Kurzbeschreibung:
Die Liebe lässt sich nicht lenken, sie kommt, wann sie es für richtig hält …
Therese wurde von ihren Eltern mit dem viel zu alten Anton verheiratet, ist unglücklich und fühlt sich einsam. Wenige Monate nach Beginn des Zweiten Weltkrieges steht sie plötzlich dem französischen Kriegsgefangenen Maurice gegenüber und muss feststellen, dass ihr Herz zu ungeahnten Gefühlen fähig ist.
Zärtlichkeit der Stille – eine Geschichte über eine Liebe, die nie hätte sein dürfen und die doch ihren Weg fand.
Zaertlichkeit der Stille
Roman
Edel Elements
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera
Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart Design
Lektorat: Philipp Bobrowski
Korrektorat: Vera Baschlakow
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-348-9
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Stille.
Absolute Stille.
Kein Wind, der die Blätter flüstern lässt.
Der Fluss zu meinen Füßen strömt lautlos vor sich hin.
Und die Sterne am Himmel schweigen mit mir.
Alles ist verstummt.
Für mich.
Um mich nicht in meiner Trauer zu stören.
Leise.
So leise, wie meine Tränen.
Grenzenlose Stille, die mich umhüllt,
Die ich einatme und zu einem Teil von mir werden lasse.
Könnte ich mich nur für immer in ihr vergessen.
Dürfte ich doch nur ewig hier verweilen.
Kein Morgen. Nur dieser endlos währende Abend der Stille.
Allein.
Nur ich und diese unsagbare Lautlosigkeit.
Neuhaus am Inn im September 1940
Es war ein unangenehm kühler Abend, an dem die Stille in meiner Seele Einzug hielt. Am Flussufer sitzend beobachtete ich die Nebelschleier, die mit dem Wasser an mir vorbeizogen – langsam und andächtig, als hätten sie sich einem Trauermarsch angeschlossen. Meine Blicke hafteten an den weißen Schwaden und folgten ihrer trägen Prozession, bis sie von der Ferne verschluckt wurden. Mit dürren Armen krallten sich Nebelfetzen an meinen Waden fest, krochen an mir hoch, bis sie mein Herz für sich eingenommen hatten. Eisig und grausam. Die Kälte wetteiferte mit der Düsternis des Abends und breitete sich erschreckend schnell aus. Niemand sonst war zu dieser Uhrzeit draußen, alle saßen bei Kerzenschein in ihren Stuben und gingen ihren alltäglichen Arbeiten nach. Nur ich suchte die Einsamkeit, um meine Gedanken zu reinigen und das Unbegreifliche zu realisieren.
Es war der Abend vor meiner Hochzeit mit Anton. Bis zum Schluss hatte ich gehofft, dass diese Verbindung nicht zustande käme, dass sich ihre Androhung auflösen würde wie die Nebelschwaden im Sonnenlicht. Vermutlich hätte ich weglaufen sollen oder gegen den Willen meines Vaters ankämpfen. Bestimmt hätte es Möglichkeiten gegeben, aber ich hatte beschlossen, voller Angst der Heirat mit dem viel zu alten Anton zu harren und mir ein Wunder herbeizusehnen.
Hoffen und beten – mehr blieb mir nicht übrig.
Ich betete also um ein Wunder, das nicht eintrat. Wunder gibt es nicht, sie sind pure Erfindung, um unseren Geist an der Hoffnung wachsen zu lassen. Und die Hoffnung selbst ist ein grausames Spiel, bei dem man nur verlieren kann.
Ich zumindest habe verloren.
Der nächste Tag kam, meine Mutter weckte mich, polterte, ohne anzuklopfen, in meine Kammer, zog mir die Decke vom Leib und tätschelte meinen Oberarm. So hatte sie mich schon als kleines Schulmädchen geweckt. Ehe ich wusste, wie mir geschah, zog sie mich an beiden Händen aus dem Bett und half mir beim Ankleiden. Es war ein liebloses Ritual, das eine lieblose Ehe einläuten sollte. Während sie murmelnd auf mich einredete, verharrte ich in einer Schockstarre, in der ich alles über mich ergehen ließ. In Feinarbeit schloss sie die unzähligen Knöpfe am Rücken und wies mich an, mich an die Kommode zu setzen. Dabei tat sie, als sähe sie meine Tränen nicht.
Bewegungslos und starr blickte ich in den ovalen Spiegel, der vor mir auf der Anrichte stand. Die Oberfläche war rissig und trüb – ebenso wie mein Lebensmut. Was ich darin sah, war ein Häuflein Elend und hatte nichts zu tun mit der lebenslustigen Frau, die ich bis vor ein paar Wochen gewesen war. Meine sonst so rosige Haut war erblasst, meine blauen Augen untermalt von dunklen Augenringen, meine Lippen wirkten schmal und kalt. Sogar mein Haar, das für gewöhnlich in sanften Wellen mein Gesicht umrahmte, hatte an diesem Morgen seinen Glanz verloren und hing kraftlos über meine Schultern.
