Peter Weingartner
Derniere
edition 8
Derniere
Kriminalroman
Die Herausgabe dieses Buches wurde durch einen Beitrag der Gemeinde TRIENGEN und des Regionalen Kulturförderfonds Sursee-Mittelland unterstützt.
Verlag und Autor danken herzlich.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden, aber auch verstorbenen Personen sowie Institutionen, wie ein Verein, eine Bank, die Polizei und sogar ein Dorf es sind, wäre rein zufällig.
Die edition 8 wird im Rahmen des Förderkonzepts zur Verlagsförderung in der Schweiz vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2019–2020 unterstützt.
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September 2019, 1. Auflage, © dieser Ausgabe bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat & Korrektorat: Geri Balsiger; Typografie, Umschlag: Heinz Scheidegger. Umschlagbild: Menel Rachdi (er lebt als Maler & Illustrator im Luftschloss in Auswil/BE, www.menel.ch). e-Book: mbassador GmbH, Basel.
Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, info@edition8.ch
ISBN 978-3-85990-376-0
1
»Wo bleibt er so lange«, fragt Rainer Kreienbühl, der Regisseur. Unruhig sitzt er auf einer Festbank in der Theaterbeiz, schaut auf die Armbanduhr, bald elf Uhr; für einen Blick auf die Eingangstür, wo er seines Hauptdarstellers Erscheinen erwartet, riskiert der Mann eine Nackenverspannung. Scheit im Hals.
Natürlich weiss Kreienbühl um Viktor Habermachers Marotte. Nach jeder Aufführung bleibt er noch einige Minuten allein im abgetrennten Teil der Tenne, diesem Kabäuschen, wo die Spieler sich bereitmachen für ihre Auftritte. Umkleideraum. Sitzen und Sinnen. Requisitenraum: Alle Spieler haben ihren Stuhl. Platz für Rituale? Einen Altar für Stossgebete, eine Matte für eine Instant-Yoga-Übung gibts nicht. Auf einem Querbalken steht neben drei leeren eine angebrochene Flasche Weisswein. Ausgerechnet die Polizisten. Er müsse wieder zurückkommen auf den Boden, das hat Habermacher dem Regisseur erklärt, und der hat Verständnis gezeigt. Weltbretterboden der Tenne. Soll sein Hauptdarsteller halt seine Extrawurst haben. Aber zum Schlussapplaus, und wenn sie drei-, viermal zurück auf diese Tenne, zur Theaterbühne umgestaltet, geklatscht werden, zum Schlussapplaus zeigt er sich, da muss er durch.
Es ist frisch in der Theaterbeiz, wo es keine Heizung gibt im Spätsommer, wo allein die Menschen für Wärme sorgen und die Küche. Das Gewitter hat abgekühlt, und Sabine Kreienbühl legt sich ihr rosafarbenes Wolljäckchen über die mehrheitlich nackten Schultern.
»Man hats ja kommen sehen«, sagt die Gattin des Regisseurs zu Judith Kronenberg, der Präsidentin des Theatervereins. Sie meint den Wetterumschwung.
»Wir hatten wahrlich Wetterglück«, meint jene mit ernster Miene und einer Spur Erleichterung und nippt am Rotwein, den der Vorstand sich nun, nach der gelungenen Derniere, der letzten Aufführung, die den Theatersommer im Dorf krönt und abschliesst, leistet.
Christoph Schmidlin an der gleichen Festbankgarnitur strahlt stolze Zufriedenheit aus. Stille Genugtuung. Er hat das Stück geschrieben und dabei seines verstorbenen Onkels gedacht, ihn als Vorbild genommen, den Mann, der vor Jahren talauf talab als Alteisensammler und -händler unterwegs gewesen war. Eisenmoritz. Das Schwarze Schaf der Familie mit beträchtlichem Fremdschämpotenzial. Russschwarz im Gesicht. Schwarzes Fahrrad der Schweizer Armee samt Anhänger. Schwarze Arbeitskleidung, Overall mit Rissen. Sommers und winters on the road, bei jedem Wetter, ob Julihitze oder Dezemberpflotsch. Diesem Eisenmoritz, der eigentlich Alois, also Wisu geheissen hat, diesem Mann hat Christoph Schmidlin ein Denkmal gesetzt. Und weil dieser Wisu weit herum bekannt war, und seis, bei den jüngeren Talschaftsbewohnern, als Legende vom blossen Hörensagen, ist der ›Eisenmoritz‹ zu einem lokalen Erfolg geworden.
Natürlich kommt Habermacher zum Schlussapplaus zurück, und er geniesst den Beifall, blinzelt in die Scheinwerfer, nähme auch Blumen. Schulterklopfen. Die Leute im Dorf haben es nicht so mit dem Überschwang. Ihnen bringt auch niemand Blumen, wenn sie die erwartete Leistung abgeliefert haben. Einmal hat Viktor Habermacher Blumen erhalten, fünf rote Rosen, an der Premiere. Er hat still ein paar Tränen verdrückt vor Freude; ein paar Mitspieler waren peinlich berührt.
Wer Eintritt bezahlt hat, darf mit einer reellen Gegenleistung rechnen. Das ist der Realitätssinn der Dörfler. Und wenn der Theaterverein seine Sache gut gemacht hat, gibt es Applaus. Aber deswegen gleich aufstehen? Sonst noch Wünsche? Die Frauen und Männer im Dorf zeichnen sich durch eine ausgeprägte Bodenständigkeit aus, und wer sitzen bleibt, ist dem Boden näher. Ist denn ihretwegen schon mal jemand aufgestanden, um Anerkennung zu zollen? Nicht einmal im Postauto stehen die Jugendlichen auf, um den Alten Platz zu machen. Man hats nicht so mit Sentimentalitäten. Und schluckt lieber böse, als dass man aufbegehrte.
»So lange hat er sich noch nie Zeit gelassen«, sagt Rainer Kreienbühl in der Theaterbeiz.
Der Regen prasselt aufs Blechdach der Remise, die nie so belebt war wie in den Wochen seit Mitte August. Der Herbst lässt seine meteorologischen Vorboten heranwehen, oft mit feuchter Begleitung.
