Titel des vietnamesischen Originals: Truyên Thuy Kiêu.
Mit einem Vorwort von Irene und Franz Faber
Wenn der Reisende von Hanoi, der Metropole der Sozialistischen Republik Vietnam, die malerisch schöne Straße nach dem Süden wählt, nimmt ihn bereits nach wenigen Stunden Vinh, die Hauptstadt der Provinz Nghê Tinh, in ihren Mauern auf. Unweit dieser alten Stadt, am Meer, liegt das Dorf Tien-Dien. Mit seinen Bananenplantagen und Palmenhainen unterscheidet es sich in nichts von den übrigen Siedlungen dieser fruchtbaren subtropischen Landschaft. Und doch ist sein Name weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt geworden. In einem seiner niedrigen Häuser wurde der bedeutendste Vertreter der vietnamesischen klassischen Literatur geboren, der Dichter Nguyên Du, Schöpfer des großen Nationalepos „Thuy Kiêu" (Das Mädchen Kiêu).
Es mag wohl wenig Persönlichkeiten seinesgleichen auf der Erde gegeben haben, deren dichterisches Schaffen so innig zum Bestandteil eines ganzen Volkes wurde, zum lebendigen Born für Männer und Frauen, die sich noch bis vor wenigen Jahren im wesentlichen zu den Analphabeten zählen mußten. Selbst in der erniedrigenden Zeit kolonialistischer Fron gab es kaum eine Hütte zwischen dem Delta des Mekong und den Bergen des Tây Bac, in der nicht einige Verse des Epos von der Kiêu bekannt waren. Im melodischen Rhythmus der Dichtung erscheint dem Bauern die harte Arbeit des Reispflanzens leichter. Die Reime werden dort gesungen, wo sich jung und alt nach der Hitze des Tages gemeinsam um die Schale grünen Tee und um die Wasserpfeife zusammenfinden.
Selbst die Kleinen in den Schlaf wiegen die zarten Töne. In der schwersten Zeit des vietnamesischen Volkes, in seinem Kampf gegen die ausländischen Invasoren, spiegeln sich in den Versen dieser Dichtung die eigene Not und Traurigkeit, aber auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Tage des nationalen Befreiungskampfes sahen ein ganzes Volk in Waffen, doch sie sahen es auch an den nächtlichen Lagerstellen der endlosen Front vereint, den Worten des Vorlesers lauschend, die Nguyên Du und sein Werk unter ihnen lebendig werden ließen. Die Dichtungen dieses großen Klassikers verdanken ihre Volkstümlichkeit dem Geist eines tiefen Humanismus, der sie durchdringt. Obwohl Nguyên Du einer längst vergangenen Epoche angehört, ist der Inhalt seiner Epen von so kämpferischer Lebendigkeit, daß sie bis zum heutigen Tag das Ringen um die hohen Ideale der Menschheit wegweisend fördern.
Die Zeit, in der Nguyên Du lebte (1765—1820), war eine der turbulentesten in der Geschichte Vietnams. Nie zuvor hatte das Feudalregime eine solche Krise erlebt wie in dieser Periode. So wurde der Dichter Augenzeuge des Untergangs der Tring, der Nguyên und der Lê, aber auch des Triumphes der größten Bauernerhebung Indochinas, des Tây-Son-Aufstandes. Er sah die Armeen des Volkes über die siamesischen Eindringlinge im Süden und über die Mandschu-Invasion im Norden siegen. Und er sah den Verrat, die Mißgunst, den Neid, die Zwietracht, das Verbrechen — und wieder die Unmenschlichkeit volksfremder Dynastien.
