Titel des vietnamesischen Originals: Truyên Thuy Kiêu.

Mit einem Vorwort von Irene und Franz Faber

© Herausgeberin: Claudia Borchers, Berlin 2015, 

©  Zeichnung Titelbild: Claudia Borchers, Berlin 2015

©  ISBN: 978-3-7375-3468-0


Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Das Epos
Anmerkungen

Vorwort

Wenn der Reisende von Hanoi, der Metropole der Sozialistischen Republik Vietnam, die malerisch schöne Straße nach dem Süden wählt, nimmt ihn bereits nach wenigen Stunden Vinh, die Hauptstadt der Provinz Nghê Tinh, in ihren Mauern auf. Unweit dieser alten Stadt, am Meer, liegt das Dorf Tien-Dien. Mit seinen Bananenplantagen und Palmenhainen unterscheidet es sich in nichts von den übrigen Siedlungen dieser fruchtbaren subtropischen Landschaft. Und doch ist sein Name weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt geworden. In einem seiner niedrigen Häuser wurde der bedeutendste Vertreter der vietnamesischen klassischen Literatur geboren, der Dichter Nguyên Du, Schöpfer des großen Nationalepos „Thuy Kiêu" (Das Mädchen Kiêu).

Es mag wohl wenig Persönlichkeiten seinesgleichen auf der Erde gegeben haben, deren dichterisches Schaffen so innig zum Bestandteil eines ganzen Volkes wurde, zum lebendigen Born für Männer und Frauen, die sich noch bis vor wenigen Jahren im wesentlichen zu den Analphabeten zählen mußten. Selbst in der erniedrigenden Zeit kolonialistischer Fron gab es kaum eine Hütte zwischen dem Delta des Mekong und den Bergen des Tây Bac, in der nicht einige Verse des Epos von der Kiêu bekannt waren. Im melodischen Rhythmus der Dichtung erscheint dem Bauern die harte Arbeit des Reispflanzens leichter. Die Reime werden dort gesungen, wo sich jung und alt nach der Hitze des Tages gemeinsam um die Schale grünen Tee und um die Wasserpfeife zusammenfinden.

Selbst die Kleinen in den Schlaf wiegen die zarten Töne. In der schwersten Zeit des vietnamesischen Volkes, in seinem Kampf gegen die ausländischen Invasoren, spiegeln sich in den Versen dieser Dichtung die eigene Not und Traurigkeit, aber auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Tage des nationalen Befreiungskampfes sahen ein ganzes Volk in Waffen, doch sie sahen es auch an den nächtlichen Lagerstellen der endlosen Front vereint, den Worten des Vorlesers lauschend, die Nguyên Du und sein Werk unter ihnen lebendig werden ließen. Die Dichtungen dieses großen Klassikers verdanken ihre Volkstümlichkeit dem Geist eines tiefen Humanismus, der sie durchdringt. Obwohl Nguyên Du einer längst vergangenen Epoche angehört, ist der Inhalt seiner Epen von so kämpferischer Lebendigkeit, daß sie bis zum heutigen Tag das Ringen um die hohen Ideale der Menschheit wegweisend fördern.

Die Zeit, in der Nguyên Du lebte (1765—1820), war eine der turbulentesten in der Geschichte Vietnams. Nie zuvor hatte das Feudalregime eine solche Krise erlebt wie in dieser Periode. So wurde der Dichter Augenzeuge des Untergangs der Tring, der Nguyên und der Lê, aber auch des Triumphes der größten Bauernerhebung Indochinas, des Tây-Son-Aufstandes. Er sah die Armeen des Volkes über die siamesischen Eindringlinge im Süden und über die Mandschu-Invasion im Norden siegen. Und er sah den Verrat, die Mißgunst, den Neid, die Zwietracht, das Verbrechen — und wieder die Unmenschlichkeit volksfremder Dynastien.

