Hans Bemmann
Band 3:
Massimo Battisti
Von einem, der das Zaubern lernen wollte
Roman
Hans Bemmann, geboren 1922 in Groitzsch bei Leipzig, begann 1940 sein Medizinstudium, das er abbrechen musste, als er 1941 zum Kriegsdienst einberufen wurde. Nach Kriegsende nahm er das Studium der Musikwissenschaft und der Germanistik in Innsbruck auf. Ab 1954 war er Lektor beim Österreichischen Borromäuswerk. Diese Tätigkeit setzte er 1956 in Bonn fort. Zusätzlich war er von 1971 bis 1983 Dozent für das Fach Deutsch an der Pädagogischen Hochschule Bonn. Sein größter Erfolg, Stein und Flöte, machte ihn beinahe über Nacht bekannt und gilt heute mit weltweit über 500 000 verkauften Exemplaren als Kultbuch der fantastischen Literatur. Hans Bemmann verstarb im April 2003 in Bonn.
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Hans Bemmann. Die Verzauberten. Band 3: Massimo Battisti. Roman
Die Verzauberten-Trilogie besteht aus folgenden Bänden:
Band 1: Die beschädigte Göttin
Band 2: Die Gärten der Löwin
Band 3: Massimo Battisti
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.
Die Originalausgabe ist 1998 in der Edition Weitbrecht in K. Thienemanns Verlag, Stuttgart, erschienen.
ISBN: 978-3-95751-301-4
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Frau Professor Dr. Annemarie Schimmel danke ich für die Erlaubnis, drei Sätze des Sufi-Mystikers Husain ibn Mansur al-Halladsch aus ihrer in dem Band »Gärten der Erkenntnis« abgedruckten Übersetzung zu zitieren.
Massimo Battisti, Professor der Kunstgeschichte, wohnhaft in Venedig – was hat es mit diesem Menschen auf sich? Unversehens ist er in meiner letzten Geschichte aufgetaucht, und ich weiß bisher von seinem Vorleben nicht mehr, als er selbst preisgegeben hat, von seiner Kindheit im Haus des erfolgreichen, aber aus einfachen Verhältnissen emporgekommenen Vaters, nach dessen frühem Tod der damals sechzehnjährige Sohn die Verantwortung für Haus und Vermögen übernehmen musste, weil die verwöhnte Mutter, die Contessa, dieser Aufgabe nicht gewachsen war, und wie diese vornehme Mutter den Sohn festhielt als ihren kostbarsten Besitz, den sie mit niemandem teilen wollte, schon gar nicht mit einer Frau.
Seither hat diese Figur begonnen, mich zu bedrängen. Offenbar will sie mich zwingen, ihr mehr Lebenshintergrund zu verschaffen, als ich ihr bislang zugestanden hatte. Also eine eigene Geschichte, nunmehr über diesen italienischen Gelehrten mit dem Mutterkomplex?
Außer den eben erwähnten mageren Andeutungen zu seiner Biografie, die er selbst geäußert hat, weiß ich vorderhand über ihn nur noch, dass die fiktive Erzählerin ihn in zunehmendem Maße in Zusammenhang gebracht hat mit dem sagenhaften Magier Merlin. Es sind ja auch ihre Geschichten, die Geschichten um ihr erzähltes zweites Ich, die Königstochter Herod, in denen er ihr näher und näher kommt, um dann unversehens weggerückt zu werden in eine kaum noch zu überbrückende Distanz.
Genau besehen ist dieses fiktionale Gewebe noch komplizierter: Die Geschichte, von der hier die Rede ist, und somit auch die Geschichten um Herod, habe ich ja vom ersten bis zum letzten Wort selbst geschrieben, die ersten Seiten übrigens an demselben Schreibtisch im Haus meiner Freunde an der Donau, in Sichtweite des Benediktinerstifts Melk drüben am anderen Ufer, und nun sitze ich wieder hier und denke darüber nach, wie es sich eigentlich verhält mit dem Erzählen von Geschichten. Habe ich mir diese und auch andere vorausgegangene Geschichten einfach ausgedacht – was immer dieses Wort auch bedeuten mag? Woraus denn? So einfach ist dieser Vorgang nicht zu denken, jedenfalls nicht so autark, wie dieses Wort zu unterstellen scheint. Wie verhält es sich dann? Habe ich diese Geschichten nicht erfunden, wie man so sagt, sondern gefunden? Sozusagen aufgelesen aus dem Strandgut der Lektüre vieler Jahrzehnte oder aus all dem, was mir während dieser Zeit zu Ohren gekommen ist? Auch diese Vorstellung will mir nicht recht behagen; denn ich bin nicht der Meinung, dass Geschichten vergleichbar wären mit einem Stück Treibholz, das man am Strand aus dem Sand klaubt, oder der Schale einer längst verfaulten Muschel, tote Materie all das. Aber so sind Geschichten nicht; sie können durch solches Fundgut allenfalls in Erinnerung gerufen werden.
Viel besser gefällt mir die Vorstellung, dass diese Geschichten mich gefunden haben. Geschichten wurden erzählt, seit es Menschen gibt auf dieser Welt, Menschen, die sich durch Wörter anderen mitteilen können, ganz zu Anfang vielleicht sogar durch Gesten und nachahmende Tanzbewegungen. Geschichten waren immer notwendig, weil sie die Wege eröffnen, auf denen die Welt begreifbar werden kann, diese Welt, die eigentlich nicht zu begreifen ist. Diese Geschichten begegnen mir, wie mir andere Menschen begegnen auf meinen Wegen, und sie fordern mich auf, ihnen hörbare, vorstellbare Gestalt zu verleihen, indem ich sie mir zu eigen mache, das soll heißen: ihre Bilder, ihre Figuren, ja eigentlich ihre Wörter mit meinen eigenen Erfahrungen fülle und damit neu zum Leben erwecke. Auf solche Weise beginne ich, in diesen Geschichten nicht nur die Welt neu zu entdecken, die in den Geschichten nachgezeichneten Wege der Menschen, sondern auch mich selbst.
Da sitze ich nun in Sichtweite des gewaltigen Stifts, das auf dem Felsen über der nach Osten strömenden Donau aufragt, des prunkvollen barocken Bauwerks, hinter dessen grün patinierter Kuppel und der vielhundertfenstrigen, sonnengelben Fassade sich der ältere Bau verbirgt, jener klösterliche Bau, in dessen kühlem Zellengewölbe zur Zeit des späten Mittelalters ein greiser Mönch eine erregende und ihn selbst erschreckende Geschichte aufgeschrieben haben soll, die von der Gewalt und auch von der Fragwürdigkeit der Wörter handelt, vom Geheimnis der aufgeschriebenen Texte und Geschichten. Und so spielt es für mich überhaupt keine Rolle, dass auch dieser Mönch nur als die Figur einer sich selbst mehrfach infrage stellenden fiktionalen Geschichte existiert, die ein anderer Autor aufgeschrieben hat, ein italienischer obendrein, was mir sehr gelegen kommt bei meiner Absicht, die Geschichte eines italienischen Professors aufzuschreiben.