Während Mutter sich an einer Steckfrisur versuchte, fiel es mir immer schwerer zu atmen, ohne zu schluchzen. Ich war hin und hergerissen. Zum einen wollte ich stark sein und meinen Kummer für mich behalten. Andererseits sollte Mutter sehen, wie schlecht es mir ging und wie sehr sie sich an mir schuldig gemacht hatte. Sie hatte Verrat an mir begangen, hatte mich im Stich gelassen. Wie konnte sie nur? Was ließ sie in dem Glauben, dass Vater recht daran tat, mich mit dem Mann seiner verstorbenen Schwester Ludmilla zu verheiraten? Vater war schon seit jeher ein herrischer Mensch gewesen, der kein Widerwort duldete. Mutter hatte es gewiss nicht leicht mit ihm. So gut es ging, hatte sie in sämtlichen Meinungsverschiedenheiten für mich Partei ergriffen und seine gefühlsbeladenen Explosionen schweigsam über sich ergehen lassen. Warum also kehrte sie mir den Rücken, wenn ich ihre Stimme am dringendsten benötigte?
Tante Ludmilla war vor etwa einem Jahr gestorben, und ich hatte mich auf Vaters Bitten Onkel Antons angenommen und neben meiner Arbeit als Schneiderin in der Hemdenfabrik mehrmals wöchentlich ein paar Stunden für den Witwer geopfert. Dabei hatte ich für ihn und seinen Sohn Peter den Haushalt geführt und manchmal sogar für die beiden gekocht. Es war mir ein Leichtes gewesen, mich in das geordnete Hauswesen meiner Tante Ludmilla einzufügen. In den Räumen hing auch Monate nach ihrem Tod noch der Duft ihrer zarten Ringelblumenseife und ihrer sanftmütigen Liebe. Es war nicht zu übersehen, wie sehr Anton am Verlust seiner Frau litt. Abends, wenn er mit seinem Kummer allein war, hielt ich ihm tröstend seine Hand und ließ sie erst wieder los, wenn seine letzten Tränen getrocknet waren.
War es am Ende meine eigene Schuld? Hatte ich den alten Mann dazu ermutigt, mehr in mir zu sehen als eine Haushaltshilfe? Dachte er, er würde in meinem Sinne handeln, wenn er meinen Vater um meine Hand bat? Für die beiden war es schnell beschlossene Sache gewesen, dass eine Heirat zum Wohle aller Beteiligten wäre. Anton hätte wieder eine Frau, die sich um den Haushalt und sein Gefühlsleben kümmerte, Vater hätte einem guten Freund einen Gefallen getan, und ich hätte eine gesicherte Zukunft. Nur meine Gefühle hatte man dabei nicht berücksichtigt.
Es traf mich wie ein Schlag, als die zwei mir von ihrer Entscheidung berichteten. Ihre Gesichter strahlten vor Freude, und beide waren wohl der Meinung, dass ich nach Unterbreitung ihres Beschlusses mit ihnen gemeinsam strahlen würde. Die Strenge meiner Erziehung erlaubte mir kein Wort des Widerspruches, und so kredenzte ich ihnen den Wein, mit dem sie auf mein Verderben anstießen.
Als ich mich Stunden später in den Schlaf weinte, hörte ich Vater und Anton noch immer ausgelassen in der Kammer lachen und plaudern. Anton war vielleicht kein schlechter Mann, aber ich war ihm nicht im Mindesten zugetan und würde es auch nie sein.
Ich hatte Mutter angefleht, mit Vater zu reden, ihn zu überzeugen, dass diese Ehe mein Unglück bedeutete. Doch Mutter schwieg, beschwichtigte mich und schalt mich ein undankbares Kind. Insgeheim wusste ich, dass sie mit mir trauerte und sich für mich ein glücklicheres Leben gewünscht hätte.
»Die Zeiten sind nun mal so«, hatte sie gesagt, »wir müssen froh sein, dich so gut versorgt zu wissen. Deine Arbeit in der Näherei wirft weiß Gott nicht genug Lohn ab, um dich durch den Alltag zu bringen.«
Damit war sie also gefallen, die Entscheidung, die mein Leben in neue Bahnen lenken sollte.
Es war nicht zu übersehen, wie sehr Anton die Aussicht auf unsere Ehe aufblühen ließ. Es schien, als würde er sich meiner Energie bemächtigen. Während die Erwartung der Vermählung meine Leidenschaft schmälerte, zierte sein sonst so verhärmtes Gesicht immer öfter ein glückseliges Lächeln.
»Der Anton wird dir ein guter Mann sein, Rese«, flüsterte Mutter, als sie zufrieden meine Frisur begutachtete und mir dabei zärtlich über die Wange strich. »Es mag für dich den Anschein haben, dass diese Verbindung falsch ist, aber glaub mir, in ein paar Wochen wirst du anders darüber denken.«
»Nein, das werde ich nicht!«, erwiderte ich mit belegter Stimme und wandte mich ab. Ich stand auf und ging zum Fenster. Es war Ende September, die Sonne schien mit letzter Kraft vom Himmel und wärmte mühevoll die Dächer der Nachbarhäuser. Es würde ein schöner Tag werden, zumindest für alle anderen. Kinder tobten durch die Gärten, Frauen hängten die Wäsche auf die Leinen oder harkten die Gemüsebeete um. Keiner von ihnen ahnte, wie sehr ich in diesen Minuten mit meinem Schicksal haderte. In wenigen Stunden wäre ich Ehefrau, und meine Freiheit und Träume wären für immer verloren.