Nguyên Du hatte nicht — wie die meisten Dichter seiner Zeit — in der Bambushütte eines Bauern das Licht der Welt erblickt. Er war der Sohn eines Mandarins, dessen Familie der Dynastie der Lê lange gedient hatte. Das Geschlecht, dem er entstammte, atmete den Geist der konfuzianistischen Welt. Wenn der Dichter den Kranz der Unsterblichkeit errang, dann deshalb, weil er trotz Herkunft und Erziehung den Weg zum Volk fand. Im gemeinsamen Alltag mit jenen, die unter der Bürde des Lebens zusammenbrachen, erkannte er die Hohlheit der sogenannten Ewigen Ordnung der Dinge, zu der sich auch die Dynastien und ihre Kreise rechneten. So öffnete sich sein Herz bald den landlosen Bauern, die unter der Knute des Mandarinentums nicht einmal ein paar Reispflanzen ihr eigen nennen konnten. Er schrieb für den Soldaten, der für die Profitgier der Dynastien sterben sollte, für den Hausierer, dessen Schulter unter dem Gewicht der Bambustrage vernarbt war, für die unglücklichste der Frauen, die die Not zwang, ihren Leib feilzubieten.
Den Gegenstand seiner Dichtung hat Nguyen Du einer alten chinesischen literarischen Arbeit entnommen, die im Land der Mitte kaum bekannt war. Dennoch ist „Das Mädchen Kiêu" weit davon entfernt, etwa eine bloße Übertragung ins Vietnamesische zu sein. Der Genius des Dichters hat in Kiêu eine Heldin mit so menschlich tiefen, der Eigenart seines Volkes entsprechenden Charakterzügen geschaffen, daß sie überhaupt nicht mehr mit ihrer Vorgängerin aus dem Norden verglichen werden kann. Die Geschichte der Kiêu ist die Geschichte einer Liebe. Wer einmal das alte Asien und seine jahrtausendealten Traditionen kennengelernt hat, weiß, daß allein schon eine Dichtung, in deren Mittelpunkt diese menschlichste aller Regungen steht, eine Kampfansage ist: Kampf gegen die niedrigsten Instinkte, gegen Herrschsucht und brutale Gewalt, gegen die Verksklavung der Frau und die Tyrannisierung der Familie, gegen die ganze Sittenlosigkeit jener Epoche. Die Geschichte der Kiêu ist aber auch die Geschichte der Tapferkeit, der Treue, des Glaubens, des Hoffens und des unermüdlichen Ringens um eine bessere Welt. Sie ist nicht nur das Drama eines Menschen, der verzweifelt, im Würgegriff eines grausamen Geschicks, immer wieder von neuem den Weg nach den Höhen der Reinheit und des Glücks sucht. Sie ist auch das Drama einer Klasse, der jahrhundertelang die Kraft fehlte, einen Ausweg aus dem Feudalismus zu finden.
Nguyên Du entlarvt mit seinem Epos eine Epoche, die nur ein Gesetz kennt —das Gesetz des Dschungels, nur ein Recht — das Recht der Gewalt. Er sah nicht die Lösung und konnte sie nicht sehen. Wohl ahnte der Dichter einerseits, daß das Vertrauen zu Buddha nur eine trügerische Hoffnung sei, diesen Teufelszyklus zu sprengen. Aber andrerseits war die Zeit, in der er lebte, nicht reif genug, sich vom metaphysischen Weltbild frei zu machen.
„Das Mädchen Kiêu" wird nicht nur wegen seiner fortschrittlichen Thematik eins der bewunderungswürdigsten Denkmäler vietnamesischer Dichtkunst bleiben. Wie kein zweiter hat es Nguyên Du verstanden, die volkstümliche vietnamesische Versschöpfung mit der gediegenen Kultur chinesischer Klassik zu verbinden. Seine literarischen Gemälde finden in der vietnamesischen Poesie nicht ihresgleichen. Die Frische eines Frühlingsspaziergangs, die Schrecknisse einer unheilvollen Nacht, die Empfindungen eines keuschen Mädchens, die niedrige Gier eines Bordellbesitzers — es gibt kein Bild, das die Feder des Dichters nicht mit vortrefflicher Leichtigkeit zeichnet. Die Geschichte der Thuy Kiêu ist ein nachahmenswertes Beispiel, wie die Sprache des Volkes zur vollendeten künstlerischen Aussage gelangen kann.
Die Übertragung des Werkes in eine der indoeuropäischen Sprachen stößt auf Schwierigkeiten, die im ersten Augenblick nahezu unüberwindlich erscheinen. So ist es unmöglich, im Deutschen die Musikalität der vietnamesischen Sprache wiederzugeben. Ihre Eigenart, in sechs Tonhöhen gesprochen zu werden, haben die klassischen Dichter so meisterhaft genützt, daß jedes Epos gleichzeitig einen Reigen vollendeter Melodien darstellt. Eine Übersetzung — mag sie noch so getreu sein — ist daher nie mehr als ein Text, dem die Partitur fehlt.
