„Das ewig Weibliche zieht uns hinan“, heißt es im zweiten Teil von Goethes „Faust“. Hierbei handelt es sich wohl um das bekannteste Wort vom größten Meister deutscher Dramatik und Dichtkunst. Doch muss es erlaubt sein, einmal nachzuhaken, wie der Mann zu dieser ebenso einfachen wie erhabenen Formel gekommen ist. Und was hat das mit Losern und Quietschmäusen zu tun? Das werden wir bald sehen.
In des Dichterfürsten Werken „Faust“ und „Die Leiden des jungen Werther“ finden zahlreiche Zwiegespräche statt, in denen das Verhältnis der Geschlechter zueinander eine wesentliche Rolle spielt. In „Faust I“ bemüht sich der Titelheld gleichen Namens, durch eifriges Studieren die letzten ungeklärten Dinge des Lebens und der Welt zu entschlüsseln. Getreu dem zugrundeliegenden Volksmärchen bleiben allerdings alle Bemühungen vergebens. Herr Faust sieht sich daher veranlasst, dem Teufel seine Seele zu veräußern, auf dass er im Gegenzug von der zweiten Hauptfigur dieses Dramas, Herrn Mephisto, die gewünschten letzten Erkenntnisse über den Lauf der Welt gewinne. Wir sehen hier also einen durchaus fleißigen und ernsthaften Mann, der unsägliche Mühen in seine Studien steckt und schließlich bereit ist, ein angenehmes Sein in der Ewigkeit schon zu Lebzeiten aufzugeben, um eben zu diesen Lebzeiten bereits zu höchstem Wissen zu gelangen.
Im Laufe dieses Bemühens und des Handels mit Mephisto tritt nun Margarete auf den Plan. Faust entdeckt sie auf der Straße. Es ist offenbar Frühling. Er ist derart von ihrer Erscheinung angetan, dass er sie sofort anzubaggern versucht. Sie jedoch, sittsam und rein, weist ihn, wie es sich gehört, zurück und begibt sich in ihr Zimmerchen, welches sie zur Miete und/oder gegen Leistung von Haushaltsarbeiten bewohnt. Denn Margarete hat – klassisch – offenbar keine Ausbildung und auch kein Geld. Goethe beschreibt ihre Behausung als ein kleines reinliches Zimmer, in welchem Gretchen am Abend ihre Zöpfe flicht und aufbindet. Dabei macht sie sich Gedanken, wer denn wohl am Tag dieser edle Herr gewesen sein könnte, der sie auf der Straße so „keck“ angesprochen hat.
Während also Gretchen noch verhältnismäßig kühl Aufschluss über Art und Stand dieser Straßenbekanntschaft zu erlangen versucht, schmachtet Herr Faust in herzlichster Ergriffenheit und süßer Liebespein im „Faust I“ auf immerhin 43 Zeilen von dieser Begegnung, während Gretchen für ihre Überlegungen nur 6 Zeilen benötigt. Gegen Ende der liebestollen Verwirbelungen in der Gefühlswelt des Herrn Faust heißt es bei Goethe:
„Der große Hans (so lautet der dem Versmaß geschuldete Kurzname von Herrn Heinrich Faust, Anm. d. Verf.) ach, wie so klein!
läg hingeschmolzen, ihr zu Füßen.“
Da haben wir es also, wie bei Goethe das Weibliche die Männer hinanzieht. Faust, der Hochgebildete, nach höchster Erkenntnis strebende und kein Opfer scheuende und auch finanziell nicht gerade dürftig ausgestattete suchende Wissenschaftler sehnt sich danach, sich Gretchen vor die Füße zu werfen. Hier geht es also eher hinab als hinan. Und dies scheint also das herrschende Schema zu sein: großer, finanziell unabhängiger Mann unterwirft sich der reizvollen Weiblichkeit, ohne sich zuvor für ihren Stand und ihre Vermögensverhältnisse zu interessieren, geschweige denn sich hierüber bei Auskunfteien oder sonstigen Dritten zu erkundigen.
Und Gretchen ist nun wirklich kreuzbrav, mit einem guten Herzen ausgestattet und ausgesprochen reinlich. Hierzu passt, dass sie keine komplizierten Fragen stellt, sondern schwierige Dinge lieber dem Herrgott überlässt. Gleichwohl ahnt sie, dass es doch noch kompliziertere Dinge gibt als nur den Glauben. Nach längerer Bekanntschaft mit Herrn Hans – alias Heinrich – Faust räsoniert sie immerhin:
„Du lieber Gott, was so ein Mann
nicht alles, alles denken kann!