»Beruhige dich, Rainer«, meint Sabine, seine Frau, »der kommt schon noch, ist noch immer gekommen. Schliesslich ists das letzte Mal, und da wäre er ja blöd, wenn er sich das entgehen liesse, das Lob, das Fest, die Anerkennung.«
Sich rarmachen kann Taktik sein, denkt sie. Wie wars in den Anfängen ihrer Liebschaft? Ja, sie hatte Rainer gerne auf die Probe gestellt. Zappeln lassen, den Fisch. Der soll kämpfen, der Fisch. Bis er ermattet aufgibt und geerntet werden kann.
Nun wird, nach dem Rindsbraten eine Stunde vor der Theateraufführung, der Nachtisch serviert, ein Oh und Ah hebt an angesichts des bunten Tellers mit sieben verschiedenen süssen Häppchen drauf.
»Unser Küchenchef kann etwas«, sagt Judith Kronenberg, und Sabine Kreienbühl stimmt nickend zu.
»Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen«, sagt sie.
Das Weinglas, ihr letzter Schluck lässt nur noch ein paar Tropfen übrig, die träge eine Fliessspur hinterlassend dem Glasboden zustreben, stellt sie in die Tischmitte. Süsses und Wein, das lasse sein, reimt sie rein innerlich, und sie ahnt die Säure des vergorenen Rebensaftes auf ihrer Zunge, wenn sie zwischen den sieben Amuse-Bouches nach dem Glas griffe. Krass. Die Erfahrung. Die Zunge benetzt ihre Lippen. Das Stück Schwarzwäldertorte lässt sie zur Dessertgabel greifen, derweil Dichter Schmidlin die gebrannte Crème zu löffeln beginnt.
Das sind Sinnesgenüsse, murmelt er vor sich hin und sticht als Liebhaber eines Kontrastprogramms ins Zitronensorbet gegenüber der Crème. Frau Kreienbühl ist inzwischen bei der Schokolademousse angelangt; auf Rainer Kreienbühls Teller steht stramm das Caramelköpfchen. Wird zum Wackelpudding, stösst die Bedienung bei der Ausübung ihrer Arbeit versehentlich an den Tisch.
»Soll ich Ihnen für Geri auch …?«, fragt Nathalie Lötscher, die Tochter des Küchenchefs.
»Ja, gerne«, sagt Evelyne Keiser, »mein Mann wird sicher gleich kommen.«
Sie verteidigt den Platz ihr gegenüber, und sie weiss: Geri mag Mus lieber als Gefrorenes. Da darf das Eis getrost weich werden. Keisers sind Ehrengäste heute Abend; Judith Kronenberg hat sich versichert, dass sie kommen. Evelyne wäre lieber zu Hause geblieben; Geri, der Bauunternehmer und Hauptsponsor, hat sich durchgesetzt. Wie üblich hat sie nachgegeben. Aber Viktor noch einmal sehen in dieser tragischen Rolle? Will sie sich das antun? Sie muss, kann weder Augen noch Ohren schützen, obwohl ihr die Premiere gereicht hat. Sie hats versucht; die Augen hat sie geschlossen, um ihn nicht leiden sehen zu müssen. Sie hätte es besser wissen können. Hat just deshalb noch klarer gehört. Und das Gesicht zu den Worten nicht aus dem Kopf gebracht.
Sie hat gespürt, da spielt einer keine Rolle. Diese Dünnhäutigkeit einerseits und die Grobschlächtigkeit der Schwester, der Nachbarin, des Polizisten, des Gemeindepräsidenten, diese verbale Brutalität der schieren Gedankenlosigkeit, das hat ihr mehr weh getan, als sie sich zugestanden hätte. Nein, das ist nicht Theater. Das ist die Wirklichkeit, ein Konzentrat eines Lebens, Kondensat einer Existenz.
Viktors Marotte.
»Ich muss den Schalter kippen. Da reicht es nicht, mir die Perücke vom Kopf zu reissen und den Bart auszuwaschen«, hat er Kreienbühl und den Mitspielern nach einer Probe erklärt, gleich zu Beginn, »ich muss zu meiner Identität zurückfinden.«
Identi-was?, las er in den Gesichtern. Aha, der Herr Lehrer braucht eine Spezialbehandlung. Niemand hätte so etwas geäussert, denn froh sind sie alle, dass Viktor die Hauptrolle übernommen hat mit einer Zahl von Einsätzen, welche die meisten überfordert hätte. Und erst die überdrehten Monologe! Glücklich sind sie, dass er es so gut macht. Die Eifersucht hält sich in Grenzen, obwohl in den Premierenberichten der Lokal- und der Tageszeitung Viktor Habermachers schauspielerische Leistung besonders hervorgehoben und in hohen Tönen gewürdigt wird. Zumindest vordergründig gibt es keine Eifersucht. Man mag es nicht besonders im Dorf, wenn einer herausragt. Wilde Triebe in der Thujahecke werden regelmässig zurückgestutzt. Auf Kreienbühls Teller schleicht sich das Zitronensorbet an die Himbeerroulade, vom Küchenchef eigenhändig gefüllt und gerollt, heran. Kreienbühl hat dafür keine Augen; er ist im Begriffe aufzustehen. Shit. Der Hals.
»Er lebt seine Rolle, ja geht förmlich darin auf«, schrieb Lokalreporter Daniel Kleiber im Lokalblatt.
Düsentrieb nennt man ihn im Dorf, ja im ganzen Tal, denn er ist die personifizierte Umtriebigkeit, lässt keine Hundsverlochete aus, ist an jedem Turnerabend und an jeder Geschäftseröffnung dabei, wenn in der Woche vor dem Ereignis ein Inserat in seinem Blatt herausschaut. Der Theaterverein ist dankbar dafür, denn was nützt die beste Produktion, wenn niemand davon weiss? Düsentrieb hat für jedes Inserat einen Artikel versprochen. Mit Bild.
Er war bei den Proben dabei, brachte ein Interview mit Regisseur Rainer Kreienbühl, einen Hintergrundbericht von den Vorbereitungen, besonders eindrücklich die Instandstellung des Lokals am Rand des Weilers Oberschwand oberhalb des Dorfes, Fronarbeit, die sagenhaften Reinigungsarbeiten, bis die Tenne ohne eine Sinfonie von Husten- und Niesanfällen bespielbar war, die Räumungsarbeiten in der Umgebung der Scheune, damit man überhaupt einigermassen trittsicher zum Eingang vorstossen kann, der Umbau der Remise in eine Theaterbeiz, wo man nun auf den allerletzten Auftritt des Viktor Habermacher wartet. Typisch Düsentrieb eben: stets auf Achse, immer und überall dabei, wo ein Hund begraben wird, der vor seinem Ableben noch ein Inserat generiert hat.
