Kein Mann, dem seine Sache nicht Spaß macht, darf erwarten, daß sie sonst jemandem Spaß macht.
Bertolt Brecht
DIE HAVARIE
Eine Verklarung
von
Klaus J. Hennig
DIE HAVARIE – eine Verklarung
Klaus J. Hennig
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2012 Klaus J. Hennig
ISBN 978-3-8442-3916-4
Inhalt
Impressum 2
I 2
graph-definition>II 9
III 16
IV 26
V 34
VI 39
VII 60
VIII 69
IX 82
X 86
XI 91
XII 102
XIII 117
XIV 133
XV 142
XVI 154
XVII 170
XVIII 183
XIX 193
XX 204
XXI 221
XXII 234
XXIII 240
XXIV 245
XXV 260
XXVI 266
Die Akten 278
Der alte Senator war jetzt betrunken genug, um sich von seinen weißblonden Schwuchteln in das warme Wasser gleiten zu lassen. Hätte den Zwillingen die Kraft dazu gar nicht zugetraut, denn an einen fetteren Patienten konnte ich mich nicht erinnern. Fünf, sechs Figuren lehnten an den Wänden des Baderaumes, zwei kannte ich vom Sehen, Im- Export, hiesige Hautevolee. Weiter hinten machte sich einer Notizen. Was der da noch zu schreiben hatte war mir nicht klar, denn der Ex hatte zu schweigen begonnen. Seine endlosen Monologe waren stadtbekannt und gefürchtet, im Lauf der Jahre waren seine Abendessen daher immer einsamer geworden. Jetzt stöhnte er nur noch. Sein Ausatmen war ein gepreßtes, fiependes Stöhnen, als ob er die Luft nicht wieder hergeben, sie mit aller Kraft in sich behalten wollte, vielleicht um nicht immer wieder einatmen zu müssen. Die Augen öffnete er auch nicht mehr.
Manche aus der Erinnerung aufsteigende Bilder sind kaum zu unterdrücken, eher könnte einer die blaugrün schillernden Schmeißfliegen von einem am Wege liegendem Aas verscheuchen. Als wäre es gestern gewesen, doch sind seitdem schon über drei Jahre vergangen.
Ein ungewöhnlich heißer Herbst damals, bis dieser Sturm gekommen war, der auch im neuen Hafen kein Schiff heil gelassen hatte. Ich war in die Villa des Aelius Aquila geschickt worden, keine dreitausend Schritte von der Porta Marina am Meer gelegen, wenn man auf der Uferstraße nach Süden geht. Nimm kleines Besteck mit und warte dort im Bad, alles weitere sagt man dir dann. Der Bronzehocker mußte ein Vermögen gekostet haben, doch nach einigen Stunden tat mir der Hintern weh.
In die Villa des Ex-Senators war ich schon öfter ausgeliehen worden, hier ist das üblich unter den alten Familien. Wer einen besonders guten Koch oder Arzt besitzt, leiht ihn schon einmal an Freunde aus, zu besonderen Gelegenheiten. Bei den Rusticeli und den Palatina waren es immer wieder Kinderkrankheiten, zwei, dreimal war ich bei einer Enzephalitis am Ende machtlos; und natürlich die ewigen geriatrischen Syndrome, letztendlich untherapierbar, mehr als ein paar symptom-lindernde Therapeutika hat man da nicht in der Hand. Bei den Volusi hatten sie schon in der dritten Generation Fälle von Mongolismus, dürften eben keine Kinder mehr machen, riet zu Adoptionen. Anspruchsvolle Patienten auch im Hause Cartilius, atopische Dermatitis, und bei den Voturia erbliche Arthritis urica. Ganz altes Geld das, Reedereien und Lagerhäuser, Finanziers für Im- Export, Landgüter selbstverständlich, halten zusammen gegen das neureiche Pack, das sich in der Stadt mehr und mehr breitmacht. Immer wieder auch Symptome von Saturnismus in diesen Clans, rätselhaft, sie sind doch keine Bleiminensklaven. Bei armen Leuten, die sich bleierne Gefäße in der Küche nicht leisten konnten, hab ich sie niemals gesehen. Auch der dicke Aquila hier: Verstopfungen, Koliken, Mundgeruch, blaugrauer Zahnfleisch-rand, rechtsseitig eine beginnende Fallhand; Radialislähmungen gehören auch in diesen Formenkreis. Er lebte schon lange in Ostia, ich glaube seit ..., jedenfalls viel länger als ich. Es hieß, er habe sich in den letzten Jahren des Claudius vom Forum Romanum zurückgezogen, damals Schluß gemacht mit der Politik. Er blieb selbst im Winter hier am Meer. Hatte kaum Klientel, anders als unser Haus, wo jeden Morgen an die hundert Freigelassene ihre Aufwartung machen. Nur den Verwalter einer selbst für Ostia beachtlichen Zahl von Speicherhäusern, und diesem ehemaligen Unteroffizier, der ihn allerdings seltener besuchte. Die Zwillinge haßten ihn, diese weißblonden Bengel, die ihm Gott-weiß-wer verkauft hatte.
Nun wollte der Senator also nicht länger leben - meine Instrumente lagen bereit. Oft hatte ich das noch nicht gemacht, doch immer waren dann auch Freunde des Hauses gekommen, um Abschied zu nehmen. Die hier herumlungerten sahen eher aus wie bezahlte Zeugen einer nicht ganz koscheren Gerichtsverhandlung. Kamen sie aus Rom? Seneca, ich kannte ihn zwar nicht von Angesicht, war keiner von denen, das hätte sich herumgesprochen. Sicherlich auch Piso nicht, einer seiner ältesten Freunde. Die berühmten römischen Freunde - der Ex war nicht müde geworden sie zu zitieren - hatte hier in Ostia noch niemand gesehen.
Die Firma würde natürlich wieder alles ganz genau von mir wissen wollen, für ihre Akten. Wer war da, wer kam oder ging wann und wohin, wer sagte was zu wem? Wurde Botschaften, geheime Blicke ausgetauscht? Konnte so eine Riesenbehörde wie das TAB an Paranoia leiden? Waren ein oder zwei von denen, die da an den Wänden herumstanden, schon vom TAB geschickt? Sie wollten es ja immer doppelt und dreifach, trauten keinem über den Weg. Was konnte ich denn schon groß ausspionieren? Nichts wirklich Wichtiges. Sicher - man sperrt die Ohren auf, hört dies und das, macht sich einen Vers darauf. Aber eigentlich stochere ich nur im Nebel. Kein Wunder, daß meine Berichte mehrheitlich Phantasie und Schneegestöber waren, sie wollten es ja nicht anders.
Wie nur unter all dem Fett die Venen finden? Er wollte es im warmen Wasser liegend gemacht haben. Was er sich nur davon versprach? Weniger Schmerzen? Leichteres Hinübergehen, wie im Dämmer eines Halbschlafes?