Meine Freundin Magdalena und ich hatten oft Pläne geschmiedet, welche Städte wir eines Tages bereisen würden. Manchmal sprachen wir heimlich darüber, einfach durchzubrennen, um in Wien oder München berühmte Theaterschauspielerinnen zu werden. Das waren die Fantasien junger Frauen gewesen, und bei der Erinnerung daran musste ich lächeln. Vermutlich hätten Magdalena und ich es nicht einmal bis Wien geschafft und wären nach ein paar Tagen reumütig nach Hause zurückgekehrt. Aber das war egal. Wichtig war, dass wir damals der Meinung waren, jede Möglichkeit zu haben.
Und nun stand ich am Fenster und sah alle meine Träume in weite Ferne entrücken. Für mich würde es keine Reise mehr geben, nur noch die schmutzigen Hemden eines alten Mannes.
»Rese, komm runter, wir sind spät dran! Der Anton wird gleich kommen.« Das Geschrei meines Vaters riss mich aus den Gedanken. Vater war ein strenger Mensch, nicht nur zu allen anderen, sondern auch mit sich selbst. Er arbeitete stets hart, um seine Familie zu ernähren. Wir waren an unsere armen Verhältnisse gewöhnt, ich war damit aufgewachsen und störte mich nicht daran, zerschlissene Kleider zu tragen. Kaum einer aus unserem Ort kannte Reichtum, jeder musste sehen, dass er über die Runden kam. Die meisten führten ein karges, aber zufriedenes Leben.
Mir hätte dieses Leben genügt, ich hätte keine Heirat gebraucht, um abgesichert zu sein. Lieber mittellos und allein, als an der Seite eines Mannes, für den ich keine Gefühle hegte. Mutter meinte, ich wüsste nicht, wovon ich redete, ich hätte noch nie Hunger leiden müssen. Ich brauchte nicht erst zu hungern, um zu wissen, wo ich hingehörte.
Als ich langsam die knarrende Treppe hinabstieg, schwoll der Kloß in meinem Hals ins Unermessliche an, denn ab morgen begänne ich meine Tage in einem anderen Haus. Ohne meine Eltern.
Vater saß noch am Frühstückstisch und schlürfte seinen frisch aufgebrühten Kräutertee. Als er mich kommen hörte, hob er seinen Kopf und betrachtete mich. Kurz sah ich einen Anflug von Zärtlichkeit über die harten Züge seines Gesichtes huschen, doch der war schnell wieder seinem verdrossenen Ausdruck gewichen.
»Du bist spät, wir müssen los!«, brummte er und trank seine Tasse leer.
Ich stand regungslos vor ihm und fragte mich, ob er schon immer so alt ausgesehen hatte. Tiefe Falten zogen sich über seine Stirn und seine Wangen. Das Haar war schütter und sein Rücken krumm. Wie konnte er nur seelenruhig sein Frühstück zu sich nehmen, während ich innerlich vor Angst zitterte. Angst vor den nächsten Stunden, vor meiner Hochzeitsnacht, vor den ersten Tagen im neuen Heim, Angst vor dem Rest meines Lebens.
Ich krallte mich am dünnen Stoff des geborgten Brautkleides fest und atmete tief ein. In meinem Brustkorb brannte und wütete ein ungeahnter Zorn, von dem ich wusste, dass ich ihn für mich zu behalten hatte. Ich musste ihn runterschlucken wie ein Stück hartes Brot.
Mutter kam zu mir, nahm mich an der Hand und zog mich zur Haustüre. Als die Dielen unter meinen Füßen knarrten, überkam mich ein weiterer Anflug von Wehmut. Wie oft war ich wohl durch diese Zimmer gehuscht? Die Räume waren klein, dunkel, und an den Wänden klebte der Geruch von Pfeifenrauch. Hilfe suchend blickte ich zu Mutter, in deren Augen sich meine Verzweiflung spiegelte. Als sie mich die letzten Schritte zur Haustür geleitete, fühlte ich in ihrem Händedruck all den Schmerz, den sie mit mir teilte. Sanft drückte ich ihre Hand zurück, um sie wissen zu lassen, dass ich sie verstand und ihr nicht böse war. Wir gingen schweigend. In diesem kurzen Moment überlegte ich, wann ich das letzte Mal Mutters Hand gehalten hatte. Wahrscheinlich im Kindesalter. Hatten sich ihre Hände damals auch schon so rau und rissig angefühlt, oder waren sie in früheren Zeiten weich und warm gewesen? Der Gedanke, dass ich an dieser Hand meine ersten Gehversuche getan hatte, löste Wehmut in mir aus. Wenn ich von nun an in Antons Haus lebte, wie oft würde ich Mutter dann noch sehen? Musste ich künftig meinen Gatten um Erlaubnis bitten, wenn ich das Haus verlassen und meine Eltern besuchen wollte?
Es pochte an der Tür. Vater stand vom Frühstückstisch auf und ging an uns vorbei, ohne uns Beachtung zu schenken. Er öffnete die Tür und nahm Anton in Empfang. Der trug einen alten, aber sauberen Anzug und hielt ein paar selbst gepflückte Blumen in seiner Linken. Die andere Hand reichte er mir entgegen und strahlte mich voller Freude und Wärme an. Was, wenn meine Eltern recht behielten und die Ehe mit Anton zu meinem Besten wäre? Schließlich kannte ich ihn, seit ich ein Kind war. Stets war er nett gewesen, freundlich und auf gewisse Weise humorvoll. Sollte ich meine Ängste und Bedenken ablegen und mich für eine Zukunft an seiner Seite öffnen?
