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Hans Bemmann

Die Verzauberten

Band 2:
Die Gärten der Löwin

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Der Autor

Hans Bemmann

Hans Bemmann, geboren 1922 in Groitzsch bei Leipzig, begann 1940 sein Medizinstudium, das er abbrechen musste, als er 1941 zum Kriegsdienst einberufen wurde. Nach Kriegsende nahm er das Studium der Musikwissenschaft und der Germanistik in Innsbruck auf. Ab 1954 war er Lektor beim Österreichischen Borromäuswerk. Diese Tätigkeit setzte er 1956 in Bonn fort. Zusätzlich war er von 1971 bis 1983 Dozent für das Fach Deutsch an der Pädagogischen Hochschule Bonn. Sein größter Erfolg, Stein und Flöte, machte ihn beinahe über Nacht bekannt und gilt heute mit weltweit über 500 000 verkauften Exemplaren als Kultbuch der fantastischen Literatur. Hans Bemmann verstarb im April 2003 in Bonn.

Auf die Nächte freust du dich, …

… in denen ich dir meine Version unserer Geschichte erzählen werde, schreibst du da. Das könnte dir so passen! Du liegst wohlig hingestreckt in den Kissen, und ich muss wie weiland Scheherazade zu deinen Füßen kauern und mein Hirn auf der Suche nach neuen Geschichten zermartern.

Nach neuen Geschichten? Natürlich nach neuen, von denen du nichts weißt. Ich kann nicht einfach sagen: Ja, so war es wirklich, wie du es aufgeschrieben hast, und dafür, dass dies nicht möglich ist, gibt es mehrere Gründe. Zunächst einmal wäre es langweilig für dich, und das ist das Schlimmste, was man einer Geschichtenerzählerin vorwerfen kann. Scheherazade hat um den Preis ihres Lebens erzählt. Vielleicht geht’s dann auch um mein Leben. Wo soll ich bleiben, wenn ich dich langweile? Die Möglichkeit, dass du tatsächlich nur nach einer Bestätigung deiner eigenen Ansichten und Erinnerungen gierst, will ich lieber ausschließen; denn dann wäre mein Vorhaben der Mühe nicht wert.

Ich muss also eine neue Geschichte erzählen, und zwar nicht nur um der Originalität meiner Geschichte willen oder weil ich vermeiden möchte, dass du schon im Voraus weißt, was ich erst erzählen will. Die Ursache liegt vielmehr bei mir selbst. Deine Bilder sind nicht meine Bilder, auch wenn sie sich gelegentlich berühren, und die Wirklichkeit, für deren Beschreibung sich keine Wörter finden lassen, liegt irgendwo zwischen deinen Bildern und meinen Bildern.

Hier muss ich vorab schon einmal auf meinen Großvater zu sprechen kommen, dem ich die Keimzellen zu meiner Bilderwelt verdanke. Er hatte eine kuriose Art, auf Fragen zu antworten oder verworrene Zusammenhänge durchschaubar zu machen, indem er Märchen oder wenigstens märchenähnlich funktionierende Geschichten erzählte, und zwar auf eine Weise, dass ich sie in mich aufnahm, als hätte ich sie selbst erlebt. »Das Wesentliche über diese Welt und den Menschen«, sagte er einmal, »steht in Geschichten, nicht in Statistiken.« So werde ich dir vor allem seine Geschichten erzählen, deren Folge sich wie der Faden der Ariadne durch das Labyrinth meines Lebens zieht.

Auch die Geschichte dieses Fadens hat mir mein Großvater einmal erzählt. »Es war einmal eine Königstochter«, begann er, »die verliebte sich in einen Prinzen, der zusammen mit anderen jungen Frauen und Männern einem Untier geopfert werden sollte, das in einem Labyrinth am Hofe ihres Vaters hauste. Die Königstochter gab ihrem erwählten Helden heimlich ein Schwert, mit dem er das Untier töten, und eine Rolle Garn, mit dessen Hilfe er aus dem Labyrinth wieder herausfinden könne. Der Plan gelang, und dieser starke Prinz fuhr auf seinem Schiff mit der Königstochter davon über das Meer. Unterwegs aber ließ er sie auf einer Insel zurück und segelte weiter. Erwarte also nicht, dass deine Liebe notwendigerweise immer belohnt wird.«

»Ist es demnach besser, nicht zu lieben?«, fragte ich ihn.

Da lachte er und sagte: »Du wirst dich um das Beste bringen, das dein Leben für dich bereithält. Aber wenn du schon auf den Lohn wartest, wirst du der Liebe nie begegnen. Was ist besser: Barfuß durchs Gras zu gehen auf die Gefahr hin, dass auf einer am Boden faulenden Birne eine Wespe sitzt und dich in die Zehe sticht, oder immer Schuhe zu tragen und nie zu erfahren, wie sich das anfühlt, wenn das kühle, glatte Gras über die nackten Sohlen streicht und zwischen den Zehen kitzelt?«

Siehst du, auf solche Weise sind meine Bilder entstanden. Und dann gibt es noch einen Grund, warum ich nicht die Rolle deiner Scheherazade spielen werde:

Nachts neben dir im Bett habe ich anderes im Sinn, als mir Geschichten für dich zusammenzureimen. Wie soll ich nach Wörtern suchen, in denen die Bilder meiner Erinnerung für dich vorstellbar werden, während meine Gedanken und Empfindungen in eine andere Richtung gezogen werden, abgelenkt vom Geruch deiner Haut und von den Spuren deiner zärtlichen Hände, die du nicht bei dir lassen kannst?

Nein – das schlag dir aus dem Kopf! Ich werde zu schreiben versuchen, während du nicht bei mir sein kannst. Beginnen werde ich – wie schon diesmal – ein paar Tage nach deiner Abreise, wenn nicht nur mein Verstand, sondern auch mein Körper begriffen hat, dass du nicht mehr da bist; und ich werde schreiben, bis deine Rückkehr so nahe bevorsteht, dass die unabweisbare Vorstellung des Zukünftigen die Erinnerung an Vergangenes hinwegzuschwemmen beginnt. Nur in der Zeit zwischen diesen beiden sich periodisch wiederholenden Ereignissen werde ich also fähig sein, in meiner Erinnerung nach jenen Bildern zu fahnden, ohne die deine Bilder unvollständig bleiben müssen, und damit befinde ich mich fast schon in der beruflichen Routine. Wie oft krame ich im Magazin unseres Museums nach Bildern oder bildhaften Gegenständen, aus denen Vergangenes sich meinem Begreifen erschließen könnte, oder wenigstens nach solchen, über die noch niemand einen Aufsatz publiziert hat.