Nguyên Du hatte nicht — wie die meisten Dichter seiner Zeit — in der Bambushütte eines Bauern das Licht der Welt erblickt. Er war der Sohn eines Mandarins, dessen Familie der Dynastie der Lê lange gedient hatte. Das Geschlecht, dem er entstammte, atmete den Geist der konfuzianistischen Welt. Wenn der Dichter den Kranz der Unsterblichkeit errang, dann deshalb, weil er trotz Herkunft und Erziehung den Weg zum Volk fand. Im gemeinsamen Alltag mit jenen, die unter der Bürde des Lebens zusammenbrachen, erkannte er die Hohlheit der sogenannten Ewigen Ordnung der Dinge, zu der sich auch die Dynastien und ihre Kreise rechneten. So öffnete sich sein Herz bald den landlosen Bauern, die unter der Knute des Mandarinentums nicht einmal ein paar Reispflanzen ihr eigen nennen konnten. Er schrieb für den Soldaten, der für die Profitgier der Dynastien sterben sollte, für den Hausierer, dessen Schulter unter dem Gewicht der Bambustrage vernarbt war, für die unglücklichste der Frauen, die die Not zwang, ihren Leib feilzubieten.

Den Gegenstand seiner Dichtung hat Nguyen Du einer alten chinesischen literarischen Arbeit entnommen, die im Land der Mitte kaum bekannt war. Dennoch ist „Das Mädchen Kiêu" weit davon entfernt, etwa eine bloße Übertragung ins Vietnamesische zu sein. Der Genius des Dichters hat in Kiêu eine Heldin mit so menschlich tiefen, der Eigenart seines Volkes entsprechenden Charakterzügen geschaffen, daß sie überhaupt nicht mehr mit ihrer Vorgängerin aus dem Norden verglichen werden kann. Die Geschichte der Kiêu ist die Geschichte einer Liebe. Wer einmal das alte Asien und seine jahrtausendealten Traditionen kennengelernt hat, weiß, daß allein schon eine Dichtung, in deren Mittelpunkt diese menschlichste aller Regungen steht, eine Kampfansage ist: Kampf gegen die niedrigsten Instinkte, gegen Herrschsucht und brutale Gewalt, gegen die Verksklavung der Frau und die Tyrannisierung der Familie, gegen die ganze Sittenlosigkeit jener Epoche. Die Geschichte der Kiêu ist aber auch die Geschichte der Tapferkeit, der Treue, des Glaubens, des Hoffens und des unermüdlichen Ringens um eine bessere Welt. Sie ist nicht nur das Drama eines Menschen, der verzweifelt, im Würgegriff eines grausamen Geschicks, immer wieder von neuem den Weg nach den Höhen der Reinheit und des Glücks sucht. Sie ist auch das Drama einer Klasse, der jahrhundertelang die Kraft fehlte, einen Ausweg aus dem Feudalismus zu finden.

Nguyên Du entlarvt mit seinem Epos eine Epoche, die nur ein Gesetz kennt —das Gesetz des Dschungels, nur ein Recht — das Recht der Gewalt. Er sah nicht die Lösung und konnte sie nicht sehen. Wohl ahnte der Dichter einerseits, daß das Vertrauen zu Buddha nur eine trügerische Hoffnung sei, diesen Teufelszyklus zu sprengen. Aber andrerseits war die Zeit, in der er lebte, nicht reif genug, sich vom metaphysischen Weltbild frei zu machen.

Das Mädchen Kiêu" wird nicht nur wegen seiner fortschrittlichen Thematik eins der bewunderungswürdigsten Denkmäler vietnamesischer Dichtkunst bleiben. Wie kein zweiter hat es Nguyên Du verstanden, die volkstümliche vietnamesische Versschöpfung mit der gediegenen Kultur chinesischer Klassik zu verbinden. Seine literarischen Gemälde finden in der vietnamesischen Poesie nicht ihresgleichen. Die Frische eines Frühlingsspaziergangs, die Schrecknisse einer unheilvollen Nacht, die Empfindungen eines keuschen Mädchens, die niedrige Gier eines Bordellbesitzers — es gibt kein Bild, das die Feder des Dichters nicht mit vortrefflicher Leichtigkeit zeichnet. Die Geschichte der Thuy Kiêu ist ein nachahmenswertes Beispiel, wie die Sprache des Volkes zur vollendeten künstlerischen Aussage gelangen kann.

