Eine einzige riesige Flutwelle, ein Kavenzmann, eine Welle, die aus dem Nichts kam, drückte die Henriette auf die Seite und ließ der Besatzung in der stürmischen See keine Chance ihr Leben zu retten. In wenigen Minuten sank das Schiff, das durch den atlantischen Sturm den Kontakt zur Amanda-Amélie endgültig verloren hatte. Nur einigen wenigen Männern gelang es, sich an losen Teilen von Aufbauten des Decks festzuklammern, nachdem die meisten Seeleute im Innern des Schiffskörpers beim plötzlichen Untergang verharrten und auf den Grund des Meeres gedrückt wurden. Die Luftblase eines gedrehten Beibootes sorgte für genügend Auftrieb und spülte es empor zur Wasseroberfläche, während die Dreimastbark sank.
Es war der Wiedereintritt ins Leben für Guillaume und fünf der Matrosen, die sich allesamt auf den Wanten befanden, als die Flutwelle ihre tödliche Wirkung entfaltete. Die Überlebenden hielten in dem mühselig gerichteten Beiboot drei lange Tage aus, bis ein portugiesischer Segler sie aufnahm. Allerdings waren sie zunächst auf dem Weg nach Brasilien, was die späte Ankunft Ende Oktober 1778 in La Rochelle erklärte.
Dies waren die tragischen Worte von Onkel Clemens, der verzweifelt abschloss: Wir sind ratlos und mutlos. So viele Tote! Wie soll es nur weitergehen?
Diesmal hatte die unverrückbare Endgültigkeit jede fiebrige Überlegung hinsichtlich einer Rettung Jacobs und den anderen vereitelt. Anders, als bei seinem Verschwinden im Quebecer Winter anno 1756. Wir waren fassungslos. Die Frauen fingen an zu weinen. Es war schrecklich! Wie erstarrt verharrten wir eine ganze Weile, als ob die Welt stehen geblieben war.
Mit Jacob starb nicht nur ein vertrauter großer Freund und Cousin, sondern auch der neue Chef von Kock & Konsorten in Frankreich, der den gewinnbringenden Amerikahandel weitergeführt hatte, und gerade dabei gewesen war, die Geschäfte in Neu Orléans auf ein breiteres Fundament zu stellen. Er war Weggefährte und Aufklärer, wie schon sein Vater. Genauso wie er der französische Lebemann blieb und ebenso ein guter Familienvater wurde, ohne Widerspruch zu seinen sonstigen Tugenden, die mir manchmal allerdings zu anstrengend waren. Verzeih, Jacob! Es grenzt geradezu an ein Wunder, das sein Sohn Guillaume die Katastrophe überlebt hatte, und nun in sehr, sehr große Fußstapfen treten muss. Jedoch das unfassbare Leid von Julie, den Kindern und Eltern hatte eine viel größere Bedeutung und machte die Unternehmensbelange zur winzigen Nebensache. Wir waren fassungslos.
Das Unglück hatte also schon wieder zugeschlagen! Nun mussten wir uns in La Rochelle und in Hamburg gründlich Gedanken machen, wie wir der neuen Situation entgegentreten sollten und welche personellen Konsequenzen sich daraus ergaben. Jacob war ein besonderer Mensch und einfach nicht ersetzbar … Der Untergang der Henriette hatte darüber hinaus über 50 Seeleuten das Leben gekostet. Die Schiffsversicherung deckte bei derartigen Fahrten nur einen Bruchteil der tatsächlichen Schadensumme ab. Ein Bankrott stünde in La Rochelle bevor, wenn wir nicht zusammenhielten und gemeinsam eine Lösung fänden. Würde Onkel Clemens in seinem Alter die Kraft aufbringen können, das Unternehmen zu retten? Antoinette, aber auch die Jungs, Guillaume und Hector, waren jetzt ebenso gefordert. Sie werden ihre angefangene Seemannslaufbahn erst einmal unterbrechen müssen, um der Familie zu helfen.
Dann klopfte es erneut. Hinrichs baumlange Statur, die ihm schon in seiner Jugend den Beinamen Leuchtturm eingebracht hatte, schien durch das milchige dicke Glas der schweren Eingangstür. Freudestrahlend betrat er die große Diele und sah erleichtert aus, seine ereignisarme Zeit hinter verschlossener Tür überstanden zu haben. Verwundert und enttäuscht rief er, als er uns erblickte:
„Was macht ihr denn für trostlose Gesichter. Jetzt wird gefeiert! Wir haben’s Faltermeier und Dietrich wieder gezeigt. Und diesmal werden sie unwiderruflich bestraft. Na, was ist los? Wir haben gewonnen!“
Stille! Nur die Uhr tickte. Ich holte tief Luft:
„Jacob ist tot! Die Henriette ist im Sturm auf dem atlantischen Meer gesunken. Guillaume und fünf Mann haben wie durch ein kleines Wunder überlebt.“
Stille! Margie schaut genau in die Gesichter ihrer Verwandten.
„Ich verstehe …“ So wie er sich eben noch mit seinem riesigen Körper aufgebaut hatte, fiel er jetzt in sich zusammen und setzte sich mit Jost an den großen Tisch, der gar nichts sagen konnte. Marie brachte das Essen, das selbstverständlich für alle reichen würde, wenn denn jetzt noch jemand etwas herunter bekäme. Margie fing an zu weinen. Die traurige Stimmung machte Margie große Sorgen und Josephine drückte sie fest an sich. Nach einer Weile entschuldigte sich Josephine und verließ mit Margie die Diele. Sicherlich um sie von den trübsinnigen Gedanken und der ohnmächtigen Stimmung abzulenken. Alsbald vertagten wir uns auf den morgigen Tag. Jeder der Familie brauchte Zeit, um sich seine Gedanken zu machen und vielleicht zu versuchen, ein wenig Abstand zu gewinnen in dieser schweren Stunde der Kocks, die als größte Katastrophe in der Familien- und Firmengeschichte in ihrer ganzen Dimension zu spüren war.
Caspar rund das Meer spricht Englisch
Carsten Hoop
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2014 Carsten Hoop
ISBN 978-3-7375-0829-2
Abb. B Baumhaus und Hafen. Sicht von der Malerbrücke über den Hamburger Binnenhafen
Caspar Kock, der jüngste Sohn einer Hamburger Reeder Familie, landet beim Walfang durch den Beschuss der Briten im amerikanischen Kolonialkrieg. Dieses Ereignis (Caspar im Fahrwasser der Geschichte) ist sogleich Wendepunkt einer einstmals glücklichen Familie: Er erzählt seinen Kindern Cornelius und Caroline 22 Jahre später von seinen Amerikareisen und den folgenschweren Begebenheiten und lässt die Zeit bis zur Gegenwart jener Tage aufleben, nachdem er großes Interesse bei ihnen feststellte. Denn nun stand Cornelius` erste Amerikareise an und wieder tobte ein gewaltiger Krieg auf den Meeren. Auch Caroline schuftete, entgegen allen gesellschaftlichen Normen, als Kontoristin bei Kock & Konsorten und hatte als Vertreterin des weiblichen Geschlechts einen erheblichen Anteil am Geschäftserfolg. Mit veränderten Rollen im Familiengefüge und neuen Schwierigkeiten waren sie in der Gegenwart angekommen und der Wind wehte ihnen nicht nur auf den Meeren um die Ohren.