Gärten und Wälder

Das Bild, mit dessen Beschreibung ich meine Geschichte anfangen will, zeigt den Ausschnitt einer Landschaft. Ich erinnere mich an eine von blühenden Obstbäumen bestandene Wiese, deren helles Grün getupft ist mit den weißen Dolden von Wiesenkerbel und Bärenklau und mit gelbem Löwenzahn. Mitten in der Wiese steht ein niedriges, einstöckiges Bauernhaus mit rotem Ziegeldach und weiß gekalkten Mauern, die von kleinen quadratischen Fenstern durchbrochen sind. Neben dem Haus flattert auf einer in flachen Bögen von Stange zu Stange ausgespannten Leine weiße und bunte Wäsche im Wind. Am blauen Himmel segeln wattige weiße Wolken.

Während ich diese Erinnerung hinschreibe, sehe ich dieses Bild wieder vor mir, das an der Wand über dem Tisch in unserem Kinderzimmer hing, niedrig genug, dass ich es immer wieder anschauen konnte, auch von meinem Bett aus, das an der gegenüberliegenden Wand stand.

Heute kann ich aufgrund meiner kunstwissenschaftlichen Studien hinzufügen, dass dieses Bild in einem durch den Impressionismus beeinflussten Stil gemalt war, wie er in Deutschland zu Anfang dieses Jahrhunderts bei Malern von Gebrauchskunst in Mode kam, während weniger kompromissbereite Maler sich schon in das Abenteuer des Expressionismus stürzten. Damals erstaunte es mich, wie sich die Oberfläche des Bildes bei näherem Hinsehen in zahllose Pinseltupfer unterschiedlicher Farbnuancen auflöste, die den Eindruck von flirrendem Licht erzeugten, das sich in vielfältiger Weise auf Gräsern, Blüten und selbst auf den Strukturen des hellen Mauerwerks und dem Zinnober, Braunrot und Purpur der Dachziegel brach. Übrigens war dieses Bild kein Original, sondern ein Farbdruck, der bei irgendeinem späteren Umzug in eine andere Wohnung verloren ging.

Ich durchstreifte diese Landschaft bis in die feinsten Pinselstriche, lag träumend im Gras unter den blühenden Bäumen, wanderte am Haus vorüber weiter die Wiesenhänge hinan bis zu einem an der Grenze des Horizonts in blassen Blautönen erahnbaren Wald und war schon oft um das Haus geschlichen, um zu sehen, was sich auf dessen Rückseite befinden mochte. Einen Gemüsegarten stellte ich mir dort vor mit Zeilen von Buschbohnen, Petersilie und violett blühenden Zwiebelröhren und am Zaun ein paar Sonnenblumen und blassrosa Stockmalven, wie ich sie vom Garten meines Großvaters kannte. Und während ich dort umherschlenderte und alles anschaute, roch ich den herben Duft der Malven, und die aromatische Ausdünstung der Zwiebeln unter der Sonne regte meinen Appetit an.

Wie du siehst, verkochten sich in dieser farbigen Reproduktion die idyllischen Aspekte meiner Kindheit zu einer köstlichen Suppe, die ich ganz allein für mich verspeiste. Denn vor meiner älteren Schwester, der du ja auf deiner Suchwanderung begegnet bist, hielt ich diese imaginären Spaziergänge geheim. Wahrscheinlich fürchtete ich ihren Spott oder gar ihre Verurteilung solcher Spinnereien. Sie ist durch und durch eine Realistin, musst du wissen, war das auch schon als Kind und hat nicht selten versucht, sich mir gegenüber als pädagogische Instanz aufzuspielen, wenn ich mich ihrer Meinung nach allzu weit aus ihren Vorstellungen von Wirklichkeit zu entfernen drohte.

Ein einziges Mal hatte ich sie zu fragen gewagt, was sich wohl hinter dem Haus auf dem Bild befinden mochte.

»Was denn schon?«, hatte sie geantwortet. »Der Pappendeckel, auf den das Bild geklebt ist!«

Ihre Antwort reizte mich zum aufsässigen Weiterfragen: »Und was ist hinter dem Pappendeckel?«

»Die Tapete.«

»Und dahinter?«

»Die Mauer.«

»Und dahinter?«

»Der Efeu, der an der Hausmauer hochklettert.«

»Und dahinter?«

»Die Luft.«

»Und dahinter?«

»Luft!«, schrie sie. »Luft! Luft! Nichts als Luft!«

Sie wurde plötzlich so wütend, dass sie aus dem Zimmer lief und die Tür hinter sich ins Schloss warf. Oder hatte ich ihr Angst gemacht, dass sich doch etwas hinter dem Haus befinden könne, etwas, von dem sie nichts wusste? Heute möchte ich fast annehmen, dass sie Angst hatte, Angst vor etwas, das jenseits ihrer Vorstellungsmöglichkeiten lag. Aber damals meinte ich, sie wolle die Bilder zerstören, die ich mir gemacht hatte, und so sprach ich nicht mehr von der Welt, die ich in diesem Bild Schritt für Schritt entdeckte.

Der Garten hinter dem Haus, unsichtbar für alle anderen, weil er nur in meiner Vorstellung existierte, wurde zu meiner Fluchtburg. Wenn ich heute versuche, mir die Wege, die Gemüsebeete, die Blumen und Bäume dieses Gartens in Erinnerung zu rufen, so scheint mir, dass ich mich damals, als ich mir diese Imagination schuf, am Garten meines Großvaters orientiert haben muss; denn beide Gärten, der wirklich vorhandene wie der vorgestellte, schieben sich in meiner Erinnerung so untrennbar übereinander wie zwei auf dieselbe Leinwand projizierte Lichtbilder. Nur zwei – allerdings für mich ausschlaggebende – Unterschiede gab es: Den Garten meines Großvaters konnte ich nur dann betreten, wenn er das klobige Vorhängeschloss an der aus altersgrauen Latten zusammengeschlagenen Zauntür aufschloss, und überdies war ich dort für jeden, der mich suchte, erreichbar. Meinen Garten hinter dem Haus jedoch konnte ich jederzeit in meiner Vorstellung erstehen lassen, ja ich konnte seine Anlage oder seine Bepflanzung, wenn sie meinen Wünschen nicht mehr genügten, nach Belieben ändern. Außerdem war ich, wenn ich ihn einmal betreten hatte, nahezu unerreichbar.

Das meinte ich jedenfalls, bis eines Tages meine Mutter, ohne dass ich sie hätte kommen hören, bei mir im Zimmer stand. Sie musste schon länger hinter mir gewartet und mich beobachtet haben, als ich sie plötzlich fragen hörte: »Wo bist du?«

»In meinem Garten«, sagte ich, ohne nachzudenken. Erst dann wurde mir bewusst, dass ich im Begriff war, mein Versteck zu verraten. Erschrocken blickte ich mich um und sah, wie sie lächelnd hinter mir stand und mich überhaupt nicht anschaute, sondern auf das Bild blickte.

»Hast du ihn also auch entdeckt, den Garten hinter dem Haus«, sagte sie. Sie fragte das nicht, sondern stellte es einfach fest.