Dieser ehemalige Unteroffizier oder Feldwebel, ein gewisser Aelius Tullius vom Seeamt, war jedenfalls nicht gekommen. Sein Klient immerhin. Er sei hier auch nicht dringend erwünscht, hatten die Zwillinge auf meine Frage gesagt. Zickenspitz. Ein untersetzter, häßlicher Kerl; vor einem Jahr ungefähr hatte ich ihm einen Abszeß am Hals geöffnet, Schmerz konnte er ertragen, ein maulfauler, sturer Kommißkopf. Doch daß ich diesen Tullius niemals wiedersehen würde, daß der schon aus der Stadt verschwunden war, als ich noch bei dem Ex im Bad hockte, das wußte ich da noch nicht. Auch auf dem Seeamt hatte ihn an niemand mehr gesehen, und die Miete seiner Wohnung war seit kurzem überfällig. Soweit der Griffel, meine Augen und Ohren im Seeamt.
Diesmal hatten sie mich bei der Neptunstherme abgepaßt, Lupus Mielcus, weiß der Schinder, welche Namen ihre Väter ihnen einmal in Wahrheit gegeben hatten. Miese Leut. Kamen sich wie Intellektuelle vor, als sie mir den Decknamen Aesculap verpaßt hatten, diese Chamojrim. In ihrer üblichen, übertrieben geheimnistuerischen Manier, sie schienen ernstlich zu glauben, dadurch unauffällig zu sein, hatten sie mir einen amtlich aussehenden Brief zugesteckt. An das Seeamt in Ostia. Die Adresse hatte ich eben noch lesen können, bevor sie mich ziemlich scharf fragten, ob ich etwa gedenke ihn hier auch noch laut vorzulesen, und was ich denn glaubte, worum es eigentlich ginge? Der Brief müsse an den richtigen Mann kommen, und zwar schnellstens, ich wüßte schon an wen, und derjenige solle ihn zur Kenntnis nehmen, ebenfalls schnellstens, und ob das klar sei. Nähere Ausführungshinweise erübrigten sich wohl bei meiner Intelligenz. Ich war geschmeichelt.
Über meinen Antrag war natürlich immer noch nicht entschieden. Würde noch bearbeitet, seit Monaten dieselbe Leier. Dieser eine Fall noch, kämen diesmal ohne mich überhaupt nicht weiter, Chefsache, absolut vorrangig, danach aber würde man sehen. Ganz sicher. Nur dieser Fall noch. Dieser eine. Hatten mich natürlich in der Hand, diese Drecksäcke - wenn meine Legende aufflog, ginge ich für den halben Preis in irgend ein Provinznest. Ich wollte aber nach Rom. Nach meiner Freilassung. Das Geld dafür hatte ich längst zusammen, zu einer eigenen Praxis reichte es auch, einer kleinen, für den Anfang. Für meinen Patron hätte ich immer noch da sein müssen, natürlich - Gott, wenn der jemals erführe, daß ich überhaupt kein Grieche bin ... Wer geht denn zu einem judäischen Arzt? Ein paar verlauste Tiberschiffer vielleicht, bei der Hautevolee hier wäre ich glatt unten durch. Und Rom hätte ich mir ganz abschminken können. Das weiß die Firma ganz genau. Dabei hätten sie nach meiner Freilassung immer noch auf mich zählen können, über die ersten Häuser hier in Ostia wissen sie doch ohnehin alles nur durch mich. Ob sie fürchteten, ich käme sie teurer als Freigelassener? Haben doch Geld wie Mist in ihrem Tabularium. Oder nebenan im Saturntempel. Wen müssen die denn fragen, wenn sie in den Staatsschatz greifen wollen? Lupus Mielcus sagten immer, solange ich ihnen das Ostia-Netz führte, sei ich unentbehrlich - Gott, wie schmeichelhaft. Was war hier groß zu führen, man war doch schon froh, wenn diese Tunten einem für einen schnellen Fick einigermaßen Brauchbares lieferten. Oder für ein paar vage Versprechen. Mit dem Griffel hatte ich allerdings Glück, der wußte sehr gut, daß ich seine Beförderung in das Seeamt gedeichselt hatte. Ihm mußte ich nur noch ab und zu andeuten, daß in dieser Hinsicht noch nicht aller Tage Abend sei, dann brauchte ich ihn nicht einmal mehr zum Essen ausführen.
Der Senator wurde unruhig. Einer der Zwillinge kam schon mit heißem Wein aus der Küche. Sie waren nicht ungeschickt, dennoch lief eine Menge davon aus den tiefen Falten, die seine Mundwinkel verbargen, und verteilte sich im Badewasser. Sein Blut darin würde gleich anders aussehen, wolkiger, und sich nicht so rasch verteilen. Der Senator hustete etwas und sprach plötzlich mit überraschend klarer Stimme.
»Fangt endlich an!«
Die Zwillinge wichen mir aus, aneinander gedrängt. In ihren geschminkten Gesichtern, ihren rötlichen Augen, stand etwas wie Gier.
Es besteht Anfangsverdacht! Na wundervoll - sie wissen also nichts. Haben nichts in der Hand, nicht das Geringste. Gerüchte, bestenfalls. Üble Nachrede, Häme natürlich reichlich. Tullius las die Aktennotiz noch einmal, langsam und mit halblauter Stimme; es schien ihm, als verstünde er derartige, von der Tradition unendlicher Bürojahre geprägte Texte, so ein wenig leichter.
»An Seeamt Ostia. Betr. Havarie des Handelsschiffes Orion. Es besteht Anfangsverdacht gegen Unbekannt auf Unterschlagung, Betrug oder den Versuch der Unterschlagung und des Betruges zum Nachteil der an ihrer letzten Reise beteiligten Reeder, Befrachter, Finanziers und Importeure, in Zusammenhang mit dem Schiffbruch der Orion im vorletzten Winter vorgenannte Straftaten tatsächlich begangen oder zu begehen versucht zu haben. Veranlassung des Nötigen seitens zuständiger Stellen wird hiermit unter Beachtung entsprechender Sorgfalt angeordnet, da Berührungspunkte mit hierorts anhängigem Staatsschutzverfahren nicht ausgeschlossen werden können. Rom, im August - gez. (unleserlich)«
Anfangsverdacht gegen Unbekannt - wer verdächtigt hier wen? Die Händler die Seeleute, die Reeder beide, die Finanziers alle zusammen? Neidisches Gequatsche, aber keine Beweise, keine verläßlichen Zeugen. Und er, Tullius, kann sich wieder einmal Blasen laufen, von den alten Kais zum neuen Portus, zu den Corporationen, auf das Forum, und nach Monaten dann eine finale Bemerkung, leicht hingeworfen.