»Ich geh mal nachschauen, langsam kommt mir das komisch vor«, sagt Kreienbühl endlich zu seiner Frau und steht auf. »Du kannst mein Dessert auch noch nehmen, wenn du magst.«
Er spürt die Erwartung der Theaterbesucher in der Theaterbeiz. Eine Unruhe nimmt er wahr und die Blicke auch anderer Theaterbesucher, auf die Eingangstüre gerichtet, in der Habermacher endlich erscheinen sollte. Sie wollen, aufgedreht und vom Alkohol gelockert, Viktor sehen, ihm auf die Schulter klopfen, das dann schon, Ausdruck ehrlicher Bewunderung. Sibesiech. Huerestark. Ganzverreckt. Sackstark.
»Wo bleibt Viktor?«, fragt Sandra Huber, die im Theater Viktors Schwester spielt, die wohlanständige Meisterin des Fremdschämens, wenn Bruder Eisenmoritz sich einmal mehr mit dem Gemeinderat angelegt hat, weil in gewissen Altwaren noch Quecksilber eingelagert ist und das Altöl in den Motoren nie verdunstet, weil sein Anwesen an der Hauptstrasse mit seiner Unordnung, da ein halber Ofen, hier ein Kühlschrank und dort ein Fahrzeug-Chassis, dem Image der Gemeinde schadet, weil er ist, wie er ist, und auch mal eine Pizza im Backofen vergisst, was beinahe zu einem Brand geführt hätte. Und weil er die Nachbarin, die sich an der Hausbemalung – wilde Frauenköpfe – gestört hat, verbal unflätig behandelt hatte.
»Der wird schon noch kommen, keine Angst«, sagt Christoph Schmidlin und vertieft sich Löffelchen voran in das letzte Stück Schwarzwäldertorte auf seinem Teller: Das hat er sich für den Schluss der Dessertvariationen aufgespart.
»Es ist wie die letzte Szene eines Theaterstücks«, sagt er zu Judith Kronenberg, die ihn bei seinem Tun beobachtet hat. »Das Beste zuletzt, der nachhaltige Gout im Mund«, sagt Schmidlin, »der letzte Eindruck bleibt hängen.« Am Wanst, das sagt er nicht.
Die Leute in der Theaterbeiz haben Viktor erwartet, auch der Reporter des Lokalblatts hat sich mit umgehängter Kamera in Stellung gebracht, doch wer die Türe nun öffnet und sich in seiner ganzen Wucht und Masse präsentiert, ist Geri Keiser. Er schüttelt sich ungeniert wie ein Kater nach einer Regendusche, besprüht dabei rücksichtslos den Boden und die Gäste auf der ersten Bank der Festwirtschaft.
»Sauregen«, sagt er.
»Komm herein«, begrüsst ihn Nathalie Lötscher, »das Dessert wartet. Schau, da hinten!«
Sie weist auf die Festbankgarnitur, wo die Honoratioren des Dorfes bereits ihre Allerwertesten platziert haben. Evelyne winkt ganz diskret. Fast verschämt.
Keiser hängt die feuchte Jacke an einen Nagel an der Wand beim Eingang. Seine Wand, sein Nagel, seine Remise, sein Dorf. Er geniesst es, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, denn wer möchte sich mit ihm nicht gut stellen? Judith Kronenberg steht auf und zwängt sich Richtung Eingang. Geri Keisers Caramelköpfchen wackelt, aber es stürzt nicht.
»Wir haben da hinten reserviert«, ruft sie ihm zu, der eben dem Polizisten Xaver Petermann die Hand geschüttelt, mit der Sozialvorsteherin Annemarie Hug ein paar Worte gewechselt hat und sich nun Richtung Küchentresen bewegt.
»Riecht gut«, sagt er grinsend, und Paul Lötscher, der Küchenchef, grinst zurück. »Jetzt kann ich aber einen starken Kaffee gebrauchen, bei diesem verdammten Sauwetter«, sagt Keiser.
»Das hättest du wissen können. Keine Nachrichten gehört?«, sagt der Küchenchef, während er zwei Dessertteller auf den Tresen stellt, abholbereit für das Servicepersonal.
»Wir sind da hinten«, sagt Judith Kronenberg, erleichtert, dass Geri Keiser endlich da ist, und deutet mit der Hand auf die Bank, wo auch seine Frau sitzt.
»Ich komme«, erwidert Geri Keiser.
»Eisenmoritz-Spezial?«, fragt Lötscher.
»Eisenmoritz-Spezial. Wenn ich mir dabei keine Blei- oder Quecksilbervergiftung hole.«
Jetzt fehlt noch einer. So lange hat er noch nie auf sich warten lassen, denkt die Vereinspräsidentin auf dem Weg zurück zu ihrem Dessertteller, wo noch das Caramelköpfli des Verzehrtwerdens harrt. Heute ist die letzte Vorstellung gewesen, die Derniere. Sie hat sich das ausgemalt, diesen letzten Abend, wie eine Erlösung vom Druck der Verantwortung, der auf ihr lastet, wohliges Erschlaffen des Gemüts, eine bedingungslose Hingabe nach meteorologischem Tiefdruck, nur noch wenige Minuten durchhalten bis zur Schlussrede, einer Dankesrede im stolzen Bewusstsein, Teil eines gelungenen Unternehmens zu sein, wenn nur der Hauptdarsteller endlich auftauchen würde.
»Ist doch logisch, dass er heute etwas länger braucht, sein anderes Ich abzustreifen«, meint Sabine Kreienbühl.
Anderes Ich, Blödsinn, denkt Judith Kronenberg und stellt sich vor, wie der üppig geschminkten Nachbarin ob der geschwollenen Sprache das Gesicht aufschwillt zu einer grotesken Fratze.
