was ich damals darunter verstand. Jedenfalls hast du das Gespräch abgebrochen und bist gegangen. »Habe ich Sie bedrängt?«, hast du, schon im Aufbrechen, gesagt. »Das täte mir leid. Ich muss jetzt ein paar Schritte laufen.«
Gleich darauf sah ich dich draußen an den Fenstern vorübergehen und zwischen den alten Bäumen des Parks untertauchen. Da war ich aber selbst schon aufgestanden, um dir zu folgen; denn ich war kühn genug, deine letzten Worte als einen Hinweis an mich zu interpretieren, dass du dort draußen zu finden sein würdest.
Als ich mit raschen Schritten über den knirschenden Kies auf den überschatteten Eingang in die Tiefe des Parks zustrebte, steckte ich gewohnheitsmäßig die rechte Hand in die Tasche meiner Jacke und spürte dort etwas Kühles, Feuchtes, das sich regte.
Da stand ich nun auf dem Weg, hörte ein paar Dutzend Schritte hinter mir die Stimmen der Leute, die nach dem Essen auf dem Vorplatz beieinanderstanden, und starrte auf den kleinen braunen Frosch, der in der Kuhle meiner rechten Hand hockte und mich mit seinen golden schimmernden Augen auf eine gewissermaßen überlegene Weise betrachtete. Es mag verrückt klingen, dass ein derart winziges Wesen den Eindruck von Überlegenheit erweckt haben soll, aber ich empfand das so, und dann sagte der Frosch auch schon mit leise quarrender, jedoch durchaus deutlich artikulierender Stimme: »Wenn du noch lange hier stehen bleibst, wirst du die Spur verlieren.«
»Wo soll’s denn langgehen?«, fragte ich. Es war heller Tag, die Sonne stand hoch am leicht bewölkten blauen Himmel, und ich sprach mit einem Frosch, ob du’s nun glaubst oder nicht.
»Immer der Nase nach«, sagte er, »und mich kannst du einstweilen wieder in die Tasche stecken.«
Dies tat ich und machte mich auf den Weg, immer der Nase nach, ein Satz, den ich zunächst für die Anweisung hielt, geradeaus unter dem Schatten der alten Parkbäume immer weiterzulaufen. Doch war auch ein leichter Duft zu spüren, der mich weiterlockte, ein Duft, der mir schon vertraut zu werden begann und dem ich bedenkenlos, ja begierig folgte, immer der Nase nach.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon so dahingelaufen war, als mir bewusst wurde, dass ich auf einen anderen Weg geraten sein musste als am Abend zuvor. Unter meinen Sohlen war kein Kies mehr zu spüren, sondern feuchte, nachgebende, von Wurzeln durchzogene Erde. Ohne es zu bemerken, musste ich den Park verlassen haben, denn rechts und links des gewundenen Pfades, der nach vorn einen nur wenige Schritte weiten Ausblick erlaubte, drängte sich dichter Wald heran, der streng nach Pilzen roch. Ungeheuer hohe, säulenartig aufgeschossene Buchen wuchsen hier, und zwischen ihren silbergrünen Stämmen wucherte ungezügelt das Unterholz, durchzogen von Geißblattranken, die wie loses Tauwerk von den schlankeren Stämmen herabhingen.
Ich hatte keine Vorstellung davon, auf welche Abwege ich geraten war, war mir durchaus bewusst, dass ich hätte umkehren sollen, um in die geordnete Welt des Parks und der Tagung zurückzukehren, war aber unfähig, meinen Schritt auch nur zu verzögern, ja ich eilte sogar rascher voran, vielleicht, weil ich noch immer diesen Duft wahrzunehmen meinte, oder auch getrieben von einer Neugier, die schon an Besessenheit grenzte, einer Neugier nach dem, was mich in oder hinter diesem Wald erwarten mochte.