»Stell die Sache ein, Tullius. Wegen mangelnder Erfolgsaussicht. Schriftlich an alle Beteiligten. Du weißt schon, wie üblich.«
Neue Stiefelsohlen zahlten sie ihm natürlich nicht, die feinen Pinkel vorne in den Marmorbüros. Gingen aber großkotzig essen, zum Griechen ins Thermopolium womöglich, um sich dort von den spanischen Reedern traktieren lassen.
»Dürfen wir etwas vom letzten Valdepeñas an Ihre werte Adresse senden lassen, er gefiel Ihnen doch so...«
Während er sich die Hacken abgelaufen hatte nach Indizien, aus denen eine Anklage zu flechten wäre für eine nette kleine Seeamtsverhandlung mit ordentlichen Schuldsprüchen in Schönschrift, mit Geldstrafen, Folter, Verbannungen - auch ein, zwei kleine Todesurteile gefällig? - nur damit sie in Rom sehen, daß wir hier morgens ausgeschlafen ins Büro kommen.
»Wir müssen unsere Behörde wieder mehr ins Gespräch bringen. Tullius, mein Lieber, du bist doch ein alter Praktiker! Wir müssen einfach mehr Aufmerksamkeit erregen, sonst fangen sie auf dem Forum an sich zu fragen, ob wir hier überhaupt noch von Nöten sind. Willst du etwa wieder zurück nach Trier oder Mainz oder wo du hergekommen bist? Na also! Aber genau das kann uns passieren. Aus heiterstem Himmel heißt es dann: Alles einpacken! Die Akten ins Archiv; die Beamten nach Caesaria oder Cadiz oder wo immer sonst noch die Welt zu Ende ist. Tullius, mein Lieber - wir haben uns verstanden?«
Natürlich hatte Tullius verstanden, wie immer, denn Tullius ist Soldat bei der V. Legion 'Alaudae' gewesen, dann Unteroffizier, Zahlmeister, zwanzig Jahre in allem, hat dort auch einiges Keltisch gelernt, kein übles Leben geführt als der Sohn eines Freigelassenen, während seines kleinen Aufstiegs in der Armee des Kaisers. Dreier Kaiser, wenn man genau sein wollte. Eingetreten war er in die des finsteren Tiberius, am Rhein Straßen und Hafenkais gebaut in der des durchgeknallten Caligula und Karriere gemacht unter dem lahmen Claudius. Die dreitausend Denare Entlassungsgeld lagen noch in ewiger Ferne, als er Gefreiter wurde. Zwar hatte er durch diese Beförderung kein As mehr auf der Naht, mußte sich aber den Arsch nicht mehr im Außendienst aufreißen. Jetzt saß er auf Schreibstube und hielt den Unteroffizieren die Listen in Ordnung. Es sollte jedoch noch erstaunlich lange dauern, bis man ihm endlich die nächst höheren Abzeichen verlieh. Immer hatte es geheißen, daß kein anderer da wäre, der so korrekt, so verläßlich seine Arbeit machte, dessen Gedächtnis so weit zurück reichte, den man nach längst Vergangenem nur zu fragen brauchte und sich nicht erst lange in der Legionsablage auf die Suche machen mußte. Er sah, wie weniger Verläßliche, Vergeßlichere, Schlampigere als er, an ihm vorbei gezogen waren und schon den Legionsadler tragen, den dreifachen Sold einstreichen durften, als man ihm erst das Feldzeichen und die Aufsicht über das Tabularium, die Schreibstube und die Kasse der Centurie gab. Tullius gehörte nicht zu denen, die sich oben einschmeichelten, das sagten alle. Daß sie ihn nicht besonders leiden konnten, daß er ihnen auf die Nerven ging, sagten sie ihm nicht.
Tullius konnte recht unangenehm werden, vor allem später, als Unteroffizier. Körpergröße: etwas unterdurchschnittliche fünfeinhalb Fuß, Haare: dunkel, Augen: dunkel, besondere Kennzeichen: Schnittnarbe vom linken Ohr zum Hals hinablaufend. Untersetzt, sehr muskulös. Bei normal erscheinenden Kopf- und Leibesproportionen unverhältnismäßig kurze Glied-maßen, kurze, breite Hände und Füße. Finger- und Zehennägel breiter als lang. Unter niedrigem, dichten Haaransatz eine gebuckelte Stirn, die in den Nasenrücken auslief, der im oberen Bereich breit, wie geschwollen wirkte. Die Augen eher Schnitte in dicklich vortretenden Beulen, engstehend, die Lider kaum sichtbar. Wimpern und Brauen fast haarlos, nicht gezupft, so gut wie nicht vorhanden. Wenn er sprach oder, selten, einmal lachte, sah man unter der kurzen Oberlippe das Gehege seiner Frontzähne, deren mittlere schief und versetzt standen, zu wenig Platz zu haben schienen, in dem massigen Gesicht ein eigentümlicher Effekt. Er schien es zu wissen, auch darunter zu leiden, denn er sprach gerne etwas aus dem Mundwinkel, so die schlimmere Seite seiner Zähne mit der Oberlippe verdeckt haltend. Wer ihn sich im Profil betrachtete, konnte auf den Gedanken kommen, daß er sich eher das Kinn als die Nase aufschrammte, liefe er einmal gegen eine Mauer. Die Ohren lagen ihm flach am Kopf an, bei Anstrengungen lief heftiger Schweiß unter ihnen hervor. Ihre Läppchen standen noch am weitesten ab, das linke war ein wenig eingeschnitten, wo ihn das auf seine Kehle gerichtete, eher linkisch geführte Messer getroffen hatte. Sein Hals war nur von vorn ein Stück weit zu erkennen, seitlich setzten die Schultern schon kurz unter den Ohren an. Aus diesem Grund war diese Schnittnarbe auch nicht besonders lang, er hatte die Messerwunde empfangen, als er sich nach dem Stein bückte, der dem anderen den Unterkiefer brach.
Bei seinem Eintritt ins Militär hatten die Narbe und vor allem ihre wortkarge Erklärung einen eher günstigen Eindruck hinterlassen. Tullius hatte mit seiner Linken den Weg der Messerklinge angedeutet, sich dabei blitzschnell nach einem imaginären Stein gebückt und den mit der Rechten in einem Halbkreis vom Boden bis etwa in die Höhe einer menschlichen Kinnlade gerissen, sich dann wieder aufgerichtet und seine rechte Faust, mit dem Handrücken nach oben, langsam geöffnet. Sie sahen den Stein geradezu auf den Boden fallen, so tief hatte sie die unheimliche Geschwindigkeit des Gezeigten beeindruckt.
»So ungefähr ist das gelaufen.«
Mehr sagte er nicht dazu. Alles andere hatten sich seine neuen Kameraden selbst ausmalen müssen, mögliche Folgen und die Vorgeschichte erst recht. Unbehaglich war er ihnen, doch einer, den man trotz allem lieber im eigenen Zelt hatte, damit er aus dem heraus pißte, als ihn außen vor stehen zu wissen und ...