»Das ist mit Abschminken und Perücke-Ablegen nicht getan«, plaudert Sabine ganz ernsthaft weiter, »eigentlich müsste man ja mindestens duschen können, die zähe Schminke, das Puder überall. Und er muss eine ganze, doch ziemlich multiple Persönlichkeit loswerden!«
Evelyne Keiser hört mit und denkt sich ihre Sache. Ganz und multipel. Wie geht das zusammen? Labertasche. Viktor ist nicht so einfach gestrickt. Sie beobachtet ihren Gatten, wie er das Kaffeeglas packt und einen ersten Schluck nimmt, denn mit Schnaps hat der Küchenchef nicht gespart. Den Geist zu vergeuden, indem man ihn verdunsten lässt, wäre Sünd und Schad, auch wenn die Luft eine geschmackliche Aufbesserung vertrüge. Und da der kalte Schnaps mit innerem Feuer zuletzt eingefüllt wurde, verträgt Keisers Zunge die mässige Hitze der langsam sich mischenden Flüssigkeiten.
Viktor spielt einen geistig verwirrten Alteisenhändler, der vor Jahren talauf talab seiner Arbeit nachgegangen ist. Spielte. Der letzte Vorhang ist gefallen. Das würde Düsentrieb, der kein Klischee auslässt und sich deshalb so gut verstanden weiss von der Mehrheit der lesenden Talschaft, schreiben in seiner Rückschau auf die diesjährige Theatersaison des Theatervereins. Dabei gibts in der Scheune nur einen Vorhang. Und der trennt den Umkleideraum vom Rest der Tenne, eine weise Einrichtung, ermöglicht der Vorhang doch diskrete Auftritte und Abgänge. Nicht bloss leiser, auch günstiger als eine Türe. Im übertragenen Sinn würde Düsentrieb, der Floskeldrechsler, recht haben. Ende Feuer. Eine Dusche wäre schön gewesen. Ein Lavabo musste reichen. Ende gut, alles gut. Bravourös darf nicht fehlen. Düsentrieb steht am Tresen, etwas gelangweilt, so scheint es, und schaut auf die Uhr. Da kommt Rainer Kreienbühl, auf dem Weg hinaus, auf der Suche nach Viktor, gerade recht, ein Statement vom Regisseur, macht sich immer gut. Und Kreienbühl lobt in höchs-ten Tönen sein Ensemble, aber auch das Drumherum habe einfach gestimmt.
»Schau dir an, was das Bauteam und das Beizenteam aus diesem heruntergekommenen Schuppen hier gemacht haben«, sagt Kreienbühl.
Und Düsentrieb sieht die Melkstühle mit Pinocchio-Nasen an den Wänden – jemand hat noch Augen und Mund draufgeschmiert; alte Holzgabeln blecken ihre Zähne vom groben Täfer der Seitenwände, derweil in den Ecken nach alter Sitte gebundene Garben hängen. Lange rostige Sägen, die man früher zum Fällen von Bäumen verwendet hat, Zweihänder, nehmen mit verbeulten Pfannendeckeln Bezug auf den alten Eisensammler. So stellt sich im vollen Lokal eine Heimeligkeit ein, die der Alkohol nährt und am Leben erhält, ja sie aufblühen lässt, auch wenn der Lärmpegel, schlösse man die Augen, einen Grad erreicht hat, der Evelyne Keiser verschämt die Zeigefinger beider Hände auf die Ohren zwingt, derweil der Regisseur dem Journalisten sein Lobunddank ins rechte Ohr schier schreien muss.
Schauspielerschweiss hat nie jemanden gestört nach der Aufführung. In der Theaterbeiz dominieren andere Gerüche. Rindsschmorbraten zum Nachtessen vor der Aufführung. Und gegen den späteren Hunger Raclette. Taktisch klug gewählt. Der Nasenbruder des Fussschweisses. Olfaktorische Höhepunkte. Ja, man kann noch essen, und ohne Festwirtschaft wäre ein Theaterunternehmen kaum kostendeckend. Und trotz der Wärme unter dem Schopfdach, die auch die Spalten in den Wänden und teils sogar im Dach nur unwesentlich mindern, denn die echte Wärme kommt von innen, dampft und riecht auf vielen Tischen ein Eisenmoritz-Kaffee mit gebranntem Wasser. Festhüttenmelange mit Käse und Geist.
2
Melchior Kaufmann macht alles. Er hat Hand angelegt, als es darum gegangen ist, die Tenne vom Dreck zu befreien, denn nach der ersten Probe waren die Spinnen und Ameisen in den Genuss einer wahren humanoiden Grippsymptom-Orchesterdarbietung gekommen, dass Gott erbarm – der Regisseur hat nur um ein Haar nicht gekotzt. 27 Säcke mit Staub und Spinnweben, Vogel-dreck und halb verfaulten Blättern, Mäuseschiss, Tannnadeln und Birkensämlingen, ja mit einem unbewohnten Hornissennest und sieben Wespenwaben, zentner-weise Biomasse haben die Theaterleute abgefüllt und abgeführt. Und Melchior schwitzte an vorderster Front. Wer nach dieser Aktion in der Nase bohrte, führte erfolgreich schwarzen Rotz ab, dessen Reste sich hartnäckig unter den Fingernägeln festsetzten.
»So sieht er aus, der Eisenmoritz«, hat Regisseur Rainer Kreienbühl, ein Schnellerholer, gelacht, als er die Männer und Frauen gesehen hat, die im Programmheft erwähnten freiwilligen Helferinnen und Helfer, ohne die es nicht ginge.
Sie schrubbten und schabten unter den Ziegeln und in allen Winkeln der Scheune, rieben sich den Staub aus den Augen, husteten und schüttelten den Kopf, den Haarschopf. Aus sicherer Ferne hat Kreienbühl damals gelacht.
Das Gewitter hat sich verzogen. Hätte die Scheune ein Blechdach wie die Theaterbeiz, man hätte Eisenmoritz nicht verstanden. Gerade in der zweitletzten Szene, dem Zusammenstoss mit dem Gemeinderat, wo dieser ihn zu versorgen, ja auf Nimmerwiedersehen in einer Anstalt zu verlochen droht, weil der Zustand seines Hauses gemeingefährlich sei und er selber eine Gefahr für die Gesellschaft, hätte Eisenmoritz toben können, man hätte sich an die Gebärden halten müssen. Und die fast kitschige Innigkeit der Schlussszene, als Moritz und Marianne sich im Jenseits endlich finden, wäre völlig untergegangen im irren Schiessen der Donnerkanonen draussen. So aber grollte der Himmel zwar, nicht immer an den passendsten Stellen, aber authentisch; der ferne Donner entsüsste das reichlich Sentimentale der Szene, ohne die beiden Spielenden der Lächerlichkeit preis zu geben, denn Viktor und Carmen, eine junge Lehrerin in der Rolle der Marianne, liessen sich nicht aus ihrer Rolle wettern.
