15. Die Unterwelt

Möglicherweise war auch der Mutter der Magen näher als schöne Sprüche. Hatten ihr doch all die Eroberungen und neuen Länder keinen vollen Teller beschert. Katharina konnte sich nicht an politische Aktivitäten positiver oder negativer Art erinnern und genauer nachzufragen kam ihr auch mit zunehmendem Alter nicht in den Sinn. Die wenigen Gespräche, viel später, über diese Schreckenszeit, blieben dürftig, die Auskünfte mager. Die Mutter selbst gab widerwillig zu, sie habe eine Freundin gehabt im Internierungslager, hinter dem Kloster. Ja, und das Ehepaar vom oberen Stock das aus Berlin angereist gewesen war und einige Zeit dort gewohnt hatte, sei wieder dorthin zurückgekehrt. Ob sie Juden gewesen waren, wisse sie nicht. Und einmal dann, schon in fortgeschrittenem Alter auf einer Autofahrt in der Umgebung der Ruf: „Halt an, in diesem Ort hat es eine Sammelstelle für Juden gegeben, dort hinten muss das Haus stehen.“ Näheres, woher, wohin, könne sie nicht erinnern. Karg all diese Fetzen des Sich-nicht-erinnern-könnens-und-Wollens.

Und doch führt Kathi das Zurückdenken zu einer Handlung der Mutter, die die vorgeschriebenen Haltungen und Denkweisen offensichtlich überging.

Das große Haus war von einem nicht tiefen doch geräumigen Keller untergraben. Die Räume mündeten ineinander, der Boden war feucht und nach heftigen Regenfällen knöcheltief überschwemmt.

Kleine Fensterschächte und Schütten für Kohle und Kartoffeln brachten kaum Licht in die finsteren Verliese, die von Mäusen und Ratten durchjagt wurden. Außer einigen wenigen Vorräten, dem Winterholz, der Kohle, den in Sand eingegrabenen Karotten und den Kartoffeln in der Hürde, befand sich hier kaum Gerümpel. Was die Familie besaß, wurde gebraucht. Das schwache Licht der Birne an der Decke des Flures musste für die weiteren Räume ausreichen.

Die Kinder kannten dieses düstere Untergeschoss von klein an. „Ich sperr dich in den Keller“, sollte dies oder das nicht zufriedenstellend erledigt sein, war eine gut funktionierende Drohung. Und auch der viel zitierte Schwarze Mann konnte die Ungezogenen nur in den Keller holen, wohin denn sonst.

So betraten sie, eines Tages alt genug, um alleine etwas von unten zu besorgen, diese Düsternis mit der Todesfurcht des Nie-wieder-zurück- Kehrens. Die Schrecknisse waren diffus und überwältigend. Das kleine Herz wurde zur jagenden Pumpe, der Atem verblieb während des rasenden Hinunter- und Hinaufstürzens bis zum heftigen Zuschlagen der Kellertüre in der Lunge und fand erst dann seinen erlösenden Seufzer. Meist näherten sie sich der entsetzlichen Unterwelt jedoch zu zweit. Dann musste entweder eine von ihnen auf der Mitte der Treppe Wache halten, um bei einem eventuellen Signal von unten Hilfe von oben holen zu können, oder die Schwestern erfanden, die Angst überspielend, eine Geschichte.

In einer Zeit der Invaliden und Beinlosen wundert es nicht, dass sie oft als hinkende Männer oder solche mit steifen Beinen, über ihre Verletzungen oder ihr Rheuma klagend, in qualvoller Langsamkeit die Treppe abwärts hinkten, um das Glas Johannisbeermarmelade vom Regal zu greifen. Spätestens beim Zurückgehen war dann auf der untersten Treppenstufe die vermeintliche Sicherheit durch vorgestellte Rollen vorbei und beide jagten hoch wie noch einmal Davongekommene.

 

In diese Todesfalle nun, in diesen lauernden Rachen der Dunkelheit, stieg eines Tages ein, den Kindern völlig unbekannter Mensch hinunter, um dort zu arbeiten. Die Mutter hatte, durch welche Fügung auch immer, einen Mann geschickt bekommen, ihr das Holz zu spalten. Es war, wie wir viel später erfuhren, ein Engländer aus eben jenem, dem Kloster angegliederten Internierungslager. Die strenge Vorschrift hatte damals gelautet: Unter keinen Umständen mit dem Feind sprechen, ihm nichts geben, ihn einfach ignorieren. Und hier war es, dass Klara, ihre eigene Not vergessend, die Anordnung übertrat.