»Bist du dort gewesen, früher?« Während ich stockend diese Frage formulierte, wusste ich nicht, ob ich mich über diese Gemeinsamkeit der Erfahrung freuen oder über ihren Einbruch in mein Geheimnis ärgern sollte. Doch sie löste mein Problem auf ihre Weise, legte den Finger auf meine Lippen und sagte: »Verrate mir nichts über deinen Garten! Der gehört dir ganz allein, und niemand soll dich dort stören. Mein Garten war bestimmt ganz anders. Deinen kennst nur du.«

Zunächst fühlte ich mich erleichtert, als sie sich auf diese Weise weigerte, die Grenze zu meinem geheimen Bereich zu überschreiten. Die verschlungenen Wege zwischen meinen Blumenbeeten und Ziersträuchern waren von ihr nie betreten worden. Hinter diesem niedrigen Bauernhaus lagen offenbar noch andere Gärten verborgen, die ich nicht kannte.

Ihr Garten sei anders gewesen als meiner, hatte sie gesagt. Während ich über diese Worte nachsann, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich ein eigenständiger Mensch war, auf mich allein gestellt mit meinen Gedanken, Vorstellungen und Wünschen, anders als alle übrigen Menschen, abgelöst von meiner Mutter, die mir bisher so vertraut gewesen war, als sei ich ein Glied an ihrem Körper. Auf einmal erschien sie mir fremd bis zur Unzugänglichkeit.

Es ist wohl kein Zufall, dass ich zu dieser Zeit auf dem Bild an der Wand meines Zimmers etwas zum ersten Mal bewusst wahrnahm, das ich bisher nicht beachtet hatte: Das Bauernhaus hat auf der Vorderseite links neben den vier quadratischen Fenstern eine Tür. Sie besteht offenbar aus Holz, ist apfelgrün gestrichen und steht nach außen hin so weit offen, dass man neben dem trapezförmig verkürzten Umriss des Türblattes ins Dunkel des Hausinneren blickt; und dort hebt sich, nur vage mit lockeren Pinselwischern in dunklen Karmin- und Brauntönen angedeutet, schemenhaft so etwas ab wie die Gestalt eines Menschen, der eben ins Dunkel des Hausflurs geht.

Obwohl ich dieses Bild vor Augen gehabt hatte, soweit ich mich zurückerinnern kann, war mir dieser Vorgang in der Tür des Hauses bisher verborgen geblieben. Was ich gesehen hatte, waren allenfalls ein paar nicht weiter bedeutsame Farbtupfer, die sich in diesem Augenblick, an den ich mich noch heute überdeutlich erinnere, plötzlich und völlig unerwartet zu einem belebten Teil des Bildes zusammenschlossen und eine Geschichte erzählten, die Geschichte eines Menschen, der in dieses Haus eintritt. Ich spüre noch heute, wie mich dieser Einbruch eines Menschen in die Welt meines Bildes erschreckte.

Bisher hatte ich gemeint, ich sei der einzige Mensch, der den Garten hinter dem Haus auf dem Bild betreten könne, hatte mich unbeobachtet geglaubt, mich jedem Einfall des Augenblicks hemmungslos hingegeben, als sei ich allein und war es doch nie gewesen. Allerdings hinderte mich dieser Schrecken nicht daran, meine Ausflüge in die imaginären Regionen weiterzutreiben. Im Gegenteil: Die Anwesenheit dieser kaum identifizierbaren Person im Dunkel hinter der Tür des Hauses verlieh meinem Spiel eine Spannung, wie ich sie bis dahin nicht gespürt hatte, ein kühler Schatten, der auf mich fiel und Schauer über meinen Rücken rieseln ließ. Was tat diese Person dort im Haus? Blickte sie mittlerweile aus einem der rückwärtigen Fenster in meinen Garten? War es eine Frau oder ein Mann? Was hatte sie für ein Gesicht? Winkte sie mir zu, oder wollte sie mich gar ins Haus locken, in dieses Dunkel, das hinter der halb geöffneten Tür lauerte?

Manchmal überwältigte mich diese lustvoll-angstvolle Spannung dermaßen, dass ich Hals über Kopf aus dem Garten floh und innerlich schreiend über die sanften Wiesenhänge zu den blauen Wäldern am Saum des Horizonts rannte, um mich hinter den Stämmen der hohen Bäume zu verstecken. Dort stand ich dann und spähte hinunter zum Haus, ob mir jemand folgte oder aus einem der Fenster zu mir heraufstarrte.

Einmal zeigte sich, während ich oben im Schatten der Bäume stand, an einem der rückwärtigen Fenster des Hauses eine dunkle Gestalt, die mir winkte, wobei ich nicht entscheiden konnte, ob dieses Winken einen freundlichen Gruß darstellen sollte oder eine befehlende Geste. Ich fühlte mich ertappt und spürte sofort, dass hier zwischen den hohen Stämmen der Fichten kein Ort war, an dem ich mich vor diesem Blick hätte verbergen können, selbst wenn ich mich ins dichte Unterholz gedrückt hätte oder durch eine schwarz gähnende Röhre hinabgekrochen wäre zu den Füchsen. Ausgesetzt diesem Blick stand ich am Rand des Waldes unter den Schlägen meines Herzens und begann Schritt für Schritt hinab über die Wiesen auf das Haus zuzugehen, auf die Gestalt, die weiterhin am Fenster stand und mir winkte.

Es war ein Mann, das erkannte ich im Näherkommen, ein Mann in einem streng zugeknöpften schwarzen Anzug, der, als ich schon nahe bei dem Haus war, plötzlich ins Zimmer zurücktrat und das Fenster schloss, sodass ich im spiegelnden Glas nur noch mich auf der Wiese mir selbst entgegengehen sah. Gleich darauf trat der Mann rechts hinter dem Haus hervor, blieb wartend im Gras stehen und deutete mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand vor sich hin auf den Boden. Bis dorthin sollte ich gehen, so verstand ich das, mich dorthin stellen und seinem Blick preisgeben.

Du darfst nicht meinen, dass ich nur Angst gehabt hätte vor dieser streng aufragenden dunklen Gestalt. Ja, mir zitterte das Herz, als ich vor ihn hintrat, aber zugleich empfand ich auch Zutrauen zu diesem Mann, der mich aufmerksam mit seinen bräunlich-grünen Augen betrachtete, prüfend, streng, doch nicht ohne Wohlwollen.