Also: Massimo Battisti – wo kommt er her? Irgendwann einmal muss er ein Kind gewesen sein, ein Kind in einem weitläufigen Haus, sagen wir: in der Gegend von Treviso. Sein Vater war schon zu Reichtum gekommen, als er – sehr gegen den Willen ihrer Eltern – eine Tochter aus vornehmem venezianischem Geschlecht heiratete und ihr dieses Haus baute. Er selbst stammte aus dem Süden der Halbinsel, wo man noch dazu neigt, seine Frau von der Außenwelt abzuschirmen oder gar schlichtweg einzusperren, wie es bei den Mauren üblich gewesen war, die lange Zeit die Sitten des Südens bestimmt hatten. So hatte er mitten am Hang eines von Weinstöcken, Obstbäumen und Kastanien bewachsenen Hügels, den er in seinen Besitz gebracht hatte, einen Bau aufführen lassen, der trotz – oder vielleicht auch wegen – seiner modernistischen Beton-Architektur am ehesten an die staufischen Burgen in der Heimat des Bauherrn gemahnte. Fenster nach außen gab es nur im oberen Stockwerk, die unteren waren eher Luken zu nennen, geeignet, aus ihren schmalen Öffnungen einen angreifenden Feind zu beschießen, vorausgesetzt, dass dieser überhaupt bis zum Haus hatte vordringen können; denn Battisti hatte diesen gesamten Besitz mit einer hohen weiß gekalkten Mauer einfrieden lassen, die von einem einzigen Tor durchbrochen war. Wer innerhalb dieser Einfriedung lebte, hatte tunlichst auch darin zu bleiben und sein Genüge zu finden an den Rebstöcken, den Pfirsich- und Feigenbäumen und dem Kastanienhain auf der Höhe des Hügels.
Dieses Gelände war einem Gärtner anvertraut, der mit seiner Frau und zwei Gehilfen weiter unten an der Auffahrt in einem kleineren Gebäude wohnte. Im Haus selbst waren nur Frauen beschäftigt, eine Wirtschafterin, die als Einzige unter dem Dienstpersonal über einen Torschlüssel verfügte, den sie allmorgendlich benutzte, um im Dorf am Fuß des Hügels die notwendigen Einkäufe zu erledigen. Außer ihr gab es noch eine Köchin, zwei Dienstmädchen für die niederen Arbeiten und schließlich eine Kinderfrau für den kleinen Massimo.
Alles in diesem einer Wehrburg ähnlichen Haus öffnete sich nach innen zu einem offenen Patio, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Hier gab es einen Garten mit den Gewürzkräutern des Südens: Basilikum verströmte seinen herb scharfen Duft, Rosmarin, Thymian und Origano rundeten das Bouquet ab. Wenn man durch die Arkaden schlenderte, die im Geviert den Patio umgaben wie ein Kreuzgang, wehte einem dieser appetitanregende Geruch in die Nase, und ebendiesen Effekt hatte sich der Erbauer wohl gewünscht; denn er hatte es gern, wenn sein Appetit angeregt wurde, Appetit auf noch mehr Besitz, Appetit auf ein sorgfältig zubereitetes Mahl, Appetit auf eine schöne Frau.
Allerdings war er nicht oft in den Arkadengängen anzutreffen. Es konnte geschehen, dass er unangemeldet mitten in der Nacht in seinem Maserati vorfuhr, seinen Wagen über die den Hang emporschwingende Auffahrt zum Haus steuerte, die Einfahrt zur Garage öffnete, aus deren Hintertür man unmittelbar den Innenhof betreten konnte. Kann sein, dass er ein Bad nahm, ehe er seine Frau überraschte; manchmal brachte er die Geduld dazu nicht auf, sondern legte sich sogleich zu ihr, um sie in den schweißigen Dunst seiner Begierde einzuhüllen und mit der ihm eigenen Heftigkeit zu umarmen. Manchmal blieb er für ein oder zwei Tage, oft fuhr er schon im Morgengrauen wieder in seinem Wagen davon.
So kam es, dass der Knabe Massimo ihn nur selten zu Gesicht bekam. Sein Vater, das war ein unvertrauter, eher angsteinflößender Besucher mit befremdlichem Gebaren, der die Mutter meine süße kleine Contessa nannte und schon im nächsten Augenblick Nana, die Kinderfrau, ohne ersichtlichen Grund dermaßen anschrie, dass sie in Tränen ausbrach und schluchzend aus dem Zimmer stolperte. Wenn der kleine Massimo angesichts einer solchen verbalen Züchtigung seiner geliebten Nana zu heulen anfing, riss ihn dieser Vater mit jähem Zugriff empor, hielt ihn mit ausgestreckten Armen in Augenhöhe vor sich hin und starrte ihm mit seinen obsidianschwarzen Augen so lange ins Gesicht, bis es dem Kind gelang, seine Tränen zurückzuhalten und sein Schluchzen zu unterdrücken.
»Siehst du!«, sagte dann dieser Vater befriedigt. »Ein Mann weint nicht und schon gar nicht wegen einer Frau.«
Dann stellte er ihn wieder auf die Füße und schien gleich danach vergessen zu haben, dass es diesen Sohn gab.
In seinen ersten Lebensjahren war für Massimo die Welt durch Mauern eingegrenzt, zunächst durch die Mauern des Zimmers, in dem er bei seiner Kinderfrau schlief, sie in einem schmalen hölzernen Bett an der fensterlosen Innenwand, er in seinem Gitterbett neben dem Fenster, durch das er hinab in den Innenhof blicken konnte. Oft schaute er hinab zu dem kreuzförmig von Wegen unterteilten Kräutergarten, in dessen Mittelpunkt der Springbrunnen sein Wasser bis über die Höhe des Fensters heraufschleuderte. Wenn das Wetter es zuließ, nahm ihn die Kinderfrau mit hinunter in den Patio, setzte sich mit ihrem Strickzeug auf eine steinerne Bank unter den Arkaden und beobachtete ihn, wie er über die schmalen kiesbestreuten Wege zwischen den Kräuterbeeten lief.