Eine weitere Schwierigkeit liegt in der den Klassikern eigenen Sprache begründet. Ihre Verse lehnen jede präzise Wiedergabe ab, die geeignet wäre, die Vorstellungswelt des Lesers zu begrenzen. Ihre bewußte Ungenauigkeit, ihre Vorliebe, verschiedenartige Begriffe oft willkürlich zusammenzuziehen, wird noch durch den besonderen Charakter der einsilbigen vietnamesischen Sprache unterstützt. Schließlich unterliegt das Versmaß der vietnamesischen klassischen Literatur einer Gesetzmäßigkeit, die im Deutschen auch nicht im entferntesten eine Parallele findet.
Eine besondere Schwierigkeit stellt die den indoeuropäischen Sprachen gegenüber völlig andere Auffassung vom Charakter der Wörter dar. Typisch dafür ist bereits der Anfang der Dichtung: Tram nam. Wörtlich übersetzt heißen diese beiden Wörter: hundert Jahre. Aber der vietnamesische Gedanke sprengt diesen Begriff; für ihn bestehen zwischen den Eigenschaften der Dinge, zwischen. Formen, Farben und Zahlen bestimmte harmonische Beziehungen. So bedeutet tram nam hier — im Zusammenhang mit dem folgenden Text —: im Verlauf des menschlichen Lebens, das im allgemeinen höchstens hundert Jahre währt. Zehnmal kommt in der Dichtung von dem Mädchen Kiêu der Ausdruck tram nam vor; zehnmal erfordert er eine andere Übersetzung, obwohl sich die beiden Wörter in jedem Fall auf die Dauer des Lebens beziehen. Es wäre jedoch falsch, aus dieser Tatsache den Schluß zu ziehen, daß es dem vietnamesischen Gedanken an Präzision fehle. In den indoeuropäischen Sprachen gibt es leider keine gleichwertigen Ausdrücke, mit denen man den vielfach auf zwei Silben konzentrierten vietnamesischen Begriff wiedergeben kann.
Trotz dieser vielseitigen Schwierigkeiten haben wir uns so eng wie nur eben möglich an den Originaltext gehalten und versucht, das in unserer Sprache auszudrücken, was der Vietnamese Nguyên Du an unvergleichlicher Schönheit und Zartheit in sein Werk hineingelegt hat.
Irene und Franz Faber, Berlin, Juni 1979
In hundert Jahren, die
vielleicht
ein Leben währt,
in dieser Erdenspanne widersprechen oft
sich Gabe und Geschick.
So mußte ich in Zeiten, da
Gedanken sich
und Menschen wandelten wie Meere — aus
den Wogen wuchsen Maulbeerfelder —,
Dinge schauen, die
mein Herz zerrissen. Welch Gesetz,
das nur
den Uberfluß begreift,
wenn Mangel ihn begleitet! Muß
der blaue Himmel stets
mit rosenroten Wangen kämpfen, weil
die Eifersucht ihn quält?
Noch immer sitze ich
vor alten Manuskripten, wende Blatt
für Blatt beim Schein
der Lampe. Zögernd fast
enthüllt
die Bambusrinde die
Geschichte einer Liebe — Liebe, die
dem Wind gleicht, der
vorüberzieht,
dem Licht des Mondes ähnelt, das
nicht jede Nacht
erhellt.
Es war
die Zeit der Minh. Im weiten Land
der Mitte herrschte Frieden, und
aus der Geborgenheit
der Stunde blühten beide großen Städte neu.
Da lebte unter der
Regierung der Gia-tinh
ein Mandarin.
Er hieß Vuong,
und sein
bescheidener Besitz entsprach
dem Rang.
Als letztes Kind
ward ihm ein Sohn
geboren, Vuong Quan,
ein Mann von Geist, der — wie
die Sitte seines Hauses es gebot —
den Wissenschaften diente. Zwei
beneidenswerte Mädchen hatte ihm die Frau
zuvor geschenkt.