Die Übertragung des Werkes in eine der indoeuropäischen Sprachen stößt auf Schwierigkeiten, die im ersten Augenblick nahezu unüberwindlich erscheinen. So ist es unmöglich, im Deutschen die Musikalität der vietnamesischen Sprache wiederzugeben. Ihre Eigenart, in sechs Tonhöhen gesprochen zu werden, haben die klassischen Dichter so meisterhaft genützt, daß jedes Epos gleichzeitig einen Reigen vollendeter Melodien darstellt. Eine Übersetzung — mag sie noch so getreu sein — ist daher nie mehr als ein Text, dem die Partitur fehlt.

Eine weitere Schwierigkeit liegt in der den Klassikern eigenen Sprache begründet. Ihre Verse lehnen jede präzise Wiedergabe ab, die geeignet wäre, die Vorstellungswelt des Lesers zu begrenzen. Ihre bewußte Ungenauigkeit, ihre Vorliebe, verschiedenartige Begriffe oft willkürlich zusammenzuziehen, wird noch durch den besonderen Charakter der einsilbigen vietnamesischen Sprache unterstützt. Schließlich unterliegt das Versmaß der vietnamesischen klassischen Literatur einer Gesetzmäßigkeit, die im Deutschen auch nicht im entferntesten eine Parallele findet.

Eine besondere Schwierigkeit stellt die den indoeuropäischen Sprachen gegenüber völlig andere Auffassung vom Charakter der Wörter dar. Typisch dafür ist bereits der Anfang der Dichtung: Tram nam. Wörtlich übersetzt heißen diese beiden Wörter: hundert Jahre. Aber der vietnamesische Gedanke sprengt diesen Begriff; für ihn bestehen zwischen den Eigenschaften der Dinge, zwischen. Formen, Farben und Zahlen bestimmte harmonische Beziehungen. So bedeutet tram nam hier — im Zusammenhang mit dem folgenden Text —: im Verlauf des menschlichen Lebens, das im allgemeinen höchstens hundert Jahre währt. Zehnmal kommt in der Dichtung von dem Mädchen Kiêu der Ausdruck tram nam vor; zehnmal erfordert er eine andere Übersetzung, obwohl sich die beiden Wörter in jedem Fall auf die Dauer des Lebens beziehen. Es wäre jedoch falsch, aus dieser Tatsache den Schluß zu ziehen, daß es dem vietnamesischen Gedanken an Präzision fehle. In den indoeuropäischen Sprachen gibt es leider keine gleichwertigen Ausdrücke, mit denen man den vielfach auf zwei Silben konzentrierten vietnamesischen Begriff wiedergeben kann.

Trotz dieser vielseitigen Schwierigkeiten haben wir uns so eng wie nur eben möglich an den Originaltext gehalten und versucht, das in unserer Sprache auszudrücken, was der Vietnamese Nguyên Du an unvergleichlicher Schönheit und Zartheit in sein Werk hineingelegt hat.


Irene und Franz Faber, Berlin, Juni 1979

Das Epos


In hundert Jahren, die

vielleicht

ein Leben währt,

in dieser Erdenspanne widersprechen oft

sich Gabe und Geschick.

So mußte ich in Zeiten, da

Gedanken sich

und Menschen wandelten wie Meere — aus

den Wogen wuchsen Maulbeerfelder —, 

Dinge schauen, die

mein Herz zerrissen. Welch Gesetz,

das nur

den Uberfluß begreift,

wenn Mangel ihn begleitet! Muß

der blaue Himmel stets

mit rosenroten Wangen kämpfen, weil

die Eifersucht ihn quält?


Noch immer sitze ich

vor alten Manuskripten, wende Blatt

für Blatt beim Schein

der Lampe. Zögernd fast

enthüllt

die Bambusrinde die

Geschichte einer Liebe — Liebe, die

dem Wind gleicht, der

vorüberzieht,

dem Licht des Mondes ähnelt, das

nicht jede Nacht

erhellt.


Es war

die Zeit der Minh. Im weiten Land

der Mitte herrschte Frieden, und

aus der Geborgenheit

der Stunde blühten beide großen Städte neu.

Da lebte unter der

Regierung der Gia-tinh

ein Mandarin.

Er hieß Vuong,

und sein

bescheidener Besitz entsprach

dem Rang.