Jeden Tag, wenn Henry, er hatte auch bald einen Namen, bei ihnen arbeitete, schickte die Mutter eines der Mädchen mit einem winzigen schwarzen Topf mit Essen in den Keller. Einmal, erinnerte Kathi sich, war er halb gefüllt mit ausgelassenem Schweineschmalz und der Empfänger brachte den Topf erst anderntags zurück.

Es hätte ja sein können, dass die Anwesenheit eines lebendigen Wesens dort unten ihr die Angst genommen hätte, doch das Gegenteil war der Fall. Nun existierte er wirklich, der Schwarze Mann. Fremde, unverständliche Laute ausstoßend beobachtete er ihre Schritte auf der Treppe, sah ernst zu, wie sie vorsichtig, um nichts zu verschütten, das Töpfchen am Boden absetzte und wunderte sich wahrscheinlich, dass sie sofort danach wie von Furien gejagt nach oben rannte. Geschafft - noch einmal.

Doch auch dieser Schwarze Mann verschwand mit Ende des Krieges aus ihrem Keller und ließ doch keine Erleichterung zurück. Viele Jahre noch blieb in der Erinnerung an ihn das Unbehagen bestehen: Was hatte er tatsächlich dort unten gemacht? Warum hatte er nicht unsere Sprache gesprochen, wo war seine Familie gewesen? Warum war er nicht dort geblieben, wo man ihn verstand?

Und auch der Keller blieb eine Falle für Kathi, der es immer aufs Neue zu entrinnen galt.

Impressum

Texte: © Copyright by Adi Hübel
Umschlag: © Copyright by Adi Hübel
Verlag: Adi Hübel

Schlossergasse 4/1
89077 Ulm
adi.huebel@t-online.de

ISBN 978-3-****-***-*

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Meinen Kindern

Adi Hübel

Ein kleines, leichtes Glück

Erzählung

1. Erinnern

Erinnert werden meist die Schrecknisse des Lebens. Sie graben sich ein in Seele und Körper und überdauern die Zeiten.

Doch nicht immer sind sie mit leichter Hand aufzufinden. Versteckt lauern sie, eingesponnen in einen düsteren Kokon des Vergessens in der Tiefe unseres Bewusstseins.

Und dennoch verflüchtigen sie sich nicht.

Nicht selten steigt das Verdrängte an die Oberfläche unseres Fühlens, wenn Ereignisse und Orte das Einstmals wie ein Sesam-öffne-Dich erschließen. Orte der Kindheit und tiefe Einschnitte im Verlauf unseres Daseins legen plötzlich deutliche Spuren und verlangen verfolgt zu werden.

 

Katharina musste sich erinnern. Doch wo müssen und wollen beginnen und enden, ist selten feststellbar.

So wäre es auch denkbar zu sagen, Katharina wollte sich erinnern. Doch wäre dadurch etwas anders geworden. Hätten sich die Wahrheiten von damals eher bestätigt? Wäre die frühe Zeit heller und lichter geworden? Nichts spricht dafür.

 

So war der Verlust der Wegbereiterin ihres Daseins für Katharina Anlass genug, dieses Müssen zu bekräftigen. Alles verlangte nach Sichtung, nach Bestätigung, auch nach Wertung und möglicherweise Wertschätzung. Weshalb war sie selbst die geworden, die sie war. Wo waren die Vorlieben, Defizite entstanden. Welche Ereignisse wogen wie schwer.

Katharina griff nach den Fäden, sie zu entwirren, um sich in das Labyrinth der Erinnerung zu begeben. Etwas lockte sie, rief sie, versprach Klarheit und sichere Zuordnung.

Es galt, ein verschlossenes, ungesichtetes Wissen und Fühlen zu erhellen. Denn nicht nur Dunkles und Düsteres schien sich zu verbergen, sondern auch eine schmerzliche Süße, die in Kindertagen immer wieder so unverhofft die Härte der Tage gemildert hatte. Sie wollte Katharina auffinden und auskosten, wie damals.