Nein, das war mir unmöglich. Ich hatte immer von einer großen Liebe geträumt, von einem Mann, der meinen Gedanken das Fliegen beibrachte und all meine Träume in meinen Augen sah und sie zu erfüllen suchte. Vielleicht gab es diesen Mann, vielleicht auch nicht.
Ich sah zu Mutter und fragte mich zum ersten Mal, ob ihre Ehe auch auf diese Weise zustande gekommen war. Vielleicht fänden wir beide irgendwann die Gelegenheit, uns darüber zu unterhalten. Nur sie und ich.
Mutter lockerte ihren Griff um meine Hand. Jetzt war es so weit, ich musste sie loslassen, den letzten Schritt allein machen. Ich fasste all meine Kraft zusammen und setzte einen Fuß vor den anderen.
Dann hatte ich mein Elternhaus verlassen.
Anton fasste sorgsam meinen Arm und geleitete mich über die drei Stufen von der Haustüre in den Garten hinunter. Er überreichte mir die Blumen und sah mir dabei eindringlich in die Augen. Vermutlich erkannte er meine Angst, dennoch strahlte er mich mit einer herzlichen Freundlichkeit an, die mich ein wenig beruhigte. Er nickte meinen Eltern zum Gruß zu, nahm meine Hand und ging gemeinsam mit mir zum Gartentor. Vater und Mutter folgten uns, keiner sprach ein Wort. Niemand sonst würde der Heirat beiwohnen. Keine Verwandten oder Freunde, nicht einmal Peter, Antons Sohn, der bei ihm im Haus lebte.
Unser Weg führte zum Rathaus, in dem wir standesamtlich getraut werden sollten. Der nächste Gang wäre der in die Kirche. Auch dort waren keine Gäste angedacht. Nur meine Eltern, Anton und ich. Getuschel um unsere Eheschließung und deren Hintergründe gab es genug, und gerade deshalb war den beiden Männern sehr daran gelegen, die Zahl der Anwesenden gering zu halten. Anschließend hatte Vater geplant, mit uns in die Stadt zu fahren, um dort in einem Gasthaus zu speisen und auf den Tag anzustoßen. Hätten wir all das hinter uns gebracht, wäre ich nicht mehr länger Therese Hauzinger, sondern Therese Pfaller, würde in einem anderen Bett nächtigen und mein Leben neu ordnen müssen.
Langsam gingen wir durch den Ort. Es war ruhig, kaum jemand tummelte sich auf den Straßen oder in den Gärten. Gut so, dachte ich, dann sähen mich weniger in meinem schäbigen Brautkleid, das viel zu groß an mir hing und in dem ich mich ebenso verloren fühlte wie beim restlichen Ablauf der Zeremonie. Dabei war heute meine Hochzeit, ein Tag, an dem man sich hübsch machen sollte für den künftigen Ehegatten. Doch ich wollte mich nur verkriechen und nicht gesehen werden.
Ich blickte zur Seite und betrachtete Anton. Sein stark ergrautes Haar ließ nur erahnen, dass es einmal braun gewesen war. Seine Figur war stattlich, sein Bauch ebenfalls. Sein Jackett trug er offen, was seine Rundung noch mehr betonte. Zielstrebig marschierte er mit mir auf das Rathaus zu und hielt dabei den Blick auf das Eingangstor gerichtet.
Gleich war es so weit. In den letzten Wochen hatten sich all meine Ängste um diesen Augenblick gedreht, und nun war er wirklich da. Unaufhaltsam und in großen Schritten kam sie auf mich zu, die Realität.
Vater öffnete die Tür und ließ uns den Vortritt.
Als ich an ihm vorbeiging, schaute ich ihn prüfend an. Ich war sein eigen Fleisch und Blut, wie konnte es sein, dass ihm das Flehen in meinem Blick nichts ausmachte? Offensichtlich war es ihm egal, er ignorierte mich, lächelte Anton zu, der mich sanft und dennoch bestimmt die Treppen zum Standesamt hochzog.
»Lass nicht zu, dass man das mit dir macht! Wehr dich! Du willst diesen alten Mann nicht den Rest seines Lebens bedienen! Tu was!«, schrie eine Stimme in mir. Ich wusste, dass sie recht hatte, aber was hatte ich für eine Wahl?
»Uns Frauen ist es bestimmt, den Männern zu gehorchen!«, hatte Mutter gesagt, während sie das Hochzeitskleid an mir zurechtgezogen hatte. »Wir müssen dankbar sein für ein Dach über dem Kopf und warmes Essen. Je eher du das akzeptierst, liebe Rese, desto leichter wirst du es im Leben haben!«
Ich hatte große Schwierigkeiten damit, diesen Umstand zu akzeptieren. Und je näher wir dem Trauungszimmer kamen, desto lauter schrie meine innere Stimme. »Mach kehrt! Du wirst eine Lösung finden!«
Mag sein, dass es tatsächlich eine Lösung gegeben hätte. Ich werde es nie erfahren, denn an diesem Samstag im September 1940 wurde ich die Frau von Anton Pfaller.
»Schreib uns, wann immer du kannst, ja?« So sehr ich auch versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken, es gelang mir einfach nicht. Stark wollte ich sein bei Peters Abschied, aber meine haltlose Verzweiflung steigerte sich ungebremst mit jeder Sekunde. »Und zieh dich immer warm an, hörst du?«
Anton legte das wenige an Gepäck in den Kofferraum des Taxis, während Peter aufgeregt in alle Richtungen blickte, als wollte er jedes Haus und jeden Baum unauslöschlich in sein Gedächtnis brennen.