Die ältere rief man
Thuy Kiêu,
die jüngere hieß Vân.
Sie waren schlank
wie junge Aprikosenbäume, rein
wie früher Schnee.
Und zeigten sie
dem Fremden sich
in ihrer Art verschieden auch,
es krönte beide die
Vollkommenheit.
Nicht jedem Tag bot sich
die herbe Schönheit einer Vân.
Ihr Antlitz glich
dem Rund des Mondes. Weit
und kräftig war
der Schwung
der Braue. Einer Blume ähnelte
ihr Lächeln, einem Schmuck aus Jade, und ihr Wort
klang wie ein keusches Lied.
Ihr Haar? -
Es glühte sanfter als
der Federball der Wolken.
Der Firn
stand ihrer Haut an Reinheit nach.
Doch schöner war
Kiêu,
erhaben über den Vergleich.
In ihrem Augenpaar
ertrank
die klare Flut herbstlicher Seen.
Der zarte Strich der Brauen rief
Erinnerung
an Berge wach, wie sie
der Frühling träumt.
Sie weckte Eifersucht
im Reich der Blüten, Ärger bei
den Weiden, die
sich plötzlich ihrer dunklen Blätter schämten. Schon
ihr Lächeln hätte Könige besiegt
und Städte aufgewiegelt. Wo
gab es die Frau,
die schön wie sie,
wo das Talent,
das ihr
ein Spiegel war?
Die Gunst des Himmels — galt sie ihr
allein?
Wer sprach wie sie
die Verse großer Meister, reifte in
dem klassischen Gedicht?
Wer nahm wie sie
den Pinsel, alter Kunst
zu dienen? Wer
vermochte es wie sie,
den Reigen der fünf Töne zu gestalten?
In ihren Händen blühte das
Gitarrenspiel der Hô, erwachten neu
die Lieder ferner Zeit. Wen rührten nicht
die Klänge des Bac-Mênh!
Sie trug
das rote Beinkleid, wie
es ihrem Stand
geziemte, vornehm, unbeschwert.
So wuchs Kiéu
dem Tag entgegen, da
der Spangen Buntheit junge Mädchen ziert.
Doch in die süße Ruhe des Gemaches drang
kein Laut.
Der Bambus an
den Fenstern wehrte jedem trunknen Blick.
Es ging
der Frühling hin,
schnell wie die Schwalbe, die
zum Neste eilt.
Von seinen neunzig hellen Tagen blieb
ein letztes Leuchten nur.
Das zarte Grün
der Gräser grenzte schon
an ferne Horizonte. Im
weißrot getupften Kleid
verbarg der Birnbaum sein
Geäst.
Das war das Fest
der Reinen Klarheit.
Zum dritten Mal
vollendete der Mond die Bahn.
Nach alter Sitte zog das Volk hinaus,
die Gräber seiner Ahnen frisch
zu schmücken. „Treten wir
den Rasen nieder!" hieß es, Scherz
und Frohsinn herrschten vor
den Toren, auf
den Feldern nah der Stadt.
In bunten Kleidern sah
man auch
die Schwestern und den Bruder auf
dem Weg ins Land.
Ein reges Auf und Ab
erfüllte bald
die Straße. Wagen folgte Wagen wie
ein Strom, der sich
durch farbenfrohe Ufer drängt.
Und Gräber, Hügel, wo
der Blick sie suchte! Weihrauchduft
und Goldpapier
und Asche — rings verstreut —
von Bildern, münzengroß.
Allmählich neigte sich
der feuerrote Ball.
Da gingen auch die drei
Geschwister heim.
Sich an
den Händen haltend, folgten sie
dem Wasserlauf.
In schlichter Schönheit bot
das Land sich dar,
und wo der Fluß
in einer kleinen Windung sich verlor
und eine Brücke hin
zum andern Ufer strebte, lag am Hang
ein Grab.
Kein Schmuck,
nur welkes Laub
verbarg die nackte Erde.
„Ist es nicht seltsam", brach Kiêu
das Schweigen, „daß am Fest
der Reinen Klarheit Brand
und Weihrauch diesem Hügel fremd sind?"