Mutig begann sie daran zu glauben, dass ihr dies gelingen könnte.

2. Der Schlüssel

An zweiter Stelle erst das Bild des Hauses, des Gartens, des schmalen zaunbewehrten Pfades, des Grüns des Birnenspaliers. Der Schlüssel dazu das Wiesel, das Wiesel verwachsen mit der Konsole auf rund geschwungener Stütze, das Wiesel aus halber Höhe drohend, das Wiesel dicht neben dem schwingenden Pendel der Uhr.

Rötlich braun schimmert das Fell, dünn geschabt und glanzlos vom vielen Anfassen, trotz des Verbotes. Vier kurze, muskulöse Beine, zum Lauf gespannt, den kleinen Körper gestreckt zum Sprung, dem unsichtbaren Feind entgegen. Schwarz irisierend die funkelnden Glasaugen im schmalen füchsigen Gesicht; grausam stechend, über den drohend nach oben gezerrten Mundwinkeln. Die Doppelreihe spitzer weißer Zähne leicht geöffnet hinter den entblößten Lefzen, bereit zum tödlichen Biss.

Alles an diesem Tier war Grauen erregend und schrecklich. Alle Bosheit, alle Wut seines Ausdrucks waren auf Katharina gerichtet. Unmöglich zu fliehen, unmöglich sich zu verbergen. Nur einen Meter entfernt unter dem Schrecklichen, verharrte sie starr vor Entsetzen auf ihrer Schlafstätte, dem Sofa. Gleißend floss das Licht von Mond und Sternen durch das kleine seitliche Fenster. Unerbittlich beschien es den Feind, die Ursache ihrer Angst und Reglosigkeit.

Keine Frage nach der Richtigkeit der Wahrnehmung, kaum ein Versuch sich zu entziehen, immer wieder derselbe Zustand, abends, nachts, wenn der Mond sie weckte, die Stille, die lautlose Bedrohung über ihr, das Böse, das Grauenvolle. Nur in der Tageshelle war es möglich, sich hinzuwenden, heimlich zuzufassen, Vertrautheit vorzutäuschen.

Das Wiesel war nur eine der Besonderheiten im Hause der Großeltern. Dicht neben dem kleinen Tier tickte mit selbstverständlicher Regelmäßigkeit das Perpendikel der Uhr, schwang hin und her, endlos. Die Aufgabe des Großvaters und sein Vorrecht war es, den Schlüssel vom Abdeckbrett zu nehmen, die Glastüre zu öffnen, um mit langsamen, bedächtigen Drehungen die Zeit am Fließen zu halten.

Eine andere Kostbarkeit war der Glasschrank der Großmutter. Die untere Hälfte mit Holz verkleidet, konnte Katharina durch die Scheiben mit zunehmender Größe, all die schönen Dinge auf den oberen Einlegebrettern bewundern, welche die Großmutter im Laufe ihres Lebens angesammelt hatte und die sie hier liebevoll verwahrte. Selten nur durfte sie anfassen. Verboten war es ihr, so lange sie denken konnte, den Schrank zu öffnen, um die kleinen Porzellanfiguren, Döschen und Broschen herauszunehmen.

Hinter der Stubentüre wärmte während der kalten Zeit ein großer, aus Ziegelsteinen gemauerter Kachelofen. Die umlaufende Ofenbank bot den Kindern ein kuscheliges Plätzchen, eine Schlafhöhle, ein Versteck in lustvollen Momenten und traurigen Augenblicken.

Das Schönste an der Stube aber waren die vielen kleingeteilten Fenster, durch welche die Sonne den Sommer über und in schönen Herbststunden und frostigen Wintertagen alles Vorhandene vergoldete. Auf den einfallenden Sonnenstrahlen tanzten die Staubpartikel wie fein ausgestreute Glitzerspreu zu Boden. Saß Kathi alleine in der Stube, so war meist nichts zu hören als das Ticken der Uhr. Das Gefühl der Beklemmung wurde in manchen Augenblicken so stark, die Stille des Hauses so überwältigend, dass sie ihr eigenes Herz dröhnen hörte, machtvoll und drängend schlagen, höher und höher bis in die Kehle, die sich langsam ruhigem Atem verschloss. Schmerztiefe Seufzer und die Rückkehr in die bewegte Welt garantierten dann das Leben.