Sie hatten zehn Mal überzeugend Dutzende von Zuschauerinnen und Zuschauern ergriffen und sogar den ehemaligen Dorfkäser, einst ein ganz böser Schwinger, Schütze und Steinstosser, ein Nationalturner vor dem Herrn, Prototyp des Eidgenossen, zudem Ehren-Oberturner im Turnverein, zu wahrhaftigen Tränen gerührt – weiss Gott, an welche Geschichte der sich erinnert haben muss –, und nun, da der Himmel hemmungslos mitweinte, nahm das Publikum diesen Umstand erst recht als Zeichen einer höheren Macht, und seien es bloss die meteorologischen Um- und Zustände, die dem dörflichen Theaterverein auf unüberhörbare Art und Weise die Reverenz erwiesen.
Heute Abend wischt Melchior Kaufmann den Aufgang zu den Sitzplätzen und den schmalen Gang zwischen den Stühlen wie stets nach den Aufführungen. Zum Ritual geronnen. Die Bühne kommt zuletzt an die Reihe. Es hängt vom Wetter ab, wo es am meisten Schmutz hat. Heute ist es eindeutig der Zuschauerbereich. Melchior weiss, wie er den Besen führen muss, mit kurzen, ruckartigen Armbewegungen, um nicht Staub aufzuwirbeln, der sich nach kurzem Flug dort niederlassen könnte, wo die Besucher ihr Hinterteil platzieren. Was keine Gattung machen würde, denn man geht ins Theater nicht in den Arbeitskleidern. Es sieht aus, als wüsste auch der Besen, was zu tun ist. Besentanz.
Melchior trägt das Arbeitsgewand der Geri Keiser AG. Blau mit gelbem Schriftzug. Er wischt im Wissen, dass jeder der 268 Stühle vor jeder Aufführung nochmals abgestaubt wird, denn in einer Scheune mit Ritzen in den Wänden ist mit Wind und Fallstaub zu rechnen. Und jeder Besucher bringt von zu Hause und vom Arbeitsplatz seinen eigenen Mikro-Dreck mit, was potenziell einer Kumulation ungesunder Partikel gleichkommt und im schlimmsten Falle zu neuen mikrobiologischen bakteriellen viralen Verbindungen, also potenziell gefährlichen mutierten Krankheitserregern führen könnte.
Heute ist die Derniere gewesen. Die letzte Aufführung. Melchior ist ein Gewohnheitsmensch. Im nächsten Jahr wird er in Pension gehen. Geri Keiser wird im Gratisanzeiger mit Bild und Anzahl Dienstjahren seinem Mitarbeiter für dessen treue Dienste danken und gratulieren.
»Gemacht ist gemacht«, sagt sich Melchior, als ihm bewusst wird, was im Programmheft steht: dass nun nämlich endgültig Schluss ist. Grande Finale. Derniere. Es gibt kein nächstes Mal. Nie mehr Theaterpublikum in dieser Scheune.
Schon nächste Woche wird die Theaterbeiz abgebrochen oder zurückgebaut, denn für eine Besenbeiz, die Idee haben zahlreiche Gäste beliebt machen wollen, wären weitergehende Investitionen nötig, fixe WC-Anlage beispielsweise, die der Besitzer, Melchiors Bruder Kaspar, ein Junggeselle und kauziger Sammler, Bruder im Geiste des Eisenmoritz, sich nicht leisten kann. Und noch weniger will.
Der Metallschrott, auch Melchior war in der Garage seines Elternhauses fündig geworden und hatte einen uralten gusseisernen Ofen angeschleppt, kommt, falls bis Montag nicht weggeräumt, zum Reststoffverwerter. Zum Nachfolger von Eisenmoritz mit Lastwagen samt Mulden statt Veloanhänger. Für reine Metalle bezahlen sie ein Trinkgeld. Die Festwirtschaft. Die Stützen wegen der Sicherheit. Melchior arbeitet beim Bauunternehmer, und der ist Hauptsponsor des Theatervereins. Geri Keiser. Melchior führt seinen Besen um die Metallteile, Ketten, Motoren, schlichte Schutzbleche, antike Laternen, herum Richtung Raum, wo die Schauspieler sich für ihren Einsatz vorbereitet haben. Macht ein kleines Zwischenhäufchen.
»Hör doch jetzt auf zu putzen und komm an die Bar. Ich geb einen aus«, hört er Lindegger Toni zur offenen Tenntüre hereinrufen.
Melchior blickt kurz auf, deutet ein Kopfschütteln an und wischt weiter den schmalen Streifen zwischen Zuschauerraum und der Dachschräge, sozusagen die Bühne. Wischen zwischen den Stuhlbeinen, das tut er sich nicht an; morgen kommen die Stühle weg, zurück in den Gemeindesaal unten im Dorf.
»Lass ihn doch, wenn er nicht will«, sagt Birrer Sepp, »man kann niemanden zum Glück zwingen.«
Der Regen hält die Raucher nicht davon ab, draussen ihrer Sucht zu frönen. Für solche Fälle hat man einen Regenschirm. Der Regen streckt das Bier auf dem Bistrotisch. Der Tisch war zwar umgefallen während des Gewitters, der Wind, die unberechenbaren Böen, in den Dreck, hat das Gewitter aber ohne bleibenden Schaden überlebt. Melchior ist mit der Grobreinigung dieses Ganges fertig und will sich, wie gewohnt, die Nebenstrasse sozusagen, den Einmünder vom Ka-bäuschen her, diesem Bretterverschlag, der links in der Ecke extra für die Schauspieler eingebaut wurde, vornehmen. Von hinten nach vorne die Sache angehen. Staubhaufen zentral. Melchior hat eine Strategie. Der Besen kennt den Plan.
»Jessesgott«, entfährt es ihm, »da liegt ja der …«
Er schaut noch einmal hin. Spinnt er? Er lässt den Besen fahren, weswegen er sich später einen Vorwurf machen wird, und rennt ohne Augen für den munzigen Staubhaufen auf den Scheunenausgang zu, stolpert dabei über einen gusseisernen Zuber neben der Pfette am Rand der Scheunenbühne, rappelt sich auf und stürmt ins Freie.