Sie verfolgten uns auf dem verblockten Fluss, der schon alleine ohne ihre mörderischen Absichten ein riskantes Unterfangen für mich darstellte. Mit geübten Paddelschlägen kamen ihre Kanus immer näher. Jean Baptist, der Kundschafter, den man sonst nie hörte, schrie nun aus seinem Baumrindenboot: „Genau dort gehen wir an Land!“ Er wies uns unmissverständlich den Weg. Plötzlich zerfetzte die bleihaltige Fracht des Feindes die Schulter von Jean-Claude Aimauld, der durch die enorme Wucht des Geschosses kopfüber in das Kanu fiel und sich fortan nicht mehr rührte. Wen würde es als Nächsten erwischen? Für Hilfe und irgendwelche Regungen blieb keine Zeit. Wir mussten seinen Tod einfach hinnehmen. Als ob die Tat uns nicht bekümmerte, als ob Jean-Claudes Ableben uns überhaupt nicht interessierte, paddelten wir das letzte Stück verbissen weiter, ohne nach links oder rechts zu gucken. Mit großer Mühe und letzter Kraft erreichten wir ein kurzes Stück landungstauglichen Ufers, auf das die Boote rutschten. Es ging ums nackte Überleben. Eilig verließen wir das Vorland. Die Verfolger saßen uns im Nacken. Ich ließ notgedrungen den 1. Offizier unseres Walfängers Konstanze im Kanu liegen, ohne zu wissen, ob er nur verletzt oder bereits tot war. Den Matrosen Peter hatten wir bereits unterwegs auf dem Fluss verloren, nachdem ihn eine Kugel getroffen hatte und sein halber Kopf zerbarst und in alle Richtungen verstreut wurde. Hinter mir brüllte Simon, denn sie waren schon da, bis ihn eine große Kugelkeule zum Schweigen brachte. Ich drehte mich um und zog meine Handfeuerwaffe, die ich mir im geladenen Zustand eigentlich bis zu meinem Ende aufbewahren wollte. Der völlig rot bemalte Indianer, der seine Kriegslust durch die kahl geschorenen Seiten des Kopfes unterstrich, hatte seinen vorsintflutlichen Totschläger – die Kugelkeule – zum letzten Mal geschwungen. Glücklicherweise erwischte ich ihn und er sah bis zuletzt zu dem kleinen Springbrunnen auf seiner Brust, den mein Schuss verursacht hatte. Schließlich brach er mit klagendem Geheul zusammen. Mir lief ein kurzer feuriger Schauer bei seinem Anblick über den Rücken. Dabei war es für die Irokesen ein durchaus ehrenvoller Tod, im Kampf zu sterben. Nicht viel anders als der ehrenvolle Tod auf dem Feld für das Mitglied eines europäischen Offizierskorps. Seine Familie wird stolz auf ihn sein. Aber zum Teufel mit ihm – armer Simon, du hast ein solches Ende nicht verdient!
Unser Expeditionsleiter Capitaine Maurice Martier hatte seinen gleichrangigen Freund der französischen Armee, Jean-Claude Aimauld, ebenfalls am Fluss liegen lassen müssen. Die Pfeile der Irokesen rauschten immer dichter an unseren Köpfen vorbei, nachdem sie ihre veralteten Flinten abgeschossen hatten und nun ihre bewährten Waffen bemühten, die nicht mit Pulver und Blei nachgeladen werden mussten. Sie kamen nun mit allerlei Kriegsgeschrei immer näher. Die schwirrenden Geräusche der kunstvoll gefertigten Geschosse lösten noch nie da gewesene Panikattacken in mir aus. Meine Beine wollten nicht mehr und die Atemluft wurde knapp. Die Angst verwandelte sich plötzlich in schäumende Wut, die meinen Antrieb neuerlich beflügelte. Es wäre geradezu sinnlos, hier in der Wildnis einfach so zu sterben! Derweil schwor ich mir inständig, mein Schweiß sollte die einzige Flüssigkeit bleiben, die an diesem Tage an mir hinabrann.
Wir waren mitten in Amerika auf dem Alleghenyfluss in einen Hinterhalt geraten und sahen uns einer gewaltigen Übermacht der britischen Verbündeten, den Irokesen, ausgesetzt. Die Briten selbst zeigten sich heute nicht mit ihren grellen Rotröcken, quakenden Dudelsäcken, großen bunten Bannern und durchdringenden Trommeln. Meine Wegbegleiter verloren sich in der grünen Hölle des allgegenwärtigen Buschwerks. Lediglich unser Waffenmeister Hannes und Strandläufer, der Micmac-Kundschafter, wusste ich neben den Verfolgern in meiner Nähe. Sie griffen im letzten Moment die zusätzlichen Waffen aus unserem Reisegepäck und kamen zuletzt auf der Kuppe des armseligen Hügels an, der nach dem Willen des Kundschafters unsere Trutzburg werden sollte. Enttäuscht schauten die beiden Maurice und mich an, als sie uns von entschlossenen Indianern umstellt sahen. Sofort verschnürten die Irokesen uns, wie es die Spinne im Netz mit ihrer Beute machte. Noch bevor wir begriffen, dass es besser gewesen wäre, im Kampf zu sterben, als ihnen lebend in die Hände zu fallen. Ein muskulöser stämmiger Krieger schrie mich an, als ob ich wie ein frecher Lausbub etwas ausgefressen hätte. Ein Schweißausbruch jagte den nächsten. Ein kleiner dicklicher Krieger machte uns mit bösem Blick unmissverständlich deutlich, dass er eine Unterhaltung zwischen uns nicht duldete. Sein Gewehrkolben streifte prompt meine Wange. Ein anderer mit grell bemaltem kahlen Schädel und einem letzten Haarbüschel, das mit blau gefärbten Vogelfedern verfeinert war, ritzte mit seinem Messer langsam die Kopfhaut von Maurice vor dem Haaransatz der Stirn auf. Der machte darauf keinen Piep. Der Gelbkahlkopf zeigte uns eindrucksvoll, wie die Irokesen mit ihren Feinden umzugehen pflegten und an welchem Gürtel Maurices Skalp bald hängen sollte. Am Fluss fielen jetzt nochmals Schüsse. Zuerst dachte ich, dass Hilfe naht. Doch wahrscheinlicher war, dass unsere verletzten Weggefährten den Gnadenschuss erhielten. Oder konnten sie vielleicht fliehen? Danach blieb es dort ruhig, während wir auf den Abtransport warteten. Wohin wird es jetzt gehen? Unsere Zukunft schien von kurzer Dauer und fragwürdiger Qualität zu sein.