Nach einiger Zeit begann sich das Gelände vor mir zu senken, der Pfad führte in weiten Schwingungen bergab, bis die ausgetretene Spur sich mehr und mehr unter dicht verwachsenem Grünzeug verlor. Engelwurz hatte da seine mit glatten, dunkelgrünen Fiederblättern behängten Doldenstängel emporgetrieben und meine Füße streiften durch Springkraut, dessen Schoten unter der Berührung meiner Hosenbeine aufsprangen, dass die dunklen Samenkörner rings um mich hüpften wie winzige Frösche. Zugleich wurde das Gehölz niedriger, war mit Erlen untermischt, und nach einer neuerlichen Biegung öffnete sich unversehens der Ausblick auf einen See, dessen jenseitiges Ufer fern am Horizont von blauen Hügeln begrenzt war.
Eine Zeit lang blieb ich hier stehen und schaute hinaus auf die weite, unter der schon tiefer stehenden Sonne unruhig flimmernde Wasserfläche. Aus dem Gebüsch vor mir flogen mit klatschenden Flügelschlägen ein paar Wildenten auf und pfeilten mit vorgestrecktem Hals auf eine Insel zu, die weitab vom diesseitigen Ufer etwa inmitten des Sees lag, allmählich aus dem Wasser ansteigendes Gelände mit Wiesen, Gebüsch und den ziegelrot gedeckten Dächern eines Dorfes. Zur Mitte der Insel zu wölbte sich eine übergraste, mit rötlichen Felsbrocken übersäte Anhöhe auf, die von einem runden, turmartigen Gebäude gekrönt war, eher breit als hoch, ähnlich der römischen Engelsburg.
Als vom See her der fischige Geruch nach lebendigem Wasser zu mir heranwehte, bekam ich Lust, meine Hände in die Flut zu tauchen, und lief rasch das letzte Stück über den Wiesenhang hinab bis ans Ufer. Hinter Weidengebüsch verbarg sich weiter rechts eine Hütte, von der ein ausgetretener Pfad zu einem Landungssteg führte, und dort schwamm, angebunden an einen Pfahl ein breiter Kahn, in dem ein Paar Ruder lag.
Langsam ging ich am sandigen Ufer entlang auf den Steg zu, so knapp an der Wasserlinie, dass mir die Wellen zuweilen über die Schuhspitzen spülten. Einmal blieb ich stehen und grub aus dem feuchten Sand eine dunkle Muschelschale, die an der Innenseite von bläulich schimmerndem Perlmutt überzogen war. Ich erinnerte mich, dass ich in meiner Kindheit schon einmal eine solche Muschel am Ufer eines träge durch die Ebene strömenden Flusses gefunden und lange unter meinen geheimen Schätzen aufbewahrt hatte, bis sie eines Tages zerbrach und weggeworfen wurde. Mit der Muschel in der Hand schlenderte ich weiter, setzte mich auf den Steg und betrachtete das Wechselspiel der Farben, die über die seidenglatte Höhlung der Schale huschten.
»War wohl keine Perle drin?«, sagte hinter mir eine seltsam gequetscht klingende Stimme.
Ich fuhr herum und erblickte unmittelbar hinter meinem Rücken, ohne dass ich ihn zuvor herankommen gehört hätte, einen untersetzten, etwas dünnbeinig wirkenden Mann in braungrünem Lodenzeug, der mich aus gelblichen Quellaugen anschaute. Das breite, bartlose, etwas flachnasige Gesicht wirkte sanft und freundlich. Spott schien dieser Mann nicht im Sinn zu haben.
»Nein«, sagte ich. »Gibt’s das denn überhaupt?«
»Kommt darauf an, wie man sucht«, sagte er. »Wollen Sie übergesetzt werden?« Und dabei deutete er mit dem Kopf hinüber zu dem Inseldorf.
Ein Fährmann also. Bis zu diesem Augenblick hatte ich diese Möglichkeit überhaupt nicht erwogen, aber jetzt, als er mich fragte, schien es mir fast unausweichlich, dass ich mich von diesem Mann hinüberrudern ließ, zumal ich hier auf dem Steg eine kaum wahrnehmbare Spur des Duftes zu wittern meinte, der mich bis hierher gelockt hatte.