»Hast du ein Gespenst gesehen, am Ende gar die Sträggele?«, ruft ihm Lindeggers Toni zu und schüttelt den Kopf über den panikartigen Vorstoss des Melchior Kaufmann.
»Oder vielleicht die Schwarze Spinne? Hast du sie befreit und losgelassen?«, spöttelt sein Kumpel, der Birrer Sepp, und nimmt noch einen Schluck.
Die Raucher, stehend an ihrem Rauchertischchen neben dem Eingang zur Theaterbeiz, können Melchior nicht stoppen. Den Kopf verdrehen sie, was hat ihn gestochen? Und sie lachen über ihren fleissigen Kollegen. Melchior überrennt derweil um ein Haar die Serviertochter vom Jodlerklub – man hilft einander im Dorf aus, wenn Gegenrecht gilt – und stürmt stracks in die Küche.
»Der Viktor!«
»Ja, was ist mit dem Viktor?«, fragt Küchenchef Paul Lötscher.
»Kommt selber sehen. Er hat sich in den Kopf geschossen!«
»Was hat er?«
»Seht selber!«
»Hä?«
»Wo ist der Petermann?«
Regisseur Rainer Kreienbühl hat sich eben von Düsentrieb verabschiedet, er wolle rasch nach Viktor sehen, hat er jenem gesagt, ist im Begriffe, die Festwirtschaft zu verlassen, steht auf der Höhe des Tresens, wo die Eisenmoritz-Kaffees dampfen, als Melchior in die Küche stürmt. Kreienbühl tritt zum Pulk, der sich augenblicklich um Melchior und Paul Lötscher herum bildet, murmelt vor sich hin, er habe es doch gewusst, dass da etwas nicht lauter sei, aber niemand habe ihm geglaubt, und er bildet sich in diesem Augenblick ziemlich viel ein auf sein feines Sensorium als Künstler. Sensible Antennen für das Übersinnliche, das, was in der Luft liegt, das Prophetische sozusagen, das rein Atmosphärische, das Feinstoffliche eben. Immaterielles Fluidum.
Die Erstürmung der Festwirtschaft durch Melchior hat zu einer allgemeinen Aufregung, ja einem regelrechten Aufruhr geführt. Da entwickelt sich ein Lärm, ja Tumult, denn jeder glaubt jetzt etwas aufgeschnappt zu haben; Melchior wird bedrängt und gestossen von allen Seiten, jeder will von ihm wissen, was er gesehen hat, ein paar Caramelköpfli kommen böse ins Schwab-beln, und weil er, was er sagen möchte, nicht jedem gleichzeitig erklären kann, versteht niemand auch nur das Geringste.
So wollen die Wägsten unter ihnen und die Frechsten selber einen Augenschein vornehmen, was aber Xaver Petermann, der Dorfpolizist, zu verhindern versucht.
Eben noch hatte Petermann sich gegenüber Geri Keiser geärgert darüber, wie sein Berufsstand im Theaterstück dargestellt, ja in den Dreck gezogen worden sei, als sture, humorlose Paragrafenreiter, jegliches Einfühlungsvermögen vermissen lassend, piesacken sie den armen Eisenmoritz, dem zweifellos die Sympathie des Publikums gehört, fehlendes Lämpchen am Veloanhänger hier, Missachtung einer Parkiervorschrift da. Nichtigkeiten! Dabei, und das meine er im vollen Ernst, sei mit Quecksilber und auch Altöl, das man bei ihm offenbar in grösseren Mengen gefunden hat, nicht zu spassen. Das Grundwasser. Und gelocht im Keller hat er auch. Und überhaupt: Für etwas habe man schliesslich Gesetze.
Natürlich hat er mitgelacht in der Scheune, gute Miene zum bösen Spiel, und er hat auch beim Eisenmoritz-Kaffee in der Theaterbeiz mitgelacht, als ihn die Tischnachbarn aufzogen. Beinahe hätte er sich – darauf haben die Provokateure ja nur gewartet – aus der Reserve locken und in eine Verteidigungsposition reizen lassen. Beinahe hätte er gesagt, er sei damals noch gar nicht im Dorf gewesen und so, dann rettet ihn ein Spontanimpuls, nämlich jener, zu schweigen, qui s’excuse, s’accuse, alte Weisheit.
»Stopp, stopp, stopp«, ruft er nun, da sich an der Ausgangstüre – sind überhaupt die feuerpolizeilichen Vorschriften eingehalten worden? Wäre es am Ende seine Pflicht gewesen, das zu kontrollieren? – eine Meute von Leuten durch den Flaschenhals zwängen will. Einmal mehr ist Petermann zu spät dran. Karmisch, würde seine Frau denken. Sie ist sitzengeblieben. Genau wie Evelyne Keiser. Und Petermann hat den Aufstieg definitiv verpasst. Wachtmeister ist ein wohlfeiles Geschenk für die Einbahnstrassenfahrer, um sie einigermassen bei Laune zu halten. Die Beförderung aufs Abstellgleis.
Auch Geri Keiser und Christoph Schmidlin bleiben vorerst sitzen; offensichtlich haben sie nicht sofort mitbekommen, was Melchior gesagt hat. Schwerhörig? Und überhaupt: Sie halten sich nicht für Herdentiere, während Judith Kronenberg sich als Vereinspräsidentin in der Verantwortung wähnt, entschlossen aufsteht und auf Paul Lötscher, den Küchenchef, zugehen will, der aber mit Melchior Kaufmann im Schlepptau mitten im Pulk drin untergegangen ist.
»Stopp, nichts berühren! Lasst mich vor!«, schreit Petermann, als er sieht, dass die Neugierigsten, nicht selten auch die Pietätlosesten, ungeachtet des etwas nachlassenden Regens, zur Scheune drängen.
Der Lindegger Toni und der Birrer Sepp verstehen nicht.
»Wo brennts?«, ruft Toni. Eine Antwort erhält er nicht.
»Gibts in der Scheune etwas gratis?«, fragt Sepp, und wartet vergeblich auf ein Echo.
»Hat der Melchior eine Ratte gefunden?«, sagt Toni.
»Wo?«, fragt Petermann den Melchior, nachdem er sich unter Einsatz der Ellenbogen und seiner Stimme mit dem Verweis auf seine Stellung als Polizist vor Ort und Amts- und Autoritätsperson zu Melchior, den es ärgert, dass die Leute ihm den Staubhaufen zertreten, vorgekämpft hat.