Die Situation ließ nur einen flüchtigen Gedanken zu. Einen seidenen Hoffnungsschimmer, den ich nun zumindest konkret auszudrücken vermochte. Vielleicht konnte einer unserer Leute fliehen und der übrigen Welt von unserem Schicksal berichten. Das wäre eine Genugtuung. Wenn zumindest Lisa von mir hören würde. Lieber diese Geschichte als gar nichts hören und sein Leben im Ungewissen weiter leben. Wie schrecklich wäre das für die Familie. Was war aus Louis Garant, dem zweiten Kundschafter unserer Expedition geworden? Er kannte sich doch in dieser Wildnis aus und war im Grunde solcher misslichen Lage gewachsen! Es musste einfach irgendjemand entkommen sein. Ich betete insgeheim, wie meine Lisa es tat, wenn etwas schief lief, und dachte eine Zeit lang an nichts anderes mehr. Denn, daran bestand kein Zweifel mehr, Maurice, Strandläufer, Hannes und ich – wir waren so gut wie tot.
Keiner von uns sah noch einmal den Fluss oder erfuhr etwas von den anderen. Strandläufer, der von unseren französischen Kundschaftern als zusätzlicher Fährtenleser angeheuert worden war, versuchte auf die verzierten Halbnackten einzureden, deren Gesäße lediglich mit Hirschhäuten und Wampungürtel bedeckt waren. Ein dumpfer Schlag beendete seinen Vermittlungsversuch. Dabei war er der Einzige, der sich mit den Irokesen verständigen konnte. So wie sich Indianer untereinander immer verstanden, ohne unbedingt gleichen Sprachfamilien anzugehören. Hannes fluchte fürchterlich, wie es seine Art war, wenn ihm die Worte fehlten. Mit verbundenen Augen trieben sie uns wie Vieh in einem Gewaltmarsch durch den tiefen Wald. Wer nicht parierte, spürte die mit Knoten versehenen Lederriemen der Peiniger. Doch keiner gab ohne weiteres auf. Jeder hing an dem bisschen Leben, das ihm noch blieb, und hoffte irgendwie, dass ein womöglich günstiger Verlauf der Geschehnisse unsere Aussichten verbesserte. Bald war das Rauschen des Flusses nicht mehr zu hören und eine unheimliche Stille breitete sich aus, gepaart mit der Dunkelheit der verdeckten Augen, die nur vom Peitschen der Lederriemen unterbrochen wurde. Ich spürte meine Füße nicht mehr und versuchte, den Gehrhythmus im Takt beizubehalten. Immer wieder stolperte einer von uns über Baumwurzeln oder Felsbrocken und riss den Rest der verknoteten Truppe zu Boden, sodass mein Bestreben immer wieder scheitern musste. Dann fuhren wir mit plump gebauten Kanus aus Ulmenrinden über einen See, der zu den Größeren seiner Art zählte. In der Nacht erreichten wir die Langhaussiedlung der Irokesen. Erst in einem der praktischen Häuser aus Baumrinde, die aus wiederverwendbaren Pfahlgerüsten konstruiert waren, gaben sie uns die Orientierung zurück, nachdem wir an kleinen Pfählen im Langhaus angebunden worden waren. Wir hatten einen geheimen Ort erreicht, wie Strandläufer uns – immer noch benommen von seinem Strafhieb – zuflüsterte. Er hatte von dem heftigen Schlag eine große Beule am Kopf davongetragen. Ich erstarrte vor Schreck, als mein Blick auf Maurice Martier fiel. Der französische Capitaine hatte sich eine klaffende Wunde an der Stirn zugezogen. Scheinbar hatte der Indianer den Schnitt vorhin nicht nur angedeutet, sondern bereits angefangen, ihn zu skalpieren. Das Blut floss in seine Augenhöhlen, über seine Nase und die Wangen entlang. Er zeigte keine weitere Regung und war wohl am Rande der Bewusstlosigkeit. Wie schaffte er nur diesen Gewaltmarsch? „Strandläufer, wo sind wir?“, fragte ich den Fährtenleser leise, als die Möglichkeit dazu bestand. „Wir sind mindestens sechs Stunden gelaufen – vom Fluss weg nach Süden und über den See. In der Zeit schafft man in unserem Zustand zwanzig Kilometer zu Fuß und mit dem Kanu vielleicht nochmals zehn Kilometer.“ Ihn strengte selbst das Sprechen an. „Woher weißt du, dass wir nach Süden gelaufen sind?“, fragte Hannes in unbedachter Marktschreier Manier. Schon kam ein wachsamer Krieger vom Eingang des Langhauses mit bösem Blick auf uns zu. Kompromisslos schlug er Hannes mit einem Stock mitten ins Gesicht. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht fluchte dieser kurz in seinen ergrauten Bart und spukte zwei Zähne aus, während der Schläger mit grinsendem Gesicht das Ergebnis seiner Tat betrachtete. Doch Hannes harrte aus, schaute dem Schläger unverhohlen in die Augen und zeigte – so gut er konnte – keine Reaktion, bis der Wachposten zum Eingang des großen Hauses zurückging. Er hatte sich wie ein tapferer Indianer verhalten. „Das waren meine wichtigsten Zähne!“, grummelte er wohlwissend, dass dieser Verlust vermeidbar gewesen wäre.
„Der Moosbewuchs im Wald ist zum Norden hin am stärksten. Du musst nur Felsen und Bäume abtasten. Selbst im Europa der Weißen müsste das so sein!“, antwortete Strandläufer leise. Drei Squaws kamen in das riesige Haus, das mindestens dreißig Meter Länge aufwies und fünf Familien Platz bot. Die Frauen gaben hier scheinbar den Ton an. Sie begutachteten uns, indem sie uns wie Pferde vor dem Verkauf musterten. Maurice sahen sie sogar in den Mund. Immerhin wuschen sie nebenbei sein Blut verschmiertes Gesicht, sodass er wieder etwas sehen konnte und eine dringend notwendige Wiederbelebung durch das kalte Wasser der Squaws erfuhr. „Was willst du, alte Schachtel!“, pöbelte Hannes, immer noch giftig, nachdem er zusätzlich einen kräftigen Kniff in seinen Allerwertesten hinnehmen musste. Er spukte ihnen das Blut vor die Füße, dass seine frischen Zahnlücken hergaben. Doch sie bemerkten es nicht, sondern redeten ununterbrochen aufeinander ein und schienen nach wie vor uneins zu sein.
„Sie suchen Ersatz für ihre gefallenen Söhne“, flüsterte Strandläufer.
„Du machst in dieser Situation Witze?“, fragte ich empört.
„Nein, nein. Sie verhalten sich völlig normal – wie Indianer eben!“ Ungläubig schaute ich zu Maurice, der es als langjähriger Frontsoldat wissen musste. Er nickte kurz und schien seinen Blutverlust verkraftet zu haben. Einen Spaß machte der Capitaine in seiner Lage sicher nicht. Dafür jedoch der schlitzäugige Fährtenleser, der mich mit seinem breitbackigem Grinsen an die Inuit auf Grönland erinnerte.