Ein nennenswerter Krieg war ihm nicht vergönnt gewesen, Polizeiaktionen allenfalls, zu denen es genaugenommen keine Legionäre brauchte. Stadtwachen hätten das erledigen können, Auxiliare, Vigilanten, Feuerwehrleute. Seine Beinverletzung war ihm denn auch etwas peinlich. Einigen germanischen Strolchen hatten sie das gestohlene Rindvieh bald wieder abgejagt, nur ein junger Stier hatte nicht mit zurück über den Fluß gewollt und ihm sein Horn in den Schenkel gerammt. An die Spottnamen, die Frotzeleien deswegen erinnerte er sich nur ungern. Es ging auch bald wieder zu Ende damit, die losen Mäuler hatten schnell begriffen, wieso in ihrem täglichen Dienst auf einmal Gewaltmärsche, Nachtwachen und Latrinenputzen überwogen. Seine Dankopfer allerdings verrichtete er seitdem in einem unterirdischen Tempel, wo er dem stiertötenden Mithras seine Erleichterung darüber bezeugte, daß ihm dieses Vieh die Eier gelassen hatte. Wenn ihn das Horn nur einen daumenbreit weiter rechts getroffen hätte … Er mochte es sich nicht ausmalen.
Ja, Tullius verstand seine neuen Vorgesetzten ganz genau, denn Tullius fühlte sich zu alt, um sich noch einmal in eine Provinz zu schicken zu lassen, wo er niemanden kannte und wo ihn niemand liebte; Tullius war heilfroh, es bis hierher geschafft zu haben. Ostia war nicht Rom, aber eben auch nicht allzuweit weg von der Hauptstadt. In den hellen Marmorräumen am Tiberiusforum, in denen Tullius zu erscheinen hatte, um seine Orders entgegenzunehmen, wußten sie das natürlich auch. Genau wie sie die Toga nach römischem Schick zu fälteln wußten und wie man sich von den Spaniern einladen ließ. Tullius verstand das alles, obschon ihn nicht einmal die Syrer oder die Judäer einluden. Aber was die schon ein Essen nannten ...
Sein Schreiber erschien in der Tür, machte ein fragendes Gesicht und wies mit dem Daumen über seine Schulter hinter sich.
»Hol sie schon rein, die Aasgeier! Das wird wieder ein Tag!«
Die beiden drängten sich neben dem Gemeindesklaven durch die Tür, vier schlaue, schnelle Augen.
»Zum Untersuchungsbeamten Decimus Aelius Tullius, bitte, wir vertreten die Investmentgesellschaften, die Finanzierungsfirmen, sind bevollmächtigt...«
Offenbar Anwälte. Orientalisch klingendes Gebrabbel, wahrscheinlich ihre Namen, Tullius hatte keine Lust nachzufragen.
»Ja gut! Kommen Sie rein!«
Ihre Begrüßung war das Gegenteil militärischer Knappheit, sie wurden ihm dadurch nicht sympathischer. Waren es Syrer? Griechen?
Griechen gingen an, schlau, aber man konnte mit ihnen auskommen. Verstanden auch was von der Seefahrt. Aber die hier waren keine, auch keine Syrer. Sahen nur so aus. In ihrer Sprache, trotz griechischer Wörter darin, gab es noch etwas anderes, man würde ja sehen. Ihre Begrüßung hatte jedenfalls dreihundert Wörter zuviel. Gut, man war nicht mehr beim Militär, aber auch auf einer römischen Hafenbehörde konnte man irgendwann einmal zur Sache kommen.
Kreter? Ägypter?
Damals in Mainz hatte er sich mit einem griechischen Schiffsoffizier angefreundet, ein paar Jahre lang geziemend einen zur Brust genommen mit ihm, was der wohl jetzt machte? Immer noch seine Matrosen zusammenscheißen? Vertrug nicht allzuviel vom Roten, aber von seinen Flußkähnen hatte er was verstanden.
Die Zwei hier waren keine Griechen, so wie sie fuchtelten. Vorne, in den Marmorbüros, mochte man solche Typen nicht besonders, warum also sollte er ihnen Sympathie entgegenbringen? Und wie der Ältere ihm auf den Leib rückte; wollte der etwa auf seinem Schoß sitzen?
»Sehen Sie sich, bitte sehr, besonders genau den Schlußpunkt an. Es geht um den Havarieort der Orion. Der ist noch unklar. Wir denken, daß sie an der Insel Malta scheiterte. Und, äußerst wichtig, dieser Punkt hier, den Verbleib der Getreideladung betreffend. Wir werden auf Unterschlagung plädieren. Auf vorsätzlichen Betrug, wenn die Reise überfinanziert war. Und auf Urkundenfälschung, falls das Logbuch noch auftaucht.«
Es saßen keine Fliegen auf dem Papyrus, wieso versuchte der trotzdem welche zu verscheuchen?
»Wenn niemand sein Leben verlor...«
Wie ein Specht gegen einen Baumstamm pochte er jetzt mit dem Finger auf die Akte.
»...und das wird hier behauptet, wenn also alle am Leben geblieben sind, Besatzung, Soldaten, Passagiere, zusammen über zweihundert steht hier, dann wird man auch Zeugen finden. Und der Schiffer, wenn er denn unschuldig ist, wird das Logbuch gerettet haben. Das tun sie immer, wenn sie glauben, daß sie unschuldig sind.«
Tullius starrte ihn blöde an. Der jüngere Anwalt versuchte es ruhiger.
»Wenn eine Schiffsführung die Havarie verschuldet, wenn sie die Ladung unterschlagen und anderen Ortes verkauft hat, dann wird das Logbuch meistens nicht gerettet. So dumm sind nicht einmal die Friesen. Deswegen kommt neuerdings in derartigen Fällen auch die Folter zur Anwendung. Weil das überhandgenommen hat in der Getreidefahrt, vor allem von Ägypten.«
»Und vor allem zum Winter, bei den Einzelfahrern.«
Der Erste hatte einen Moment lang schweigen müssen, aber einer wie er hielt das nicht lange aus. Tullius schob den Papyrus zur Seite, ließ die Unterarme auf dem Tisch.
»Was ist ein Logbuch?«
Die Beiden sahen sich an. Der Zweite war jetzt ganz vorsichtig.
»Sie sind erst seit kurzem hier am Seeamt? Wir hatten jedenfalls noch nicht das Vergnügen, ich meine die Ehre...«
Der Erste fuhr wieder dazwischen.
»Hat die Sache schon Termin? Am Aushang haben wir nichts gefunden, aber wenn wir...«
»Einen Termin wird es geben, wenn ich ihn anberaume.«
Tullius hatte sich jetzt zurückgelehnt, die Arme über der Brust verschränkt, mit dem Kinn wies er auf die zweite, noch ungeöffnete Rolle.