Dieser Blick, mit dem er mich musterte, zog mich an und beunruhigte mich zugleich; mir war zumute, als suche dieser Mann in mir etwas zu finden und zu erkennen, das ich nicht war und auch nicht sein wollte. Diese unausgesprochene Forderung konnte ich nicht ertragen und schlug die Augen nieder, aber ich musste mir gefallen lassen, dass er seine Hand an mein Kinn legte und mein Gesicht hob, um es einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Zufrieden schien er nicht zu sein mit diesem Anblick; denn er schüttelte den Kopf und krauste die Stirn, während er schon beide Hände hob und anfing, mit ihnen mein Gesicht zu kneten, das sich unter seinen Griffen verformte wie weicher Ton. Ich spürte, wie seine Finger fast schmerzhaft stark auf meine Backenknochen drückten, und seinen Handballen presste er auf den Rücken meiner Nase, presste und presste, als wolle er ihre Biegung gerade drücken. Dann packte er mich um die Hüften, hob mich mit solcher Leichtigkeit, als sei ich ein Vögelchen, vom Boden auf und begann mit der anderen Hand an meinen Beinen zu zerren, anscheinend in dem Bemühen, sie länger und gerader zu strecken. Wie eine leblose Puppe hing ich in seinem Griff, und der Schmerz zuckte mir durch die Hüftgelenke von diesem Gezerre, dass ich laut aufschrie. Da setzte er mich ins Gras, strich mir mit der Hand übers Haar und ging davon. Schon im nächsten Augenblick war er hinter dem Haus verschwunden.

So saß ich dann dort im Gras zwischen Kerbel und Butterblumen und wusste nicht, wie mir geschehen war. Was stimmte nicht an mir, dass er mich so anfasste, knetete und zerrte? War er nicht zufrieden mit meinem Gesicht und mit meinen Gliedern? Damals kehrte ich ratlos von meinem imaginären Ausflug in das Bild zurück in die Gegenwart meines Zimmers. Ich ging zum Fenster und versuchte mein Gesicht in der spiegelnden Scheibe zu betrachten, aber ich konnte es vor der übersonnten Fassade des Nachbarhauses nur vage erkennen, unzureichend für eine prüfende Beschau.

Unten im Haus hörte ich meine Mutter in der Küche mit klirrendem Geschirr hantieren. Da wusste ich mich ungestört und ging ins Schlafzimmer meiner Eltern, wo es in der Tür des Kleiderschranks einen großen Spiegel gab, in dem ich mich von Kopf bis Fuß anschauen konnte. Es war wohl das erste Mal, dass ich meinen Körper so prüfend und kritisch musterte, wie ich drüben im kühlen Schlafzimmer stand, durch das offene Fenster die Amseln schimpfen hörte, weil vermutlich eine Katze durch den Garten strich, und Zug um Zug meines Gesichts verfolgte, so lange, bis mir dieses doch eigentlich vertraute Gesicht so fremd erschien, als hätte ich es noch nie gesehen, fremd und beängstigend.

War das ich, was ich da zu erkennen versuchte? Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte diese Fremdheit meines eigenen Gesichts auch darin ihren Grund, dass ich zum ersten Mal heraustrat aus dem ungestörten Selbstbewusstsein des Kindes und mich – soweit das überhaupt möglich ist – gewissermaßen aus fremden Augen betrachtete, aus den prüfenden Augen dieses dunkel aufragenden Mannes, der wohl, wenn ich das heute bedenke, nichts anderes darstellte als eine Widerspiegelung der mich überschattenden Figur meines Vaters.

Aber vielleicht reime ich mir mit alledem nur etwas zusammen oder interpretiere die Erinnerung an einen Tagtraum meiner frühen Kindheit allzu eindeutig. Du darfst dir jedenfalls nicht vorstellen, ich hätte eine schlimme Kindheit gehabt mit der Schreckensfigur eines Vaters, der mich aus der Wiese meiner Imagination aufklaubte wie einen Käfer, um mir nach Art eines ungezogenen Buben die Beine auszureißen. Ich erinnere mich jedenfalls, dass ich bei nächster Gelegenheit meine Schwester vor diesen Schlafzimmerspiegel führte und in dieses neu entdeckte Spiel einweihte. Starres Gesicht nannten wir es. Man musste möglichst lange in sein eigenes Gesicht starren, ohne eine Miene zu verziehen, wobei mich immer wieder dieses unheimliche Gefühl der Fremdheit beschlich. Darüber sprach ich allerdings nicht mit meiner Schwester. Vielmehr begann ich, wenn sich mir mein starres Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entfremdet hatte, dermaßen wüste Fratzen zu schneiden, dass dieses Spiel stets in wildem Gelächter endete, zumal mich meine Schwester auch darin noch zu überbieten versuchte, sobald sie die Beherrschung über ihre Züge verlor.

Warum tun Kinder so etwas? Oder konkreter: Was trieb mich damals zu diesem Spiel, dessen uneingestandenes Entsetzen ich heute noch in meiner Erinnerung vorfinde? Habe ich auf diese Weise Distanz zu gewinnen versucht zu der Person, als die ich mich eben selbst erst wahrzunehmen begann? Nichts ist mehr vertraut an diesen seltsamen Gesichtszügen im Spiegel; sein Zauber verwandelt mein Gesicht, und es tritt heraus aus der Gewohnheit, der Schädel einer wildernden Katze, der unversehens zwischen dem aufgestörten Laub des Gebüschs sichtbar wird, einer Katze, wie sie durch den Garten streunt und die Amseln aufscheucht, dass sie schimpfend ins Geäst flüchten. Ich starre in dieses Gesicht, das meines spiegelt und doch fremder ist als sonst was, fremder als die Katze, die ich kenne, eher eine Löwin, deren Anblick mir Angst einjagt; denn ich ahne, dass sie durch den Garten schleicht, um dem dunklen Mann ihre Krallen ins Herz zu schlagen, und ich habe gegen diese Angst nichts einzusetzen als meine Fratzen und mein Gelächter als Abwehrzauber.

Hier muss ich den Fluss meiner Geschichte erst einmal unterbrechen, sonst stellst du dir womöglich vor, ich hätte meine Kindheit vor dem Spiegel in der Betrachtung meines eigenen Gesichts verbracht oder mich in Spaziergängen durch den imaginären Garten hinter dem Haus auf dem Bild in meinem Zimmer verloren. Da gab es ja noch den wirklichen Garten meines Großvaters, an dem ich mich in den Vorstellungen meiner Fantasie orientiert hatte.

Lass mich also von Großvater erzählen, der nach dem Tode der Großmutter lange Zeit bei uns im Hause lebte und den ich damals gerne geheiratet hätte, so liebte ich ihn. Wenn das Wetter es zuließ, verbrachte er die meiste Zeit in seinem Garten, den ich dir eingehend beschreiben muss, damit du eine Vorstellung bekommst von diesem Paradies meiner Kindheit. Dieser Garten lag am Hang unterhalb eines Waldes von Eichen, Buchen und Maronenbäumen. Wenn man den Garten durch das Gatter von unten her betrat, gelangte man zunächst in einen Bereich, der zu jeder Jahreszeit mit Ausnahme des Winters von einer Fülle von Blüten überschwemmt war, Schneeglöckchen zuerst, bald danach Narzissen und Tulpen und am Rand der Rabatten dicke Polster von gelb und rot blühenden Primeln. Später entfalteten die Akeleien ihre stahlblauen oder rosavioletten Krönchen, die kugeligen Knospen der Pfingstrosen platzten auf wie überreife Früchte, deren purpurrotes Fleisch durch die Risse der grünen Schale quillt, und dann kam die Zeit der Rosen, deren Duft bis hinein in den Herbst über dem Garten lag, bis er vom bitteren Friedhofsgeruch der Astern und Chrysanthemen verdrängt wurde.