Vuong, der Bruder, kannte die
Geschichte: „Sie
hieß Dam-Tiên.
Ob ihre Schönheit, ob
ihr Lied
berühmter war, ich weiß
es nicht.
Die Menschen — wie
die Goldamseln und Schwalben — wichen nicht
von ihrer Türe, so
entzückte sie
der göttliche Gesang.
Wie wechselvoll
ist oft
das Leben schöner Frauen!
Mitten in dem hoffnungsvollen Frühling brach
der Zweig,
der diese Blüte trug.
Von weit her kam
ein Mann.
Der Ruf der Schönen war
bis in sein Dorf
gedrungen. So
fand er den Weg
zu ihr.
Doch als das Schiff des Glücks
den Anker warf,
war das begehrte Kleinod schon zerstört,
zersprungen war das kostbare Gefäß. —
Und niemand wußte, wann.
Im leeren Zimmer lag
das Schweigen unerträglich wie
ein totes Blatt.
Die Spuren vor dem Haus,
die einst manch Räderpaar
verrieten, boten sich
dem Moos.
Herr seines Schmerzes wurde nicht,
nicht Herr der Tränen der
Verlaßne. .Sicher stand
geschrieben', klagte er,
daß dich der Tod
mir nimmt.
Trennt uns
das Schicksal auch, soll dir
mein unbedeutendes Geschenk
Ausdruck der Liebe sein,
die bis in dunkle Ewigkeiten reicht.'
In einen Sarg aus Tu
ließ er
die Tote betten. Ein
Gefährt, geschmückt
mit Edelsteinen, brachte die
Geliebte an
die Stätte hier beim Wasserlauf.
Bald überwucherte das Gras
den Hügel ewgen Schlafes. Wie oft ist
seit dieser Zeit der Hase in
das Meer
gestürzt, der Rabe in
ein fernes Land
geflogen! Einsam blieb
das Grab.
Es fragte niemand nach
der Sängerin."
Weit ist das Herz
der Frau,
des Mitleids hehre Stätte.
Als der Bruder schwieg,
benetzten Tränen das
Gesicht Kiêus. „Wie schmerzlich unser Los
ist", sagte sie.
„Nicht nur die Tote trug
ein undankbares Schicksal. Es
trifft jede von uns. Gott,
wie hart sind Sie!
Des Frühlings Wonne ist
so kurz,
die rosenroten Wangen welken schnell dahin.
Als dieser Leib
noch lebte, lag er in
den Armen manchen Mannes.
Welch Unglück! In
der Unterwelt
wird ihre Seele ohne Gatten sein.
Wo sind
die Hände, denen dieser Leib sich bot,
die nach dem Grün
sich sehnten, nach der Rose griffen?
Da keiner jener Männer an sie denkt,
will ich
ihr einige der Räucherstäbchen weihn,
um zu bezeugen, wie tief die
Begegnung, unerwartet hier
am Wege, mich berührt.
Vielleicht wird sie,
die an den gelben Quellen lebt,
sich des bescheidenen Geschenks
erfreuen."
Kiêu verharrte im Gebet —
die Stimme hob
und senkte sich.
Dann kniete sie sich nieder, legte vor
den Hügel eine Handvoll Gras
und trat zurück.
Die Sonne starb.
Ein Hauch
von Schwermut streifte die
Natur.
Der Wind
ging müde durch das Rohr.
Aus ihrem vollen Haar zog nun Kiêu
die Nadel und
schrieb in die Rinde eines Baumes ein Gedicht.
Versunken in die Welt,
die zwischen Traum und Wachen schwebt,
erstarrte sie
wie Eis.
Ihr Antlitz überschattete der Schmerz.
Die Traurigkeit war wie ein Faden, der zerriß
und den sie wieder knüpfte.
Aus ihren Augen fielen Perlen, blank
und heiß.
Unmutig sagte Vân:
„Kiêu ist seltsam heute. Wie
kann man
nur eine Frau beweinen,
die schon lange nicht
mehr lebt!"