»Was ist das für eine Akte?«
»Ein Itinerar.«
»Ein was?«
»Ja, wie sagt man…, eine Art Reisetagebuch, ein Fahrtenbericht. In diesem Fall die Übersetzung einer Aufzeichnung über den Verlauf der Fahrt des hier zur Rede stehenden Handelsschiffes, der Orion. Eine Übersetzung aus dem Griechischen oder aus dem Aramäischen. Das ist nicht ganz klar, tut letztlich nichts zur Sache. Möglicherweise ist der Autor ein hellenisierter Judäer, gewisse syntagmatische Eigentümlichkeiten..., Sie verstehen?
Tullius verstand, jeder konnte es ihm ansehen.
»Die Sprache dieser Übersetzung ist in der Tat, nun - wir dürfen das wohl so ausdrücken, etwas merkwürdig. Genaueres wissen wir zur Zeit noch nicht. Ganz sicher war der Verfasser dieses, obwohl Augenzeuge, gewiß kein Seemann, das wird aus verständnislosen Beschreibungen oder falscher Interpretation seemännischer Manöver und Handlungen sehr deutlich. Vielleicht war er einer der Gefangenen an Bord?«
»Ein Sklave? Die Aussage eines Sklaven? Dann können sie das gleich wieder mitnehmen. Das müssen Sie doch wissen, als Anwälte! Das sind sie doch hoffentlich?«
Das tat gut. Arrogantes Pack.
»Selbstverständlich - hier sind unsere Zulassungen und Vollmachten.«
Tullius besah mit mißtrauisch verkniffener Miene was der Sklave dieser Kreter oder Zyprioten ihm noch auf den Tisch legte.
»Werde das prüfen lassen.«
Dann pochte wieder der Erste mit dem gekrümmten Zeigefinger auf die Akte. Der Specht schien jetzt etwas ermattet.
»Die Sprache dieses... Itinerars erscheint vielleicht etwas altertümlich, aber der Berichterstatter war ein guter Beobachter, wiewohl kein Nautiker, kein Seemann. Denn, wenn Sie gestatten, der Ort der Havarie ist obskur – um es höflich auszudrücken!«
»Wieso?«
Tullius wußte genau, was der Anwalt dachte: sperriger Klotzkopf, unsensibel, bösartig. Es war ihm recht.
»Wieso höflich?«
»Lesen Sie es doch erst einmal.«
»Wo ist denn nun das Schiff havariert? Ich werd' das schon noch lesen. Keine Bange!«
»Im Itinerar steht es ganz am Ende unserer Abschrift. Die Insel heißt... Hier, bei Ziffer achtundzwanzig...«
Diese Fummelei machte ihn noch wahnsinnig.
»Hier …, hier heißt es: Und da wir alle auskamen - gemeint ist aus dem Wrack, aus dem Meer oder der Gefahr - erfuhren wir, daß die Insel Melite hieß. Melite - verstehen Sie?«
»Und was ist daran obs... obs...?«
»Obskur - dunkel, also verdeckt, unklar. Wie konnte denn die Orion von ihrer Route soweit abgekommen und so weit in die nördliche Adria bis an diese dalmatinische Insel geraten sein? Das Schiff war in einen Sturm getrieben, gewiß, aber Stürme, die das in der Kürze der beschriebenen Zeit zuwege bringen könnten, die gibt es nicht. In vierzehn Tagen von Kreta bis nach Mljet im Norden der Adria? Mljet - bei manchen auch Melite, je nach Herkommen. Aber vielleicht gibt es ja noch andere Inseln dieses Namens, nicht wahr? Wie viele Römer heißen Septimus? Wie viele Griechen Philon? Immerhin gibt es Völker, bei denen Melite auch der Name für die Insel Malta ist. Malta, im Süden, zwischen Sizilien und Afrika.«
Er wies mit großer Geste und gestrecktem Zeigefinger auf das Fenster, vor dem die Mittagssonne stand.
»Sie werden's vielleicht nicht glauben, aber ich weiß wo Malta liegt. Und die Klärung des Sachverhalts wollen wir der Verhandlung überlassen, ja? Da werden wir die Sachverständigen hören, auch die nautischen. Aber Ihnen geht es hier doch wohl um Geld, oder irre ich mich?«
»Wir hoffen sehr,...«
Eine leichte Verbeugung, geziertes Zurechtrücken der langen, teuer gefältelten Tunika.
»...daß diese Verhandlung alle Umstände klärt. Unseren Mandanten wäre äußerst viel daran gelegen. Ihre Verluste waren beträchtlich. Sie bezweifeln ja nicht, daß die Orion an einer Insel gestrandet ist, aber an welcher? Denn sie wollen wissen, wo ihre Getreideladung geblieben ist. Diese Akte, der Reisebericht hier, könnte ja auch Desinformationen enthalten. Irrtümliche, vorsätzliche ... Augenzeugen wären gut, der Schiffer selbst, es sei denn ... Oder dieser Hauptmann Julius, der Kommandeur der Wachmannschaft. Wir hoffen sehr, daß das hiesige, uns als überaus kompetent bekannte Seeamt dies alles umgehend zu klären imstande sein wird.«
Wieder die leichte Verbeugung, von beiden diesmal - war da Ironie im Spiel? Tullius schob die Akte - das Itinerar - zu den anderen hinüber. Aber sie waren immer noch nicht fertig.
»Bitte sehr, hier wäre noch der formelle Antrag auf Verklarung, auf einen Rapport maritime, wenn Sie so wollen, also auf eine vom Schiffer und der Mannschaft vor der zuständigen Behörde abzulegende, auf Antrag auch zu beeidende Aussage über die Ereignisse während einer Seereise. Grundlage derselben wäre das Schiffsjournal...«
Ein schneller Blickwechsel unter verhangenen, braunvioletten Lidern.
»...das Logbuch. Verklarung also ist erforderlich, wenn ein Schiff einen Schaden erlitten hat, um eventuelle Ansprüche des Reeders, der Befrachter und der Finanziers, respektive eine Schuld der Schiffsführung oder der Mannschaft feststellen zu können. Ein Rapport maritime oder Verklarung, so verlangt es das Gesetz.«
Tullius' Laune näherte sich einem Tiefpunkt, sein Bein schmerzte und sein Magen knurrte. Hatten diese Levantiner kein Gespür dafür, wann sie jemandem auf die Nerven gingen? Griechen merkten das doch. Vielleicht waren es ja Ägypter; er hatte keine Lust mehr darüber nachzudenken. Es war Mittagszeit, und er war ein kleiner römischer Beamter, mußte früh raus, manchmal vor dem Büro noch zum Patron.