»Nun lass doch den Jungen in Ruh! Der ist alt genug, um zu wissen, was er anziehen muss.«
»Jaja, schon gut«, murmelte ich, ohne Anton anzusehen.
»Ich pass auf mich auf, versprochen. Und ich schreibe euch, sobald und sooft es mir möglich ist.«
»Na los, steig ein, sonst fährt der Zug ohne dich«, zeterte Anton.
»Peter!«, rief ich, als dieser sich bereits auf den Weg zum Automobil gemacht hatte. »Peter.«
»Rese, was ist?«
Ich werde dich vermissen. Ich habe wahnsinnig große Angst um dich. Ohne dich wird es hier unerträglich. Was, wenn wir uns nicht wiedersehen?
»Komm gesund wieder, ja?« Ich mühte mir ein Lächeln ab und winkte ihm gespielt fröhlich zu.
Er strahlte mich an und streichelte mich mit seinem Blick, als ob es eine zärtliche Berührung wäre. Dann stieg er in den Wagen und schloss die Tür. Anton nickte mir zu und setzte sich zu seinem Sohn auf die Rückbank.
Wie gerne hätte ich die beiden begleitet und Peter erst am Bahnhof verabschiedet. Aber dergleichen gestattete mein Ehemann nicht. Er war der Meinung, dass dies eine Angelegenheit zwischen Vater und Sohn war und ich dabei nur nutzlos im Weg stünde. Vielleicht hatte Anton recht und es war gut, dass dieser Moment ihnen allein gehörte. Ich wünschte mir von Herzen, dass er es schaffte, sich würdig von seinem Sohn zu verabschieden, ihm Worte der Zuneigung zuzuflüstern und ihn in den Arm zu nehmen. Insgeheim wusste ich es besser. Er würde ihm vermutlich zu fest auf die Schulter klopfen und ihm raten, das Vaterland nicht zu beschämen.
Nachdem das Taxi am Ende der Straße abgebogen war, machte ich kehrt und trottete traurig zurück ins Haus.
»Was ist eigentlich mit dir?«, fragte ich, während ich mit dem Löffel in meiner längst erkalteten Suppe rührte.
»Was soll mit mir sein?«, brummte Anton mit vollem Mund.
»Hast du deinen Einberufungsbefehl schon erhalten?« Mein Herz schlug mir bis zum Hals, endlich hatte ich es gewagt, die eine Frage zu stellen, die sich mir seit Tagen im Kopf herumdrehte wie ein wildes Karussell.
»Einen Einberufungsbefehl? Ich? Das hättest du wohl gerne.« Scheppernd legte er seinen Löffel beiseite und warf die angebissene Brotscheibe auf die Tischplatte. »Dann wärest du die alleinherrschende Dame des Hauses.«
Ich wich seinen Blicken aus, denn ja, Anton hatte recht. Genau das wünschte ich mir sehnlichst.
»Da muss ich dich enttäuschen, meine Liebe. Als Bediensteter der Vollzugsanstalt leiste ich bereits meinen Dienst fürs Vaterland und bleibe somit vom Kriegsgeschehen verschont.«
Ich wagte es nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, zu groß war meine Angst, dass er mir die Ernüchterung ansähe. »Was für ein Glück«, heuchelte ich und nahm einen kräftigen Schluck vom handwarmen Bier.
Dann schwiegen wir beide. Es war eine bedrückende Stille, die zwischen uns herrschte. Und ein beklemmendes Gefühl sagte mir, dass es noch schlimmer werden würde.
An einem freundlich sonnigen Vormittag im Frühling kam ich Antons Aufforderung nach und polierte die Fenster auf Hochglanz.
»Hast auch schon mal besser ausgesehen, Mädchen.« Ich erschrak, als mich eine kratzige Stimme aus meinen Gedanken riss. Ich legte den Putzlappen beiseite, streckte Rücken und Nacken durch, anschließend ging ich an den Zaun zur Nachbarin.
»Ich verstehe nicht«, sagte ich, während ich meine feuchten Hände an meinem gestreiften Kittel abwischte.
»Schlecht siehst aus, hab ich gesagt. Aber das war ja zu erwarten. Wenn Männer heiraten und dann noch dazu eine so junge Frau …«, sie brach den Satz ab und zwinkerte mir vielsagend zu.
Ich schüttelte den Kopf und rollte mit den Augen.
»Aber du wolltest es ja nicht anders, hab ich recht? Hast dich einfach ins gemachte Nest gesetzt. Die arme Ludmilla, Gott hab sie selig. Wenn die wüsste, was ihre ach so geliebte Nichte mit ihrem Gatten treibt, dann würde sie sich im Grabe umdrehen.« Die Boshaftigkeit der alten Huberin war noch ausgeprägter als ihr Buckel. Soweit ich mich erinnerte, ging sie seit jeher am Stock, der gemeinsam mit ihr zu schrumpfen schien. Das hübsch geblümte Kopftuch, unter dem ihre grauen Augen hervorlugten, konnte meinen Eindruck von ihr nicht mehr beschönigen.