Durch all diese wechselnde Pracht führte hangaufwärts ein Mittelweg, der weiter oben eine den Garten in einen unteren und einen oberen Bereich teilende Hecke aus Beerensträuchern durchbrach und sich danach im grasigen Grund eines Obstangers verlief. Hier gab es ein paar alte, knorrige Apfelbäume, frühe Gravensteiner, Goldparmänen und späte Boskop, einen breitkronigen Baum, der im Juni helle gelbrote Süßkirschen trug, an denen ich mich Jahr für Jahr überfraß, ein paar Zwetschgenbäume und einen riesigen Birnbaum, dessen Stamm nicht zu umfassen war und von dessen unerreichbar hohen Ästen im Frühherbst mittelgroße quittengelbe, würzig schmeckende Früchte herabfielen. Zerpratscht lagen sie dann rings um den Stamm im Gras, umsummt von zahllosen Wespen.

Neben diesem Birnbaum stand dicht bei einem seit Langem unbenutzten Schuppen ein uralter, zum Teil schon abgestorbener Apfelbaum, der spät im Herbst, wenn die zerfressenen Birnen längst verfault waren, kleine, rotbackige süße Früchte trug, die ich Zuckeräpfel nannte und als Einzige in der Familie gern aß. Auch der Großvater mochte sie nicht, sie waren wohl auch wenig haltbar, und so ließ er sie, wenn sie reif waren, abfallen, den Wespen zum Fraß, die hier weiterhin ihre Nahrung fanden. Ich weiß nicht, wie oft ich heulend hinunter zu meinem Großvater gehumpelt bin, weil mich eines dieser schwarz-gelb geringelten Biester in den nackten Fuß gestochen hatte; denn ich konnte es nicht lassen, barfuß durch das kühl feuchte Gras zu laufen, in dem die herabgefallenen überreifen Äpfel faulten und die stechenden Räuber anlockten.

Da legte mir der Großvater kunstgerecht einen Verband an, nahm mich auf seinen Schoß und erzählte mir eine Geschichte, die mich meinen Schmerz rasch vergessen ließ; denn er war ein hinreißender Erzähler. Ihm hast du es wohl zu verdanken, dass du mich auf einer Märchentagung getroffen hast. Großvaters Märchen haben mich seit damals nicht mehr losgelassen. Man könnte auch sagen: Sie sind mit mir mitgewachsen wie ein dehnbares Strickkleid und haben mir im Lauf der Jahre immer neue Einblicke eröffnet. Deshalb kann ich sie dir nicht mit den Worten erzählen, die er damals gebraucht haben mag, sondern kann dir nur die Vorstellungen schildern, die seine Worte in mir geweckt haben, kann nur davon sprechen, wie ich die Ereignisse seiner Geschichten erlebt und vielleicht später weitergesponnen habe; denn ich befand mich alsbald selbst mittendrin in diesen Ereignissen, eine Erfahrung, die dir nach allem, was du mir berichtet hast, nicht fremd sein dürfte. So schlüpfte ich fast ohne jeden Widerstand in die Gestalt, die er mir anbot, jenes Mädchen Herod, von dem seine Geschichten handelten.

»Es war einmal ein König, der hatte zwei Töchter, aber keinen Sohn.« So fing er damals an, während ich mich auf seinen knochigen Knien zurechtsetzte und mir die weiteren Umstände vorzustellen versuchte, unter denen dieser König mit seinen zwei Töchtern lebte. Er war verwitwet, erfuhr ich, und hatte auch keine neuerliche Heirat im Sinn, da er seine verstorbene Frau nicht vergessen konnte. Mit einem Sohn war also nicht mehr zu rechnen. In dem Land, das er regierte, war es jedoch üblich, dass nur ein Mann die Krone tragen durfte, und deshalb machte sich dieser König schon während der Kinderjahre seiner Töchter Gedanken darüber, ob eine von ihnen einen Mann ins Haus bringen würde, dem er Krone und Reich guten Gewissens würde übergeben können.

Hier unterbrach ich meinen Großvater und fragte ihn, ob es dieser König nicht fertigbringen könne, eine seiner Töchter als Königin einzusetzen, entgegen aller Üblichkeit in diesem Lande. Schließlich sei er doch der König und könne tun, was er wolle. In England gebe es auch eine Königin, und die könne sich dann einen Prinzgemahl aussuchen, weil sie auf andere Art keine Kinder bekommen könne, um ihre Krone weiterhin zu vererben.

»Was du nicht alles weißt«, sagte der Großvater und lachte ein bisschen. Aber dann schüttelte er den Kopf und fuhr fort: »In meiner Geschichte ist das nicht so, und ich kann es, wo ich einmal damit angefangen habe, nun nicht mehr ändern. Gegen solche Üblichkeiten können sogar Könige wenig ausrichten.«

»Blöd finde ich das«, sagte ich.

»Recht hast du«, sagte der Großvater. »Jetzt weißt du wenigstens, dass auch Könige sich blöd benehmen können. Aber lass mich jetzt weitererzählen.«

Ich erfuhr nun, dass die älteste Tochter, er nannte sie Gesine, schon als Kind ein überaus ernsthaftes Mädchen gewesen sei, sodass kaum zu befürchten war, sie würde sich in einen leichtfertigen Burschen verlieben. So dachte jedenfalls der König zunächst und versuchte, wenn ihn Sorgen um die Zukunft des Landes überkamen, an dieser Vorstellung festzuhalten. Doch dann kam ihm eines Nachts, als er nicht schlafen konnte, die Redensart in den Sinn, dass Gegensätze einander anzögen, und diese Vorstellung stürzte ihn in Ungewissheit. Seither beobachtete er genauer, mit wem seine ältere Tochter umging, und dabei musste er zu seinem Kummer feststellen, dass sie beim Spielen eben jene wilden Buben bevorzugte, die sich bedenkenlos auf jedes Wagnis einließen und Ermahnungen allenfalls mit Gelächter quittierten.

Weil ihm diese Erfahrung zu denken gab, wendete der König seine Aufmerksamkeit seither auch der jüngeren der beiden Schwestern zu. Herod, so nannte sie der Großvater, war ein wildes, ungebärdiges Mädchen und hatte, wie der König erst jetzt merkte, wenig Lust, sich irgendwelchen Weisungen oder gar Befehlen zu fügen. Er versuchte nun, das Kind zu einem königlichen Benehmen anzuhalten, doch er musste erleben, dass Herod, sobald sie sich unbeobachtet glaubte, in den Schlosspark entwischte, die seidenen Schühchen von den Füßen schleuderte, ihre Röcke raffte und barfuß über den taufeuchten Rasen rannte.

