Winternacht
An dem Baum bin ich doch schon mal vorbeigekommen. Sophia blieb stehen und starrte angestrengt den Weg entlang.
Wieso steht der jetzt hier? Ich weiß ganz genau, dass ich den vorhin gesehen habe. Eine dicke Linde mit einer solch breiten Krone! Gut, dass es den Winter gibt, da sieht man doch mal, wie so ein Baum ohne Blätter aussieht.
Aber was geht mich dieser Baum an!? Im Hof haben sie jetzt sicher schon den großen Weihnachtsbaum angezündet und ich bin nicht dabei. So ein Mist! Gerade heute, wo ich das erste Mal hier bin.
Wieder blickte sie hoch in das Gewirr der Äste. Sie war fasziniert von diesem riesigen Schattengebilde, hinter dem sich ein sanft leuchtender Mond zeigte.
Schön, wie der Mond den Baum zum Leben erweckt. In diesem Licht sieht er aus wie ein gebundener Strauß von Korkweiden im Frühling.
Irgendwie stimmte sie der Anblick friedlich. Sie wollte sich beeilen, um wieder zurückzukommen. Nur – in welche Richtung sollte sie gehen? Noch einmal sah sie nach oben und war sich ziemlich sicher, diesen Baum schon zu kennen.
Wahrscheinlich bin ich vorher einfach an ihm vorbeigestürzt in meinem Zorn.
Sie schaute sich um und versuchte, auch die übrigen Wegzeichen einzuordnen. An den Zaun konnte sie sich nicht erinnern.
Natürlich nicht. Wieso sollte ich mich an einen Zaun erinnern? Zäune sehen doch alle gleich aus hier im Allgäu. Zumindest die, die ich bisher gesehen habe.
Sie ging auf den Baum zu und überlegte, aus welcher Richtung sie vorher gekommen war? Auf jeden Fall bergauf. Das wusste sie ganz sicher. Also musste sie jetzt den kleinen Pfad nehmen, der direkt hinter dem dicken Stamm bergab führte. Aber noch zögerte sie.
Bergab oder bergauf? Meine Güte, was bin ich für eine dumme Gans, weiß nicht mal mehr, woher ich gekommen bin. Ich will jetzt heim, das heißt zurück zum Bauernhof und zu Alexander.
Langsam wurde sie ärgerlich. Wieso hatte sie sich den Weg nicht gemerkt? Sie entschloss sich, den Pfad zu nehmen und bergab zu gehen. Aber es war keine Fahrstraße, die sie einschlug. Das Gras in der Mitte des schmalen Weges war niedrig, aber vom Rand her schlugen ihr beim Gehen immer wieder hohe, vergilbte Grasbüschel gegen die Beine.
In solchen Schuhen macht man keine Nachtwanderung!, hörte sie ihre Mutter sagen. Ich mache keine Nachtwanderung, ich laufe, um meinen Ärger loszuwerden.
Warum waren Mütter nur immer so fürsorglich? Wieso wissen sie immer alles besser? Weshalb hörte das denn nie auf? Jetzt bin ich schon neunundzwanzig Jahre alt und denke immer noch an die Ermahnungen meiner Mutter. Na bitte, jetzt verzweigt sich dieser Weg auch noch! Hänsel und Gretel fielen ihr ein. Aber mit Steinchen wäre ich auch nicht weitergekommen!
Sollte sie zurückgehen, wieder bergauf, oder es doch mit einem der Pfade versuchen?
Links oder rechts, das ist hier die Frage.
Gott sei Dank ging es nicht um Leben und Tod, um Sein oder Nichtsein. Sie war inzwischen auch schon ein ganzes Stück ruhiger geworden. So schlimm, musste sie sich eingestehen, war der Anlass für den Streit ja auch nicht gewesen. Vielleicht hatte sie doch überreagiert. Vielleicht war es ja wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden. Aber welcher Zeitpunkt war dann der richtige? Irgendwann mussten sie sich doch entschließen, ja oder nein, Kinder oder keine!
Wie auch immer, auch sie musste sich jetzt entscheiden und zwar sofort. Welcher Weg war der richtige?
Der rechte Pfad schien leicht abwärts zu führen. Sollte sie diesen nehmen, oder doch den linken, der geradeaus ins Nichts zu führen schien?
Na schön, so hab ich mir’s gedacht. Jetzt lässt mich auch noch der Mond im Stich!
Langsam wurde es ihr ein bisschen mulmig zumute.
Mist, warum habe ich nicht die dicke Jacke angezogen? Dann hätte ich auch das Handy dabei und hätte anrufen können.
Sie musste sich bewegen. Wie lange war sie denn schon unterwegs? Sie hielt die Armbanduhr dicht vor die Augen. Schon über eine Stunde.