„Keine Sorge, Caspar, einen bebrillten Hering nehmen sie nicht. Du bist ihnen zu unheimlich! Hannes ist zu alt und mich, einen feindlichen Micmac, sehen sie lieber morgen garen – auf dem Feuerrost!“ Bei seinem Galgenhumor drehte sich mein Magen endgültig um. Kompromisslos entleerte er sich und besudelte die Frauen mit dem bitteren Nass meiner Innereien, woraufhin sie schreiend zum Eingang des Langhauses liefen. Womöglich hatte ich nun Maurices Leben auf dem Gewissen, der für eine Adoption bei einer der Squaws infrage kam, wenn Strandläufer die Zeichen richtig gedeutet hatte.
„Keine Sorge, Caspar. Ich komm darüber hinweg“, antwortete der französische Capitaine aus Quebec, ohne gefragt worden zu sein. Er funktionierte wieder wie früher. Sein blutendes Gesicht sah schlimmer aus, als es war. Stillschweigend machte sich jeder von uns Gedanken, was unseren Weggefährten widerfahren sein mochte. Die Wahrheit wollte keiner aussprechen, weil wir die Wirklichkeit verdrängten, so gut wir konnten.
Sie gaben uns gut zu essen und bald merkten wir, warum sie dies taten. Die Irokesen berauschten uns mit einem Betäubungsmittel, das der Nahrung beigemischt wurde und uns willenlos machte, aber immerhin die Auffassungsgabe nicht einschränkte. Das kleine Fest der Indianer am folgenden Tag sollte möglichst ohne Störung verlaufen. Maurice hatten sie tatsächlich in der Nacht fortgeschafft. Nun machte keiner von uns mehr kleine Witze. Strandläufer kannte sich gut aus, obwohl seine Heimat an der Mündung des Sankt Lorenz ziemlich weit weg lag, und er mit dem Volk der Irokesen bis zu seinem Dienstantritt bei den Franzosen nichts zu tun gehabt hatte.
Das anfangs beschauliche Dorf nahm im Laufe des Tages gewaltig zu, denn immer mehr indianische Besucher wurden mit Kanus über den See hierher gebracht. Sie ließen sich am Festplatz nieder und widmeten sich den Trommlern und Tänzern, die in der Intensität ihrer Darbietungen immer noch steigerungsfähig schienen. Große Berge von Essbarem wurden herangeschafft und Wild, Geflügel und Fisch an großen Feuerstellen zubereitet. Kürbisse, Bohnen und vor allem Mais ernteten die Irokesen auf naheliegenden, eigenen Feldern, die sie dem Wald abtrotzten. Der Ort glich schließlich einer riesigen Bratküche. Und dann wurden die Logen besetzt …
Ein wenig abseits vom Tanzplatz und den rings umliegenden Häusern begrenzten stämmige Eichen den dahinter liegenden Mischwald, soweit ich dies vor lauter Qualm sehen konnte. Nachdem wir an den besagten Eichenstämmen gefesselt waren, ließen die Indianer uns zunächst in Ruhe. Sogar eine leise Unterhaltung war möglich. Die Indianer hatten sich an diesem abseits gelegenen Ort auf eine längere Zeit des Verweilens eingerichtet. Strandläufer bestätigte meinen Eindruck. Die Roten hatten ihren ganzen Krempel einschließlich einer großen Kinderschar dabei. Es soll sich bei unseren Gastgebern um die Seneca-Nation handeln, die die westlichsten Siedlungsgebiete des mächtigen Irokesenbundes beanspruchten, die wir beim Befahren des Allegheny tangiert hatten. Strandläufer glaubte des Weiteren zu wissen, dass dieser Ort nur von der Seeseite erreichbar war und ansonsten dank eines Gebirgszugs mit steilen Klippen fernab der Handelswege äußerst geschützt lag. Das erklärte, warum die sonst üblichen Palisaden als Schutzwall fehlten. Da fiel es den Irokesen nicht schwer, sich hier sicher zu fühlen – was wir von uns nicht sagen konnten.
Zu unserer Überraschung wurden noch drei weitere Gefangene direkt neben uns angebunden. Es handelte sich um zwei Franzosen in Zivil und einen Indianer, der ein paar Brocken Algonkin sprach, wenn er mit seinem Französisch nicht weiterkam. Sofort versuchten wir, Informationen auszutauschen. Doch sie standen leider zu weit von uns weg.
Alsdann wurde es im Dorf ruhiger und die Trommeln schwiegen für eine Weile. Bald konnten wir die Bewohner und ihre Gäste nicht mehr sehen. Offenbar machten sie sich für das eigentliche Fest in ihren Behausungen zurecht. Selbst die Kinder, die uns mit ihren neugierigen Blicken durchlöchert hatten, waren plötzlich verschwunden. Noch einmal überlegte ich, ob es noch irgendeine Chance gab, unser Leben zu retten. Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Wir wussten also, dass wir diese Expedition bis zum Ende auf uns allein gestellt durchstehen mussten.
Ich dachte an Lisa und an meine Familie. Lisa würde ich nun nie wiedersehen dürfen. Ihre schönen grünen Augen, in denen ich so gern pausenlos versank und alles andere dabei vergaß. Das vertraute Lächeln, das mir, Jahr ein - Jahr aus, so selbstverständlich gewesen war. Und ihre hochgesteckten dunkelblonden Haare, die manchmal eine unbändige Locke freigaben, die dann im leichten Wind tanzte und meinem Spott ausgesetzt war, obwohl eigentlich eine Liebeserklärung gemeint war. Meine geliebte Heimatstadt und den Duft der Elbe, der beim Atmen jedes Mal eine Gänsehaut auslöste, wenn ich elbaufwärts zurück nach Hamburg in den Hafen kam. Nun sollten wir eine Martertortur durchstehen, der wir Europäer sicher noch weniger gewachsen waren, als die Einheimischen. Mit Schmerzen und Erniedrigungen über eine lange Zeit brachen die Indianer ihren Gefangenen den Willen. Einen indianischen Willen, der für Weiße außerhalb der kulturellen und physischen Reichweite lag. Die Europäer allerdings, waren ihrerseits nicht minderbegabt, ihre Mitmenschen mit Verfehlungen europäischer Machart zu quälen. Somit müssen wir unser empörtes Entsetzen über ebenjene Praktiken in Grenzen halten, wenn wir mit unseren Fingern auf die Grausamkeiten anderer Kulturkreise zeigen. So zumindest nach meinem Empfinden und meinem Rechtsverständnis. Grausamkeit wird nicht besser, wenn die Gesellschaft sie reguliert. Verzweifelt und resigniert stellte ich fest, keine Fluchtmöglichkeit zu sehen.