Beschämt nur steh ich vor ihm da
und sag zu allen Sachen ja.
Bin doch ein armunwissend Kind,
begreife nicht, was er an mir find’t (ab)“.
Sodann begibt sie sich vermutlich in ihr „kleines reinliches Zimmer“, wie es bei Goethe beschrieben wird.
Und nachdem Gretchen sich endlich – nicht zuletzt wohl auch wegen seines hohen Standes – in Herrn Faust verliebt hat, stellt sie ihm immerhin, statt der sonst bisher üblichen dümmlichen Erkundigungen – „welches Sternzeichen bist Du, was hast Du, wie alt bist Du?“ –, die dringliche Frage:
„Nun sag: Wie hast Du’s mit der Religion?“
Und da sie seine komplizierten Ausführungen hierzu wiederum nicht versteht, bricht es nach längeren vergeblichen Versuchen, seine Gedankenwelt zu durchdringen, aus ihr heraus:
„Heinrich, MIR GRAUT VOR DIR!“
Damit ist der Höhepunkt der üblichen, ja klischeehaften Situation beschrieben: großer, wohlsituierter Mann verfällt einfachem hübschen Mädel und umgekehrt.
Was war es, was Herrn Faust bisher hinangezogen hat? Sicherlich nicht der Wunsch, Gretchen zu imponieren. Vielmehr war es sein unbändiger Wissensdrang, der ihn seit langem beherrscht hat.
Es gibt weitere Beispiele, in denen Goethe sein eigenes Wort, wonach sich ein Mann durch die Weiblichkeit nach oben gezogen fühlt, außer Kraft setzt. In „Die Leiden des jungen Werther“ etwa schmachtet der hochempfindsame junge Werther eine etwa gleichaltrige Frau namens Lotte an. Seine Leidenschaft zu Lotte, die niemals ausreichend erwidert werden kann, geht so weit, dass sich Werther schließlich das Leben nimmt. Wir müssen zugeben, dass diese Geschichte selbstverständlich nur deshalb lesenswert ist, weil sie in verdichteter und damit überspitzter Form zu einem völlig unangemessenen Ende führt. Wenn die Geschichte nicht mit einer derartigen Dramatik gefüttert wäre, würde sich auch niemand für sie erwärmen. Denn wen würde es (damals und heute) interessieren, wenn ein gewisser Fritz-Theodor eine Kathrin heiß und innig und mit aller Leidenschaft liebt und begehrt, Katrin aber kein besonderes Interesse an Fritz-Theodor zeigt. Das würde keiner lesen wollen. Dafür würde niemand ins Theater gehen, um auch noch gegen Eintrittsgeld eine derartige Schmonzette auf sich einwirken zu lassen.
Immerhin zeigt sich in diesem Rührstück wiederum, dass ein Mann bereit ist, sich für eine Frau zum Affen zu machen und sich sogar umzubringen. Und es kommt noch Schlimmer: Faust strebt wie jeder normale Mann den möglichst baldigen Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit Gretchen an. Dieser Zeitpunkt reift heran, und als Faust unmittelbar vor einem spätabendlichen Date mit Gretchen steht, wird er hierzu ebenso lüstern wie lauernd von Mephisto gefragt: „Nun heute nacht?“
Faust: „Was geht dichs an?“
Mephisto: „Hab ich doch meine Freude dran.“
Also erzeugt der ersehnte Beischlaf satanische Freude, kann mithin nicht gottgefällig sein und muss demnach als äußerst sündig qualifiziert werden. Diese Einschätzung eines elementaren menschlichen Bedürfnisses spiegelt offensichtlich die zu Zeiten Goethes (und teilweise noch heute) herrschende Meinung wieder.
Wer das alles sorgfältig liest und überdenkt, muss sich doch fragen: Das ewig Weibliche – zieht es uns nicht vielmehr hinab? Ist vielleicht nicht nur das Weib als Ziel sündig, sondern auch schon der Weg dahin als Vorbereitungshandlung eine sündige Untat?
Dies wird im Folgenden noch zu klären sein.
In jüngster Zeit scheint sich etwas zu ändern. Moderne Frauen beginnen, ihre natürliche, in sexueller Attraktivität begründete Überlegenheit und zunehmend ihre Intelligenz zu nutzen.
Die Männer sollten dies erkennen. Sie können dann viel Zeit und Energien sparen, die sie mit stümperhaftem und fruchtlosem Imponiergehabe gegenüber Frauen vergeuden.