Ich überlegte, ob ich der Huberin meine Meinung sagen sollte, doch während ich in ihr fahles Gesicht schaute, überkam mich ein Anflug von Mitleid. Die Frau hatte sich ihr Leben lang selbst genug gestraft. Mit ihrer Bosheit hatte sie jeden Mann erfolgreich von sich ferngehalten und jede Freundschaft zunichtegemacht. Offensichtlich hatte sie mich zu ihrem neuesten Opfer auserkoren, aber ich würde ihr einen Strich durch die Rechnung machen und sie mit meiner Abweisung mehr bestrafen, als Schimpfwörter es je könnten.
Eine Weile starrte ich noch in ihre leeren Augen, dann schüttelte ich kaum merklich den Kopf und wandte mich von ihr ab. Ich würde lieber die Fenster fertigputzen, um danach guten Gewissens zu meiner geliebten Magdalena gehen zu dürfen.
»Aha, da habe ich wohl einen wunden Punkt erwischt, was?«, zischte die Huberin mir so zornig nach, dass ich glaubte, ihre Blicke im Rücken spüren zu können. »Ich werde ein Auge auf dich haben. Ich lass nicht zu, dass du Schande über Ludmillas Habe bringst.«
Ludmilla ist tot, dachte ich bei mir und wünschte, es wäre anders und ich hätte nie ihren Platz einnehmen müssen.
Trotz der Ablenkung durch die Huberin gelang es mir, meinen Zeitplan einzuhalten. Kurz nach Mittag holte ich mein Fahrrad aus der Scheune und trat leicht beschwingt in die Pedale. Der Weg zu Magdalena war seit meinem Umzug bedeutend länger als von meinem Elternhaus. Ich musste, vom Inn begleitet, an der alten Klosterkirche vorbei, in deren prächtigem Anbau nicht nur die Klosterschwestern wohnten, sondern auch der Schulunterricht stattfand. Dann führte mein Weg durch ein kleines Wäldchen und danach direkt an den Feldern entlang, die bereits zum Besitz der Eckers gehörten.
Dafür, dass es ein sonniger Frühlingstag war, erschien es mir um den Hof auffallend ruhig. Ich legte an Tempo zu und näherte mich rasch dem Innenhof. Dort lehnte ich wie gewohnt mein rostiges Fahrrad gegen die Mauer des Kuhstalls und verschaffte mir einen Überblick. Auch hier wirkte der Hof wie verlassen. Keine Frau Ecker, die schimpfend die Hühner fütterte, kein Knecht, der den Mist auf den Misthaufen karrte, kein Hämmern aus der Werkstatt und kein Singsang von Magdalena. Sogar die Tauben auf den Dächern hatten aufgehört zu gurren. Ich hatte mich bereits auf den Weg zum Bauernhaus gemacht, als ich hinter mir Schritte hörte.
»Rese?« Ich drehte mich um und blickte in Magdalenas verweinte Augen.
»Was ist passiert?«, fragte ich so leise, dass ich mich selbst kaum wahrnahm.
»Sie sind alle weg.«
»Wer, Magdalena, wer?«
»Meine Knechte. Sie wurden einberufen.«
»Aber das war doch zu erwarten, oder etwa nicht?«, fragte ich ahnungslos.
»Nein«, wimmerte Magdalena und wischte sich schluchzend die Tränen von den Wangen. »Wer soll denn nun die ganze Arbeit hier machen? Das Vieh, die Felder, sämtliche Reparaturarbeiten, das schaffe ich unmöglich. Selbst wenn ich Tag und Nacht schufte, kann ich dessen nicht Herr werden.« Verzweifelt nahm Magdalena am steinernen Brunnen, der in der Mitte des Hofes stand, Platz und vergrub ihr Gesicht in beiden Händen.
»Du bist doch nicht allein«, sagte ich und kniete mich vor ihr nieder. »Ich bin da und helfe dir.«
»Du?«, fragte sie und sah mich stutzig von oben bis unten an.
»Freilich bin ich kein Kerl und hab noch nie in meinem Leben ein Feld umgeackert, aber du bist ja da und dein Vater schließlich auch.«
»Vater, dass ich nicht lach. Seit die Knechte weg sind, hat er sich mit einer Flasche Schnaps oben in seiner Kammer vergraben. Am liebsten würde ich alles hinschmeißen.«
»Einen Schmarren wirst du! Das hier ist dein gesamtes Hab und Gut«, sagte ich und wies auf die Gebäude zu meiner Rechten. »Hier bist du groß geworden, und hier werden deine Kinder aufwachsen.«
»Kinder«, murmelte Magdalena und zog die Augenbrauen hoch.
»Wie auch immer, wir werden deinen Hof nicht einfach aufgeben.« Ich griff nach ihren Händen und drückte sie sanft. Meine Freundin sollte spüren, dass sie nicht alleine war. Ihre Knechte mochten im Krieg sein und ihr Vater seiner Trinksucht erliegen, aber ich würde ihr bis zum Ende zur Seite stehen.
Als ich sie verzweifelt vor mir sitzen sah, mit gekrümmtem Rücken und zittrigen Fingern, da wusste ich, dass ich ab diesem Zeitpunkt für uns beide stark sein musste. Über Nacht hatte meine Freundin ihre Kraft verloren. Sie war nicht mehr das große Mädchen mit den breiten Schultern, das auf dem Schulhof alle Jungen angerempelt hatte. Heute saß eine nachdenkliche Frau vor mir, die um ihre Zukunft bangte. Sanft strich ich durch ihr widerspenstiges Haar und umarmte sie mit all meiner Liebe, die ich seit jeher für sie empfunden hatte.