Da unterbrach
die Schwester sie:
„Die Rosenwangen hat
man nie geschont,
und die
Geschichte kennt nicht eine, der
das grausame Geschick
erspart geblieben wäre. Denke ich
an das beklagenswerte Los
der Toten, schmerzt
die Wunde mich
Seh ich
ihr Grab,
bangt mich, wie wird
einst meine Zukunft sein."
Teilnehmend wandte Vuong Quan
sich an Kiêu. „Nicht recht
ist Ihre Rede. Jedes Wort,
das dieser Fremden gilt, beziehen Sie
auf sich.
Ich glaube, wenig gut ist es,
die schwere Luft
der Gräber in der Dämmerung zu atmen. Tief
neigt sich die Sonne schon,
und weit noch ist der Weg."
Entgegnete Kiêu: „Nur seine irdische Gestalt
verliert
der Auserwählte, endlos lebt
sein Geist.
Vielleicht ist meine Seele jener hier
begegnet. Warten wir:
sie wird
die Grenze überwinden, die
uns trennt!"
Es blieb die Zeit nicht zur
Erwiderung
nach diesem rätselhaften Bild,
als plötzlich Sturm
aufkam, der an den Fahnen riß.
Die hohen Bäume neigten stöhnend ihr
Gezweig,
und mit dem Wind
vermählte sich
ein Duft, köstlich und zart
und fremd.
Im Moos
— in Richtung der dahin eilenden Bö —
sah deutlich man die Spur von schmalen Füßen.
Entsetzen stand
in den
Gesichtern.Doch
Kiêu
fuhr, schmerzlich lächelnd, fort:
„Die Kraft
des Glaubens ist unendlich groß.
Ich, die
Empfindsame,
fand eine Schwester. Was
liegt schon daran,
daß jene tot ist, mein
Leib aber lebt?"
Und sie
ergänzte dankbar das begonnene Gedicht,
und so erfüllt war sie
vom Ubermaß des Augenblicks,
daß sie die Schrift
zu Ende führte, Vers
um Vers.
Der kleinen Gruppe fiel es schwer,
sich zu entscheiden. Blieb
man, oder kehrte man
zurück?
Da drang Geläut
von Schellen an ihr Ohr.
Die drei Geschwister nahmen in
der Ferne einen Mann,
einen Gelehrten, wahr,
der mit verhängten Zügeln auf dem Weg
zur Stadt ritt. Er
trug eine Tasche, halb mit Wind
und halb mit Mond gefüllt.
Die Diener folgten ihm.
Sein junges Pferd war weiß
wie Schnee.
Das satte Grün
des Grases floß
in das Gewand des Reiters über, das
blau wie
der Himmel war.
Kaum hatte die Gesichter er erkannt,
stieg er vom Pferd
und schritt
mit seinen buntgestickten Schuhen über den
bemoosten Pfad.
Im späten Licht
des Tages glich die Stätte einem Wald
aus kostbaren Rubinen. Glühte auf
den Zweigen plötzlich nicht
Giao, der Edelstein?
Vuong,
der diesen Reiter kannte, trat
hervor, begrüßte ihn.
Die Mädchen hielten ihr
Gesicht
verborgen, schamhaft, hinter blühendem Gesträuch.
Es war kein Unbekannter, jemand aus
der Nachbarschaft
des Hauses. Er
hieß Kim,
sein Vorname war Trong.
Er kam
aus jenem Kreise, der
den Hut des Wissenschaftlers trägt.
Als reich galt sein Geschlecht.
Den Ruf des Adels, der
Gelehrsamkeit
genossen seine Männer. Auch
Kim Trong,
ein sehr begabter Zweig
des starken Stammes, war
sich dieses Erbes wohl bewußt.
Im Hause schätzte man
die Ungezwungenheit
des jungen Mannes, draußen seinen Edelmut.
Er war ein Sohn
der Erde, die ihn nährte, und
mit Vuong Quan
verband
ihn eine Schulzeit unter einem Dach.
Seit langem ahnte er
den Duft
der nachbarlichen Nähe, den
Palast des Dông Tuoc,
verbarg er doch
den Frühling jener zwei Kiêu.
Oft sind
es Berge, Ströme, die
uns das erhoffte Glück entziehn.