Bald darauf erwachte das Dorf zu seiner ursprünglichen quirligen Lebendigkeit. Die Feuer wurden größer, die Menschen geschäftiger. Kinder rannten zwischen den Langhäusern hin und her und spielten mit kleinen Bällen, die sie mit Holzschlägern fortschlugen. Der Strom der voll besetzten Kanus auf dem See, die immer neue Clans zum Festplatz brachten, ebbte ab. Die Trommeln wurden immer intensiver geschlagen. Im Rhythmus gesellten sich bunt geschmückte und bemalte Tänzer dazu, die mit Rasseln, Flöten und mir fremden Instrumenten das Konzert verfeinerten und die Freifläche des Dorfes rasant füllten. Nun setzte auch mehrstimmiger Gesang ein, der in meinen Ohren wie Schmerzlaute klang. Auch in der Nähe der Eichen loderten jetzt große Feuer. Eine Gruppe junger Krieger mit Pfeilen und Bögen baute sich vor uns auf, geführt von Älteren mit vielen Federn im Haar, während eine große Schar neugieriger Unbeteiligter jeden Alters und Geschlechts gaffte. Vergleichbar wohl mit heimischen Hinrichtungen, die auf den Marktplätzen in den Städten stattfanden. Nun begann das große Schauspiel: Der Reihe nach schossen sie auf uns. Zunächst kam es wohl darauf an, die Pfeile möglichst dicht neben den angebundenen Körpern zu platzieren. Strandläufer traf es am Unterarm. Er verzog nach indianischer Sitte nicht einmal die Mundwinkel, musste aber Höllenqualen erlitten haben. Kinder kicherten, Squaws lachten und die Krieger stießen Schreie aus, die alleine schon Angst machten, ohne dass man ihnen als Zielscheibe ausgeliefert sein musste. Mein Herz pochte laut. Nun war ich an der Reihe, während Strandläufer von den hübschesten Squaws mit Wasser und Maiskuchen versorgt wurde. Dann schoss der erste Kandidat auf mich und zog mir einen neuen Scheitel. Der Pfeil streifte die Kopfhaut und der Schütze wurde umjubelt. Mir blieb ein Missgeschick des Schützen erspart, sodass ich unverletzt die nächste Runde erreichte. Auch ich wurde nach Irokesenart verwöhnt, indem die jungen Frauen mit Stärkungen zu mir kamen. Doch diesmal war eine Weiße dabei, deren Umrisse im flackernden Licht der großen Feuer nicht gleich erkennbar waren. Man hatte mir wenigstens die Brille gelassen, was mir anfangs als Nachteil erschien. Ich hatte gehört, dass Irokesen auch Weiße in ihre Stämme integrierten. War diese Frau eine von denen, die vielleicht zuvor ein ganz normales Leben in einer gewöhnlichen Stadt Neufrankreichs geführt und viele Kinder und einen treuen Ehemann ihr Eigen genannt hatte? Sie kam näher und schaute mir nur Bruchteile einer Sekunde in die Augen. Nein, das konnte doch nicht wahr sein. Das konnte ich nicht glauben! Dieses Lächeln und die grünen Augen, die unvergleichlich waren? Nun stand sie allein vor mir. Ich sah nur noch in ihr Gesicht. Ihre funkelnden Augen leuchteten mich im Feuerschein an. Das dunkelblonde Haar wehte ihren Lavendelduft im leichten Wind zu mir herüber. Ihr Lächeln jagte mir einen eiskalten Schauer über den schmerzenden Rücken. Dann sagte sie völlig ruhig, wie bei einem Sonntagspaziergang auf dem Stadtwall: „Ich wusste gar nicht, dass du auch eingeladen bist!“
Es war Lisa! Meine Lisa! – Das konnte doch gar nicht sein!
Ich versuchte, mich von meinen Fesseln zu befreien. Ich zappelte und zappelte, bis … ich schließlich aus dem Bett fiel!
Lisa zündete in aller Ruhe eine Kerze an, die immer griffbereit auf ihrem Nachttisch stand, eine von den Mehrfarbigen, die sie regelmäßig zum Geburtstag von Konstanze und Hinrich bekam.
„Komm zurück ins Bett. Du hast wieder einmal geträumt!“
Es war eine der traumatisierten Nächte, die mich seit meiner Amerikareise heimsuchten und quälten. Ich konnte den grausam erlebten Krieg, der zwischen den französischen und britischen Kolonien während meiner Amerikaquerung 1755 getobt hatte, nicht vergessen. Immer wieder sah ich die bestialisch zugerichteten Leichen, so als wäre ich gestern noch in Amerika gewesen. Ganz anders war es hier zu leben, zu lieben und zu arbeiten – in einer relativ friedlichen Welt mit einigermaßen geordneten Verhältnissen. So ganz ohne Einschränkungen ging es zwar auch nicht! Aber es war ein anderes Milieu, das in einem höhere Bedürfnisse weckte, die mit den nackten Existenzkämpfen im Indianerland, die den Menschenseelen auf Dauer nur schaden konnten, nicht das Mindeste zu tun hatten. Doch ich bereute fast nie, damals mit einer Handvoll Männer diesen Weg entlang des Grenzlandes gegangen zu sein, anstatt einer langwierigen Überwinterung in Quebec entgegenzusehen, die die Mehrheit der Mannschaft des Walfängers Konstanze bevorzugt hatte. Nach dem Löschen der Ladung war die Mannschaft ungebunden gewesen und hatte über ihren Verbleib selbst bestimmen können. Doch die Konstanze war in den Kolonialkrieg hineingerutscht. Der Kapitän und ich, wir wollten nicht über das Schicksal der Mannschaft bestimmen, weil unsere Reise einen anderen Verlauf nahm, als bei der Schließung der Heuerverträge vorhersehbar wurde.
Lisa wartete damals auf mich, denn unsere Verlobungsfeier war fest verabredet, und ich wusste, wie sehr sie den Tag meiner Rückkehr herbeisehnte. Doch zu diesem Zeitpunkt befand ich mich Hunderte Seemeilen von Lisa und meiner Heimat entfernt.
Ein paar Tage später liefen wir in London mit unserem Walfänger Konstanze ein. Nach etlichen Kontrollen auf der Themse und erstaunten Gesichtern der Zöllner, die selten einen Walfänger mit Leinenballen als Fracht sahen. Peter Fishbone, von Fishbone & Sons, nahm uns in Empfang. Peter war der Mittlere von drei Söhnen der alt eingesessenen Kaufmannsfamilie. Er breitete seine großen sommersprossigen Arme aus, sobald er uns erkennen konnte. Wollte er das ganze Schiff umklammern? Peter entging nicht, dass wir mit einem Walfänger gekommen waren. Sein fragender Gesichtsausdruck verriet uns seine skeptischen Gedanken, die denen der Zöllner ähnlich waren. Sollten etwa auf dem hässlich gestrichenen Walfänger meine Leinenballen aus Schlesien sein?
„Wo sollen wir den Waltran abladen, Peter?“, hörte er auch prompt und die Mannschaft der Konstanze übertraf sich gegeneinander im Grinsen, Feixen und Pusten.
„Ich glaub dir das nicht, Caspar! Wo sind meine schlesischen Leinenballen?“, antwortete er und kratzte sich den rotblonden lockigen Schopf, der seinen ratlosen Gesichtsausdruck großzügig umhüllte.
„Das klärt sich alles auf“, beschwichtigte Kapitän Broder, der mit seiner krächzenden Stimme kaum zu hören war. Mister Fishbone sprang auf das Deck und öffnete eilig eine Luke, die einen Blick auf die Ladung zuließ. Er sah, was er sehen wollte, und schmunzelte den bekannten Gesichtern von Hinrich und mir zu.
„Sind euch die passenden Schiffe ausgegangen oder wollt ihr ins Eismeer segeln?“, überspielte er die für ihn knifflige Situation.