Also, ich werde weder erfrieren noch verhungern. Ich habe mit Alexanders Familie dort unten auf dem Hof ganz lecker zu Abend gegessen. Oder lag der Hof vielleicht doch oberhalb?
Sie musste sich eingestehen, dass sie es nicht wusste. Warum hatte sie auch die Begleitung ausgeschlagen, die ihr Alexander so dringend angeboten hatte? Ich komme mit, hatte er ihr nachgerufen, bleib stehen. Aber das hätte ihr gerade noch gefehlt. Sie wollte allein sein.
Ich werde mich schon nicht verirren! Mit diesem abweisenden Ruf war sie losgelaufen, ohne sich noch einmal umzusehen. Von wegen! So war das also, wenn man die Orientierung verlor. Man wusste nicht mehr, wo oben und unten war, was sich links und rechts befand.
Ich habe mich wohl auch verirrt, in meinen Gefühlen. In all dem, was ich durchsetzen will, jetzt und sofort.
Sie versuchte, sich durch kleine Bewegungen warm zu halten und trippelte auf der Stelle. Wenn sie sich recht erinnerte, war rechts unten ein Waldstück gewesen. Jetzt war alles in undurchdringliche Schwärze getaucht.
Da bringt es doch eigentlich überhaupt nichts, wenn ich jetzt in irgendeine Richtung loslaufe. Aber sich nachts und mitten im Winter hinzusetzen, ist auch Blödsinn! Was war das?
Das Geräusch war wohl aus Richtung Wald gekommen. Oder war es eine brüllende Kuh gewesen?
Was sind hier wohl für Tiere unterwegs in der Nacht?
Sie atmete heftig aus, um die aufkommende Furcht zu bändigen. Sie dachte an manche gefährliche Aktionen, an denen sie von Berufs wegen beteiligt gewesen war. Sie hatte gelernt, sich in brenzligen Situationen zu beherrschen und cool zu bleiben. In einer solchen Lage wie hier war sie allerdings noch nie gewesen. Wie auch, als Großstadtkind.
Keep cool!
Sie musste ruhig bleiben, überlegen, was für Möglichkeiten sie hatte, aus dem Schlamassel rauszukommen.
Ob sich Alexander schon Sorgen macht? Wahrscheinlich schon. Er weiß ja, dass ich mich hier nicht auskenne. Hätte ich mich nur nicht so blöd verhalten! Hoffentlich ist er nicht mehr sauer auf mich.
Aber jetzt ... Als erstes entscheide ich, ob ich stehen bleibe und erfriere oder ob ich mich bewege und auf gut Glück eine dieser beiden Möglichkeiten wähle.
Wenn es nur heller gewesen wäre. Sophia suchte den Himmel ab. Ob der Mond wohl noch einmal hinter den Wolken hervorkommen würde?
Ob Mond oder nicht, ich nehme jetzt den Weg nach links.
Es schien, als hätte sie das Richtige getan. Sie orientierte sich am Zaun und nach einer längeren Strecke mündete der Weg in eine schmale Fahrstraße, die behutsam abwärts führte.
Hallo, da bist du ja wieder, guter Mond!
Tatsächlich schob sich die leuchtende Scheibe langsam hinter den grauen Wolkenmassen hervor. Die Geschichte vom kleinen Häwelmann fiel ihr ein, der in seinem Gitterbett über den Himmel gefahren war. Aber die Frage des Mondes beantwortete sie ganz anders.
Doch, rief sie zu ihm hoch, ich habe genug, alter Mond, leuchte! Ich will heim, will Weihnachten feiern!
Mit zunehmender Helligkeit fühlte sie sich gleich sicherer und das mulmige Gefühl verschwand. Plötzlich genoss sie es, so mutterseelenallein in einer grünen Hügellandschaft unterwegs zu sein, weitab von allen Verpflichtungen, weg von der Arbeit, den täglichen Ansprüchen der Kollegen, weg von Alexanders Beteuerungen und Vertröstungen.
Die sanften Hänge schimmerten in nachtdunklem Grün und der Wald zur rechten Seite lag wie ein schwarzes Band talabwärts.
Der Wald steht schwarz und schweiget und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.
Obwohl sie das Lied in der Schule gelernt und auch schon hin und wieder gesungen hatten, wurde ihr erst jetzt und hier seine Schönheit bewusst.
Als ob sie mit ihrem Gesang den Bann gelöst hätte, sah sie mit einem Mal unter sich, rechts vom Weg, ein Haus mit erleuchteten Fenstern liegen.
Wenn das jetzt nicht die Räuberhöhle der Bremer Stadtmusikanten ist, bin ich gerettet. Der Stall von Bethlehem ist es auch nicht, dafür ist das Haus zu groß und zu behäbig.