Wie viele Monde schon wuchs in
dem Mann
die Sehnsucht nach dem Blütenzweig,
den er begehrte!
Welch Glück,
daß er die Mädchen heute traf,
daß er im Spiel
der Blätter diese Blume fand!
Den rosenroten Schatten in
der Ferne wagte er
kaum einen Blick.
Ob eines Frühlings Orchidee
des Herbstes Chrysantheme übertrifft?
Des Landes Schönheit und
das göttliche Talent —
seit der Begegnung spürten sie,
daß sie sich liebten, aber das Gesicht
verriet nicht, was
in ihrer Seele klang.
So schwebte zwischen Traum
und Wirklichkeit
das Mädchen. Schicklich war
es nicht, zu bleiben, dennoch fiel
es ihr unsagbar schwer,
in diesem Augenblick davonzugehen.
Tiefer neigte sich der goldne Rabe. Schwermut lag
auf ihrem Herzen. Als
der Fremde längst
im Sattel saß,
sah sie ihm immer noch verstohlen nach.
Der Fluß
war ungewöhnlich klar.
In schmalen Streifen warfen Weiden an
der Brücke ihre Schatten auf
den Weg.
Kiêu ging durch
den blütenreichen Vorhang in
ihr Zimmer. Hinter dem
Gebirge war die Sonne schon
gestorben.
Die Gongs der Wache kündeten
des Tages letzte Stunde an.
Der Mond
warf seinen Blick
durchs weite Fenster. Auf
das Wasser hatte er
viel Hundert Goldflitter gestreut.
Die alten Bäume deckten den
verträumten Hof
mit ihrem Schatten zu,
und auch die roten Blüten der Kamelie
verschlossen sich vom Osten her
und sanken nacheinander in
den Schlaf.
Schwer fiel der Tau.
Mit ihren grünen Händen tasteten
die alten Weiden nach dem Boden. In
der feierlichen Stille der
geheimnisvollen Nacht allein,
betrachtete Kiêu
den Spiegel der Hang Nga.
Ihr Herz
bedrängten Gegenwart und Zukunft. „Wer
wie jene Frau
bis an den Saum des Menschlichen
hinabstieg, tat den letzten Schritt.
Denn Glanz
und Ruhm bedeuten nichts,
wenn dieses Leben ein
verlornes ist.
Und dieser Mann —
wer ist er, warum bin
ich ihm
begegnet? Wüßte ich,
ob uns dereinst
des Schicksals Faden aneinanderknüpft."
Es überfielen Hunderte
Gedanken ihr erregtes Herz —
und weckten Verse in ihr, denen sie
die Qual des Augenblicks
verriet.
Schräg fiel
das Licht des Mondes durch das Rohrgeflecht.
Da übermannte auch Kiêu
- sie hatte ihre Arme auf
den Fensterrand gelegt -
der Schlaf.
Und plötzlich stand vor ihr ein Mädchen, schön
und fremd.
Jungfräulich keusch
und vornehm waren Haltung und
Gebärde der Gestalt.
In ihrem Antlitz spiegelte
des Taues Reinheit sich.
Ihr Leib war weiß
wie Schnee.
Die kleinen Füße, die die Spur
von goldnem Lotos hinterließen, waren greifbar nah
dann wieder schienen sie
entschwunden.
Kiêu hieß die Erscheinung feierlich
willkommen, fragte sie,
ein wenig neugierig:
,Sie kommen sicher von den Pfirsichquellen. Hat
ein falscher Weg
Sie hergeführt?"
Die Fremde sprach: „Wir sind
verwandte Seelen, tief
verbunden. Haben Sie
nicht heute meine Nähe schon gespürt —
und konnten mich vergessen? Kalt
ist mein Gemach, nicht weit von hier.
Die Brücke kennen Sie,
den Fluß.
Sie haben sich zu meiner Einsamkeit
hinabgeneigt.
Und das Gedicht, das Sie mir schenkten, war wie Gold
und Perlen auf mein Grab gesät.
Den Herrn der Toten ließ
ich Ihre Verse lesen, und
er sah, daß auf
der Liste der zerbrochnen Herzen auch
Ihr Name steht.
Das beste ist,
sich diesem Schicksal, das
aus Ihrem Karma spricht,
zu fügen.