Es war eine der frühen Erinnerungen Massimos, dass er auf der Stufe des steinernen Sockels saß, der das Becken des Springbrunnens trug, und emporschaute, dem in die Höhe schießenden Wasser nach, das weiter oben aus dem Schatten der Mauern sprang und von der Sonne zu Licht sprühenden Funken verwandelt wurde, ehe es wieder herabstürzte, in den Schatten zurücktauchte und ins Becken planschte. Und hoch über dem funkelnden Sprühen spannte sich blau der Himmel aus, durchpfeilt von Schwalben, die schreiend durch das Blau kurvten, und während sein Blick ihren schwirrenden Flügen folgte, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er eingeschlossen war in dieses helle Gemäuer, weit entfernt von der Freiheit der Vögel, die aus dem Nichts auftauchten und das ragende Geviert der Mauern wieder verließen, als gäbe es oben im Blauen keine Grenzen. Zu dieser Zeit stellte er sich die Welt außerhalb des Hauses vor als einen blauen, lichtdurchfluteten Raum, der allein den Vögeln gehörte; denn er konnte ihre Schreie noch hören, wenn sie das sichtbare Feld über dem Patio längst verlassen hatten.
An schönen Tagen kam auch die Mutter herunter in den Kräutergarten und setzte sich auf eine Bank unter den Arkaden, allerdings nie auf jene, die Nana gewählt hatte. Er wusste schon sehr früh, dass er ihre Lektüre nicht stören durfte, doch wenn sie ihn rief, löste er sich aus seinen Freiheitsträumen, ging zu ihr und forderte ihre Zärtlichkeit heraus, indem er sich, halb stehend, halb auf die Bank gekniet, an sie schmiegte. Es wurde schon gesagt, dass er seine Kinderfrau liebte, doch diese hielt sich mit körperlichen Berührungen zurück und wagte ihn nur mit Worten zu liebkosen, als scheue sie sich, in einen Bereich einzudringen, der einzig der leiblichen Mutter des Kindes zustand. Umso intensiver genoss Massimo die Berührungen der Mutter, die, während sie weiterlas, ihre Hand über seine Schulter hinab langsam über seinen Körper wandern ließ, ohne zu bemerken, dass er wieder hinauf zum Himmel blickte, den die Schwalben durchkreuzten.
»Die Vögel«, sagte er, »fliegen die auch in der Nacht?«
»Nein«, sagte die Mutter. »Nachts müssen sie schlafen wie du.«
»Wie ich?« Massimo war erstaunt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Vögel, die frei über den Himmel zogen wie geworfene Steine, ihm in irgendetwas ähnlich sein sollten. »Schlafen sie wie ich in einem Haus?«, fragte er.
Die Mutter lachte. »Nein«, sagte sie, »in einem Nest unter freiem Himmel.«
»So möchte ich auch schlafen«, sagte Massimo. »In einem Nest unter freiem Himmel.«
Die Mutter schüttelte den Kopf, und er merkte an der Art, wie sie lächelte, dass sein Wunsch unter keinen Umständen erfüllt werden würde, und deshalb entschied er sich dafür, nicht mehr darüber zu sprechen.
Aber der Gedanke daran ließ sich nicht verdrängen, sondern zwang ihn zu überlegen, wie er zu einem Nest unter freiem Himmel kommen könne. Zunächst, dachte er, musste er eine Nacht wählen, in der nicht die Gefahr bestand, dass sein Vater plötzlich wie ein Springteufel zu einem seiner Besuche auftauchte, also am besten eine Nacht kurz nach seiner Abreise. Vor allem aber musste er sich einen Hausschlüssel besorgen. Am ehesten kam jener in Betracht, den seine Mutter in ihrer Handtasche verwahrte. Wenn er abends in ihr Zimmer kam, ehe er zu Bett gebracht wurde, lag diese Handtasche auf der kleinen Kommode vor dem drehbaren Spiegel, der darauf stand. Morgens saß seine Mutter davor und machte sich ihre Haare, ehe sie ihre Tasche nahm und hinunter ins Speisezimmer ging, um mit ihm zu frühstücken.
All das überlegte er sich, bedachte jeden einzelnen Schritt und wartete im Übrigen auf den nächsten Besuch seines Vaters. Als darüber schon ein paar Wochen vergangen waren und er eines Vormittags wieder neben seiner Mutter unter einer Arkade des Patio saß und den über den porzellanblauen Himmel dahinschießenden Vögeln mit den Blicken folgte, fragte er seine Mutter, wann sein Vater wieder einmal komme.
Sie blickte ihn erstaunt an, weil er sonst nie nach ihm fragte, und sagte dann: »Wer kann das wissen?«
In der nachfolgenden Nacht sollte er in seinem Zimmer allein schlafen. Die Kinderfrau hatte sich erkältet oder einen Grippevirus aufgeschnappt; jedenfalls lag sie im Fieber und hustete dermaßen, dass ihr trockenes Bellen durchs ganze Haus zu hören war. Damit sie das Kind nicht ansteckte, hatte man ihr ein Bett in einem anderen Zimmer gerichtet.
Massimo fand es zunächst ganz lustig, allein in seinem Zimmer zu sein. Niemand konnte ihm verbieten aufzustehen, barfuß und im Nachthemd zum Fenster zu gehen und hinaufzuschauen zu dem Geviert des Himmels, das sich über dem schon nachtdunklen Patio nur wenig heller abhob. Keine Vögel pfeilten mehr darüber hin, aber etwas anderes schwirrte, ständig jähe Haken schlagend, zwischen den Mauern hin und her. Oft huschte eins dieser Nachtwesen dicht an seinem Fenster vorbei, ohne dass er genauer erkennen konnte, wie es aussah. Damals wusste er noch nicht, dass dies Fledermäuse waren, aber ihr flattriger Flug gefiel ihm nicht, und er vermutete schon, dass dies keine Vögel waren, sondern unheimliches Nachtgetier, das die freie Höhe des Himmels scheute und hier im Gemäuer umherjagte, wer weiß nach welcher Beute. Er fuhr erschrocken zurück, als eines der Flatterwesen die Fensterscheibe dicht vor seinen Augen mit den Flügeln streifte. Das klang, als wische ein ledriger Lappen darüber. Er mochte nicht länger zuschauen, kroch zurück in sein Bett und schlief bald danach ein.
Irgendwann in der Nacht erwachte er von einem heftigen, lange zwischen den Mauern des Innenhofs nachhallenden Donnerschlag, der die Fensterscheiben zum Vibrieren brachte. Und damit brach Blitz um Blitz ein Gewitter los, unter dessen Getöse die Mauern des Hauses bebten. Windböen schlugen gegen die Fenster und brachten dem erschrockenen Kind die seltsamen Flattertiere in Erinnerung, von denen eines an den Scheiben entlanggestrichen war, wie er jetzt fürchtete, als Vorbote kommenden Unheils. Nun meinte er, im ungewissen Licht der Blitze wahrzunehmen, wie sich diese zu hautgeflügelten monströsen Gestalten angeschwollenen Unwesen vor dem Fenster drängten und es aufzudrücken versuchten, um in sein Zimmer einzubrechen. Da sprang er schreiend vor Angst aus dem Bett, stürzte zum Zimmer hinaus und jagte über den langen dunklen Gang zu dem Zimmer, in dem seine Mutter schlief oder jetzt auch schon nicht mehr schlief; denn sie empfing den Eindringling, der jäh die Tür aufriss, mit zwei oder drei Schritten schon bei ihr war, in ihr Bett sprang und unter die Decke kroch, mit einem gellenden Schreckensschrei, ehe sie begriff, dass dies kein Nachtmahr, sondern ihr Sohn war, der sich bibbernd vor Angst an ihren Körper drückte.