Schon bald saßen Peter Fishbone, Kapitän Broder, Hinrich und ich in einem Wirtshaus und tranken das berühmte Londoner Schwarzbier. Leider verdarben die Briten ihr Bier mit exotischen Gewürzen aus Ostindien. Immer neue Rezepte änderten nichts an den Grausamkeiten, die sie ihrem Bier antaten. Zum Glück konnten wir auch das Bier ohne Veredelung bestellen. Ich erzählte ihm von meinen Plänen und Peters alles einnehmenden, buschigen Augenbrauen bewegten sich zur Stirn und wieder zurück. Die weit aufgerissenen Augen sorgten unterstützend für einen staunend überraschten Gesichtsausdruck. Er witterte zu Unrecht eine neue Falle und durchleuchtete unsere Gesichter.
„Du kommst auf Ideen, Caspar! Klar, dass ich dir helfe - irgendwie zumindest. Doch ich muss, genauso wie ihr es machen würdet, mit meinem Vater sprechen. Da ein Teil der Leinenballen sowieso nach Boston geht und wir dort gute Kontakte haben, müssten wir euch helfen können. Aber wieso haben euch meine Landsleute beschossen, mit eurer Hamburger Flagge an Bord dürfte so etwas doch nie passieren, oder?“
„Weil wir mit vollen Laderäumen kurz vor Neufundland waren und man befürchtete, wir würden Neufrankreich anlaufen wollen“, antwortete Kapitän Broder knapp, nachdem er Pfefferkörner aus seinem Krug gefischt hatte.
„Es war also ein fataler Irrtum meiner Landsleute, euch zu beschießen!“, stellte Peter schnell fest.
„Eigentlich dürfte man im Zweifel nicht schießen“, fand Hinrich streng.
„Dann wären wir wahrscheinlich nicht in Quebec angekommen und die Walfangfahrt hätte einen anderen Verlauf genommen …!“, antwortete ich.
„Wir müssen an die Zukunft denken, meine Herren!“, ermahnte Broder. Wir tranken unser Bier und Peter sicherte uns zu, noch abends mit seinem Vater, Mortimer Fishbone, zu sprechen.
Am nächsten Morgen kam Peter zur frühen Stunde auf die Konstanze. Gespannt warteten wir auf seine Nachricht.
„Wie ist es gelaufen, was sagt dein Vater, Peter?“, fragte ich ganz ungeduldig und sofort versammelte sich das ganze Schiffsvolk an Deck.
„Ihr könnt den Waltran“, er lachte, „die vorgesehenen Ballen für Boston auf dem Schiff belassen, wenn ihr noch zusätzlich Werkzeuge und Getreide für Boston mitnehmt“, antwortete er kraftvoll und offenbar voller Freude“. Wenn ihr wollt, komme ich auch mit und werde euch bei der Suche nach Jacob und seinen Freunden helfen!“
„Das ist ja wunderbar, Peter! Wann können wir los? Wie hast du das hingekriegt?“, überschlug ich mich vor Enthusiasmus.
„Die Leute in Boston sind Fremden gegenüber sehr misstrauisch und du brauchst für dein Vorhaben viel Hilfe. Soviel steht fest. Zumal wir Hilfe von unbekannten Dritten benötigen, die nicht vor Ort sein werden, sondern in Maine, New York oder sonst wo. Das Sankt-Lorenz-Tal liegt schließlich nicht gleich um die Ecke. Mein Vater hatte erst vor ungefähr einem Monat gesagt, dass einer von uns unbedingt einmal zu den Kolonien mitsegeln solle. Einerseits müssen wir unsere bestehenden Kontakte pflegen, andererseits Neue knüpfen. Doch das ist noch nicht alles, Caspar: Das frei gewordene Schiff wird anderweitig benötigt, weil ihr nun die Ladung nach Boston bringt. Denn wir haben wegen des Krieges viele Aufträge und könnten noch ein paar andere Schiffe losschicken, wenn welche verfügbar wären.“
„Wann können wir auslaufen?“, fragte Hinrich, der ebenso begeistert war, genau wie die um uns versammelte Mannschaft. Sie fieberten alle mit, obwohl sie an der eigentlichen Suche auf dem Kontinent nicht beteiligt sein würden. Das unfreiwillige Abenteuer anno 1755 hatte uns zusammen wachsen lassen. Es war eine unbeschwerte Verbindung unter uns entstanden, die Rang unabhängig bestand und die jedem Kraft gab, fest an das Erreichen unserer Ziele zu glauben.
„Mittags kommt die Ladung an Bord und abends können wir mit der Flut auslaufen, wenn ihr wollt“, fügte Peter an, indem er seine buschigen Augenbrauen nochmals athletisch streckte. Er wendete sich dabei zum Kapitän, um die Regeln der christlichen Seefahrt einzuhalten. Broder nickte milde, schließlich wollte auch er keine Zeit verlieren und diesmal die volle Fangzeit im Eismeer nutzen. Er hatte sich deswegen so manchen Vorwurf im Heimathafen anhören müssen. Wie er denn dazu käme, erst im Sommer auszulaufen. Doch er sagte allen und besonders denen, die am lautesten schrien, dass ungewöhnliche Situationen manchmal ungewöhnliche Maßnahmen erforderlich machten und nur der Erfolg schließlich zählt. So einige der Schreihälse kamen ohne Fang nachhause, obwohl sie pünktlich im März ausgelaufen waren und scheinbar alle Zeit der Welt hatten.
In der Folge bescheinigte uns die gesamte Familie Fishbone, die einzigartige Hässlichkeit des Anstrichs der Konstanze, als sie uns später im Hafen von London mit allem Drum und Dran verabschiedete. Sie stritten sich sogar, ob es sich bei dem Anstrich um ein ockerfarbenes Grau oder um ein grau farbiges Ocker handelte. Auch Peter ließ nun seine junge Frau Anne mit Tränen in den Augen zurück. Sie hatte nicht viel Zeit gehabt, sich mit Peters Reise innerlich zu arrangieren.
Ich nutzte die lange Reisezeit, um mir zu überlegen, welche möglichen Begleiter mir bei der Suche nach Jacob und den anderen zur Seite stehen könnten. Hinrich wollte unbedingt zum Walfang. Das hatte er von Anfang an klar gemacht. Außerdem bestimmte der Kapitän meinen Bruder die fehlenden Navigationseinheiten zu vermitteln. Auch Hinrich wollte sein Kapitänspatent als Absolvent der Hamburger Navigationsschule machen. Das gleiche Ziel verfolgten Jacob und ich, nachdem wir auf dem Walfänger ausgebildet worden waren. Doch ich beanspruchte dieses Recht bisher nicht, auch weil der Walfang für mich selbst nicht mehr infrage kam, und durch meine fehlende Teilnahme auf der Rückreise der Konstanze mir sicher ein paar Monate Übung fehlten. Ich weinte dem keine Träne nach. Ich konzentrierte mich auf meine Aufgabe: Wenn ich den Koch, die Speckschneider und Harpuniere ebenfalls ausklammere, bleiben nicht mehr so viele Männer übrig, die ich zur Suche mitnehmen könnte. Kapitän Broder konnte zwei Mann entbehren, die keine Schlüsselposition bei der Waljagd einnahmen. Ich wollte neben dem erfahrenen Hannes noch einen möglichst Englisch sprechenden jungen Mann dabei haben. Die Wahl fiel auf den nordfriesischen gescheiten Matrosen Arian, der aufgeschlossen auf neue Dinge zuging und zusätzlich noch ein guter Ruderer war. Denn um irgendwelche schiffbaren Vehikel werden wir auf unserem Weg nicht herumkommen. Indes hatte Arian nicht damit gerechnet, dass ich ihn fragen würde.