Um zu begreifen, was hiermit gemeint ist, bietet es sich an, einige Episoden aus dem Leben eines Mannes anzuschauen, der kurz vor der Mitte des letzten Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt hat. Alle diese Erlebnisse werden von den immer wieder wirren Verhältnissen zwischen Buben und Mädchen, von den vielfältigen Missverständnissen zwischen Männern und Frauen erzählen, so dass am Ende immer wieder die Formel „Männer – Frauen: viel Verdruss“ steht. Eine willkürlich herausgegriffene Szene wird sogleich deutlich machen, was gemeint ist:
Lars, so soll die Person heißen, war etwa Mitte 20, als er zu Gast bei seinem damals besten Freund in Mailand war. Der Freund namens Ludwig hatte schon in seinem 20. Lebensjahr kurz nach dem Abitur seine Freundin Elvira geheiratet, weil sie von ihm schwanger war und ihre Eltern sie quasi gezwungen hatten zu heiraten. Als Lars nun nach dem gemeinsamen Abendessen mit beträchtlichem Alkoholgenuss wissen wollte, was man nun unternehmen könne, schlug Ludwig ihm vor, dass man seine Elvira gemeinsam poppen könnte. Elvira war ebenfalls betrunken und hatte deshalb nichts dagegen. Lars war allerdings unschlüssig. Er hatte zwar schon von „einem flotten Dreier“ gehört, aber selbst noch keinen mitgemacht. Ludwig warf Elvira aufs Bett und machte es Lars vor. Nun sollte Lars loslegen. Ihm war jedoch elend zumute, er traute sich nicht recht, er fand das auch unmoralisch und hockte sich eher widerwillig auf die auf dem Bauch liegende Elvira. Während sie ihn lockte und in ihrem Hamburger Dialekt lallte: „Nu mach schoun Altäh“, versuchte Ludwig, seinen Freund in die richtige Position zu schieben. „Ech määk nichs“, greinte Elvira. In der Tat konnte sie nichts merken, weil Lars' kleiner Mann nicht so recht mitmachen wollte. Elvira wurde nun unwirsch. Sie robbte in Richtung ihres Nachtschranks und riss einige dort aufbewahrte Pornoheftchen heraus, warf diese hinter sich in Richtung Lars. „Da, lies das äsma un dann mädest duddich wiedä!“, höhnte sie in ihrer norddeutschen Mundart. Das war Lars' erster Dreier.
Wo steht der Mann heute, wie geht der Mann heute mit sich und dem weiblichen Geschlecht um? Das hängt sicher auch davon ab, wie seine Eltern und Freunde damit umgegangen sind. Die häufig so sinnlosen und verzweifelten Versuche vieler Männer, mit ihren halbwahren oder unwahren Frauengeschichten zu prahlen, sind nur ein trauriges Ergebnis des dauernden Unverständnisses. Deshalb muss man Lars in seiner Entwicklung von Kindesbeinen an beschreiben, damit einige seiner Erkenntnisse und aber auch Irrungen und vor allem Bosheiten verständlich werden.
Von seiner Mutter weiß Lars, dass er in einer kleinen Stadt in Pommern geboren wurde, wo sie eine Zahnarztpraxis errichtet hatte. In den letzten Kriegstagen ist sie mit ihm, den sie auf ihren Rücken gebunden hatte, und mit seinem Bruder, der in einem von ihr gezogenem Bollerwagen saß, vor den Russen mit vielen anderen Flüchtlingen in Richtung Westen getreckt. So nannte man das massenhafte Flüchten mit einem Minimum von Hab und Gut. Während dieser Trecks machten sich insbesondere die Briten einen Spaß daraus, im Tiefflug entlang den mit Flüchtlingen, insbesondere mit Müttern und ihren Kindern, alten Männern, Pferdegespannen und Handwagen vollgestopften Landstraßen zu rasen und mit Dauerfeuer aus Maschinengewehren die Flüchtlingsströme zu beschießen. Daher rannten die Flüchtlinge beim Herannahen eines Flugzeugs jeweils seitlich in die Felder, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen.