Als letztes Kind

ward ihm ein Sohn

geboren, Vuong Quan,

ein Mann von Geist, der — wie

die Sitte seines Hauses es gebot —

den Wissenschaften diente. Zwei

beneidenswerte Mädchen hatte ihm die Frau

zuvor geschenkt.

Die ältere rief man

Thuy Kiêu,

die jüngere hieß Vân.

Sie waren schlank

wie junge Aprikosenbäume, rein

wie früher Schnee.

Und zeigten sie

dem Fremden sich

in ihrer Art verschieden auch,

es krönte beide die

Vollkommenheit.


Nicht jedem Tag bot sich

die herbe Schönheit einer Vân.

Ihr Antlitz glich

dem Rund des Mondes. Weit

und kräftig war

der Schwung

der Braue. Einer Blume ähnelte

ihr Lächeln, einem Schmuck aus Jade, und ihr Wort

klang wie ein keusches Lied.

Ihr Haar? -

Es glühte sanfter als

der Federball der Wolken.

Der Firn

stand ihrer Haut an Reinheit nach.


Doch schöner war

Kiêu,

erhaben über den Vergleich.

In ihrem Augenpaar

ertrank

die klare Flut herbstlicher Seen.

Der zarte Strich der Brauen rief

Erinnerung

an Berge wach, wie sie

der Frühling träumt.

Sie weckte Eifersucht

im Reich der Blüten, Ärger bei

den Weiden, die

sich plötzlich ihrer dunklen Blätter schämten. Schon

ihr Lächeln hätte Könige besiegt

und Städte aufgewiegelt. Wo

gab es die Frau,

die schön wie sie,

wo das Talent,

das ihr

ein Spiegel war?

Die Gunst des Himmels — galt sie ihr

allein?

Wer sprach wie sie

die Verse großer Meister, reifte in

dem klassischen Gedicht?

Wer nahm wie sie

den Pinsel, alter Kunst

zu dienen? Wer

vermochte es wie sie,

den Reigen der fünf Töne zu gestalten?

In ihren Händen blühte das

Gitarrenspiel der Hô, erwachten neu

die Lieder ferner Zeit. Wen rührten nicht

die Klänge des Bac-Mênh!

Sie trug

das rote Beinkleid, wie

es ihrem Stand

geziemte, vornehm, unbeschwert.


So wuchs Kiéu

dem Tag entgegen, da

der Spangen Buntheit junge Mädchen ziert.

Doch in die süße Ruhe des Gemaches drang

kein Laut.

Der Bambus an

den Fenstern wehrte jedem trunknen Blick.


Es ging

der Frühling hin,

schnell wie die Schwalbe, die

zum Neste eilt.

Von seinen neunzig hellen Tagen blieb

ein letztes Leuchten nur.

Das zarte Grün

der Gräser grenzte schon

an ferne Horizonte. Im

weißrot getupften Kleid

verbarg der Birnbaum sein

Geäst.


Das war das Fest

der Reinen Klarheit.

Zum dritten Mal

vollendete der Mond die Bahn.

Nach alter Sitte zog das Volk hinaus,

die Gräber seiner Ahnen frisch

zu schmücken. „Treten wir

den Rasen nieder!" hieß es, Scherz

und Frohsinn herrschten vor

den Toren, auf

den Feldern nah der Stadt.

In bunten Kleidern sah

man auch

die Schwestern und den Bruder auf

dem Weg ins Land.

Ein reges Auf und Ab

erfüllte bald

die Straße. Wagen folgte Wagen wie

ein Strom, der sich

durch farbenfrohe Ufer drängt.


Und Gräber, Hügel, wo

der Blick sie suchte! Weihrauchduft

und Goldpapier

und Asche — rings verstreut —

von Bildern, münzengroß.

Allmählich neigte sich

der feuerrote Ball.

Da gingen auch die drei

Geschwister heim.

Sich an

den Händen haltend, folgten sie

dem Wasserlauf.

In schlichter Schönheit bot

das Land sich dar,

und wo der Fluß

in einer kleinen Windung sich verlor

und eine Brücke hin

zum andern Ufer strebte, lag am Hang

ein Grab.

Kein Schmuck,

nur welkes Laub

verbarg die nackte Erde.