»Haben Sie heute schon jemanden übergesetzt?«, fragte ich. »Ein Mädchen vielleicht oder eine junge Frau?«
»Ein Mädchen suchen Sie also?« Der Fährmann grinste. »Das hab’ ich mir fast gedacht. Dann steigen Sie nur ein! Ich bring’ Sie hinüber.«
Es war mir unangenehm, dass dieser mir völlig unbekannte Mann so deutlich aussprach, wie er meine Frage verstanden hatte. Unter den Leuten, mit denen ich zumeist zu tun hatte, mochte man zwar auch aus den Worten eines Gesprächspartners mehr heraushören, als dieser hatte verraten wollen, aber es gehörte sich nicht, das so offen zu zeigen. Es gab gewisse Spielregeln, nach denen man beispielsweise darauf zu achten hatte, dass der andere, dessen Strategie man durchschaut hatte, nicht das Gesicht verlor, auch wenn man danach das Gespräch durchaus auf eine Weise weiterführen durfte, bei der der andere nicht zum Ziel kommen konnte. In solchen Spielchen, die oft die Debatten unter Kollegen bestimmten, war ich nicht ungeübt, und es ärgerte mich deshalb umso mehr, dass dieser ungehobelte Ferge mir keine Chance lassen wollte.
All das hätte mich eigentlich daran hindern sollen, in diesen Kahn einzusteigen, der träge auf dem wenig bewegten Wasser dümpelte, aber ich hatte meinen Fuß schon auf die feuchten Bodenbretter zwischen die Bänke gesetzt, ehe ich diesen Gedanken hatte zu Ende denken können, und verspürte nun noch weniger Lust, den Fuß wieder zurückzunehmen und mir danach noch weitere Anmerkungen über meine Absichten anzuhören. So zog ich den anderen Fuß nach und setzte mich auf die vorderste Querbank, während der Fährmann die Vertäuung löste, den Kahn vom Steg abstieß und gewandt in dem schwankenden Gefährt an mir vorbeiturnte, um die Ruder in die Dollen einzuhängen. Dann setzte er sich gleichfalls und brachte den Kahn mit tief greifenden Schlägen in Fahrt.
Beim Einsteigen hatte ich die Muschel in die Tasche gesteckt und dabei bemerkt, dass mir der kleine braune Frosch entschlüpft sein musste. Vielleicht, dachte ich, hat ihn der Geruch des Wassers genauso angelockt wie mich, oder es hatte ihm schon genügt, mich auf die Spur gesetzt zu haben.
Während ich meine Hand über Bord hängen und die Finger durch das kühle Wasser streifen ließ, blickte ich hinüber zu der Insel, die langsam näher rückte, und fragte mich, was für einer Spur ich dort drüben zu folgen gedachte. Es wollte mir nicht gelingen, eine bildhafte Vorstellung von dir aus meinem Gedächtnis zu kramen. Eine vage Erinnerung an deine schwingenden Hüften, als du dich zwischen den Parkbäumen mit raschen Schritten meinen Blicken entzogen hattest – mehr war nicht aufzufinden.
Dennoch war ich sicher, dass ich auf der Insel finden würde, was mich auf diesen Weg getrieben hatte. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass ich dir auf der Spur war, und es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, mich zu fragen, warum du die Tagung verlassen und diesen weitläufigen Ausflug unternommen haben solltest. Mehr noch: Die Tagung war mir zu diesem Zeitpunkt völlig aus dem Bewusstsein geschwunden. Mein einziges Interesse galt der weiblichen Gestalt, die ich in dieser Richtung zwischen den Parkbäumen hatte voranschreiten sehen. Was suchte sie in diesem Dorf? Und wen suchte sie dort? Oder war sie zu diesem Turmgebäude hinaufgestiegen?
»Was ist das für ein Turm?«, fragte ich den Fährmann und zeigte hinüber zur Insel. Doch der wendete nicht einmal den Kopf, blickte starr über meine Schulter zurück zu seiner Hütte und murmelte: »Dorthin gehen wir nicht.«
Eine Weile fuhren wir schweigend über den See; der Fährmann mit dem Blick zum Ufer und im gleichmäßigen Takt des Ruderns vor- und zurückpendelnd, ich den Blick voraus gerichtet auf diesen Turm, zu dem sie nicht gingen. Wer? Die Leute des Fährmannes? Die Dorfbewohner? Ich wusste es nicht.