Im Näherkommen vernahm Sophia das stete Rauschen eines Baches. Anscheinend war es eine Mühle, die da am Waldrand stand. Sie suchte zu beiden Seiten des Eingangs, fand jedoch keine Klingel.
Sicher bin ich hier nicht gerade willkommen, an einem solchen Abend besucht man normalerweise keine fremden Menschen.
Doch sie musste den Weg zurück finden. Sollte sie rufen? Sie horchte. Ganz leise hörte sie Weihnachtslieder klingen. Sie klopfte. Erst leise und dann kräftig an die große Eingangstüre.
Wenn jetzt Maria mit dem Kinde die Türe öffnet, dann ... Den Gedanken, was dann wäre, konnte sie nicht zu Ende denken, denn vor ihr tat sich ein schmaler Spalt auf, so dass ein warmes Licht in die Dunkelheit fiel. Sophia erblickte das Gesicht einer jungen Frau, die nach draußen spähte. Als sie Sophia sah, öffnete sie einladend die Türe.
„Wir haben gerade den Baum angezündet. Kommen Sie herein, der Glühwein ist noch heiß.“
Die Bewohnerin der Mühle fand es anscheinend nicht ungewöhnlich, dass jemand um diese Zeit an ihre Türe klopfte. Ein freundlich blickender Mann stand in der Stube vor einer hohen, prächtig geschmückten Tanne und wiegte ein kleines Kind auf dem Arm.
„Josef und Maria und das Kind.“ Sophia musste lachen.
„Und Sie, Sie suchen bei uns Herberge?“, fragte der Mann lächelnd.
„Nicht ganz. Ich muss auch den Glühwein ablehnen. Es klingt vielleicht merkwürdig“, Sophia wurde etwas verlegen, „aber ich habe mich total verlaufen und würde gerne wieder den Lindnerhof finden. Die haben sicher dort auch schon den Baum angezündet.“
„Ah, dann sind Sie Alexanders Verlobte, oder besser seine Partnerin, er hat Sie schon angekündigt.“ Die junge Frau betrachtete Sophia interessiert.
„Ich bin zum ersten Mal hier bei seinen Eltern auf dem Hof.“
„Ja, dann kann man sich schon mal verlaufen. Aber Sie sind ganz alleine, mitten in der Nacht?“ Die beiden sahen sie fragend an, doch Sophia schwieg lieber.
„Dann erkläre ich Ihnen jetzt den Weg, er ist von hier aus ganz leicht zu finden.“
Die junge Frau trat mit Sophia vor die Haustüre und beschrieb, wie sie bergauf ohne Mühe zum Hof kommen würde.
„Immer diese kleine Fahrstraße entlang, Abzweigungen links und rechts liegen lassen und Sie sind da. Und morgen“, verabschiedete sie sich lachend, „gibt es bei uns auch noch einen Glühwein.“
Sophia beeilte sich. Sie ging so schnell, dass es ihr warm wurde unter ihrer dünnen Jacke. Sie fühlte sich leicht und glücklich. Sie sah den jungen Mann vor sich mit dem Kind auf dem Arm. Plötzlich freute sie sich auf Alexander. Sie würde mit ihm reden, vernünftig, ruhig. Sie mussten sich entscheiden. Es war an der Zeit.
Der Mond beleuchtete die Stille ringsum und verzauberte Wald und Wiesen. Sie wunderte sich, wie bald schon sie die Gebäude des Hofes vor sich liegen sah. Schon von Weitem strahlte ihr ein heller Schein entgegen.
Der große Weihnachtsbaum neben dem Brunnen mitten im Hof war mit unzähligen Lichtern geschmückt und sein Schein beleuchtete die Menschen, die miteinander auf der Treppe des Hauses standen.
Alexander kam ihr entgegen und reichte ihr die dicke Jacke.„Da bist du ja endlich! Ich habe nachgedacht, du hast recht. Wir müssen darüber reden, so bald wie möglich. Lass uns anstoßen. Auf ein frohes Fest!“
Blonder Engel
Trauer packt dich an allen Ecken, Enden und Zipfeln deines Daseins. Sie kriecht dir in die Glieder, sie verstört dir Herz und Sinne. Sie macht dich kopflos und konfus und verzweifelt und zweifelnd. Trauer schüttelt dich durch wie ein heftiger Herbststurm den Apfelbaum in deinem Garten. Sie macht dich elend und verzagt, schwächt und erschüttert dich im Grunde deines Daseins, sie verwischt deine Wahrnehmung, sie macht dich sanft und fügsam und schwach.
Und doch.
Und doch ist das Leben in dir nicht erloschen. Das Flämmchen glüht noch. Es züngelt und zündelt und mischt sich zwischen das Elend der Trauer. Noch lebst du. Noch willst du wissen, von der Welt und ihrem Treiben. Noch wählst du die passende Bluse aus. Noch spürst du den anerkennenden Blick. Noch fragst du dich, wer jener ist, den du nicht kennst, der dir sein Beileid ausspricht.