Die Würfel waren nach Absprache mit Kapitän Broder gefallen: Hannes, Peter, Arian und ich werden von Boston aus mit der Suche nach Jacob, Julie, Peter, Irina, Zven und Ivonne beginnen.
Inzwischen war es spät geworden, im Hause Kock an der Kehrwiederstraße. Cornelius und Caroline lauschten meinen ausführlichen Erzählungen, trotz eines harten Arbeitstages, den wir hinter uns ließen. Es klopfte an der Tür und Lisa kam herein. Ihr Blick verriet, dass auch sie die späte Stunde bemerkt hatte.
„Ich möchte zwar kein Spielverderber sein, aber ...“
„ ... aber, du bist es jetzt schon, Mutter!“, fuhr Caroline sie an und klopfte unterstützend auf eines der unzähligen Kissen.
„Ein freundlicherer Ton könnte deinen Bemerkungen manchmal nicht schaden, Caroline!“, sagte ich ärgerlich.
„Ist schon richtig so, Lisa. Ich kann auch nicht mehr weiter erzählen.“ Ich nahm sie in den Arm, nachdem sie neben mir auf dem Sofa Platz genommen hatte.
„Entschuldigung, Mutter! Ich hab es nicht so gemeint. Vater hatte nur so schön erzählt und ich wollte einfach hören, wie es weitergeht.“
„Ihr müsst morgen früh die Charlotte beladen und Cornelius muss seine Sachen für die Fahrt packen. Das Schiff soll schließlich mit der Flut auslaufen“, ergänzte sie. Die Kinder hatten diesem Argument nichts entgegen zu setzen. Sicher spürten auch sie längst den langen Tag, der nun allmählich sein Ende fand.
„Bei nächster Gelegenheit werde ich weiter erzählen, wenn ihr wollt!“, rief ich den Kindern hinterher, die bereits die Treppe hinab stiegen.
„Das wird frühestens in zwei Monaten der Fall sein. Gute Nacht!“, antwortete Cornelius schläfrig aus dem Treppenhaus.
„Morgen macht dein Sohn seine erste Fahrt als 1. Offizier nach La Rochelle“, sagte Lisa, mit Stolz in ihrer lieblichen Stimme.
„Wenn ich Caroline und Cornelius von damals erzähle und mich an all die verrückten Sachen erinnere, dann bin ich so intensiv bei den Ereignissen, als hätte ich sie gerade eben erlebt. Anschließend brauche ich einige Zeit, bis ich als souveräner Vater meiner Kinder auf das Sofa zurückkehre ...“ Sie legte ihren Arm bedächtig um meine Schultern und ihre zarte Wange berührte die meine. Ich spürte ihren sanften Atem und mein Ohr fing an zu kitzeln. Immer noch neugierig wie am ersten Tag unserer Liebe, wartete ich ab, was noch geschehen würde, und ich horchte in den Raum hinein. Stille! Auch der nahe Hafen kam zur nächtlichen Ruhe.
Am nächsten Tag lief die Charlotte planmäßig nach La Rochelle aus. Direkt vor unserer Haustür am Kehrwieder konnten wir die Abfahrt des Schiffes verfolgen. Die Brigantine Charlotte, die auch auf ihre alten Tage noch weiterhin regelmäßig zwischen La Rochelle und Hamburg verkehrte und somit die private wie geschäftliche Verbindung der Kocks aufrechterhielt, hatte neben Cornelius noch einen anderen Neuen an Bord. Der junge Kapitän Jaspar Jensen, dessen Vater mit mir damals zum Walfang als zweiter Steuermann unterwegs war, hatte frisch sein Kapitänspatent erhalten.
Caroline arbeitete derweil überwiegend im Kontor in der Katharinenstraße bei ihrem Großvater. Jedoch heute war sie verdächtig oft im Hafen zu sehen gewesen. Das Schiff legte ab und sie winkte und winkte. Lisa guckte mich mit fragendem Blick an.
„Ereifert sie sich bloß, weil sie froh ist, ihren Bruder mal ein paar Tage nicht zu sehen“, bemerkte ich tonlos, ohne den Blick vom auslaufenden Schiff zu lassen. Lisa schaute mich nochmals an. Ich sah in ihr Gesicht. Sie kniff kurz aber kräftig die Augen zu, was in etwa bedeutete, ich solle mir meine Kommentare möglichst verkneifen. Zumindest aber, wenn unsere Tochter anwesend sei.
Die Sonne strahlte kräftig. Caroline winkte, auch noch, als die Brigantine nicht mehr zu sehen war und sie dem Schiff nicht mehr hinterher sehen konnte.
„Nun ist er weg. Er wird es gut haben bei Nathalie und Clemens“, stellte Lisa lächelnd fest, bevor wir ins Haus gingen.
„Und nicht zu vergessen, bei seiner Cousine Antoinette!“, ergänzte ich spitzfindig. Sie hatte ihn gern und veranstaltete bisher immer etwas Besonderes, wenn Cornelius zugegen war. Caroline bestieg unterdessen wortlos das wartende Fuhrwerk, das sie direkt zu ihrer Arbeit ins Kontor zurückbringen sollte.
Cornelius hatte die hinter ihm liegende Fahrt nach La Rochelle bravourös in seiner Funktion als 1. Offizier gemeistert und sichtbar reifen lassen. Er wirkte nach der Fahrt erwachsener, wohl auch, weil er sein Haupt nunmehr in den Himmel steckte. Endgültig entledigte er sich der Beaufsichtigung seiner Eltern, die nun seiner abgelegten kindlichen Vergangenheit angehörte. Noch am Abend vor der Abfahrt der Charlotte, wo wir ebenfalls hier auf dem Dachboden unseres Hauses am Kehrwieder saßen, wirkte er eher zart, unsicher und jugendlich, als ich bis zum London Aufenthalt bei den Fishbones von der zweiten Amerikareise erzählte.