»Wenn Termin ergeht, lesen Sie es am Aushang. Ich habe zu tun.«
Und im Kasernenhofton zum Schreiber draußen im Vorraum.
»Ich diktiere!«
Gelernt war gelernt, das konnte er noch wie in den alten Tagen.
»Sie verzeihen bitte noch einmal?«
Immerhin kam das schon von der Tür.
»Unsere Mandanten ermächtigten uns zu erklären, daß, falls besondere Nachforschungen angestellt werden müßten, durch welche, in gewissem Umfang, Kosten entstünden, sie nicht anstehen würden...«
Der Zweite unterbrach.
»Unsere Mandanten wissen, daß manchmal auch dort für Informationen gezahlt werden muß, wo keine Quittung zu erwarten ist.«
Zum Schreiber, immer noch Unteroffizier.
»Wo bleibst du?«
Den Blick auf seine Tischplatte gerichtet, hörte er endlich die Schritte der beiden Anwälte auf dem gefliesten Gang des Seeamtskorridors verhallen. Der Schreiber schniefte; er stehe bereit, sollte das heißen. Widerliche Angewohnheit.
»Also los, Datum von heute. Es erschienen als Vertreter der Firma XY, Im- Export, die Anwälte..., trag die Namen nach, und stellten Antrag auf Rapport maritime betreffend Reiseverlauf und Havarie des Handelsschiffes Orion. Mit dem..., Datum vom kommenden Montag, trete ich in die Voruntersuchung ein, von deren Ergebnis eine offizielle Eröffnung eines Verfahrens vor dem Kaiserlichen Seeamt Ostia abhängig zu machen sein wird. Ich geh jetzt was essen, du auch?«
Unlustig starrte Tullius auf das Durcheinander auf seinem Tisch. Das waren keine Griechen, er würde schon noch dahinterkommen. Arrogantes Pack. Auf seinem Tisch hatte Ordnung zu herrschen, die leere, staubfreie Ordnung einer gut gehobelten und gewachsten Holzplatte. Mißmutig räumte er die Rollen ins Regal und nahm nach einigem Nachdenken die mit zum Tisch zurück, die die Anwälte Itinerar genannt hatten, die er so unbedingt lesen sollte. Als ob er über seine Lektüre nicht selbst entscheiden könne. Schweinepriester.
Er hätte zum Essen keinen Wein trinken sollen, oder vielleicht etwas weniger. Er konnte sich nicht erinnern, damals an der Mosel nach dem Mittagessen einen derartigen Bleikopf gehabt zu haben. Aber da war auch das Wetter ganz anders. Und er noch nicht so dick wie heute. Als er sich langsam setzte, mußte er aufstoßen und hatte wieder den Geschmack von Rufus' eingelegtem Gemüse und seiner Sardellenbrühe im Mund. Eines Tages erwürge ich ihn, dachte er und löste die Schnur an der Akte, oder ich ertränke ihn in seinem eigenen Rotwein. Das würde der schlimmere Tod sein. Nur wenig zufriedener begann er zu lesen:
Der Apostel Geschichte
C.XXVI./C.XXVII./C.XXVIII.
C.XXVI.
30VND da er das gesagt / stund der König auff
vnd der Landpfleger / vnd Bernice / vnd die mit
jnen sassen / 31vnd entwichen beseits / redeten mit
einander/ vnd sprachen / Dieser Mensch hat nichts
gethan / das des Todes oder der bande werd sey.
32Agryppas aber sprach zu Festo / Dieser Mensch
hette künden losgegeben werden / wenn er sich
nicht auff den Keiser beruffen hette.
XXVII.
DA ES ABER BESCHLOSSEN WAR / DAS WIR IN
Welschland schiffen solten / vbergaben sie
Paulum vnd etliche ander Gefangene / dem Vnter-
heubtman / mit namen Julio / von der Keiserschen
schar. 2Da wir aber in ein Adramitisch schiff trat-
ten / das wir an Asian hin schiffen solten / fuhren
wir von lande...
Er konnte seine Stirnfalten spüren. Diese Paselacken hatten recht, ein eigenartiger Text. Da sollten sich andere durchwühlen. Sachverständige, Gutachter, Juristen, auf dem Forum wimmelte es doch von denen. Er betastete die kahle Stelle oben am Kopf, wo er früher einmal einen Haarwirbel gehabt hatte. Hatte sie sich vergrößert? Und konnte man oben am Kopf, er vermied das Wort Glatze auch nur zu denken, konnte man da oben auch Falten bekommen? Jedenfalls juckte es ihn dort nicht mehr so impertinent wie an anderen Stellen, wo sein Haarwuchs noch dicht war. Diese jähen Anfälle, ein spitzkleiner Punkt über einem Ohr begann urplötzlich so wild zu jucken, daß alle Versuche, sich zu beherrschen, sich nur dieses eine Mal nicht zu kratzen, vergeblich waren. Mit ineinander gekrallten Händen in seinem Schoß hatte er schon dagesessen und es durchhalten wollen, die Fingernägel in die Innenseite der anderen Hand gepreßt und versucht, den Schmerz der sich in die dünnhäutigen Gelenkfalten grabenden Nägel immer noch intensiver zu halten, als dieses Rasen in einem Punkt seiner Kopfhaut. Es war ihm nie gelungen. Immer hatte es ihm die ineinander verkrallten Hände wieder auseinander gerissen, die Linke, oder die Rechte – nein, es war fast immer die Linke, fuhr hoch und begann das erlösende, bald jedoch schmerzende Kratzen, das er nie unterdrücken konnte. Es war immer nur ein kurzer Moment, Folter, Erlösung, neuer, erträglicherer, schnell wieder abklingender Kleinschmerz und dann die Begutachtung dessen, was unter den Fingernägeln mitgebracht wurde – kleine Haut- und Schorfpartikel, Resultate früherer Attacken. Die Schorfe oft gelblich transparent, nicht immer schwarzrot wie von richtigem Blut. Er hatte vergessen, seit wann ihn das plagte. Allemal seit Jahren, nicht erst seit ein paar Monaten. Seit bestimmte Körperhaare sich nicht mehr mit der ihnen einmal vorgegebenen Länge begnügten, sondern absurd und häßlich in die Länge wucherten. Seit die Frau den Sohn genommen und wieder zu ihrer Familie in die Berge der Eifel gegangen war. Seit er zum ersten Mal mit dem Küchenmesser in der Hand sein Apartment nach eben diesem Küchenmesser abgesucht hatte. Seit es bei ihm mit den Zähnen angefangen hatte. Seit ... Er seufzte - wo war er stehengeblieben?