Teppiche gab es wenige im Haus. Unter dem Stragulaläufer knarrten die Dielen. Die Bodenbretter, breit und von dunklem Braun, glänzten und rochen nach Seifenwasser und Wachs. In der Sitzfläche des alten Sofas wölbte sich eine tiefe Kuhle nach unten. Selbst unter Katharinas leichtestem Hüpfen rieselte braungrünes Seegraspulver aus den Polstern. Über dem Kachelofen wurde im Winter auf einer umlaufenden Stange die Wäsche getrocknet, in seiner dunklen Höhlung der Ziegelstein erhitzt, der, mit einem Lappen umwickelt, abends die Eiseskälte des Bettes erträglicher machte.

Hinter der Stube lag die Schlafkammer der Großeltern: zwei Betten, zwei Nachttische, ein Schrank. Vor dem Bett ein bunter abgetretener Flickenteppich. Die Wände nackt, kahl, weiß, bis auf das große Bild über dem Ehebett: Christus mit entblößtem Herzen, mit flammendem Herzen, Christus mit liebendem Blick, mit langem gewelltem Haar und sanften Augen trotz bloßliegender Eingeweide. Ein brennender Vorwurf dennoch. Auch auf dem Nachttisch der Großmutter, auf dem viereckigen gestärkten Deckchen ein kleines Kreuz aus weißem Porzellan.

Hier mussten sie gezeugt worden sein, die elf Kinder, Söhne und Töchter jetzt selbst Väter und Mütter, drei von ihnen schon als Kind gestorben, zu sich genommen vom Herrn. Doch solche Überlegungen entstanden nicht angesichts dieses Raumes, wären, hätten sie in Katharinas Denken schon Grund gehabt, ohnedies verboten gewesen. Kinder wurden nicht gezeugt, sie wurden auch nicht geboren. Sie waren einfach da und basta.

Zurück durch die Stube über die hohe Schwelle in die Küche. Auf dem eisernen, schwarzen Herd wurde auf offener Flamme gekocht. Er hielt warm, wenn die Stube an Werktagen nicht geheizt wurde. Das kupferne Schaff an der Seite war immer gefüllt mit brodelndem, dampfendem Wasser. Am Herd stand der Großvater, ganz früh morgens schon oder abends von der Arbeit nach Hause gekommen, um die Mehlsuppe zu kochen. In einer flachen Pfanne mit langem Stiel und leicht erhöhtem Rand, wurde Milch mit Wasser gemischt erhitzt, Mehl oder Maismehl eingerührt, bis langsam alles zu Brei dickte, dann stockte. Das Gefäß vom lodernden Feuer gezogen, wurden die Ringe wieder bedächtig mit einem Eisenhaken ineinander gepasst, das Fegefeuer geschlossen.

In einem kleinen Töpfchen schmolz währenddessen das Schmalz. Schwungvoll stellte der Großvater dann die schwere Pfanne auf den Tisch, goss das duftende braune Fett über die weiße feste Fläche des Stopfers. Jeder nahm seinen Löffel und begann zu essen, doch erst nachdem der Großvater sich durch den ersten Einstich den Löwenanteil des Fettes in seiner Grube gesichert hatte. Nur der Mann, der Arbeiter, der Ernährer hatte das Recht auf Stärkung und Erhalt seiner Arbeitskraft.

Hinter der Küche mit ihren wenigen Möbelstücken lag die Kammer, schmal, drei Meter in der Breite, etwa zwei in der Länge. Platz gerade für hölzerne Stockbetten, zwei zu jeder Seite der Türe. Vier Betten insgesamt auf kleinstem Raum. Ein kleines Fenster, fast eine Luke, hin zur Wetterseite, hielt den Raum zu jeder Tageszeit im Dämmer.

Durch die Küchentüre betrat man einen Absatz, von dem rechts eine schmale Leiter zum Boden hoch links die Treppe abwärts führte. Spähte sie zwischen den Treppenstufen hindurch, so sah Katharina im Spätherbst und den Winter über unten das gespaltene, aufgeschichtete Holz und die gebündelten Reisigballen, Vorrat für viele Monate. Die tiefer sinkenden Schichten kündeten vom Lauf des Winters dem Frühjahr entgegen.

3. Oase der Stille