Im gleichen Nachen treiben wir,
nichts trennt uns. Nehmen Sie
—ich bitte Sie darum —
sich der zehn Themen an,
die man mir gab.
Ihr blütenreicher Pinsel kann allein
den Farbton wagen, den
der Gott verlangt."
Kiêu
erfüllte ihren Wunsch und schuf
zehn Oden. Waren das
die Hände einer Fee?
Aufmerksam las
die Fremde Wort für Wort,
und staunend rief
sie: „Wer, wie Sie,
ein Herz von herrlichem Brokat
und einen Mund,
besetzt mit Stickereien, hat, kann jenseits
des ergrauten Tages solche Sprache finden. Ihr
Gedicht
—gemessen an
der Sammlung der .Gebrochnen Herzen' — hat
die Höhe des Vollendeten erreicht."
Zum Eingang hin,
den helle Blumen zierten, wandte die
Erscheinung ihren Schritt.
Kiêu
versuchte, sie ein wenig aufzuhalten, ihr
zu zeigen, welche Liebe, welche Freundschaft s
ihr schenkte. Wind
stieß plötzlich gegen das Geflecht
aus Bambus — und
das Mädchen wurde wach.
Ein Traum war es gewesen.
Sie folgte mit den Augen noch einmal dem Weg
der Fremden, fand jedoch
nicht eine Spur.
Nicht eine? Ein
geheimnisvoller Duft schien in
dem Raum zu schweben, seltsam mild.
Die Nacht
blieb schweigsam. Eine jähe Angst
fiel auf Kiêu.
Sie wußte um ihr Schicksal, wußte, sie
war eine Blüte, die der Sturm zerreißt,
ein Grashalm, in die Flut
versenkt.
Gezeichnet war ihr Weg.
Wie Wellen, die
sich tosend überstürzen, spülten die
Gedanken über das gequälte Herz.
Und alles Sinnen löste nur
verhaltnes Weinen aus.
Ihr Seufzen hinter den gestickten Vorhängen vernahm
die Mutter — tröstende Huyên.
Sie wachte auf
und fragte nach dem Grund
der Tränen: „Was
erregt dich, mitten in der Nacht?
Der Blütenschnee
des Birnbaums ist vom Regen ganz
durchweicht."
„Ach, Mutter", schluchzte sie,
„ich bin
ein kleines Mädchen und
in Ihrer Schuld.
Ich habe weder einen Seidenfaden noch
ein Haar
zurückerstattet. Heute führte mich
der Zufall an
das Grab von Dam-Tiên,
der Sängerin.
Und als ich schlief, erschien
die Tote mir.
Was für ein Schicksal ist's, das man
das der gebrochnen Herzen nennt?
Hier, lesen Sie die Verse, die
ich aus dem Stegreif schrieb, auf Wunsch
der fremden Frau.
Wenn man
in diesem Traum
ein Zukunftszeichen sieht,
dann ist
das Karma Ihres Kindes grauenvoll."
Die Mutter sprach: „Mir scheint
die Deutung unbegründet. Quäle dein
Gemüt nicht und vergiß
das Bild!"
Dem Rat der Mutter, ihrem Wort
des Trostes beugte sich
Kiêu.
Doch war so mächtig die
Erinnerung an das Erlebte, daß
erneut
das Wasser des Tuong
die Ufer überstieg.
Nicht weit vom hohen Fenster sang
die Goldamsel ihr Lied.
Vor dem Geflecht
aus Bambus wiegten sich
im Winkel des
Gemäuers Weidenkätzchen. Neigte sich
nicht der Balkon
unter des Mondes schrägem Strahl?
Die Einsamkeit
lag wie ein Schmerz,
fast unerträglich, auf
Kiêu.
Seltsam ist oft der Mensch,
der liebt.
Und wetten möcht ich, daß
niemand den Knoten wirrer Seidenfäden, der
das Herz doch ist, vermag zu lösen.
Als nach geraumer Zeit der junge Kim
das Zimmer seiner Studien betrat,
bedrängten ihn
Erinnerungen an das Mädchen.
Wie er sich mühte auch,
er konnte nicht der Traurigkeit