Auch bei seiner Schwester hatte sich etwas getan. Die zwei Jahre ältere Caroline ließ uns den letzten Schritt des Erwachsenwerdens deutlich spüren. Ihr genügte erstaunlicherweise während der Abwesenheit des Bruders nur die Gesellschaft ihrer besten Freundin Rosalinde, die für die Herzensangelegenheiten zuständig war. Caroline verhielt sich in den häuslichen Räumen nun eher still und nachdenklich, entgegen allen bisherigen Vorlieben. Die Ankunft der Charlotte machte sie plötzlich ganz hektisch. Wie schon bei Cornelius` Abfahrt überraschte sie mit rauschender Präsenz im Hafen, die sonst nach außen hin üblicher schlichter vornehmer Zurückhaltung wich. Caroline hatte ihr neues Kleid angezogen und bald stellte sich heraus, dass sie sich nicht für ihren Bruder so schön zurechtgemacht hatte. Meine Tochter kokettierte mit unserem Kapitän Jaspar Jensen, der seine Augen ebenfalls nicht von ihr lassen konnte, obwohl er sich im Dienstgespräch mit dem neuen Hafenmeister und dem Elblotsen befand. So hatte Rosalinde das Nachsehen, die sicherlich die flotten Offiziere des Schiffes in Augenschein nehmen wollte. Schließlich hatte man gegenüber der besten Freundin eine untrügliche Verpflichtung. Doch nun stand sie in der zweiten Reihe der Hafenbesucher und der schnell zusammengetrommelten Angehörigen, die die Mannschaft selbstverständlich zur Begrüßung in Empfang nehmen wollten. Cornelius schulterte lässig seinen Seesack und ging grinsend an seiner Schwester vorbei, die nur Bruchteile einer Sekunde einen Blick zu ihm warf.
Das Verhalten der Kinder hielt uns trotzdem nicht von der Zusammenkunft auf dem Dachboden unseres Hauses ab. Lisa, Cornelius und ich hüteten uns davor, Carolines Begrüßung der Charlotte irgendwie zu kommentieren. Auch wenn es mir sehr schwer fiel. Caroline würde das nicht so leicht verzeihen, soviel stand fest. Erstaunlicherweise galt ihr Interesse immer noch meinen Erzählungen. Erst am nächsten Tag sah sie Jaspar Jensen anlässlich des Empfangs bei Vater wieder. Bis dahin hatte sie alle Zeit der Welt und die Ruhe meinen weiteren Ausführungen aus dem Kennebectal zu lauschen.
Wenige Tage später saßen wir nach getaner Arbeit wiederum auf dem Dachboden, weil noch längst nicht alles Wichtige erzählt worden war, was sich damals nach der Ankunft der Konstanze ereignete. An jenem Abend versuchte ich eingangs resolut meine Vorstellungen des Weitererzählens umzusetzen, weil ich das Gefühl hatte, mir liefen die Fäden auseinander.
„Kinder, die letzten Tage kamen immer öfter einzelne Fragen von euch, was mir erfreulicherweise euer Interesse zeigte. Deshalb sollte ich jetzt weiter erzählen, damit wir mit der Vergangenheit geordnet zu einem Ende kommen können.“
„Wie erging es Julie und Jacob?“, fragte Cornelius eifrig und Caroline stand ihrem Bruder um nichts nach:
„Und wie ging es mit Peter, Irina, Dr. Fabius, Alex, Maurice, Jean-Claude, Louis und Jean, den Dubois` und den anderen weiter, von denen du erzähltest, Vater?“
„Wenn du mir so wuchtig vor Augen führst, was ich noch alles erzählen muss, dann überlege ich mir es noch mal, Caroline!“
„Nein, nein. Du machst das gut. War nicht so gemeint. Lass dir Zeit. Womit fangen wir an?“
Mit leicht verwirrtem Blick suchte ich nach dem Anfang. Sie hatten mich nicht verstanden. Der Anfang musste das Resümee des zuletzt Erzählten sein.
Nachdem Jacob in Amerika als verschollen galt, eure Großmutter verstorben und Josephine aus unserem Leben verschwunden war, wurde es sehr still im Hause Johann Ludwig Kock. Der einzige Lichtblick zu diesem Zeitpunkt war die wieder erstarkte Verbundenheit zwischen Hinrich und mir. Lange suchten wir nach einem geeigneten Kontoristen, der Josephine ersetzen konnte. Die familiäre Lücke, die sie hinterließ, war freilich nicht zu füllen. Dann wurde Tante Konstanze mit Jost-Gunnar schwanger und schon bald sollte wieder ein wenig Freude einkehren und neues Leben in die Katharinenstraße einziehen. Sieht man von alledem ab, plagte mich seit der Ankunft des Walfängers nur ein einziger Gedanke: Wie können wir Jacobs unglückliches Schicksal und das seiner Freunde, die mit ihm verschwanden, noch zum Guten wenden? Sollten wir die Verschollenen einfach aufgeben? Nein! Nein und nochmals nein! Tante Nathalie und Onkel Clemens hatten inzwischen zurückgeschrieben. Sie waren sehr bestürzt und würden mich in meinem Vorhaben, etwas zu unternehmen, mit allen erdenklichen Mitteln unterstützen. Dieser Brief untermauerte mein Bestreben geeignete Maßnahmen zu ergreifen und half mir, mit dem Schuldgefühlen Lisa gegenüber, besser fertig zu werden.
Im strengen Winter des Jahres 1756/57 schmiedete ich an dem Plan, Jacob suchen zu wollen. Immer wieder verwarf ich meine Ideen und es machte mich ganz krank, keinen sprühenden Funken in mir wahrzunehmen, als Basis eines angemessenen Rettungsplanes. Noch einmal müsste ich Lisa zurücklassen, obwohl ich wusste, wie sehr sie darunter leiden würde. Noch einmal bestünde die Gefahr, der Familie viel Kummer zu bereiten. Schließlich hatte ich doch eine einigermaßen brauchbare Idee und rief sogleich in vollem Eifer die Familie zusammen.
„Ich möchte euch heute meinen Plan vorstellen, Jacob zu retten und ihn wieder nach Europa zu bringen.“ Ein Raunen ging durch die große Diele, bis hin zu Marias gläsernen Kontor. Die Dienstmagd tauchte augenscheinlich in ihrem Glaskasten ab, als wolle sie im Boden versinken. Aber Maria sammelte nur ihr Strickzeug auf, das sie vor Schreck fallen gelassen hatte. Sie wusste den richtigen Moment abzupassen, denn sie ahnte den weiteren Verlauf des Zusammentreffens voraus. Darauf verließ sie eilig den gläsernen Anbau und das familiäre Geschehen.
„Soll das heißen, dass du nochmals nach Amerika willst? Ein Land im Krieg, nach all den mörderischen Erfahrungen, die du dort gemacht hast“, empörte sich Lisa gleich anfangs, die durch den Brief aus La Rochelle längst wusste, was auf sie zukommen würde.
„Wer außer mir sollte es sonst tun? Überlege, Onkel Clemens muss im Kontor in La Rochelle bleiben. Ich muss ihn bei der Suche nach seinem Sohn vertreten. Mit meinen Erfahrungen bin ich der Einzige, der eine Chance hat, Jacob dort zu finden!“
„Wie stellst du dir das vor? Du hast doch sicher bereits eine Idee“, wollte Vater wissen, während Lisa kleine Tränen über die Wangen liefen und sich auf ihrer Stirn kleine Falten bildeten, wie immer, wenn es für sie schwierig wurde.
„Ich fahre mit den schlesischen Leinen nach London. Doch diesmal segeln wir mit der KonstanzeKonstanze