»Die Flattertiere!«, schrie er. »Die Flattertiere kommen durchs Fenster!«
Das verstand die Mutter nicht. Es dauerte eine Weile, bis es ihr gelang, das Kind zu beruhigen, während draußen in immer dichteren Abständen Blitz und Donner aufeinanderfolgten. Dann wanderte das Gewitter allmählich ab, nur noch schwache Blinklichter ferner Blitze und verebbendes Grollen. Da war Massimo schon an der Seite seiner Mutter eingeschlafen.
Viel Beruhigung und Ruhe war ihm allerdings nicht vergönnt; denn irgendwann später in dieser Nacht wachte er davon auf, dass jemand die Klinke niederdrückte und die Tür öffnete. Das Unwetter hatte sich verzogen, und der seit wenigen Tagen abnehmende Mond leuchtete noch hell genug, um die Gegenstände im Zimmer schattenhaft sichtbar werden zu lassen. Massimo sah, wie der Flügel der Tür langsam aufgedrückt wurde und eine dunkle Gestalt sich hereinschob, die Tür leise ins Schloss drückte und herüber zum Bett schlich. Als sie dabei den Lichtbalken durchquerte, den der Mond durch das Fenster auf das Parkett warf, war für einen Augenblick ein blasses Gesicht zu erkennen, das Helle der Augen spiegelte aufblitzend das Licht, und ein kräftiger Schnurrbart zerschnitt dieses Gesicht querdurch in zwei Hälften. Auch unterhalb dieses Gesichts ließ der Mond eine Reihe senkrecht übereinanderstehender Punkte aufblinken, dazu je einen rechts und links davon, sodass es aussah, als trüge dieser Eindringling ein Kreuz auf der Brust.
Massimo begriff wohl, dass dies sein Vater war, der sich hereingeschlichen hatte, um sich zur Mutter zu legen, aber zugleich erschien ihm diese nächtliche Gestalt erschreckend fremd, als trüge sie die grausige, quer zerhackte Maske eines Dämons oder wäre gar in Wirklichkeit ein unheimlicher Nachtgänger, mit dem das Unheil in die vermeintliche Sicherheit seiner Zuflucht hereinbrach; denn die Gestalt stand nun über ihm und blickte zornig auf ihn herab. Das Kind erkannte jetzt, dass der Vater eine Uniform trug.
»Wer liegt da bei meiner Frau?«, knurrte er in jäh aufsteigender Wut über diesen heimlichen Liebhaber. Erst im Zupacken begriff er, dass dies ein Kind war, das sich voll stummer Angst an die erst allmählich erwachende Mutter klammerte. Sein Sohn.
Da lachte er laut auf und sagte: »Du bist noch zu klein, um bei Frauen zu liegen, aber schon zu groß, um im Bett deiner Mutter zu schlafen.« Er griff ihn sich, wie er einen Hamster aus dem aufgegrabenen Bau greifen würde, hob das sich zappelnd wehrende Kind mit einer Hand aus dem Bett und trug seine Beute hinaus in den finsteren Gang und hinüber ins Kinderzimmer, ließ es dort ins zerwühlte Bett fallen und war schon wieder draußen, ehe Massimo recht begriffen hatte, wie ihm geschah.
Damals, als das Kind dort allein im Zimmer lag, noch gestoßen vom Schluchzen seiner Angst und noch immer das Gesicht des Vaters vor Augen, die gespaltene Maske, die sich im Mondlicht ihm genähert hatte, damals wurde ihm zum ersten Mal bewusst, wie fremd ihm dieser Vater war, manchmal ein lachender Mann, der seine Späße mit ihm trieb, ihn auf seinen Knien reiten ließ, um ihn dann unversehens ins Bodenlose stürzen zu lassen; einer, der ihn unten im Innenhof des Hauses neben dem Wasserbecken in die Höhe warf, dass er vor Lust und zugleich vor Angst laut kreischte, und ihn dann in seinen sehnigen Armen sicher auffing und wieder auf die Beine stellte, aber auch einer, der ihn aufgriff wie ein erlegtes Stück Wild und davontrug, um ihn irgendwo fallen zu lassen, ohne weiter darauf zu achten, ob er in ein weiches Bett oder auf steinigen Boden stürzte. Dieser Vater war von anderer Art als die Mutter, bei der er stets wusste, ob sie für sich sein wollte oder bereit war, ihn zu berühren oder mit ihm zu sprechen; anders auch als Nana, die Kinderfrau, die ständig von der Sorge getrieben wurde, er könne sich durch irgendeine unbedachte Bewegung wehtun. Mit diesen beiden Frauen kannte er sich aus, aber der Vater war ihm fremder als fremd. Er war unheimlich. Weder wusste das Kind, woher er kam, wenn er unversehens auftauchte, noch konnte es ahnen, was der Vater im nächsten Augenblick tun würde, oder gar, was er von diesem Kind hielt, mit dem er auf solche Weise umging.
Er blieb auch diesmal nicht lange, nach dieser ersten Nacht nur noch einen Tag und eine weitere Nacht. Während des Tages trug er den olivfarbenen Uniformrock, als könne er jeden Augenblick zu einer dienstlichen Obliegenheit abgerufen werden. Als er so gekleidet am Vormittag den Innenhof betrat und das Kind, das am Rand des Wasserbeckens gespielt hatte, unversehens aufhob und auf dem Arm hielt, betastete es die blinkenden Knöpfe und fragte: »Bist du jetzt bei der Polizei?«
Der Vater stutzte einen Augenblick und lachte dann, als habe sein Sohn einen besonders absurden Witz gemacht. »Nein«, sagte er dann. »Bei der Polizei möchte ich unter keinen Umständen sein. Ich bin bei den Soldaten. Weißt du nicht, dass Krieg ist?«
Davon wusste das Kind noch nichts, ja es wusste nicht einmal, was dieses Wort bedeutete. Es lebte in dem großen, rings ummauerten Haus so abgeschlossen von der Welt, dass es noch nichts mit diesem Wort anfangen konnte. »Bekomme ich dann auch so eine Jacke mit goldenen Knöpfen?«, fragte das Kind; denn es nahm an, dass Krieg irgendetwas mit der Kleidung zu tun hatte.