»In der Garderobe«, sagt jener.
3
Das Blut zieht eine schmale Spur, läuft träge, eine Schnecke schämte sich dieses Tempos, unter dem Vorhang durch und nähert sich unbeirrt Melchiors Besen. Melchior hat ihn fallenlassen, als er – sein Entsetzen mag als mildernder Umstand gelten – Besenflucht beging quasi, nachdem er den Vorhang gezogen und den verdreht da liegenden blutenden Schauspieler, bewegungslos, offensichtlich mausetot, entdeckt hatte.
»Nichts berühren! Alles so lassen, wie es ist! Nichts anfassen!«, schreit Xaver Petermann.
Die Frechsten, die Vordersten, verstummen, wenden ihren Kopf angeekelt ab angesichts des Bildes, das ihnen die Requisitenkammer, die Umkleidekammer der Theaterleute, darbietet. Und die hinteren stehen auf die Zehen und recken ihre Hälse. Die alten Geschwister: Neugier und Ekel.
»Wie die Giraffen«, bemerkt Nathalie Lötscher. Sie hat sich, nachdem sie die leeren Kaffeegläser und Dessertteller abgeräumt hat, von der Neugier getrieben temporär in die Scheune abgesetzt und beobachtet die Szenerie vom leicht ansteigenden Zuschauerraum aus.
Auch vorne dabei sind nun der Lindegger Toni und der Birrer Sepp. Nach kurzem Zögern haben sie sich der Meute angeschlossen, als einige Gäste der Theaterbeiz, allen voran Paul Lötscher und Melchior Kaufmann, in einer Aufregung zur Beizentür herausgestürmt sind. Viktor Habermacher, der Mann, der den Eisenmoritz »mit einer Glaubwürdigkeit gegeben hat, dass einem um ihn Angst werden könnte«, so hat Düsentrieb in seinem Premierenbericht geschrieben, liegt in seinem Blut. Spritzer grauer Hirnmasse und Blut an den Wänden.
Dass der Mann sein Erdendasein beendet hat, steht ausser Zweifel. Neben dem Toten die mutmassliche Tatwaffe. Eine SIG Mosquito mit aufgeschraubtem Mündungssignaturreduzierer, denkt Petermann, bevor er das Handy aus der Busentasche seines Hemdes klaubt und der Kantonspolizei Luzern Meldung erstattet.
»Zurücktreten! Geht nach Hause!«, ruft er den Theaterbesuchern zu, die jetzt einen Originalblick auf den mutmasslich Toten schmeissen wollen. Wer wollte jetzt nach Hause gehen! Das glaubt ja der Polizist selber nicht. Der Birrer Sepp zückt sein Smartphone, worauf Xaver Petermann aber böse wird und sich ihm in den Weg stellt. Der Polizist kennt die Gier gewisser Medien. Und ihrer Leser. Sie bieten einen Hunderter oder mehr, die Blätter und Privatfernsehstationen, für ein exklusives Bild.
»Geht jetzt endlich nach Hause; ihr stört die Untersuchungen«, wiederholt Petermann seine Aufforderung in einem Ton, der an die Vernunft appellieren soll. Habermachers Blut hat nun den Stiel von Melchiors Besen erreicht.
Nicht allen steht der Sinn nach Rückzug. Wenn schon mal etwas passiert. Fast vor der eigenen Haustüre. Petermanns Überzeugungskraft tendiert gegen null. Die einen kratzen sich am Kopf und schweigen; andere müssen reden, ein unverständlicher Klangteppich, Volkes Brabbeln draussen auf dem Vorplatz und in der Scheune. Nicht alle vertragen den Blick auf diesen blutüberströmten, grotesk zerrissenen Kopf, die roten Partikel an der Stuhllehne und auf dem blauen Hemd, das darüber hängt. Blutspritzer auf der Hose, die korrekt gefaltet auf der Sitzfläche liegt. Selbst die Vorstellung, genährt durch Aussagen sich entfernender Augenzeugen, brennt Bilder ins Gehirn, die sich über die Innereien einen Ausweg suchen.
Der Drogistin im Dorf und Leiterin des Samaritervereins, der alljährlich eine Blutspendeaktion durchführt, also einer Frau, die sich als medizinische Fachperson doch den Anblick von Blut am ehesten gewohnt sein müsste, ist der Rindsschmorbraten samt Beilagen und Dessertvariationen hochgekommen, deren halbverdauten Überreste in den Brennnesseln zwischen mobiler Toilette und dem Eingang zur Tenne nun vor sich hin stinken. Eine Freude vielleicht für die unscheinbaren Aasverwerter in Bodennähe; die Käfer mögen staunen, hat man ihnen doch unabsichtlich die halbe Verdauungsarbeit abgenommen.
Petermann, der Dorfpolizist in Zivil, doch allzeit bereit, macht ein Bild mit dem Handy. Birrer Sepp sei Dank.
»Wo habt ihr das Absperrband?«, fragt er Melchior.
»Absperr-?«
»Das rotweisse Band, wie ihrs bei den Parkplätzen gebraucht habt auf Hofstetters Wiese!«
Petermann ärgert die Begriffsstutzigkeit, was ihn lauter werden lässt. Dabei hat Melchior an den Dreck gedacht, den die Gaffer nun wieder in die Scheune tragen.
Melchior Kaufmann hat endlich verstanden. Absperrband. Es liegt in Viktors Todeszelle; er weiss genau, auf welchem Tablar er es deponiert hat.
»Hols und sperr ab, damit niemand mehr hineingeht«, sagt Petermann verkrampft ruhig und bestimmt.
Und wers trotzdem versucht, mache sich strafbar, will er den Leuten in der Scheune und auf dem Vorplatz weismachen. Behinderung einer Amtshandlung. Mindestens. Ist das Gaffergesetz bereits in Kraft? Der Polizist staunt jetzt selber über die Wirkung seiner Worte. Der Überzeugungsfaktor, dem Ernst der Situation geschuldet, steigt merklich an.
»Aber nicht ins Blut treten und nichts berühren«, weist er Melchior Kaufmann an, der über die Aussentüre in die Künstlergarderobe tritt, um das Absperrband zu holen.
»Da hat eine tragikomische Geschichte eine zutiefst tragische Wendung genommen«, kommentiert Kurt Studer, der Präsident der Schulkommission. Als Chef über die Schule, den Lehrkörper und damit auch über jenen erkaltenden des Viktor Habermacher, sieht er sich als Problemlöser.