Es hatte viele Tote und zerschossenes Hab und Gut gegeben, als Lars' Mutter mit seinem Bruder in Lübeck ankam. Dort fanden sie Unterschlupf bei einem entfernten Verwandten, der ihnen in seiner kleinen Villa widerwillig seine im Keller befindliche Garage zum Aufenthalt zuwies. Sein Auto, ein „Adler“ der dreißiger Jahre, gab es nicht mehr. Es war beschlagnahmt worden, wie so vieles, das werthaltig war und noch für kriegstüchtig gehalten wurde. Wertsachen, wie Schmuck, Tafelsilber, Uhren etc., hatte Lars' Mutter aus gutem Grund auf den Treck nicht mitgenommen. Sie musste befürchten, von den Russen überholt, vergewaltigt und bestohlen zu werden oder auch von anderen Flüchtlingen, versprengten deutschen Militäreinheiten etc. beraubt oder beklaut zu werden. Sie hatte diese Dinge im Garten des verlassenen Hauses in der Ostzone vergraben, in der Hoffnung, später zurückkehren zu können, um diese Sachen wieder auszugraben und fort zu schaffen. Während Lars' Vater noch in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft war, gelang es seiner Mutter, die damals noch ungesicherte Zonengrenze mehrmals zu überqueren und bei Nacht und Nebel einige Wertsachen wieder auszugraben und nach Lübeck zu bringen.
Lars hat nie erfahren, ob sie vergewaltigt wurde, ob er von seiner Mutter gestillt wurde oder ob sie ihn und seinen älteren Bruder durch anderweitig ergatterte Nahrung am Leben erhalten hatte. Dieses Thema wurde nie besprochen, da es ja mit der weiblichen Brust zu tun hatte. Darüber zu sprechen war offenbar ungehörig und deshalb tabu. Lars weiß nur aus späteren Erzählungen, dass alle unter ständigem unsäglichen Hunger litten und bei Nachbarn und den britischen Besatzungssoldaten um Essen bettelten. Seine Mutter hatte in den ersten Jahren nach dem Krieg keine Möglichkeit, in ihrem Beruf Geld zu verdienen. Sie ging hamstern, wie man das damals nannte. Das hieß, dass sie versuchte, mit kleinen Wertgegenständen bei Bauern im Umland etwas zu tauschen, wie ein paar Eier oder ein Stück Speck oder etwas Brot. Es gab das zu essen, was sie gerade ergattern konnte. Wie er später erfuhr, hatte Lars' inzwischen aus der Gefangenschaft zurückgekehrter Vater auf dem Schwarzmarkt noch mit damals gültiger alter Reichsmark und wohl auch einigen früher gehorteten Devisen zusammen mit einem Verwandten amerikanische Zigaretten auf dem Schwarzmarkt eingekauft und diese ebenso schwarz gegen Nahrungsmittel verhökert. So konnten sie mühsam, wenn auch mit Mangelerscheinungen wie einer Trichterbrust, überleben.
Das Bewusstsein von Klein-Lars beginnt in der Zeit, als das damals sogenannte Quartieramt die Familie einige Straßen von der Garage entfernt in ein Mansardenzimmer in einer in einem Garten nahe am Stadtpark gelegenen einfachen Villa einwies. Dort durften sie die Küche und die Toilette, nicht aber den Garten der dort einheimischen Bewohner mitbenutzen. Obwohl beide Eltern promovierte Akademiker waren (der Vater wurde später Staatsanwalt), wurden sie ständig als Menschen zweiter Klasse behandelt. Freiwillig wurde ihnen nichts gegeben. Sie durften nichts aufsammeln, etwa Fallobst im Garten. Wenn irgendetwas fehlte oder gar gestohlen war, waren es immer die Flüchtlinge gewesen. Es gab kaum Butter, es gab kein Obst. Das Butterpapier wurde sorgfältigst mit dem Messer abgeschabt. Es wurde ebenso sorgfältig mit der Innenseite in der Pfanne verrieben, damit dort wenigstens beim Braten von eingesammeltem Gemüse oder gehamsterten Kartoffeln ein Fettfilm entstand. Die jedem Bürger zugesandten Lebensmittelmarken wurden sehr sorgsam verwaltet. Zuweilen wurden sie aber auch gestohlen, was wiederum eine Katastrophe im Ernährungsplan auslöste. Diese Lebensmittelkarten wurden Lars' Eltern teilweise von besser situierten Verwandten mit der Post zugeschickt, kamen aber zum großen Teil nie an. Die Mutter hatte den Postboten in dringendem Verdacht, solche Sendungen zu unterschlagen. Sie hatte ihn einmal beobachtet, wie er mit einer starken Taschenlampe einen Brief durchleuchtete. Seitdem nannte sie ihn den Butterfresser.
