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ISBN 978-3-7375-0060-9

PERSONEN

BORIS VERMONT, Künstler

LUCILLE, seine Freundin

MARTIN ANDREAS REICH, Künstler

MARÍA DOS SANTOS, Künstlerin

KASIMIR SONNTAG, Dichter

MIA SIMON, Kuratorin

FRAU DOKTOR HEINRICH, Wissenschaftlerin

ISABELLE COURTOIS, eine Frau Ende Dreißig

NOEMIE, ihre Freundin

EINE KELLNERIN

E I N S

Eins

Vermont und Lucille schlafen auf der Couch. Auf dem Boden Weinflaschen und Kokainspuren. Es ist dunkel, als der Wecker läutet.

LUCILLE Mein Gott Boris
Stell das Höllending ab

VERMONT küsst sie
Wie schön es war
Sein Engelchen
Bereits um fünfe in der Früh

nimmt das Mobiltelefon, stellt den Wecker ab, steht auf, macht Herman Düne an, My Home Is Nowhere Without You

LUCILLE Ich bin nur schön
Wenn ich genügend Schlaf bekomme
Darum heißt es auch
Schönheitsschlaf
Stell das Höllending ab

VERMONT Genauso fühle ich mich

singt mit

And when the sun rose up this morning
My baby looked at me and smiled

Singt weiter, sie zieht sich die Decke übers Gesicht.

LUCILLE Du bist ein Einzelkind

VERMONT Aber ich fühle mich
Als hätte meine Mutter gesagt
Mein Bruder sei ihr Lieblingskind

LUCILLE Du bist das Lieblingskind deiner Mutter
Lieblinger geht es nicht

VERMONT Ich werde schweben
Engelchen
Ich werde schwerelos sein
Mir wird der Boden unter den Füßen entzogen
Ich werde an einem Ort sein
An dem die Gesetze
Denen wir von Geburt an unterworfen sind
Außer Kraft gesetzt sind
Heute Nacht

LUCILLE Es ist noch Nacht

VERMONT Im Traum
Bis gerade eben
Schwebte ich
Leicht wie eine Feder
Kopfüber kopfunter
Kein Oben
Kein Unten
In einem blauen Anzug
Ich konnte es sehen
Aber spüren konnte ich es nicht

wie ein Kommentator

Sein gemartertes Gehirn musste die Bilder
Die er gesehen hatte
Ersetzt haben
Andere Köpfe durch seinen Kopf
Andere Körper durch

LUCILLE Lass mich schlafen Boris
Ich beneide selten jemanden
Aber darum beneide ich dich

VERMONT Vielleicht fällt mir etwas ein
Vielleicht kann ich dich hineinreklamieren

LUCILLE Du bist spät

VERMONT küsst sie, greift nach seinem Mobiltelefon
Und Boris Vermont rief ein Taxi
Das ihn zur Gare de L'Est fuhr
Wo er in einen TGV Richtung Bordeaux stieg
Er war voller Vorfreude

LUCILLE Und vergaß dabei
Seine Flugangst

Zwei

Empfang. Vermont und Mia Simon im Vordergrund, Dos Santos und Reich, sich unterhaltend, im Hintergrund. Eine Kellnerin trifft Vorbereitungen und hört immer wieder mit.

VERMONT Flugangst
Als hätte ich Flugangst
Als hätte ich vor irgendetwas Angst
Außer vor mir selbst
Manchmal

MIA SIMON Was sagtest du

VERMONT Dass dieser Sonntag wahrscheinlich Flugangst hat
Weil er nicht auftaucht

MIA SIMON Vielleicht wollte er das Security Briefing schwänzen

VERMONT Was für ein Wort
Security Briefing
Lachhaft eigentlich
Aber aufregend
Überhaupt all diese Worte
Schwerelosigkeit
Security Briefing
Free Floating Area
Scopolamin
Mikrogravität
Orange Engel
2G
Verheißungsvoll