Er muss morgen früh, und wenns Sonntag ist, unbedingt den Schulleiter erreichen und zieht sich, zusammen mit seiner Frau, der das Entsetzen über das Geschehene ins nunmehr blasse Gesicht gezeichnet ist, zurück. Ersatz organisieren, schwierig bis Montag. Und wie werden die Schüler informiert? Pragmatiker durch und durch: Sache des Schulleiters. Beerdigungsdelegation dito. Die Aufgaben und Kompetenzen sind im Funktionendiagramm ganz klar geregelt. Blockzeiten einhalten, sonst reklamieren wieder gewisse Eltern.
»Das hier ist jetzt Sache der Polizei; da stören wir nur«, sagt Studer zu seiner Frau.
Und er stellt sich bereits die Schlagzeile in der Boulevardzeitung vor: »Seine Rolle hat ihn eingeholt«. Oder: »Von der Bühne in den Tod«. Oder: »Tödliches Theater«. Seine Frau staunt und erschrickt gleichzeitig über die ausgeprägte praktische Veranlagung ihres Gatten. Als ob in seinem Gehirn bei Ereignissen wie diesem ein Automatismus ausgelöst würde. Sie hat das beim Tod seiner Mutter so empfunden. Ein Automatismus, der das Emotionale unverzüglich versachlicht und ihn umgehend rational handeln lässt.
Evolutionstechnisch gesehen mag das vielleicht eine wichtige Überlebensstrategie sein, denkt sie beim Versuch, sein Verhalten zu verstehen.
Eigentlich, bei aller Tragik, hat der Selbstmord für Studer ein Problem aus der Welt geschafft. Die Unmutsäusserungen gewisser Eltern, immer zahlreicher, waren bis zu ihm vorgedrungen. Sie betrafen Viktors zeitweilige Zerstreutheit – er habe oft nicht einmal mehr gewusst, welche Hausaufgaben er den Schülern gegeben habe. Auch sei er, das weiss er vom Schulleiter, nicht nur einer, nein mehreren Sitzungen unentschuldigt ferngeblieben. Einmal sei er bei einer solchen Teamsitzung am Tisch buchstäblich eingenickt.
Zudem habe man gehört, er treibe sich nachts wie ein Gejagter autofahrend in der ganzen Schweiz herum, komme erst am frühen Morgen nach Hause, wie Nachbarn berichtet haben, die es ja wissen müssen. Zumindest die spätfrühe Rückkehr haben sie mitbekommen; den Rest besorgt die Bürgerfantasie. Studer kann sich das gut vorstellen. Da brauchst du nur eins und eins zusammenzuzählen. Nicht dass er Viktor Habermacher einen solchen Tod gewünscht hätte, das gewiss nicht. Und selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung. Ebenso, bis der Arzt seines Amtes gewaltet hat, die Untodvermutung, wie unwahrscheinlich beides auch sein mag.
Das Gewitter hat sich endgültig verzogen; in der Ferne, in den Bergen, Richtung Pilatus und Berner Alpen, leuchten vereinzelt Blitze auf. Wetterleuchten. Schauspiel kostenfrei. Dramatisch sich bewegende Wolken geben im Nordwesten zeitweise den Blick auf den Vollmond frei. Noch tropft das Dach. An den Gewitterregen erinnern die Pfützen; das Rinnsal auf der Naturstrasse der Scheune entlang, während des Regens ein kleines Bächlein, ist beinahe wieder ausgetrocknet. Geblieben sind die Gräben, die nach neuem Schotter schreien.
So entstehen Schluchten, denkt Geografielehrer Herbert Duss, als er mit seiner Frau zum Parkplatz geht und hofft, der Regen habe die Wiese noch nicht so stark zu einem Sumpf gemacht, dass das Auto steckenbleibt; die Erosion tut ihre Arbeit, im Kleinen wie im Grossen, denkt er mit Blick auf den Weg, und der Mensch versucht verzweifelt, sie rückgängig zu machen. Sisyphusarbeit.
Eine schwarze Katze betrachtet unter dem Vordach der Scheune das Geschehen mit offensichtlicher Neugier, wie das Drehen ihres Kopfes nahelegt. So viel Betrieb um diese Tageszeit. Nachtzeit.
Auf dem Platz zwischen der Theaterscheune und der Remise, nunmehr Festwirtschaft gewesen, stehen 63 Menschen herum und schweigen und reden. Jene, die noch nicht nach Hause können, nach Hause wollen. Sie haben auf Viktor gewartet, wollten ihm auf die Schultern klopfen, ihn hochleben lassen, und nun das. Vielleicht hätte er allen noch einen Eisenmoritz-Kaffee offeriert, so ist er, kannst es glauben oder nicht, wenn es ihn ankommt, sagt einer der Kulissenbauer und erntet ernstes Nicken im Kreis.
»So war er«, korrigiert der Maurerpolier seinen Vereinskollegen. Im Theater hat er den überkorrekten, paragrafentreuen Gemeindeschreiber gegeben.
Wenn ihm das nur nicht bleibt, diese Tüpflischeisserei, denkt der Kulissenbauer.
Der Pfarrer diskutiert derweil mit dem Sigrist und dessen Gemahlin darüber, dass man nie in einen Menschen, in sein Innerstes, hineinsehe, wie gut man ihn auch zu kennen glaube. Oft täten sich – das hätten ihn seine Besuche bei Sterbenden gelehrt – Abgründe auf, wenn Menschen auf der Schwelle zum Tode stünden.
»Nicht alle Menschen möchten ihre Geheimnisse mit ins Grab nehmen wie der Viktor«, sagt er.
Er ist drauf und dran, das Beichtgeheimnis anzuknabbern, ohne freilich Namen zu nennen. Das belaste zuweilen schon, habe belastet, korrigiert er sich, und erkläre ihm auch einiges, wenn er die Menschen und ihre Handlungen betrachte. Heutzutage komme ja kaum mehr jemand zur Beichte, weil sich kaum jemand noch verantwortlich, geschweige denn schuldig und jeder sich im Recht fühle.
»Für die Psychohygiene sind offenbar andere Instanzen zuständig heutzutage«, sagt der Pfarrer, und der Sigrist weiss nicht recht: Ist Hochwürden froh darüber oder bedauert er dies?