»Dafür bist du noch zu klein«, sagte der Vater. »Solche Jacken bekommen die Männer, wenn sie in den Krieg ziehen, um auf andere Männer zu schießen.«
»Wie auf der Jagd?«, fragte das Kind. Davon hatte es eine Vorstellung. Im Herbst kam es vor, dass in den Weinbergen rings um das Haus die Büchsen knallten und später die Jäger im Innenhof ihre Beute auslegten, Hasen, Fasane und auch Rebhühner, von denen die Köchin einen Anteil auswählen durfte für die Herrschaft, wie sie sagte. Zuweilen war auch der Vater zu Hause gewesen und hatte an der Jagd teilgenommen. Das Kind entsann sich, wie er, das Gewehr mit dem Lauf nach unten über die Schulter gehängt, ins Haus gekommen war, in der einen Hand einen Blut tropfenden Hasen, in der anderen ein Bündel Rebhühner mit schlaff herabhängenden Flügeln.
»Eine Art von Jagd ist das schon«, sagte der Vater. »Man weiß nur nie genau, wer der Jäger ist und wer der Gejagte.« Während er das sagte, setzte er das Kind schon wieder ab und ging ins Haus, um seine Sachen zu packen. Am nächsten Morgen fuhr er davon.
Am Abend dieses Tages wollte Massimo herausfinden, wie es war, unter freiem Himmel in einem Nest zu schlafen. Als er seiner Mutter gute Nacht sagte, saß sie in ihrem Zimmer am Schreibtisch und schrieb einen Brief.
»Soll ich meinen Vater von dir grüßen?«, fragte sie.
Massimo kannte diesen Großvater kaum, der sich strikt weigerte, das – wie er sagte – barbarische Haus seines Schwiegersohnes zu betreten. Einmal, und das musste schon etwa zwei Jahre her sein, war die Mutter mit ihm nach Venedig gefahren und hatte das Kind in das Haus ihres Vaters gebracht. Massimo entsann sich vage einer hohen, direkt aus dem modrig riechenden Wasser des Kanals aufsteigenden Fassade mit schmalen, spitzbogigen Fenstern. Über eine steile Treppe waren sie direkt aus dem Boot zu einer Tür hinaufgestiegen. Drinnen waren sie durch dunkle Gänge gekommen, an deren Wänden bis hinauf zum Plafond reichende Regale voller alter ledergebundener Bücher unterschiedlichen Formats standen. In einem Zimmer mit dunkler Ledertapete hatte sie zwischen altersbraunen verschnörkelten Möbeln ein zierlicher weißhaariger Mann erwartet, der das widerstrebende Kind aufgehoben und geküsst hatte. Massimo spürte noch den kratzigen Schnurrbart über seine Wange streifen. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Auf die Frage seiner Mutter zuckte Massimo mit den Schultern und sagte: »Wenn du meinst …«, während er schon Ausschau hielt nach Mutters Handtasche. Die stand wie immer auf der Frisierkommode vor dem Spiegel. Nachdem das geklärt war, gab er seiner Mutter den gewohnten Gutenachtkuss, verließ das Zimmer und ging über den schon dunklen Flur hinüber in sein Schlafzimmer. Als er eben hinter sich die Tür schloss, hörte er von nebenan Nana husten, und ihre krampfhaften Hustenstöße hielten ihn weiterhin wach, während er, ohne sich ausgezogen zu haben, auf dem Bett lag und wartete, dass es im Hause still wurde.
Um nicht einzuschlafen, beobachtete er, wie der Mond hinter der jenseits des Innenhofes aufragenden Mauer langsam auftauchte, bis er sich von der dunklen Dachkante löste und hell am fast schwarzen Himmel stand, eine auf der rechten Seite leicht eingedrückte, leuchtend gelbe Melone, die allmählich höher stieg, während das helle Geviert, das sein Licht auf den Boden des Zimmers warf, mit gleichem Fortschreiten auf die Fensterwand zuwanderte. Massimo nahm sich vor, erst dann aufzustehen, wenn der Mond nach oben aus seinem Gesichtsfeld verschwand, und er hielt das tatsächlich durch, ohne einzuschlafen.
Sobald der Mond die vorbestimmte Grenze erreicht hatte, stand Massimo auf, nahm seine Schuhe in die Hand und schlich auf Socken zur Tür, die geräuschlos zu öffnen und zu schließen er während der vergangenen Tage so lange geübt hatte, bis er es selbst kaum noch hörte. Von da an lief alles genau nach Plan: Durch die Ritzen neben der Tür zum Zimmer seiner Mutter fiel kein Licht, und er hörte sie leise schnaufend regelmäßig atmen. Es war leichter, als er es sich vorgestellt hatte, in das Zimmer zu huschen, den Schlüsselbund aus der Handtasche zu nehmen und das Zimmer wieder zu verlassen. Seine Schuhe hatte er draußen vor der Tür abgestellt. Nachdem er den Schlüsselbund in die Tasche gesteckt hatte, nahm er die Schuhe wieder auf und tastete sich über die dunkle Treppe hinunter ins Parterre. Dort war gleich neben der Treppe die Tür, die er aufschließen musste.
Die Schlüssel klirrten leise aneinander, als er den richtigen heraussuchte, dessen Form er sich eingeprägt hatte, und ihn ins Schloss steckte. Er ließ sich nur schwer drehen, zumal von der Hand eines Kindes, doch dann spürte Massimo, wie der Widerstand plötzlich nachgab. Das deutlich vernehmbare Klicken, mit dem der Riegel zurückgezogen wurde, ließ das Kind für wenige Augenblicke erstarren. Als es im Haus still blieb, zog er den Schlüssel aus dem Schloss, drückte die Klinke nieder, zog die schwere Tür auf, huschte hinaus und drückte sie hinter sich wieder ins Schloss. Dann setzte er sich auf die steinerne Stufe vor der Tür und zog seine Schuhe an. Während er die Schnürsenkel zuband, fiel ihm ein, wie Vater, als er eines Nachts gekommen war, fürchterlich herumgebrüllt hatte, weil man vergessen hatte, die Tür abzuschließen. Es fehlte nicht viel und er hätte die Wirtschafterin, der er die Schuld gab, geschlagen. Massimo war solches Geschrei zuwider, und so schob er den Schlüssel diesmal von außen ins Schloss und sperrte die Tür zu, so laut es auch klicken mochte. Er war nun draußen, und dieses Klicken klang in seinen Ohren wie das Signal einer neu gewonnenen Freiheit.