Noch lebte sie. Entschieden werden musste so allerlei. Die Beerdigung musste geplant, der Termin für die Zeitungsanzeige festgelegt, die Trauerfeier und was sonst noch alles nötig sein würde musste geregelt werden. Was blieb ihr anderes übrig, sie musste sie hinter sich lassen, die tote Mutter. Musste sich abwenden, sich dem Leben zukehren, den Notwendigkeiten.
Der erste Gang führte sie zusammen mit der einzigen Schwester zum Bestattungsinstitut. Schon flackerte ein kleines Interesse in ihr auf, ein Institut sollte es sein, auf das sie zusteuerten. Es hätte ja auch ein Bestattungsladen sein können oder ein Bestattungsgeschäft oder ein Lager oder ein Markt. Diese Gedanken waren ungewollt schon beim Anblick der blumenverzierten Anzeige im Telefonbuch in ihr aufgestiegen.
Über der Eingangstüre des kleinen Vorbaus dann das Schild: Bestattungsinstitut, womit wohl der Gedanke an Kosten oder gar geschäftliche Transaktionen ausgeschlossen sein sollte.
Der junge Mann, der sie empfing, überraschte sie. Ein himmlisches Wesen hatte sich hier in das irdische Jammertal verirrt. Klein und schmal, das Gesicht umrahmt von einem Kranz hell leuchtender, silberblonder Locken und in einen schwarzen Kittel gehüllt, sprach er mit leiser, mitfühlender Stimme sein Beileid aus.
Die Mutter, Chefin zugleich, sei noch beschäftigt, und so führte er die Trauernden in einen rückwärtigen Raum, die Daten aufzunehmen, wie er sagte. Mit Mühe nur fanden sie Platz in dem winzigen Durchgang und umgeben von überladenen Schreibtischen und einigen blinkenden Computern wurde das Leben der Verstorbenen erst einmal pietätvoll auf einen Vordruck aufgelistet.
Viel war es nicht, was die Nachwelt interessierte: Geburt, Hochzeit, Beruf, Todestag. Die weitergehenden Angebote, wegen derer die Trauernden wohl gekommen seien, wolle nachher die Mutter machen.
Sie wird bald so weit sein, so der Engel, und da es galt, das Schweigen, das sich zu verdichten drohte, nicht in unangenehme Starre sinken zu lassen, kam die leise Frage der Schwester: Sie haben wohl viel zu tun im Moment?
Aufgehoben war der Bann der Trauer. Hier wurde das Geschäftliche angefragt und wer wüsste besser darüber Bescheid, als er, dessen Arbeit es war, die vielen zu kleiden und zu waschen, zu betten und zu transportieren, ihnen die letzte Stätte auszuschmücken und die Hände in zufriedener, alles beschließender Geste zu falten. Sie sterben zur Zeit Schlag auf Schlag. Ganz irdisch stellte der blond gelockte Engel dies fest und über das Warum und Wie entspann sich ein lebhafter Austausch. Mit gedämpfter Neugierde erfragte die Schwester an ihrer Seite sich Namen und Zeiten und genaue Zahlen und Arbeitsverhältnisse. Sie hatte so manchen gekannt, hatte mit dieser Frau zusammengearbeitet, mit jenem jungen Mann war der eigenen Sohn zur Schule gegangen, da konnte die Stimme wohl versagen bei so viel Elend. Und dann das gar nicht zu fassende, sogar ein Selbstmörder war zu beklagen. Unter die Schienen gelegt, mit zweiunddreißig, es stand ja groß in der Zeitung, niemand weiß warum.
Da wagte selbst die Schwester sich nach den Umständen der Bestattung doch nicht direkt zu erkundigen. Auch er, der hautnah Beteiligte, der irdische Engel, hüllte sich ob dieses Schreckens pietätvoll in eine Gloriole des Schweigens.
Ihr kam der Gedanke, dass bei solch unfassbaren Ereignissen sie selbst doch nicht ganz so schrecklich betroffen sei. Da relativierte sich die Trauer um die schon betagte Mutter und ging auf im Gedenken an all die vielen Bekannten und auch Unbekannten, die dieser Welt verlustig gegangen waren.
Als wäre das erschöpfte Schweigen durch Türe und Wände gedrungen, die Notwendigkeit eines Wendepunktes signalisierend, eines neuen Impulses, erschien schwungvoll die Allwissende, die Chefin und Mutter und bat die Hinterbliebenen in ihr Büro.
Und es zeigte sich schon in ihrer Person, in ihren Gesten und ersten Sätzen: Nun erst waren sie angekommen, waren endgültig aufgenommen in die unendliche Schar der