„Ist es nicht seltsam", brach Kiêu

das Schweigen, „daß am Fest

der Reinen Klarheit Brand

und Weihrauch diesem Hügel fremd sind?"

Vuong, der Bruder, kannte die

Geschichte: „Sie

hieß Dam-Tiên.

Ob ihre Schönheit, ob

ihr Lied

berühmter war, ich weiß

es nicht.

Die Menschen — wie

die Goldamseln und Schwalben — wichen nicht

von ihrer Türe, so

entzückte sie

der göttliche Gesang.


Wie wechselvoll

ist oft

das Leben schöner Frauen!

Mitten in dem hoffnungsvollen Frühling brach

der Zweig,

der diese Blüte trug.

Von weit her kam

ein Mann.

Der Ruf der Schönen war

bis in sein Dorf

gedrungen. So

fand er den Weg

zu ihr.

Doch als das Schiff des Glücks

den Anker warf,

war das begehrte Kleinod schon zerstört,

zersprungen war das kostbare Gefäß. —

Und niemand wußte, wann.


Im leeren Zimmer lag

das Schweigen unerträglich wie

ein totes Blatt.

Die Spuren vor dem Haus,

die einst manch Räderpaar

verrieten, boten sich

dem Moos.

Herr seines Schmerzes wurde nicht,

nicht Herr der Tränen der

Verlaßne. .Sicher stand

geschrieben', klagte er,

daß dich der Tod

mir nimmt.

Trennt uns

das Schicksal auch, soll dir

mein unbedeutendes Geschenk

Ausdruck der Liebe sein,

die bis in dunkle Ewigkeiten reicht.'


In einen Sarg aus Tu 

ließ er

die Tote betten. Ein

Gefährt, geschmückt

mit Edelsteinen, brachte die

Geliebte an

die Stätte hier beim Wasserlauf.

Bald überwucherte das Gras

den Hügel ewgen Schlafes. Wie oft ist

seit dieser Zeit der Hase in

das Meer

gestürzt, der Rabe in

ein fernes Land

geflogen! Einsam blieb

das Grab.

Es fragte niemand nach

der Sängerin."


Weit ist das Herz

der Frau,

des Mitleids hehre Stätte.

Als der Bruder schwieg,

benetzten Tränen das

Gesicht Kiêus. „Wie schmerzlich unser Los

ist", sagte sie.

„Nicht nur die Tote trug

ein undankbares Schicksal. Es

trifft jede von uns. Gott,

wie hart sind Sie!

Des Frühlings Wonne ist

so kurz,

die rosenroten Wangen welken schnell dahin.

Als dieser Leib

noch lebte, lag er in

den Armen manchen Mannes.

Welch Unglück! In

der Unterwelt

wird ihre Seele ohne Gatten sein.

Wo sind

die Hände, denen dieser Leib sich bot,

die nach dem Grün

sich sehnten, nach der Rose griffen?

Da keiner jener Männer an sie denkt,

will ich

ihr einige der Räucherstäbchen weihn,

um zu bezeugen, wie tief die

Begegnung, unerwartet hier

am Wege, mich berührt.

Vielleicht wird sie,

die an den gelben Quellen lebt,

sich des bescheidenen Geschenks

erfreuen."

Kiêu verharrte im Gebet —

die Stimme hob

und senkte sich.

Dann kniete sie sich nieder, legte vor

den Hügel eine Handvoll Gras

und trat zurück.


Die Sonne starb.

Ein Hauch

von Schwermut streifte die

Natur.

Der Wind

ging müde durch das Rohr.


Aus ihrem vollen Haar zog nun Kiêu

die Nadel und

schrieb in die Rinde eines Baumes ein Gedicht.

Versunken in die Welt,

die zwischen Traum und Wachen schwebt,

erstarrte sie

wie Eis.

Ihr Antlitz überschattete der Schmerz.

Die Traurigkeit war wie ein Faden, der zerriß

und den sie wieder knüpfte.

Aus ihren Augen fielen Perlen, blank

und heiß.


Unmutig sagte Vân:

„Kiêu ist seltsam heute. Wie

kann man

nur eine Frau beweinen,

die schon lange nicht

mehr lebt!"