Spätestens an dieser Stelle von Großvaters Erzählung war ich in die Gestalt dieser jüngeren Tochter geschlüpft und begann ihre Erlebnisse in die Schauplätze meiner eigenen Erfahrung einzubauen. Aus diesem Grund kann ich Großvaters Geschichte in meiner Erinnerung kaum von all dem auseinanderhalten, was ich in dieser Zeit selber erlebt, gedacht und empfunden habe, und so will ich beides auch nicht mehr voneinander trennen und so weiterberichten, als ginge es um meine eigene Geschichte. Genau besehen trifft das ja auch zu.

Jedenfalls unterbrach ich neuerlich meinen Großvater und fragte: »Gab es dort einen Zuckerapfelbaum? So einen alten, von dem die überreifen Äpfel ins Gras herunterfallen?«

»Sicher«, sagte mein Großvater. »Natürlich schwirrten dort auch Wespen um die süßen Falläpfel. Wespen gibt’s überall, auch im Park von Königsschlössern. Wespen lassen sich nichts befehlen und nichts verbieten.«

Als er das sagte, spürte ich schon die kühl feuchten Grashalme unter meinen nackten Sohlen, während ich mein seidenbrokatenes Prinzessinnenkleid herauf bis über die Knie raffte, um barfuß über den Rasen zu laufen, rasch hinauf bis zum Zuckerapfelbaum, dessen Früchte, die sonst keiner mochte, leuchtend rot im schon gilbenden Laub hingen.

Noch ehe ich den Baum erreicht hatte, hörte ich hinter mir die Stimme meines königlichen Vaters, der nach mir rief. Im Laufen blickte ich über die Schulter zurück und sah ihn im Portal des Schlosses stehen und zu mir heraufblicken, streng und prüfend.

»Mit solch unschicklichem Benehmen wirst du mir keinen prinzlichen Brautwerber ins Haus locken!«, sagte er so laut, dass seine Stimme bis zu den äußersten Grenzen des Schlossparks dröhnte wie eine erzene Glocke. »Und so schön sind deine Beine wahrhaftig nicht, dass du sie jedermann zeigen musst!«

Beschämt ließ ich mein langes Kleid bis auf die Füße herabfallen und hätte mich am liebsten in irgendein Loch verkrochen. Über den Saum meines Rocks stolpernd, lief ich weiter, doch da war ich schon unter meinem Zuckerapfelbaum und trat beim nächsten Schritt auf einen weindunstig gärenden Apfel, spürte noch, wie unter meiner bloßen Sohle ein winziger, elastisch gepanzerter Körper zuckte, und dann fuhr mir der Schmerz des Stichs dermaßen durch die Glieder bis hinauf ins Hirn, dass ich zu Boden stürzte, unmittelbar vor der silbergrau verwitterten Holzwand eines schon lange nicht mehr benutzten Pavillons, vor Augen ein rissiges Brett, aus dem mich genau an dieser Stelle ein kreisrundes Astloch anblickte. Du hast ein Loch gesucht, um dich zu verkriechen, schien es zu sagen. Hier ist eins.

Das Loch war ein Tor, und auf der Schwelle stand eine Frau in schwarz-gelb geringeltem Trikot, winkte mich heran und sagte: »Rein mit dir, du Zuckerpüppchen!«

Sie hatte das Outfit und auch das Gehabe einer Bademeisterin im Kostüm der Golden Twenties, und ihr betont heiterer Kommandoton ließ mich zögern, in dieses Tor-Loch einzutreten, hinter dessen Wölbung ich im Halbdunkel schattenhafte Figuren vorüberhuschen sah. Noch mehr war es der Anblick ihrer Augen, der mich am Eintreten hinderte. Dunkel, ungeheuer groß und ohne erkennbare Iris wölbten sie sich unter ihrer schmalen Stirn. Es war mir unmöglich, ihren ungezielten Blick zu ertragen, aber mein Zaudern machte die Meisterin nur noch ungeduldiger.

»Nun komm schon!«, befahl sie. »Herein ins Loch, wie du dir’s gewünscht hast!«

Sie packte mich am Arm und bugsierte mich über die Schwelle in einen Raum, dessen obere und seitliche Begrenzung im staubflirrenden Dämmerlicht nicht auszumachen war. Wir standen hier mitten im Strom hin- und hereilender Wesen, die wie verkleinerte Kopien der Meisterin aussahen.

»Nicht so rasch!«, sagte ich. »Mich hat eine Wespe in den Fuß gestochen.«

Die Meisterin lachte. »Was du nicht sagst! Wenn ich nicht einer meiner Amazonen befohlen hätte, ihren Stachel in deine Zehe zu rammen, ständest du noch immer draußen vor dem Loch, riesig wie du warst, und wüsstest nicht, wie du hier hereinkommen sollst. Ohne Schmerz keine Verwandlung! Kapiert? Was hast du überhaupt gesucht in diesem Loch?«

»Ich wollte mich verstecken«, sagte ich, ohne zu zögern.

»Wovor?«

»Vor seinem Blick.«

»Wessen Blick?«

»Dem Blick des Königs.«

»Warum schaut er dich so an?«

»Er ist mein Vater.«

»Und wo bleibt da deine Mutter?«

»Sie ist gestorben.«

»Dann war es an der Zeit, dass ich dich hereingeholt habe«, sagte die Meisterin, und das klang so, als habe sie im Sinn, an mir Mutterstelle zu vertreten. »Schließlich muss dir jemand zeigen, wie du dich gegen diesen königlichen Vater zur Wehr setzen kannst.«

Es klang nicht sonderlich ehrfurchtsvoll, wie sie das Wort königlich gebrauchte, eher so, als bezeichne es eine besonders subtile Art von Geistesschwäche. Mittlerweile hatte sie aus der vorüberhastenden Menge zwei ihrer verkleinerten Ebenbilder herangewinkt, die sie Amazone fünf und Amazone siebzehn nannte, als sie beide ansprach. »Ihr macht mit diesem Zuckerpüppchen ein bisschen Aufsässigkeitstraining«, sagte sie. »Noch Fragen?«

»Wo haben Zuckerpüppchen ihren Stachel?«, fragte Amazone fünf.

»Blödfrau!«, sagte die Meisterin. »Zuckerpüppchen haben keinen Stachel. Lasst mal eure Fantasie spielen! Und nun ab mit euch!«

Amazone fünf und Amazone siebzehn packten mich rechts und links an den Ellenbogen und reihten sich mit mir in den Strom ihrer Artgenossinnen ein, in dem wir eine Zeit lang vorangetrieben wurden bis zu einem hängenden runden Haus aus grauem Papier, zu dem all die anderen unterwegs waren. Wir betraten es jedoch nicht; denn meine Begleiterinnen, die mich nicht aus den Klauen ließen, scherten aus und führten mich weiter bis zu einer Wand aus riesigen Brettern, zwischen denen durch lange senkrechte Spalten helles Tageslicht hereinschien.