Von der Höhe des Turms löste sich ein dunkler Punkt, schwebte näher heran, wurde als Vogel erkennbar, ein Vogel von beträchtlicher Größe, der auf weit ausgespannten, flappenden Schwingen heranflog, den Kopf vorangestreckt.
»Ein Storch!«, sagte ich. Die Begegnung schien mir bemerkenswert, denn ich hatte lange keinen gesehen. Mein Hinweis schien den Fährmann zu erschrecken. Er krümmte sich noch tiefer über den Rudern zusammen und steigerte das Tempo seiner Schläge, als gelte es, einer Gefahr zu entkommen. Als er im Durchziehen der Ruder kurz zu dem Vogel, der jetzt einen weiten Kreis über uns zog, aufblickte, um sich gleich darauf wieder zu ducken, meinte ich, in seinen Augen den Ausdruck von Angst zu erkennen.
»Haben Sie etwas gegen Störche?«, fragte ich und setzte, um der Sache eine scherzhafte Wendung zu geben, hinzu: »Die bringen doch die kleinen Kinder.«
»Bringen?«, wiederholte er zwischen zwei hastigen Ruderschlägen. »Die holen sie ab! Und nicht nur Kinder.«
Ich verstand damals noch nicht, was er mit diesen Worten sagen wollte, sondern merkte nur an seinem Verhalten, dass ihn der Storch in panischen Schrecken versetzte. Erst als der Vogel in Richtung auf das nun schon ferne Ufer davonflog, beruhigte sich dieser sonderbare Schiffer.
Was waren das für Leute? Wohin war ich geraten? Immer stärker überkam mich die Vorstellung, dass dieser Kahn mit jedem Ruderschlag in ein archaisches Ambiente zurückgetrieben wurde, in eine andere Wirklichkeit, deren Bedingungen ich nicht durchschaute.
Inzwischen waren wir der Insel beträchtlich näher gekommen. Der Fährmann hielt jetzt nicht mehr gerade darauf zu, sondern lenkte den Kahn nach rechts, wo das Dorf lag. Während wir eine Landzunge umrundeten, öffnete sich hinter ihr der Blick in einen kleinen Hafen, dem sie als molenartiger Schutz diente. Am Kai hatten ein paar Fischerboote festgemacht und darüber stieg ein felsiger Abbruch steil an bis zu dem etwa um drei Mastlängen höher liegenden Dorf, über dem der gewaltige Turm düster in den stahlblauen Himmel ragte.
Die Sonne war schon hinter einer rotviolett glühenden Wolkenbank am Horizont versunken, und dieser ziemlich dramatisch wirkende Anblick machte mir klar, dass ich zumindest für diese Nacht auf der Insel würde bleiben müssen. Während der Fährmann seinen Kahn am Kai festlegte, fragte ich ihn, ob es im Dorf eine Gelegenheit zum Übernachten gebe.
»Nicht nur eine«, sagte der und kniepte mir zu, als wären wir längst über eine Sache einig geworden, nur wusste ich nicht recht, über welche. Das hatte fast schon den Anschein, als betreibe dieser Mann eine Art von Zuhälterei, wenn auch auf recht arbeitsaufwendige Weise. Jedenfalls fragte ich ihn beim Aussteigen, was er für diese Überfahrt verlange, und erwartete, dass er für die fast einstündige Ruderarbeit eine ansehnliche Summe nennen würde.
»Gib mir die Muschel!«, sagte er.
Als ich das Fundstück aus der Tasche zog und die im rosafarbenen Abendlicht irisierende Innenfläche betrachtete, bedrängte mich für einen Augenblick der Gedanke, ich dürfe diese Muschel um keinen Preis der Welt aus der Hand geben. Doch gleich darauf sah ich die Unsinnigkeit einer solchen Vorstellung ein, die sich durch nichts begründen ließ, und gab dem Mann, was er verlangte, froh, so billig davongekommen zu sein, und zugleich begierig, endlich dorthin zu gelangen, wohin er mich führen würde.