»Also, wo sollen wir beginnen?«, fragte ich und musste über Magdalenas ungläubigen Blick schmunzeln.
»In deinem feinen Wollmäntelchen kannst du unmöglich im Stall arbeiten. Wollen wir mal sehen, ob wir in meinem Schrank eine passende Schürze und ein Kopftuch für dich finden.«
»Ach wo, Anton liebt den zarten Duft von Gülle in meinem Haar.«
Magdalena kicherte und klopfte mir ein wenig zu fest auf die Schulter.
Leider musste ich mir rasch eingestehen, dass ich mich in allem geirrt hatte. Anton fand es nicht einmal annähernd akzeptabel, dass ich von nun an jeden Tag für Stunden außer Haus war und abends erschöpft kaum mehr Kraft für die Hausarbeit hatte.
»Die soll sich jemand anders für die Stallarbeit suchen«, meinte er eines Abends.
»Anton, es ist Krieg, es gibt niemanden sonst. Ich bin ihre engste Freundin, was würden denn die Leute denken, wenn ich daheim im Garten sitze, während Magda sich zu Tode schindet.«
Als Anton eine Weile grübelte, wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Nichts war ihm wichtiger als sein Ansehen in der Gemeinde.
»Schau«, fuhr ich versöhnlich fort und legte eine Hand auf seinen Unterarm. »Es soll auch nicht umsonst sein. Jetzt, da fast alles Fleisch und Milch an die Nazis geht, bist sicher nicht beleidigt, wenn ich ab und an einen saftigen Braten heimschmuggle, oder?«
Anton nickte langsam und strich sanft über meinen Handrücken. »Hast ja ausnahmsweise recht. Im Krieg sollten wir zusammenhalten. Und solange weder Garten noch Haushalt vernachlässigt wird, spricht wohl nichts dagegen.«
In diesem Moment war es, als würde sich eine neue Welt für mich auftun. Endlich wusste ich, wie ich mit Anton umzugehen hatte, wie leicht er zu umgarnen war. Ein sanftes Lächeln, ein paar milde Worte und das ein oder andere schlagende Argument, und schon bekam ich meinen Willen. Freilich wusste ich nicht, ob eine derartige List ein jedes Mal funktionierte, aber fürs Erste war ich erleichtert, dass ich meiner Freundin weiterhin unter die Arme greifen durfte.
Magdalena, ihre Mutter und ich verrichteten täglich das Nötigste, und selbst das brachte mich an den Rand der Erschöpfung.
»Wir schaffen das nie und nimmer«, seufzte Magdalena mehr als einmal und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Sag das nicht«, war stets meine Antwort, die mit jedem Mal an Überzeugungskraft verlor.
Dennoch hielten wir tapfer stand, versorgten das Vieh, besorgten einen Bruchteil der Äcker und kümmerten uns um kleinere Reparaturarbeiten. Und gewiss hätten wir uns noch eine Ewigkeit gequält, wenn nicht wenige Wochen später Magdalena während der Stallarbeit in Ohnmacht gefallen wäre.
»Jesus und Maria, Kind, was hast?«, rief ihre Mutter aus und kniete sich neben den leblos wirkenden Leib ihrer Tochter. Voller Verzweiflung packte sie sie an den Oberarmen und rüttelte sie. Als das keine Wirkung zeigte, tätschelte sie ihre blassen Wangen. »Rese, nun komm doch zu Hilf!«, rief die Eckerin und blickte mir erschrocken entgegen. Völlig überfordert mit der Situation hockte ich mich zu den beiden und befühlte Magdalenas Puls.
»Lebt sie noch? Sag schon, lebt sie noch?« Die Eckerin griff mich fest am Handgelenk und bedachte mich mit einem Blick, der mir mehr Angst einjagte als die Ohnmacht meiner Freundin.
»Freilich lebt sie«, antwortete ich und horchte zur Sicherheit an Magdalenas Brustkorb. »Sie braucht Wasser!«, rief ich intuitiv und wies die Eckerin an, welches vom Brunnen zu holen. Ich öffnete den obersten Knopf von Magdalenas viel zu enger Bluse. Erst da fiel mir auf, wie üppig meine Freundin geworden war. Sofort überkam mich ein Gedanke, den ich aber wieder verwarf. Unter Aufwendung all meiner Kraft hob ich ihren Oberkörper an und bettete ihn auf meinen Oberschenkeln.
»Rese«, hauchte Magdalena. »Mir ist so schwindelig.«
»Du hast uns einen ganz schönen Schreck eingejagt«, sagte ich und strich die schweißnassen Haarsträhnen aus ihrer Stirn. »Du musst in nächster Zeit etwas kürzertreten.«
»In nächster Zeit?« Magdalena lachte müde auf und biss sich auf die Unterlippe. »Rese, ich bin schwanger.«
»Was?« Bestürzt nahm ich die Hände von ihrem Gesicht, als ob sie an einer ansteckenden Krankheit leiden würde. »Aber wie kann das sein?«, flüsterte ich. »Ich meine, wer ist der Vater?«
Magdalena schloss die Augen, und in diesem Moment hätte ihr Gesicht nicht verzweifelter aussehen können. »Magda, sprich mit mir!«, hauchte ich und legte beide Hände an ihre blassen Wangen.