Erst hier angesichts dieser schmalen Lichtsäulen, die das Dunkel in senkrechte Streifen zerschnitten, war zu erkennen, wie hoch der Raum war, durch den wir gingen, immer weiter auf dieses riesige Lichtgatter zu, dessen blendend helle Spalten, als wir sie erreichten, sich als so breit erwiesen, dass wir ohne Weiteres, wenn auch hintereinander, durch eine von ihnen wie durch eine offene Tür ins Freie treten konnten, hinaus auf eine Plattform aus grobfasrigem, rissigem, durch das Wetter ausgebleichtem Holz. Hoch über uns flirrte grünes Laub in der Sonne.

Die beiden Amazonen stellten sich mir gegenüber und wussten nicht so recht, was sie mit mir anstellen sollten.

»Lass deine Fantasie spielen!«, sagte Nummer fünf zu Nummer siebzehn.

»Ich kann nicht spielen«, sagte ihre Gefährtin. »Hast du Fantasie?«

»Woher?«, sagte Nummer fünf. »Dafür ist die Meisterin zuständig. Sie befiehlt uns, was zu tun ist, und wir tun es.«

Ich sah den beiden zu, wie sie ratlos miteinander redeten. Auch sie hatten diese übergroßen Augen, zwar entsprechend ihrer Körpermaße etwas kleiner als die der Meisterin, aber noch immer groß genug, dass ich ihren Blick nicht aushalten konnte, wenn sie mir ins Gesicht schauten. Noch unerträglicher erschien er mir als der prüfende Blick des Königs, der mich ständig verfolgte und mich schließlich in dieses Loch getrieben hatte.

»Was wollt ihr eigentlich mit mir tun?«, fragte ich die Amazonen. »Fällt euch nichts ein?« Und als ich keine Antwort bekam, machte ich selbst einen Vorschlag, zu dem mich der unerträgliche Anblick ihrer Augen motiviert hatte. Es ärgerte mich, dass ich diesen fantasielosen Wesen unterlegen sein sollte, und so sagte ich: »Ich möchte lernen, euren Blick auszuhalten. Ist das ein Aufsässigkeitstraining im Sinne eurer Meisterin?«

»Du hast Fantasie«, sagte Nummer fünf. »Was sollen wir tun?«

»Nichts weiter als ruhig dastehen, und eine von euch soll mir in die Augen schauen.«

Ich hatte nicht geahnt, worauf ich mich einließ. Es war schrecklich. Anfangs meinte ich, dem Blick ihrer Augen nie standhalten zu können. Sobald ich mich unter Aufbietung all meiner Willenskraft zwang, Nummer fünf – sie war die dominierende Persönlichkeit von beiden – in die Augen zu schauen, begann ich am ganzen Körper zu zittern, und kalter Schweiß stand mir alsbald auf der Stirn. Doch ich hatte mich nun einmal entschlossen, nicht nachzugeben, auch wenn es mir schien, als wüchsen diese Augen, würden immer größer, bis sie mein Blickfeld ausfüllten. Ihre zunächst stumpf und undurchsichtig wirkende dunkle Wölbung begann sich zu zahllosen bebenden Lichtpunkten aufzulösen, als starrten mich gleichzeitig Hunderte von Augen aus dem Schatten ihres Hintergrundes an. Kein einzelner Blick, der irgendeine Seelenregung verraten würde und den ich hätte fixieren und erwidern können, keine wie auch immer geartete Zwiesprache der Augen, sondern ein erschreckend fremdartiger, regelmäßig gegliederter Raster winziger Beobachtungsgeräte, auf mich gerichtet mit der teilnahmslosen Präzision von Sensoren einer technischen Apparatur.

Sobald ich bis zu diesem Entsetzen vorgedrungen war, brach mein Widerstand jedes Mal zusammen, und ich musste, vor Anstrengung keuchend, die Augen senken, bis Nummer fünf mit ihrer emotionslosen Stimme sagte: »Du sollst mir in die Augen blicken! Training ist harte Arbeit!«

Als wir das drei- oder viermal so durchexerziert hatten und ich immer wieder hatte aufgeben müssen, sah ich, nachdem ich wieder Herrin meines Bewusstseins geworden war, dass die Meisterin in dem schmalen Durchlass zum Inneren des Gebäudes stand. Offenbar hatte sie uns schon eine Zeit lang beobachtet, ohne dass ich sie bemerkt hätte.

»Wem ist das eingefallen, dieses In-die-Augen-Schauen?«, fragte sie ihre Amazonen. »War das eure Idee?«

»Nein«, sagte Nummer siebzehn. »Ein Vorschlag von Zuckerpüppchen. Aber sie schafft es nicht.«

»Kein Wunder«, sagte die Meisterin, und zu mir: »Du hast dich übernommen. Wenn du das bei unsereinem versuchst, dann ist es, als wolltest du zugleich in ein paar Hundert Augen schauen. Der reinste Horrortrip! Lass das lieber sein, du machst dich nur verrückt.«

»War also keine gute Idee«, sagte ich.

Aber das fand die Meisterin durchaus nicht. »Versuch’s noch einmal«, sagte sie, »aber schau diesmal Nummer fünf nicht direkt in die Augen, sondern auf die Stelle zwischen den Augen, wo sie diese drei gelben Punkte auf der Stirn hat.«

Das tat ich dann, und diesmal schaffte ich es. Die Art, wie ich ihr stur auf die Stirn starrte, ohne eines ihrer Augen zu fixieren, machte sie offenkundig so nervös, dass sie schließlich aufgab. »Lass das!«, sagte sie, während sie den Kopf zur Seite drehte. »Mir ist zumute, als schautest du mir mit deinen Augen bis ins Hirn oder durch meinen Kopf hindurch weiß der Himmel wohin.«

»Siehst du«, sagte die Meisterin. »So klappt’s.«

»Und was soll ich tun, wenn der König mich anschaut?«, fragte ich. »Der hat nicht solche Augen wie ihr.«

»Tu’s trotzdem!«, sagte die Meisterin. »Mach’s genau so! Hast du noch nicht gemerkt, dass es gefährlich ist, einem anderen Menschen in die Augen zu schauen? Du gibst dich selbst damit preis. Wenn sein Zauber stärker ist als deiner, dann tut er mit dir, was er will. Schau also auch dem König zwischen die Augen. Das wird ihn verwirren.«

Was ich hier zuletzt geschrieben habe, dürfte kaum noch der Geschichte entsprechen, die mir damals mein Großvater erzählt hat. Er war kein Mensch, der einem zwischen die Augen schaut, sonst besäße ich heute nicht mehr ein so lebendiges Erinnerungsbild seiner Augen, deren Blick offen und lange ohne jeden Rückhalt die Liebe preisgab, die er für mich hegte. Ich habe ja anfangs schon gesagt, dass diese Geschichte sich mit meinen eigenen Erfahrungen verändert hat, und das bedeutet, dass auch meine mühsam erlernten Abwehr-Strategien in sie eingegangen sind. Halte also bitte diesen liebenswerten alten Mann nicht für einen üblen Kerl, der kleinen Mädchen solche Tricks beibringt.