Wir standen schon oben am Kai, als dieser Handel abgeschlossen wurde. Kein Mensch war hier außer uns beiden, nur ein paar Enten schwammen zwischen den Fischerbooten im ruhigen Hafenwasser.
Der Fährmann nahm aus dem Kahn einen Leinenbeutel, in dem er die Muschel sorgsam verwahrte, und bedeutete mir dann durch eine Kopfbewegung, ihm zu folgen. In den steilen Abbruch des Kalkgesteins war eine Treppe geschlagen, die, sich den Formationen des Felsens anpassend, in unregelmäßigem Zickzack hinauf zum Dorf führte. Der untere Teil lag schon in grauem Schatten, nur an der Oberkante des Felsens zeigte ein scharf abgesetzter Streifen noch den rötlichen Widerschein der untergehenden Sonne.
Je höher wir über die Treppe hinaufstiegen, desto intensiver erschien mir die Färbung der westlichen Wolkenbank, und ich war begierig darauf, an diesem Abend noch einmal wenigstens einen Streifen der Sonne zu erblicken, aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Auch als wir das obere Ende der Treppe erreicht hatten, traf kein blendender Blitz meine Augen. Ich stand dort noch eine Weile und schaute zu, wie sich der ferne Horizont endgültig verdunkelte.
Die Nacht brach rasch herein, als wir durch die engen, zuweilen steil auf- und absteigenden oder gar durch Treppen unterbrochenen Dorfgassen gingen. Die altersgrauen, würfelförmigen Häuser schienen ohne ein erkennbares Ordnungsprinzip auf der unebenen Hochfläche des Felsens errichtet und erst nachträglich durch steingepflasterte Wege zugänglich gemacht worden zu sein.
Wir begegneten nur wenigen Einwohnern, und diese schienen allesamt demselben Ziel zuzustreben wie wir, einem Wirtshaus, wie sich bald herausstellte, bei dem sich am Abend offenbar das ganze Dorf zusammenfand. Schon ehe ich dieses Gebäude in der rasch zunehmenden Dunkelheit erkennen konnte, hörte ich im Näherkommen zunehmend lauter das Stimmengewirr, ein gleichmäßiges, wie aus einem einzigen vielgegliederten Organismus zum Nachthimmel aufsteigendes Geräusch, das alle, die noch nicht in diesen Chor eingestimmt hatten, und so auch uns, magisch anzog, und dann sah ich sie auch schon im flackernden Schein von Windlichtern unter den Bäumen eines Wirtsgartens an langen Tischen auf Bänken sitzen, diese kleinwüchsigen Leute mit den flachen Gesichtern, die sich in ihrem breiten, etwas gequetscht klingenden Dialekt unterhielten, ohne im Geringsten ihre Lautstärke zu dämpfen.
Mein Begleiter steuerte mich zwischen den Bänken hindurch zielbewusst zu einem Tisch, der weit hinten schon am Rande des Gartens stand. Die Bänke an seinen Längsseiten schienen voll besetzt, doch als der Fährmann ein paar Worte sagte, rückten die Leute zusammen, um uns Platz zu schaffen. Dies geschah offenbar nicht von ungefähr, sondern an einer bestimmten Stelle, doch das wurde mir erst bewusst, als ich mich niedersetzte; denn da entdeckte ich dieses Mädchen, neben das ich hier geraten war. Der Anblick ihres Gesichts, das sie mir in diesem Augenblick zuwendete, traf mich wie ein Schock: Das warst du und doch auch wieder nicht. Man konnte ihr durchaus ansehen, dass sie zu diesen Leuten gehörte, deren Geschwätz ungedämpft durch das Laub der Bäume bis in den hohen Nachthimmel stieg, und doch trug sie auf eine schwer zu bestimmende Weise deine Züge.
Ob der Fährmann gewusst hatte, wer mich hier erwartete? Als ich ihn fragen wollte, weidete er sich ganz ungeniert an meiner Überraschung, kniepte mir neuerlich auf eine Weise zu, die jede Frage überflüssig machte, und hob sein Bierglas, um mir zuzutrinken.