Da unterbrach

die Schwester sie:

„Die Rosenwangen hat

man nie geschont,

und die

Geschichte kennt nicht eine, der

das grausame Geschick

erspart geblieben wäre. Denke ich

an das beklagenswerte Los

der Toten, schmerzt

die Wunde mich

Seh ich

ihr Grab,

bangt mich, wie wird

einst meine Zukunft sein."


Teilnehmend wandte Vuong Quan

sich an Kiêu. „Nicht recht

ist Ihre Rede. Jedes Wort,

das dieser Fremden gilt, beziehen Sie

auf sich.

Ich glaube, wenig gut ist es,

die schwere Luft

der Gräber in der Dämmerung zu atmen. Tief

neigt sich die Sonne schon,

und weit noch ist der Weg."

Entgegnete Kiêu: „Nur seine irdische Gestalt

verliert

der Auserwählte, endlos lebt

sein Geist.

Vielleicht ist meine Seele jener hier

begegnet. Warten wir:

sie wird

die Grenze überwinden, die

uns trennt!"


Es blieb die Zeit nicht zur

Erwiderung

nach diesem rätselhaften Bild,

als plötzlich Sturm

aufkam, der an den Fahnen riß.

Die hohen Bäume neigten stöhnend ihr

Gezweig,

und mit dem Wind

vermählte sich

ein Duft, köstlich und zart

und fremd.

Im Moos

— in Richtung der dahin eilenden Bö —

sah deutlich man die Spur von schmalen Füßen.

Entsetzen stand

in den

Gesichtern.Doch

Kiêu

fuhr, schmerzlich lächelnd, fort:

„Die Kraft

des Glaubens ist unendlich groß.

Ich, die

Empfindsame,

fand eine Schwester. Was

liegt schon daran,

daß jene tot ist, mein

Leib aber lebt?"


Und sie

ergänzte dankbar das begonnene Gedicht,

und so erfüllt war sie

vom Ubermaß des Augenblicks,

daß sie die Schrift

zu Ende führte, Vers

um Vers.


Der kleinen Gruppe fiel es schwer,

sich zu entscheiden. Blieb

man, oder kehrte man

zurück?

Da drang Geläut

von Schellen an ihr Ohr.

Die drei Geschwister nahmen in

der Ferne einen Mann,

einen Gelehrten, wahr,

der mit verhängten Zügeln auf dem Weg

zur Stadt ritt. Er

trug eine Tasche, halb mit Wind

und halb mit Mond gefüllt.

Die Diener folgten ihm.

Sein junges Pferd war weiß

wie Schnee.

Das satte Grün

des Grases floß

in das Gewand des Reiters über, das

blau wie

der Himmel war.

Kaum hatte die Gesichter er erkannt,

stieg er vom Pferd

und schritt

mit seinen buntgestickten Schuhen über den

bemoosten Pfad.

Im späten Licht

des Tages glich die Stätte einem Wald

aus kostbaren Rubinen. Glühte auf

den Zweigen plötzlich nicht

Giao, der Edelstein?


Vuong,

der diesen Reiter kannte, trat

hervor, begrüßte ihn.

Die Mädchen hielten ihr

Gesicht

verborgen, schamhaft, hinter blühendem Gesträuch.

Es war kein Unbekannter, jemand aus

der Nachbarschaft

des Hauses. Er

hieß Kim,

sein Vorname war Trong.

Er kam

aus jenem Kreise, der

den Hut des Wissenschaftlers trägt.


Als reich galt sein Geschlecht.

Den Ruf des Adels, der

Gelehrsamkeit

genossen seine Männer. Auch

Kim Trong,

ein sehr begabter Zweig

des starken Stammes, war

sich dieses Erbes wohl bewußt.

Im Hause schätzte man

die Ungezwungenheit

des jungen Mannes, draußen seinen Edelmut.

Er war ein Sohn

der Erde, die ihn nährte, und

mit Vuong Quan

verband

ihn eine Schulzeit unter einem Dach.

Seit langem ahnte er

den Duft

der nachbarlichen Nähe, den

Palast des Dông Tuoc,

verbarg er doch

den Frühling jener zwei Kiêu.

Oft sind

es Berge, Ströme, die

uns das erhoffte Glück entziehn.