DA ES ABER BESCHLOSSEN WAR / DAS WIR IN
Welschland schiffen solten / vbergaben sie
Paulum vnd etliche ander Gefangene / dem Vnter-
heubtman / mit namen Julio / von der Keiserschen
schar. 2Da wir aber in ein Adramitisch schiff trat-
ten / das wir an Asian hin schiffen solten / fuhren
wir von lande / Vnd war mit vns Aristarchus aus
Macedonia von Thessalonich / 3vnd kamen des
anderen tages zu Sidon. Vnd Julius hielt sich
freundlich gegen Paulum / erleubet jm zu seinen
guten Freunden zu gehen / vnd seiner pflegen.
4VND von dannen stiessen wir ab / vnd schifften
vnter Cypern hin / darumb das vns die winde ent-
gegen waren / 5vnd schifften auff dem meer fur
Cilicia vnd Pamphylia vber / vnd kamen gen Myra
in Lycia / 6Vnd da selbs fand der Vnterheubtman
ein schiff von Alexandria / das schiffet in Welsch-
land / vnd lud vns drauff. 7Da wir aber langsam
schifften / vnd in viel tagen kaum gegen Gnidum
kamen (Den der wind wehrete vns) schifften wir
vnter Creta hin / nach der stad Salmone / 8vnd
zogen kaum fur vber / da kamen wir an eine Stete /
die heisset Gutfurt / da bey war nahe die stad Lasea.
DA nu viel zeit vergangen war / vnd nu mehr
fehrlich war zu schiffen / darumb / das auch die
Fasten schon fur vber war / Vermanet sie Paulus /...
Schon wieder dieser Paulus, ein Prominenter vermutlich, die Hauptfigur dieses Fahrtberichts? Und was waren das für Fasten, welcher Gott verlangte sie? Und zu welcher Jahreszeit? Welchen Monats, Tages? Der alte Ovid könnte das wissen, Tullius mußte ihn nur in einem seiner seltener werdenden, klaren Momente abpassen. Vielleicht hätte man hier einen zeitlichen Anhaltspunkt und könnte datieren. Nach dem Ende irgendwelcher Fastentage an der Insel Kreta. Erst mal weiter.
... / Vermanet sie Paulus /
10vnd sprach zu jnen / Lieben menner / Jch sehe /
das die schiffart wil mit beleidigung vnd grossen
schaden ergehen / nicht alein der last vnd des
schiffes / sondern auch vnsers Lebens. 11Aber der
Vnterheubtman gleubet dem Schiffherrn vnd dem
Schiffman mehr / denn dem das Paulus saget.
12Vnd da die Anfurt vngelegen war zu wintern /
bestunden jr das mehrer teil auff dem Rat / von
dannen zu faren / ob sie kündten komen gen Phe-
nica zu wintern / welches ist eine Anfurt an Creta /
gegen dem wind Sudwest vnd Nordwest. 13Da
aber der Sudwind webd / vnd sie meineten / sie
hetten nu jr furnemen / erhuben sie sich gen Asson /
vnd fuhren an Creta hin...
Und so weiter, und so weiter. Er lehnte sich zurück, gähnte. Wenn er sich auf seiner Reise von Trier hierher nach Ostia wegen jedes Häufchens Hühnerscheiße auf derart endlose Quasseleien eingelassen hätte, marschierte er heute noch bei Lyon und ließe sich vom Mistral die Haare von den Eiern pusten. Oder hockte in dieser Paßherberge am Cenis. Wo die Steine nicht ganz so hart waren wie das Brot. Und erst die Weinpreise ... Ja was glauben Sie denn, was das kostet, ihn hier heraufbringen zu lassen? Die Maultiertreiber von Susa mußten Millionäre sein.
Sollten ihm die Studierten diesen verdammten Text erklären. Nach einigem Gähnen und Kopfkratzen konnte er jedoch der Versuchung nicht widerstehen, sich wenigstens noch das Ende der Rolle anzusehen.
41Vnd da wir furen an einen Ort / der auff beiden
seiten Meer hatte / sties sich das schiff an / vnd das
forder teil bleib feste stehen vnbeweglich / Aber
das hinder teil zubrach / von der gewalt der wellen.
42DJe Kriegsknechte aber hatten einen rat / die
Gefangenen zu tödten / das nicht jemand / so er
ausschwümme entflöhe. 43Aber der Vnterheubt-
man wolte Paulum erhalten / vnd weret jrem fur-
nemen / Vnd hies die da schwimmen kündten / sich
zu erst in das Meer lassen vnd entgehen an das
Land / 44Die andern aber etliche auff den bretern /
etliche auff dem / das vom schiffe war. Vnd also
geschach es / das sie alle erhalten / zu lande kamen.
XXVIII.
VND DA WIR AUSKAMEN / ERFUREN WIR / DAS
die Jnsulen Melite hies. 2Die leutlin aber er-
zeigeten vns nicht geringe freundschafft / Zünde-
ten ein fewr an / vnd namen vns alle auff / vmb des
Regens / der vber vns komen war / vnd vmb der
kelte willen.
Immerhin - an Bord war also Militär, Soldaten und Gefangene, von denen offensichtlich einer aus irgend einem Grunde prominent war. Tullius kam sich nicht mehr ganz so dämlich vor. Ein militärischer Transport war immer eine Angelegenheit klarer Zuständigkeiten, deutlicher Befehle und korrekter Durchführungen, schriftlicher Berichte. Auf Latein, nicht auf Kufnukisch. Kein Gemauschel, kein Wenn und Aber, nichts Unrömisches dabei. Schien ja doch noch Hand und Fuß zu bekommen, die Sache...
DA aber Paulus einen hauffen Reiser zusamen
raffelt / vnd legt es auffs fewr / kam ein Otter
von der hitze / vnd fuhr Paulo an seine Hand. 4Da
aber die Leutlin sahen / das Thier an seiner Hand
hangen / sprachen sie vnternander / Dieser Mensch
mus ein Mörder sein / welchen die rache nicht
leben lesset / ob er gleich dem Meer entgangen ist.
5Er aber schlenckert das Thier ins fewr / vnd jm
widerfuhr nichts vbels. 6Sie aber warteten / wenn er
schwellen würde oder tod nider fallen. Da sie aber
lange warteten / vnd sahen / das jm nichts vnge-
hewres widerfur / verwandten sie sich / vnd spra-
chen / Er were ein Gott. //
Nun also doch noch Geschwafel. Es wäre ja auch zu einfach gewesen. Sollte er einen Gott in Gestalt eines dingfest gemachten Kriminellen nach verschwundenem Weizen fragen? Doch dieser Hauptmann, sein Name stand wohl irgendwo weiter oben, mußte selbstverständlich zu finden sein. Brief ans Heeresamt und abwarten. Der Mann hatte ja Bericht erstatten müssen. Selbst bei Mannschaftsverlust Null war doch Ausrüstung, Verpflegung etc. abhanden gekommen, mußte also Ersatzanforderung gestellt haben, ausführlich begründet, schriftlich, mit Kopien an jeden Schreibstubenfurzer. Erst mal Bestimmungsstandort der Einheit feststellen, alles weitere später, nächste Woche oder wann immer. Stabsfeldwebel außer Diensten D. Aelius Tullius ordnet hiermit Vertagung an, schließlich wurde auch Rom nicht an einem Tage ...