Da erst bemerkte ich, dass man auch mir ein Glas hingestellt hatte, aber ich schaute schon wieder das Mädchen an, als ich den ersten Schluck von dem kühlen, säuerlich schmeckenden Bier trank. Oder habe ich damals dich angeschaut? Das weiß ich bis heute nicht. Ich weiß nur, dass ich ihren Schenkel warm und lebendig neben meinem spürte, so eng nebeneinander saßen wir auf der rohen Holzbank, und das Gefühl dieser körperlichen Nähe erregte mich ungeheuer.
»Wie heißt du?«, fragte ich, während ich ihr in die olivdunklen Augen schaute, und die sahen nun wirklich aus wie deine Augen.
»Rana«, sagte das Mädchen. »Hast du das nicht gewusst?«
Heute kann ich mir denken, was sie damit sagen wollte, aber damals hatte ich noch immer nichts gemerkt und war umso mehr verwirrt, als ich deinen Vornamen noch nicht kannte und Ranas Gesicht im unruhigen Flackerschein des Windlichtes auf dem Tisch vom einen zum anderen Augenblick deinem Gesicht völlig zu gleichen schien und mir dann wieder so fremd vorkam wie diese Leute, die ringsum an den Tischen saßen und mit ihrem Geschwätz die laue Abendluft zum Vibrieren brachten, dass mir die Ohren schwirrten.
Auch der Fährmann hatte nun in den Chor eingestimmt und kümmerte sich nicht mehr um mich. Dieses wie eine Dünung aufbrandende und wieder abschwellende Geräusch übertönte jeden vernünftigen oder auch unvernünftigen Gedanken in meinem Hirn, und ich spürte, dass auch ich bald nur noch willenloser Teilnehmer dieses lärmenden Abendrituals sein würde, wenn ich nicht machte, dass ich davonkam.
Ganz allein wollte ich mich allerdings auch nicht in die Büsche schlagen, und so beugte ich mich hinüber zu Rana und raunte ihr zu, ob wir den ganzen Abend hier sitzen bleiben müssten. Während ich meinen Mund dicht an ihr Ohr brachte, um mich verständlich zu machen, nahm ich wieder ihren Duft wahr, und zwar so intensiv in dieser körperlichen Nähe, dass ich ihn gierig einatmete wie ein Rauschmittel.
Rana schüttelte lächelnd den Kopf und deutete statt einer Antwort auf das Gebüsch, das wenige Schritte von unserem Platz den Wirtsgarten begrenzte. Gleich darauf war sie von der Bank geglitten und im dunklen Laub der Sträucher untergetaucht. Ich zögerte keine Sekunde, ihrer Spur zu folgen.
Das gab eine atemberaubende Flucht! Ich hörte Rana vor mir wie ein aufgescheuchtes Wild durch die Zweige brechen und setzte ihr nach, dass mir die zurückschnellenden Ruten um die Ohren schlugen. Eine Weile rannte ich blindlings hinter ihr her, geleitet durch das Rascheln und Knacken im Gebüsch und weitergelockt von dem Duft, der auf ihrer Fährte zurückblieb. Die Jagd ging bergauf, nach einer Weile lichtete sich das Gebüsch, ich fühlte Gras unter den Sohlen, kam gleich darauf ins Freie und lief Rana, die hier stehen geblieben war, um auf mich zu warten, unter dem sternenübersäten Himmel geradewegs in die Arme.
Einen dunklen Augenblick lang standen wir so, ich konnte Ranas Kopf nur umrisshaft erkennen, fühlte aber umso lebendiger ihren heftig atmenden Körper und wähnte mich schon am Ziel meiner Suche. Doch das war ein Irrtum, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Verlauf dieser Nacht, sondern in viel grundlegenderem Sinne.
Ehe ich mich’s versah, hatte Rana sich schon aus meiner Umarmung losgemacht, hielt jetzt nur noch meine Hand und zog mich weiter den Hang hinauf. »Komm! Wir haben nicht mehr viel Zeit.«