Sobald er dem Haus den Rücken gekehrt hatte, überfielen ihn die Gerüche und Geräusche der Frühsommernacht, der Duft von frisch geschnittenem Gras, der im kühlen Wind von der Höhe des Hügels her wehte, das Rauschen des Laubs in den Obstbäumen rings ums Haus und die heimlichen Laute von irgendwelchem Nachtgetier. Ohne zu zögern, schlug er den schmalen Weg ein, der halbwegs um das Haus führte und sich dann weiter im Bogen zur Kuppe des Hügels hinaufschwang. Im Licht des nun hoch am Himmel stehenden Mondes war alles deutlich zu erkennen, die dunkel im Wind wogenden Kronen der Bäume, die rechts und links des Weges zu Pergolagängen gezogenen Rebstöcke und schließlich die knorrig emporgedrehten Stämme der alten Maronenbäume. Hier am Rand des Kastanienhains hatte der Gärtner das Gras noch nicht geschnitten, sodass Massimo sich Garben von Halmen zum Nestbau zusammendrehen konnte. Endlich lag er in seinem Nest, eingehüllt vom seltsam körperhaften Duft der noch blühenden Maronenbäume, und blickte hinauf in den Himmel, an dem, in einigem Abstand von der hellen Scheibe des Mondes, klar wie in den schwarzen Himmel gestanzt, auch viele Sterne zu sehen waren, die sich zu seltsamen Figuren zusammenfügen ließen. All das roch, hörte und sah er, als er dort oben beim Maronenhain in seinem Nest lag, und er dachte noch: So liegen also die Vögel nachts in ihrem Nest, ehe sie einschlafen. Und dann schlief auch er schon.
Die Empfindungen dieser Nacht blieben ihm für sein ganzes Leben gegenwärtig und wurden nicht im Geringsten beeinträchtigt durch die Erfahrung, dass er am Morgen unsanft geweckt wurde durch die Kinderfrau, die zeternd und zwischendurch noch immer hustend vor seinem Nest stand, herbeigeholt von dem Gärtner, der den schlafenden Knaben entdeckt hatte. Es spricht für die Gesinnung dieses Mannes, dass er es nicht über sich gebracht hatte, den Schlaf des Kindes zu stören, das am Rande des Wäldchens ins Gras gekuschelt lag, offenbar völlig im Einklang mit der Natur. Er hatte der Kinderfrau eigentlich nur das idyllische Bild des schlafenden Kindes zeigen wollen und versuchte sogar, sie daran zu hindern, dieses Bild zu stören. Ein solcher Anblick widersprach jedoch Nanas Vorstellungen vom Hüten des Kindes auf derart krasse Weise, dass sie außer sich geriet, den Mann, der beschwichtigend seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte, beiseitestieß und das von all dieser Unruhe nun schon aufgeweckte Kind aus seinem Nest riss und fast im Laufschritt davontrug, nur fort von solcher Unordnung, von dieser Eskapade hinein ins Ungebundene, fort von dieser Umarmung durch die Natur, der sich allenfalls schlichte Landleute hingeben durften, nicht aber dieser Knabe, der ihr anvertraut war und der versucht hatte, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Nicht, dass sie ihn geschlagen hätte – so weit reichten ihre Befugnisse nicht –, aber nahe daran war sie schon gewesen, trug nun das Kind eilenden Schrittes in die Sicherheit des Gemäuers zurück und hoffte, die Mutter würde nichts von diesem nächtlichen Ausflug Massimos bemerken. Den Gärtner hatte sie vorsichtshalber zum Schweigen verpflichtet, was sie sich hätte sparen können, wenn sie diesen Mann besser gekannt hätte; denn der dachte nicht daran, dem Kind diese Begegnung mit der Natur noch mehr zu verderben, als es die besorgte Nana ohnehin schon getan hatte.
»Wie bist du nur aus dem Haus gekommen?«, fragte die Kinderfrau, während sie mit dem Kind im Arm schon auf die Tür zuging. Da zog Massimo wortlos den Schlüsselbund aus der Tasche und ließ diebisch grinsend die Schlüssel aneinanderklingeln. Möglicherweise wurde der Kinderfrau beim Anblick des grinsenden Jungen bewusst, dass der ihr bislang anvertraute Schützling im Begriff war, sich nicht nur ihrer Erziehungsgewalt zu entziehen; denn auch der Gedanke daran, dass die Rückgabe der Schlüssel an die Mutter unweigerlich zur Entdeckung seiner nächtlichen Flucht führen musste, schien ihn wenig zu bekümmern.
Es lohnt sich kaum, die recht belanglose Szene zu schildern, in der die Mutter ihren Sohn nach den Gründen seines Ausbruchs aus dem Haus befragte; denn mehr als den Wunsch, wie ein Vogel schlafen zu wollen, brachte sie aus ihm nicht heraus. Wichtiger sind die Konsequenzen, die sie nach einem längeren Telefongespräch mit dem Vater daraus zog: Massimos geliebte Nana wurde – mit einer entsprechenden Abfindung, versteht sich – zu Ende des Sommers entlassen, und statt ihrer sollte eine junge Lehrerin eingestellt werden, die nicht mehr im Zimmer des Jungen schlafen würde, aber beginnen sollte, ihn nach dem Lehrplan der Grundschule zu unterrichten. Der Vater hatte bestimmt, dass sein Sohn nicht wie die Kinder der Bauern und Kleinhäusler die Dorfschule besuchen dürfe, und mit dieser Weisung bei der vornehmen Mutter ein offenes Ohr gefunden.
Auch die Wahl der Lehrerin hatte der Vater eingegrenzt: Sie solle aus Südtirol stammen, damit ihr Schüler von Anfang an neben dem italienischen Unterricht auch mit der deutschen Sprache vertraut gemacht würde. Der Vater nannte dafür keine Gründe; erst später stellte sich heraus, was er dabei im Sinn gehabt haben könnte. Dies alles sollte jedoch erst im Spätsommer beginnen, wenn auch für die Schulkinder die Ferien zu Ende waren. Vorderhand hatte eben erst der Juli angefangen, und die Mutter beschloss, das Kind nicht länger im Haus zu halten wie einen Gefangenen, sondern mit ihm innerhalb der Umfassungsmauern spazieren zu gehen, dies wohl auch deshalb, um solche nächtlichen Eskapaden künftig zu verhindern.
An einem der nächsten Tage ging Massimo also an der Hand seiner Mutter durch jene nächtens unter Mühe und Erregung heimlich geöffnete Tür hinaus und spazierte mit ihr den Weg hinauf, den er auch im Dunkel eingeschlagen hatte. Jetzt im Licht der Sonne sah alles ganz anders aus, klarer, schärfer abgehoben, aber auch weniger geheimnisvoll. Jedes Blatt war zu erkennen an den Rebstöcken seitlich des Weges, die matt schimmernde Rundung der noch grünen Beeren an den Trauben. Die hoch am Himmel stehende Sonne ließ kaum Schattenbereiche zu, in denen sich Unerkennbares einnisten konnte.
Oben am Rand des Wäldchens setzte sich die Mutter auf eine Bank, die das Kind in der Nacht überhaupt nicht wahrgenommen hatte, und schlug ein Buch auf, das sie mitgenommen hatte, um hier oben zu lesen, während das Kind sich in Sichtweite frei bewegen durfte.