Aber irgendwie muss er meine Schwierigkeiten mit meinem Vater, der ja sein Sohn war, gespürt und als Motiv in seine Wespengeschichte eingebaut haben, sonst hätte ich nicht daran anknüpfen und sein Garn weiterspinnen können. Ich erinnere mich jedenfalls, dass er Verständnis zeigte, wenn ich mich den Weisungen oder gar dem Zugriff meines Vaters wieder einmal entzogen hatte, und dass er mich ihm gegenüber in Schutz nahm.

»Merkst du denn nicht, wie dir dieses ungebärdige Kind auf dem Kopf herumtanzt?«, sagte mein Vater erbittert, nachdem mir Großvater wieder einmal geholfen hatte, meinen Freiraum zu verteidigen.

Aber der lachte nur. »Es wird ihr nicht schaden, beizeiten die schwierige Kunst des Tanzens auf dem Kopf eines Mannes einzuüben«, sagte er und zwinkerte mir zu. Nur wir beide wussten, dass ich meine Finger auf dem blanken Parkett seines kahlen Schädels tanzen ließ, nachdem ich das umgrenzende Gehege des Haarkranzes gründlich gekämmt hatte.

Ja, wir waren heimlich Verbündete, Großvater und ich. Wo ich seinen Beitrag von meiner vorliegenden Version der Wespengeschichte abgrenzen soll, weiß ich nicht, aber dass dieser Mann mich ermuntert hat, meine weibliche Eigenart gegen männliche Dominanz durchzusetzen, das weiß ich sehr wohl, auch wenn es dir merkwürdig vorkommen mag. Und diese Erinnerung hat mich stärker beeindruckt als jene viel später aufgenommenen, von Frauen geäußerten feministischen Parolen.

Wenn ich jetzt an die Menschen zurückdenke, die mir als Gesprächspartner etwas bedeutet haben, so muss ich feststellen, dass ich schon seit jeher über Fragen, die mich intensiv beschäftigten, stets besser mit Männern habe reden können. Solche Gespräche habe ich immer als reizvoller empfunden, mag sein auch deshalb, weil sie – bewusst oder unbewusst – von einer erotischen Spannung vorangetrieben werden; denn Erotik strebt in erster Linie nach Erkenntnis. Aber es gibt auch noch rationalere Gründe dafür. Ich meine, über Fragen, die das Verhältnis zwischen Frauen und Männern betreffen, ist sinnvoll nur zwischen Frauen und Männern zu sprechen, wenn das Gespräch sich nicht im Kreise drehen oder zur kollektiven Nabelschau verkommen soll, wobei allerdings vorauszusetzen wäre, dass beide Partner ein Interesse daran haben, den Standpunkt des jeweils anderen begreifen oder sogar lieben zu lernen.

Mein Großvater, glaube ich, war ein solcher Gesprächspartner, beispielsweise für meine Mutter, die mir später, als ich schon erwachsen war, einmal gesagt hat, mit ihm habe sie über ihre Probleme besser reden können als mit meinem Vater oder gar mit irgendwelchen Freundinnen. Großvater war also keiner, der einem oder einer zwischen die Augen schaut. Diesen Trick habe ich mir angeeignet in der Auseinandersetzung mit Menschen, die mir nicht zuhören, sondern über mich nach ihrem eigenen Gutdünken befinden wollen. Jedenfalls weiß ich, dass ich irgendwann damit anfing, meinem Vater zwischen die Augen zu schauen, wenn er mich mit seinen strengen oder gar Strafe androhenden Blicken musterte.

Es kann auch sein, dass ich diesen Trick zunächst bei den Spiegel-Spielen mit meiner Schwester entdeckte. Starres Gesicht konnte ich, wie ich mich entsinne, länger aushalten, wenn ich vermied, mir selbst in die Augen zu schauen; denn dieses immer tiefere Eindringen in den Grund der eigenen Augen kam fast einer peinlichen Gewissenserforschung gleich. Alles, was ich vor mir selbst verbergen wollte, wurde mir unter dem Blick der eigenen Augen Stück für Stück wieder bewusst und türmte sich zu einer allzu rasch anwachsenden Last gemachter oder noch drohender unangenehmer Erfahrungen auf, deren drückendes Gewicht mich bald zwang, die Augen abzuwenden. Der Blick auf die eigene, noch faltenlos glatte Kinderstirn brachte keine derartigen Gefährdungen mit sich, dessen entsinne ich mich jetzt, wo ich darüber nachdenke, wieder ganz deutlich, und zugleich wird mir dabei mit Erschrecken bewusst, wie früh ich angefangen habe, solche Abwehr- und Verdrängungs-Strategien zu entwickeln, nicht nur gegen Störungen von außen, sondern auch gegen die Mahnungen meines eigenen Gewissens, und auch das ist ja eine Instanz, deren Wirkung nicht unabhängig von jenen Menschen entsteht, die nur allzu genau zu wissen vorgeben, was richtig ist und was falsch. Was ist das für eine Welt, in der sich schon Kinder auf solche Weise zu verstecken und in irgendwelche Löcher zu schlüpfen versuchen?

Aber ich muss noch konkreter fragen: Was hat mich an den Blicken meines Vaters so irritiert, schon damals als Kind? Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst. Diese Irritation hängt, meine ich, mit meinem Gefühl für den eigenen Körper zusammen, das bei einer Frau möglicherweise stärker oder bestimmender ist als bei einem Mann. Aber vielleicht sollte ich dieses Verhältnis nicht so wertend ausdrücken; denn dein Körpergefühl ist mir nicht vertraut genug, als dass ich so etwas behaupten dürfte. Anders ist es wohl mit Sicherheit, und dafür mag es mancherlei Gründe geben, bei einem Kind schon die äußeren Umstände, unter denen es aufwächst. In der Gestalt eines Mädchens werden viele Eltern und der Vater möglicherweise in besonderem Maße nach Anzeichen sich vorbereitender Schönheit suchen, nach Ebenmaß der Gesichtszüge oder nach schmaler Eleganz der Glieder, während von einem Jungen andere Qualitäten erwartet werden, Kraft etwa oder übermäßige Intelligenz. Die Konvention erlaubt es Jungen, übermäßig in ihren Lebensäußerungen aufzutrumpfen, während von unsereinem Ebenmaß erwartet wird. Solche Konventionen sind für mich noch heute schwer zu begreifen und wohl auch nicht sinnvoll begründbar, aber sie werden offenbar trotz allen emanzipatorischen Geredes von Generation zu Generation weitervererbt.