Wie viele Monde schon wuchs in

dem Mann

die Sehnsucht nach dem Blütenzweig,

den er begehrte!

Welch Glück,

daß er die Mädchen heute traf,

daß er im Spiel

der Blätter diese Blume fand!

Den rosenroten Schatten in

der Ferne wagte er

kaum einen Blick.

Ob eines Frühlings Orchidee

des Herbstes Chrysantheme übertrifft?

Des Landes Schönheit und

das göttliche Talent —

seit der Begegnung spürten sie,

daß sie sich liebten, aber das Gesicht

verriet nicht, was

in ihrer Seele klang.


So schwebte zwischen Traum

und Wirklichkeit

das Mädchen. Schicklich war

es nicht, zu bleiben, dennoch fiel

es ihr unsagbar schwer,

in diesem Augenblick davonzugehen. 

Tiefer neigte sich der goldne Rabe. Schwermut lag

auf ihrem Herzen. Als

der Fremde längst

im Sattel saß,

sah sie ihm immer noch verstohlen nach.


Der Fluß

war ungewöhnlich klar.

In schmalen Streifen warfen Weiden an

der Brücke ihre Schatten auf

den Weg.


Kiêu ging durch

den blütenreichen Vorhang in

ihr Zimmer. Hinter dem

Gebirge war die Sonne schon

gestorben.

Die Gongs der Wache kündeten

des Tages letzte Stunde an.

Der Mond

warf seinen Blick

durchs weite Fenster. Auf

das Wasser hatte er

viel Hundert Goldflitter gestreut.

Die alten Bäume deckten den

verträumten Hof

mit ihrem Schatten zu,

und auch die roten Blüten der Kamelie

verschlossen sich vom Osten her

und sanken nacheinander in

den Schlaf.

Schwer fiel der Tau.

Mit ihren grünen Händen tasteten

die alten Weiden nach dem Boden. In

der feierlichen Stille der

geheimnisvollen Nacht allein,

betrachtete Kiêu

den Spiegel der Hang Nga.

Ihr Herz

bedrängten Gegenwart und Zukunft. „Wer

wie jene Frau

bis an den Saum des Menschlichen

hinabstieg, tat den letzten Schritt.

Denn Glanz

und Ruhm bedeuten nichts,

wenn dieses Leben ein

verlornes ist.

Und dieser Mann —

wer ist er, warum bin

ich ihm

begegnet? Wüßte ich,

ob uns dereinst

des Schicksals Faden aneinanderknüpft."

Es überfielen Hunderte

Gedanken ihr erregtes Herz —

und weckten Verse in ihr, denen sie

die Qual des Augenblicks

verriet.

Schräg fiel

das Licht des Mondes durch das Rohrgeflecht.

Da übermannte auch Kiêu

 - sie hatte ihre Arme auf

den Fensterrand gelegt -

der Schlaf.

Und plötzlich stand vor ihr ein Mädchen, schön

und fremd.

Jungfräulich keusch

und vornehm waren Haltung und

Gebärde der Gestalt.

In ihrem Antlitz spiegelte

des Taues Reinheit sich.

Ihr Leib war weiß

wie Schnee.

Die kleinen Füße, die die Spur

von goldnem Lotos hinterließen, waren greifbar nah

dann wieder schienen sie

entschwunden.


Kiêu hieß die Erscheinung feierlich

willkommen, fragte sie,

ein wenig neugierig:

,Sie kommen sicher von den Pfirsichquellen. Hat

ein falscher Weg

Sie hergeführt?"


Die Fremde sprach: „Wir sind

verwandte Seelen, tief

verbunden. Haben Sie

nicht heute meine Nähe schon gespürt —

und konnten mich vergessen? Kalt

ist mein Gemach, nicht weit von hier.

Die Brücke kennen Sie,

den Fluß.

Sie haben sich zu meiner Einsamkeit

hinabgeneigt.

Und das Gedicht, das Sie mir schenkten, war wie Gold

und Perlen auf mein Grab gesät.

Den Herrn der Toten ließ

ich Ihre Verse lesen, und

er sah, daß auf

der Liste der zerbrochnen Herzen auch

Ihr Name steht.