Angewidert hatte Tullius die in der Innenstadt gelegenen Kneipen hinter sich gelassen, keine Lust verspürt, neben einem von den Kotzbrocken zu stehen, die schon während der Amtsstunden kaum ein Wort an ihn richten mochten, einen wie ihn nur mit Mühe überhaupt wahrnahmen. Dabei waren deren Ärsche auch bloß aus zwei Hälften.
Er war den Decumanus hinunter getrottet, an der Gabelung nicht zur Porta Marina, sondern nach rechts zu den alten Kais, wo er sicher sein konnte, daß keiner das Gesicht verzog, wenn ihm mal ein Furz entfuhr. Die amtlichen Kornmesser sangen ihre Zahlen nicht mehr so gutgelaunt aus wie noch am Morgen, mußten wohl Überstunden abreißen. Tullius gönnte es diesen eingebildeten Affen; ehemalige Schauerleute, die dem Kaiser geschworen hatten, niemals jemanden zu bescheißen. Führten sich auf, als wären sie berühmte Schauspieler oder echte Aristos.
Die Kneipe war rammelvoll, als würde der Thekenküster heute kein Geld annehmen. Aber Tullius schaffte es bis ans Tresenende, wo er mit dem Rücken zur Wand stand, wie immer. Wie immer wurde ihm ein gefüllter Becher vor dem Bauch auf den Marmor geknallt. Wortlos. Ein Fuhrmann neben ihm malte mit seinem krummen Finger Muster auf die Theke. Zog einen wackeligen Kreis aus der Rotweinlache, setzte dann Halbkreise rund herum. Eine Blume? Er war schon gut abgefüllt und roch streng nach seinem Beruf, kein Ochsenkutscher, Maultierschinder. Stammte anscheinend aus dem Umbrischen, sprach mit dicker Zunge, schwerfällig wie eben einer vom Lande.
»Kumma, is 'ne Rose. Für'n Stiel unne Blätter brauch' ich jetz' aba grün'n Wein. Bestell ma'. Hellgrün, wegen dem Frühling!«
»Des! Wegen des Frühlings! Aber erstmal kriegen wir hier bald Herbst.«
Tullius stand eingekeilt, er konnte sich seinen Gesprächspartner nicht aussuchen. Hätte weiß Gott lieber still in einer Ecke gehockt und sich diesen Scheißtag noch einmal durch den Kopf gehen lassen.
»Gienau! In Spanien soll's 'n Herbstwein gehm, braun oder gelb irgenswie. Wars' du schon ma' in Spanien? Ich nich. Komm' ich auch so schnell nich hin. Müßte ich ja mit 'n Schiff fahren und nich mit mein' blöd'n Mulis...«
»Sind Schiffe denn schneller?«
»Selbstverständlich! Und sehr viel billiger!«
Das kam von schräg hinter ihm, mit deutlichem Levanteakzent. Geölte Löckchen, Falten um die Augen von der Sonne, dicker goldener Ring im Ohr - ein echter Salzbuckel und auf ein Schwätzchen aus.
»Ein Schiff muß nicht schlafen, muß nicht zum Futtern anhalten, muß auch keine Pinkelpausen machen.«
Der Mulitreiber kam ins Grübeln.
»Wieso'n nich? Wann piss'n die denn?«
»Ich sag dir, Schiffe segeln immer, Tag und Nacht, Seeschiffe jedenfalls. Müssen nicht futtern und nicht schlafen wie deine Zossen. Und auch zum Pissen nicht anhalten. Bilge ausösen geht sogar bei Brassfahrt.«
Der Seemann blickte jetzt an Tullius vorbei und auf den Blumenkünstler.
»Erzähl mal, was machst du für ein Etmal? Wenn du 'nen guten Tag hast.«
Halboffener Mund, keine Reaktion.
»Mann! Wieviel Meilen du schaffst! Pro Tag!«
Jetzt hatte der Kutscher verstanden.
»Na so acht oder zehn, voll geladen. Is normal. Höchstens ma' zwölf. Kommt auf die Straße an.«
»Und was nennst du vollgeladen?«
Den verächtlichen Ton schien er nicht zu hören oder es war ihm egal. Auch sein Blumenstück auf der Theke war ihm inzwischen egal, endlich redete einer mit ihm.
»Zehn, zwölf Zentner kann so'n Zweiachser vertragen. Normal.«
»Dann fährst du den Zentner sechzigmal so teuer wie ich. Sechzigmal! Kannst du das überhaupt ausrechnen? Schon die Leichter da auf'm Tiber, und die tragen dir bloß so an die vierhundert Zentner, schon die machen das sechsmal billiger als ihr. Wasser ist billiger als Land, sag ich immer.«
»Wieso'n immer sechs? Is dis deine Glückszahl? Meine is dreizehn. Oder zwölf, glaub ich. Is ja auch egal.«
Der Seemann gab es auf, erwischte aber den interessierten Blick von Tullius.
»Ich sags dir, Weizen über das ganze Meer segeln, also von Alexandria nach..., sagen wir mal, nach Tarragona, das kommt immer noch billiger als wenn du den bloß achtzig Meilen über Land kutschieren läßt. Havarierisiko lassen wir mal außen vor.«
Tullius nickte beeindruckt.
»Also, 'ne Wagenladung Weizen jedenfalls ist nach dreihundert Meilen über Land schon doppelt so teuer. Ich war mal Zahlmeister beim Kommiß, da mußte ich so was wissen. Was glaubst du, was Soldaten alles wegfressen?«
»Und jetzt? Was bist du jetzt?«
»Sesselfurzer. Beamter. Hier beim Seeamt. Jetzt scheiß ich bloß noch meinen Schreiber zusammen. Und manchmal Matrosen wie dich.«
»Ihr habt hier 'ne Menge zum Aufschreiben, was? Jede Amphore, jeden Sack rein in die Listen und raus aus den Listen, was? Wir können doch hier unseren Weizen so billig löschen wie wir wollen, wenn er in Rom ankommt, könnt ich ihn mir schon nicht mehr leisten. Die Tiberschiffer, dieses Saupack! Heute wieder, beim Leichtern...«
»Die werden nicht reich, weil die arbeiten müssen. Aber die Fettsäcke mit ihren Lagerhäusern. Ostia besteht doch fast nur aus Speichern. Die können in Ruhe warten, bis denen in Rom der Magen knurrt. Im Winter zahlen sie schon.«
»Stimmt. Prost!«
Der Seemann hob seinen Becher. Tullius dankte.
»Mast- und Schotbruch!«
Erstaunt gehobene Augenbrauen.
»Du bist befahren?«