SONNTAG tritt ein
Einen wunderschönen Abend
Die Dame

küsst Mia Simon auf die Wangen

Der Herr

streckt Vermont die Hand entgegen

MIA SIMON Wir fürchteten schon
Du kämst nicht mehr

SONNTAG Rechtzeitig zum Empfang
Wo ist der Champagner

VERMONT deutet auf die Kellnerin
Die Schöne wird ihn bald reichen

zu Sonntag

Du bist also unser Poet

SONNTAG Und du unser Anarchist

MIA SIMON Er

SONNTAG Der Provokateur
Der Schwierige
Der Kunstrebell

lacht

Hast nicht du mir erzählt
Er habe in Venedig
Eine Auster aus Plastik aufstellen lassen
In die sich die Biennalebesucher
Für die Biennaledauer
Einschließen lassen konnten
Jeder eine kleine Perle
Jeder ein zartes zuckendes Stück Fleisch
Eingeschlossen in Boris Vermonts Welt

DOS SANTOS kommt mit Reich hinzu
Abgesehen von einem verirrten Kunststudenten
Ließ sich niemand einschließen

VERMONT María
Mein Sonnenschein
Ich könnte mich nicht entsinnen
Dass man dich zur Biennale eingeladen hätte

DOS SANTOS Ich habe nicht mit den Richtigen geschlafen

REICH Betäubung des Brechzentrums
Ich habe noch nie in meinem Leben
Sicherheitsanweisungen für einen Flug gelauscht
Spätestens als dieser Sauerstoffhelm präsentiert wurde
Der fünfundzwanzig Minuten Versorgung garantieren soll
War es so weit

VERMONT Meister
Sie werden so betäubt und glücklich sein
Dass Ihnen nicht einmal einfallen wird
Was Angst bedeutet

DOS SANTOS Ich habe nachgelesen
Ich hätte nicht nachlesen sollen
Scopolamin wurde von der CIA
Als Wahrheitsserum eingesetzt
In Lateinamerika machte man damit Menschen gefügig

schüttelt sich

Scopolamin schaltet den eigenen Willen aus
Ich will meinen eigenen Willen nicht

VERMONT Manchmal ist das von Vorteil
Als Toxologe wusste Boris Vermont
Wovon er sprach

DOS SANTOS In Europa bekommt man dieses Wahrheitsserum gar nicht

MIA SIMON Manchmal denke ich
Wir könnten das gebrauchen

REICH Die Wahrheit ist
Ich habe nichts verstanden
Abgesehen davon
Dass die Japaner Roboter testen
Die in ein paar Jahren
Auf einen Asteroiden geschickt werden

DOS SANTOS Einsammeln von Weltraummüll
Das nenne ich ein Projekt

MIA SIMON Mittels Fangnetzen
Ein monströser Weltraumkescher

VERMONT Was können wir dem entgegensetzen

SONNTAG Unsere Poesie

REICH Kein Alkohol
Am Abend vor dem Flug
Äußerst prosaisch

VERMONT Das ist eine Empfehlung

MIA SIMON Da wäre ich nicht so sicher

DOS SANTOS Ich will das nicht injiziert bekommen

VERMONT Nur ein kleiner Stich Sonnenschein
Nur ein kleiner Stich

Frau Doktor Heinrich tritt ein. Die Kellnerin reicht Weingläser. Als sie an Vermont vorüber ist, sieht er ihr lange nach. Sie bemerkt seinen Blick und sieht in fragend an.

VERMONT Ich habe ein Auge auf Sie geworfen

lacht

Was ich mit dem anderen anfangen soll
Weiß ich noch nicht

FRAU HEINRICH nickt in die Runde, breitet die Arme aus
Herzlich Willkommen
Es ist mir eine Ehre und eine Freude
Sie zur Vorbereitung unserer
Fünfundzwanzigsten Parabelflugkampagne
Begrüßen zu dürfen
Die diesmal unter dem Motto
Schwerelose Kunst
Kunst der Schwerelosigkeit steht
Unser Grundgesetz garantiert
Wie Sie wissen
Die Freiheit von Kunst Forschung und Wissenschaft
Sie müssen frei sein
Sie müssen geschützt und respektiert werden
Sie sind die zarten Pflanzen
Die so etwas wie Fortschritt überhaupt erst ermöglichen
In dieser Freiheit
Unter diesem Schutz
Mit diesem Respekt
Treffen wir hier und heute aufeinander

Applaus

DOS SANTOS Wie oft haben Sie das schon gemacht

FRAU HEINRICH In ein gewöhnliches Flugzeug
Meine Damen und Herren
Steige ich gar nicht mehr
In einem gewöhnlichen Flugzeug
Will ich die Fenster aufreißen
Und hinausspringen

Lachen

DOS SANTOS Wie ist das mit dem Wahrheits

Mia Simon stößt sie an