Das war schon sehr viel mehr an Freiheit, als ihm bislang zugestanden worden war. Massimo trottete am Rand des Gebüschs entlang, entdeckte einen Käfer, wie er ihn noch nie gesehen hatte, dunkelfarbig, groß und dick und mit einem Geweih vorn am Kopf wie ein winziger Hirsch. Er betrachtete blühende Pflanzen, die es im Patio nicht gab, weil der Gärtner ihn sorgfältig freihielt von Unkraut. Schließlich setzte er sich an den tief gefurchten Stamm eines Maronenbaums in Blickweite der Mutter, aber doch weit genug entfernt, um das Gefühl nicht zu stören, allein für sich zu sein.
Die Schwalben flogen hoch am tiefblauen, von keiner Wolke getrübten Sommerhimmel. Massimo folgte ihrem Flug mit den Augen und bewunderte die freie Beweglichkeit, mit der sie über Haus und Weingärten durch die Bläue pfeilten. Schließlich konzentrierte er all seine Aufmerksamkeit auf eine einzelne Schwalbe und versuchte, sie unter all den anderen mit dem Blick festzuhalten und ihr Emporschwingen, Kreisen und Herabkurven mitzuempfinden. Zunächst verlor er sie ein paarmal im Getriebe der anderen aus den Augen, aber endlich behielt er sie fest im Blick und meinte nach einer Weile, die Eigenart ihres Flugs von jenem der anderen unterscheiden zu können, die Art etwa, wie sie aus einer kreisenden Bewegung plötzlich zur Seite ausbrach und eine andere Richtung einschlug. Er schwirrte mit ihr dicht über das Dach des Hauses, warf sich empor bis zu einer Höhe, dass all die anderen weit unter ihm kreisten, und mischte sich dann wieder unter sie, und mit einem Mal war er selbst dieser Vogel, fühlte die Luft sausend durch die Schwungfedern seiner Flügel fegen und blickte hinab auf die steil verkürzte Perspektive des Patio, den eben der Gärtner durchquerte, von oben betrachtet nicht viel mehr als ein breiter, ausgefranster Strohhut und zu den Seiten die Ansätze der Schultern, unter denen die Gartengeräte hervorstachen, die er trug. Dann drehte sich dieser Einblick ins Haus unter ihm weg, glitt aus seinem Gesichtsfeld, Grün wogte vorüber, dazwischen braune Erdstreifen, und die wie mit dem Pinsel gezogene graue Linie des Wegs zerschnitt den Rebhang bis hinauf zu den dunkelgrünen Baumkronen.
Massimo wurde nicht satt, sich hinauf in den dunkelblauen Himmel zu stürzen, höher und höher, sein Blick reichte weit hinaus ins Umland, die Umfassungsmauer des Grundstücks erschien nicht größer als der Zaun eines Hausgartens, darin kuschelte das Kastanienwäldchen, und an dessen Rand, winzig wie ein zerbrechliches Insekt, saß die Mutter auf der Bank und etwas weiter am buschigen Saum des Gehölzes lag ein Kind auf dem Rücken und starrte herauf zu ihm. War das er selbst, diese bewegungslose Hülle, die dort lag wie eine verdorrte Schote?
Er stürzte sich kopfüber hinunter, um dieses wie leblos liegende Bündel zu betrachten, das er selbst war oder im Augenblick des Stürzens auch nicht oder noch nicht wieder war, und während das Bild des liegenden Kindes sich im Näherrücken rasch vergrößerte und dessen leerer Blick erkennbar wurde, sah er mit halbem Auge, wie die Mutter ihr Buch zur Seite legte, aufstand von ihrer Bank und zu dem Kind hinüberging. Sie machte rasche Schritte, hatte wohl schon vorher gerufen, keine Antwort erhalten und war jetzt, durch das Schweigen des Kindes alarmiert, aufgesprungen, um nach ihm zu sehen. Es gelang Massimo, seinen Sturz eben noch abzubremsen und dicht über dem wie erstorben Liegenden einen Augenblick lang flatternd in der Luft stehen zu bleiben. Da hörte er auch schon die Mutter rufen, spürte wieder den Boden unter seinen Gliedern und sah die Mutter über sich stehen, während jene Schwalbe, die ihm ihre Gestalt geliehen haben mochte, dicht über dem Gebüsch davonschwirrte.
»Warst du eingeschlafen?«, fragte die Mutter. »Du lagst da wie ein Toter.«
Massimo war dermaßen verwirrt, dass er zunächst kein Wort über die Lippen brachte. Die Mutter betrachtete ihn lächelnd. »Du hast wohl geträumt?«, fragte sie.
Massimo fühlte noch immer das Sausen der Luft zwischen seinen Schwungfedern, aber das war vielleicht auch schon das feine Haargras, das ihn zwischen den Fingern kitzelte. »Kann sein«, sagte er und richtete sich auf, wusste aber genau, dass er nicht geträumt hatte und dass dieses Fliegen mit den Schwalben sein Geheimnis bleiben musste. Er würde es wieder versuchen, aber nie, wenn jemand in der Nähe war, der auf ihn achtete. So kam es vorläufig zu keiner Wiederholung dieses Erlebnisses, obwohl seine Mutter ihn noch mehrmals mitnahm zu einem Gang durch die Weinberge und hinauf zu der Bank am Rand des Maronenwäldchens.
Zu dem Zeitpunkt, als auch in der Dorfschule der Unterricht begann, traf die Lehrerin ein. Der Gärtner hatte sie mit seinem kleinen Transporter am Bahnhof von Venedig abgeholt und brachte das Mädchen, wie er angesichts ihrer Jugend, sagte, bis zur Tür des Hauses, wo Massimos Mutter sie erwartete.
Massimo mochte diese Lehrerin von allem Anfang an, wenn auch auf eine andere Art als seine Nana, die schon ein paar Tage zuvor unter Tränen und mannigfachen Beteuerungen ihrer Zuneigung sich von ihrem Pflegling verabschiedet hatte. Für das Kind war Nana seit je ein Bestandteil seines täglichen Lebens gewesen, eine Frau, die in sich ruhte wie ein unverrückbarer Felsen, solange er sich im Dunstkreis ihrer nach einem Hauch von Lavendel und ansonsten nach undefinierbaren matronenhaften Düften riechenden Aura bewegte. Die dunkelhaarige, noch fast mädchenhafte Sophie jedoch trat auf ihn zu als ein Abenteuer, das ihn aus dem bisherigen Gleichmaß seiner Tage im ummauerten Haus herauslockte in unbekannte Gefilde nicht nur des Wissens, sondern der Welt überhaupt; denn sie gab sich nicht damit zufrieden, ihre Zeit mit dem Kind stets nur innerhalb dieses festungsartig abgeschlossenen Gemäuers zu verbringen. »Das Kind muss erfahren, wie die Welt draußen vor der Tür beschaffen ist, wenn es etwas Sinnvolles lernen soll«, sagte sie zu ihrer Dienstherrin. »Wissen ohne Erfahrung taugt nicht viel«, setzte sie hinzu und legte alle Begeisterung in ihre Stimme, die ihr notwendig zu sein schien, um diesen Satz überzeugend klingen zu lassen.