»Ich flehe dich an, sag es nicht meinen Eltern.« Bei diesen Worten packte sie mich an den Unterarmen und krallte sich daran fest, als wäre sie eine Ertrinkende. »Kein Wort zu meinen Eltern, hast du verstanden?«
»Natürlich. Früher oder später erfahren sie es aber ohnehin, meinst du nicht auch?« Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Warum hatte mich meine engste Freundin nicht in ihre offensichtlich geheime Liebschaft eingeweiht? Warum war es ihr so wichtig, dass niemand von ihrer Schwangerschaft erfuhr?
»Du musst mir helfen«, flüsterte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
»Ja«, antwortete ich und drückte ihre Hand. Magdalena hatte bereits den Mund geöffnet, als ihre Mutter zur Stalltür hereinkam.
»Heilige Maria, ist sie wieder munter, ja?« Besorgt reichte sie Magdalena den Becher Wasser. »Was ist nur los mit dir, Kind?« Fürsorglich strich sie Magdalena übers Haupt.
»Alles gut, Mama, nur ein kurzer Schwächeanfall.« Sie nahm einen weiteren Schluck, dann stand sie auf und machte sich mit wackeligen Beinen an die Arbeit.
»Du legst dich sofort ins Bett, und zwar für den Rest des Tages«, zeterte die Eckerin und wirkte dabei überraschend groß.
»Es geht schon wieder, Mutter«, antwortete Magdalena mit einem ungewohnten Maß an Strenge in ihrer Stimme und ihrem Blick.
Für einen Moment hatte ich den Eindruck, zwischen zwei Fremden zu stehen.
Kopfschüttelnd griff ich nach dem Melkschemel, um mich wieder der Arbeit zu widmen und mir dabei die Geschehnisse der letzten Minuten durch den Kopf gehen zu lassen.
»Du musst mir helfen!«, flüsterte mir Magdalena wenig später über die Schulter zu. »Ich kann das Kind unmöglich bekommen.«
Noch bevor sie diesen Satz ausgesprochen hatte, stockte mir der Atem.
»Bitte, Rese, ich brauche dich«, flehte sie mich an.
»Ich lass dich nicht im Stich, versprochen«, antwortete ich und meinte es so.
Als ich an diesem Nachmittag den Hof verließ, fühlte ich mich auf gewisse Weise leer. Der Tag bei Magdalena hatte mir alle Kraft geraubt – und das nicht wegen der schweren Arbeit. Immer wieder drehte sich in meinem Kopf diese eine Frage: Wann hatte Magdalena aufgehört, mir zu vertrauen?
»Freundin hin oder her, ab sofort verbiete ich dir, allein zu Magda rauszufahren, hast du gehört?«
Anton hatte schon die gesamte Zeit während des Abendessens geplaudert, aber meine Gedanken waren nur bei meiner Freundin. Ständig hatte ich ihr verzweifeltes Gesicht vor Augen.
Erst als Anton das Wort »verbieten« ins Spiel brachte, war ich mit einem Mal ganz Ohr. »Warum?«, fragte ich und legte meinen Löffel scheppernd zur Seite.
»Wegen der Zwangsarbeiter«, kam die knappe Antwort. Anton starrte mich an und schien sich zu fragen, warum ausgerechnet seine Frau von nichts eine Ahnung hatte.
»Du meinst die drüben in Mittich? Die sind nun schon seit ein paar Monaten hier, und wir haben noch nie einen von denen zu Gesicht bekommen.«
»Nein, nicht die Polen. Bei uns hier sollen einige Franzosen untergebracht werden.«
»Bei uns?«, fragte ich und war mit einem Mal besorgt. »Wozu das denn?«
»Meine Güte, Weib, du weißt einfach gar nichts, oder?« Anton schüttelte den Kopf und verließ den Esstisch. »Ist aber auch egal. Hauptsache, du hältst dich an mein Verbot.«
Ich saß noch eine Weile am Tisch und beobachtete Anton, der auf seinem Lesesessel Platz genommen hatte und in seiner Zeitung blätterte. Und mit einem Mal wurde mir klar, was ich zu tun hatte.
»Ich möchte, dass du deine Arbeit als Schneiderin aufgibst«, meinte Anton ein paar Wochen später beim Abendessen. »Du hast mich schon verstanden«, fügte er hinzu, als er in meine vor Schreck geweiteten Augen sah.
»Aber ich kann nicht einfach … Warum sollte ich?« Ich war verwirrt, fühlte mich leer im Kopf.
»Es schickt sich nicht, dass du länger als kleine Schneiderin drüben in der Näherei arbeitest. Die Leute denken noch, dass ich nicht genug verdiene, um meine Familie zu erhalten.«
»Ach, darum geht es? Was die Leute denken könnten?«
»Du bist jetzt verheiratet und hast deinen Lebensmittelpunkt andernorts – und zwar hier in meinem Haushalt. Ludmilla hat das verstanden, und du wirst dich ebenfalls meinem Willen beugen.« Sein Blick war stechend scharf und unerträglich.
Trotzdem versuchte ich, ihm standzuhalten. »Ich bin gerne Schneiderin. Drüben in der Näherei habe ich jede Menge Freundinnen, die ich nur ungern im Stich lassen würde. Und ein kleiner Zuverdienst kann doch unmöglich schaden, oder?«