Das beste ist,

sich diesem Schicksal, das

aus Ihrem Karma spricht,

zu fügen.

Im gleichen Nachen treiben wir,

nichts trennt uns. Nehmen Sie

—ich bitte Sie darum —

sich der zehn Themen an,

die man mir gab.

Ihr blütenreicher Pinsel kann allein

den Farbton wagen, den

der Gott verlangt."


Kiêu

erfüllte ihren Wunsch und schuf

zehn Oden. Waren das

die Hände einer Fee?

Aufmerksam las

die Fremde Wort für Wort,

und staunend rief

sie: „Wer, wie Sie,

ein Herz von herrlichem Brokat

und einen Mund,

besetzt mit Stickereien, hat, kann jenseits

des ergrauten Tages solche Sprache finden. Ihr

Gedicht

—gemessen an

der Sammlung der .Gebrochnen Herzen' — hat

die Höhe des Vollendeten erreicht."


Zum Eingang hin,

den helle Blumen zierten, wandte die

Erscheinung ihren Schritt.

Kiêu

versuchte, sie ein wenig aufzuhalten, ihr

zu zeigen, welche Liebe, welche Freundschaft s

ihr schenkte. Wind

stieß plötzlich gegen das Geflecht

aus Bambus — und

das Mädchen wurde wach.

Ein Traum war es gewesen.

Sie folgte mit den Augen noch einmal dem Weg

der Fremden, fand jedoch

nicht eine Spur.

Nicht eine? Ein

geheimnisvoller Duft schien in

dem Raum zu schweben, seltsam mild.


Die Nacht

blieb schweigsam. Eine jähe Angst

fiel auf Kiêu.

Sie wußte um ihr Schicksal, wußte, sie

war eine Blüte, die der Sturm zerreißt,

ein Grashalm, in die Flut

versenkt.

Gezeichnet war ihr Weg.

Wie Wellen, die

sich tosend überstürzen, spülten die

Gedanken über das gequälte Herz.

Und alles Sinnen löste nur

verhaltnes Weinen aus.


Ihr Seufzen hinter den gestickten Vorhängen vernahm

die Mutter — tröstende Huyên.

Sie wachte auf

und fragte nach dem Grund

der Tränen: „Was

erregt dich, mitten in der Nacht?

Der Blütenschnee

des Birnbaums ist vom Regen ganz

durchweicht."


Ach, Mutter", schluchzte sie,

„ich bin

ein kleines Mädchen und

in Ihrer Schuld.

Ich habe weder einen Seidenfaden noch

ein Haar

zurückerstattet. Heute führte mich

der Zufall an

das Grab von Dam-Tiên,

der Sängerin.

Und als ich schlief, erschien

die Tote mir.

Was für ein Schicksal ist's, das man

das der gebrochnen Herzen nennt?

Hier, lesen Sie die Verse, die

ich aus dem Stegreif schrieb, auf Wunsch

der fremden Frau.

Wenn man

in diesem Traum

ein Zukunftszeichen sieht,

dann ist

das Karma Ihres Kindes grauenvoll."


Die Mutter sprach: „Mir scheint

die Deutung unbegründet. Quäle dein

Gemüt nicht und vergiß

das Bild!"


Dem Rat der Mutter, ihrem Wort

des Trostes beugte sich

Kiêu.

Doch war so mächtig die

Erinnerung an das Erlebte, daß

erneut

das Wasser des Tuong

die Ufer überstieg.


Nicht weit vom hohen Fenster sang

die Goldamsel ihr Lied.

Vor dem Geflecht

aus Bambus wiegten sich

im Winkel des

Gemäuers Weidenkätzchen. Neigte sich

nicht der Balkon

unter des Mondes schrägem Strahl?

Die Einsamkeit

lag wie ein Schmerz,

fast unerträglich, auf

Kiêu.


Seltsam ist oft der Mensch,

der liebt.

Und wetten möcht ich, daß

niemand den Knoten wirrer Seidenfäden, der

das Herz doch ist, vermag zu lösen.

Als nach geraumer Zeit der junge Kim

das Zimmer seiner Studien betrat,

bedrängten ihn

Erinnerungen an das Mädchen.


Wie er sich mühte auch,

er konnte nicht der Traurigkeit