Massimos Mutter blickte sie eine Zeit lang nachdenklich an. »Sie sind noch sehr jung«, sagte sie dann, »und die Welt ist böse.«
»Die Welt nicht«, sagte Sophie, »nur manche Leute, und die wissen’s oft nicht besser. Lassen Sie mich dem Kind die Welt zeigen, wie sie wirklich ist!«
»Und wenn ich das nicht erlaube?«, sagte die Mutter.
»Dann fahre ich wieder nach Hause«, sagte Sophie. Es war ihr anzusehen, dass sie es ernst meinte.
»Wissen Sie immer so genau, was Sie wollen?«, fragte die Mutter.
»Zumindest, was ich nicht will«, sagte Sophie.
Ihre Bestimmtheit machte die Mutter unsicher. »Meinem Mann«, sagte sie, »wird es nicht recht sein, wenn Sie die Stelle nicht übernehmen. Er hat Sie unter den Bewerberinnen ausgesucht. Also gut. Aber eines müssen Sie mir versprechen: Sagen Sie mir stets, wohin Sie gehen, wenn Sie mit dem Kind das Haus verlassen.«
Dagegen hatte Sophie nichts einzuwenden, und Massimo überkam wieder das Gefühl, unversehens in ein Abenteuer geraten zu sein, als die Lehrerin zum ersten Mal mit ihm hinaus ins Freie ging.
»Bist du noch nie allein hier draußen gewesen?«, fragte sie ihren Schüler, als sie seine offenkundige Erregung bemerkte und sah, wie er sich neugierig umschaute.
»Doch«, sagte Massimo und grinste verschwörerisch. »Ein einziges Mal, und da habe ich mich nachts heimlich rausgeschlichen, weil ich probieren wollte, wie die Vögel schlafen.«
Damit bot er Sophie ein Thema an, das sie sogleich aufgriff. »Warum interessierst du dich für Vögel?«, fragte sie auf Deutsch, wiederholte diesen Satz gleich danach in italienischer Sprache und erklärte ihm, dass sie immer dann, wenn der Unterricht außerhalb des Hauses stattfand, ihm zugleich im Gespräch die andere Sprache vertraut machen wolle, übersetzte auch gleich die einzelnen Wörter, die sie gebraucht hatte. Als er versucht hatte, sie nachzusprechen, wiederholte sie ihre Frage: »Warum interessierst du dich für Vögel?«
Massimo dachte darüber nach, während er neben ihr zwischen den Rebstöcken hügelaufwärts ging. Nach einem Stück Wegs sagte er: »Weil sie übers Haus fliegen und keiner sie aufhalten kann.«
An diesem Tag lernte er viele Vögel kennen, Stare und Drosseln in den Weinbergen, im Gebüsch ein paar Rebhühner und oben bei den Maronenbäumen den Eichelhäher und einen Buntspecht. Als sie oben im Schatten der Bäume saßen und auf das Haus hinabblickten, erfuhr er, warum die Schwalben den ganzen Tag lang durch den Himmel kurvten, einmal höher und an anderen Tagen niedriger, und was es mit dem rasselnden Hämmern des Spechts auf sich hatte.
»Woher weißt du das alles?«, fragte er.
Sophie lachte. »Das ist doch nichts Besonderes«, sagte sie. »Mein Vater hat ein Weingut im Überetsch. Wenn du in einem solchen Dorf aufwächst zwischen Bauernhäusern, Rebhügeln, Pfirsichgärten und Maronenbäumen, erfährst du solche Dinge fast von selbst. Natürlich musste ich später auch studieren, um Lehrerin zu werden, aber all das andere, das ich schon vorher wusste, erschien mir immer wichtiger.«
Ein paar Tage später, als sie wieder einmal oben am Rand des Wäldchens saßen und den Flug der Schwalben beobachteten, kam unversehens ein fernes Brummen auf, das an Lautstärke zunahm und den weiten Himmel mit seinem Dröhnen erzittern ließ. Da waren auch schon die Kondensstreifen zu sehen, die von Südwesten her als parallele weiße, sich bald wolkig verbreiternde Linien in den Himmel wuchsen, immer den winzigen, in der Sonne blinkenden Punkten nach, die ihnen vorauswanderten.
»Flieger!«, rief Massimo. Er hatte solche Geschwader schon über dem Innenhof des Hauses auftauchen sehen, während die Mutter ihn bei der Hand gepackt hatte und in unbegreiflicher Hast mit ihm in den Keller hinabgestiegen war. »Müssen wir nach Hause gehen?«, fragte er.
»Lieber nicht«, sagte Sophie. »Wenn wir hier unter den Bäumen ruhig sitzen bleiben, sieht uns keiner. Sie entdecken uns nur dann, wenn wir uns bewegen und über den Hang hinunterlaufen.«
Während sie noch hinaufblickten zu den jetzt schon deutlich erkennbaren Flugzeugen, die bald von den Baumkronen verdeckt werden würden, mischte sich in das tiefe orgelnde Brummen ein etwas helleres Summen, und sie sahen von der Seite her andere, kleinere Flugzeuge in weit ausschwingenden Kurven rasch herangleiten und die gleichmäßig über den Himmel gezogenen weißen Streifen durchkreuzen.
»Wie die Schwalben über dem Haus«, sagte Massimo.
»Nur nicht so friedlich«, sagte Sophie, während schon ein fernes Knattern zu hören war. Eine der größeren Maschinen scherte aus dem Pulk heraus und trudelte, eine schwarze Rauchfahne nach sich ziehend, rasch tiefer, sackte schließlich ab und verschwand hinter einer Hügelkuppe. Gleich darauf sahen sie an dieser Stelle eine dunkle Rauchwolke aufsteigen und hörten Sekunden später den dumpfen Knall einer Explosion.
»Was war das?«, fragte Massimo erschrocken.
»Krieg«, sagte Sophie.
Massimo erinnerte sich daran, was sein Vater zu diesem Wort gesagt hatte. »Waren Soldaten in dem Flugzeug, das dort heruntergefallen ist?«, fragte er.
»Ja«, sagte Sophie. »Und die sind jetzt vermutlich tot.«
Massimo wollte fragen, warum Menschen so etwas taten, aber er behielt diese Frage für sich, denn er konnte Sophie ansehen, dass sie keine Antwort darauf wusste.
Während der nächsten Tage blieben sie im Haus, saßen unten im Innenhof, und Sophie erzählte Massimo, wozu Buchstaben gut waren, und zeigte ihm, wie sie aussahen und wie man sie in Klänge verwandeln konnte. »Das ist eine Art von Zauberei«, sagte sie. »Schau her! Wenn ich jetzt auf ein Stück Papier den Satz schreibe: Auch hier fliegen Schwalben um das Haus,