Schließlich wurde Lars' Familie die erste Etage in der Villa zugewiesen. Sie bestand aus drei Zimmern, einer provisorischen Küche und einem provisorischen Bad. In das zuvor von der ganzen Familie bewohnte Mansardenzimmer wurde als Untermieter zunächst ein Zollbeamter namens Herr Miese eingewiesen. Nach Lars' Erinnerung war er ein sehr bleicher Mensch mittleren Alters, der den Krieg offenbar unversehrt überstanden hatte. Er war äußerst ruhig, geradezu spießig und – wie man heute sagen würde – nicht im Entferntesten irgendwie sexy. Irgendwann zog dieser farblose Mensch aus. An seiner Stelle wurde ein Herr Hering eingewiesen. Herr Hering hatte ein gelbliches, sehr flaches ovales Gesicht mit einer Narbe, die von einer Mensur herrührte, wie Lars später erfuhr. Ansonsten war er unversehrt. Er trug eine flache und etwas zu große Brille aus dem damals sehr einfachen Sortiment der Krankenkassen. Herr Hering war genauso farblos und ruhig wie Herr Miese. Man bemerkte ihn kaum, obwohl im ersten Obergeschoss das Knarren der Dielen aus dem darüber gelegenen Mansardenzimmer hin und wieder zu hören war. Herr Hering war Staatsanwalt, also ein Kollege des inzwischen ebenfalls zum Staatsanwalt berufenen Vaters. Auch Herr Hering zog eines Tages aus. An seine Stelle rückte ein Herr Scholz nach.
Auch Herr Scholz war wie die bisherigen Vormieter körperlich völlig unversehrt und in einem ähnlichen mittelalterlichen Zustand, schätzungsweise 40 bis 45 Jahre alt mit gelblichen dünnen Haaren. Herr Scholz war ein etwas untersetzter Mann mit einem leicht rötlich gefärbten Gesicht. Allerdings war Herr Scholz ein fröhlicher und gesprächiger Mensch, den Lars und sein Bruder in seiner Mansarde gerne besuchten, weil er mit ihnen herumtobte und Geschichten erzählte. Er war wohl keine Schönheit, aber viel sympathischer als die beschriebenen Zimmerherren vor ihm. Er wurde des Öfteren von einer hübschen jungen Frau besucht, die er als seine Verlobte bezeichnete. Seine Verlobte wurde als Fräulein Schöning vorgestellt. Herr Scholz nannte sie Karin. Wenn Fräulein Schöning zu Besuch kam, verließen Klein-Lars und sein Bruder Herrn Scholz und das Mansardenzimmer und gingen die Treppe hinunter in die Wohnung der Eltern im ersten Obergeschoss.
Die Besuche von Fräulein Schöning fanden meist am Wochenende statt, also zu einer Zeit, in welcher auch Lars' Eltern zuhause waren. An dem hörbaren Knarren der Dielen des Mansardenzimmers konnte man erkennen, dass oben wiederum getobt wurde, diesmal allerdings zwischen Herrn Scholz und Fräulein Schöning. Die Eltern schauten in solchen Fällen etwas verlegen an die Decke, sodass Lars und sein Bruder immerhin spürten, dass oben irgendetwas geschah, was den Eltern nicht so angenehm war. Denn sie stellten in diesen Fällen das neuerworbene Radio lauter oder gaben den Kindern einige Aufgaben, die in der Küche zu erledigen waren, wo das Toben nicht zu hören war. Nach diesem Toben kamen Herr Scholz und Fräulein Schöning meistens etwas erhitzt die Treppe herunter. Sie grüßten freundlich und gingen dann im gegenüber liegenden Stadtpark spazieren. Herr Scholz kehrte nach einiger Zeit allein zurück, begab sich in sein Mansardenzimmer, wo die Kinder ihn wieder besuchen konnten, um mit ihm zu toben. Sie hielten sich dort lieber auf als in der darunter liegenden Familienwohnung. Denn die Eltern gingen sowohl miteinander als auch mit ihren Kindern nicht sehr liebevoll um. Sie stritten sich häufig, wobei der Vater den weitaus bösartigeren Teil beitrug. Hierbei wurde er seinerseits von seinem Vater Diethelm, Lars' Großvater, auch noch energisch unterstützt, wenn der gerade zu Besuch gekommen war.
„Ihr Adligen bildet euch immer noch ein, etwas Besseres zu sein als die von euch sogenannten ‚Bürgerlichen‘. Ihr habt die Kriegstreiber und letztlich Verlierer, Kaiser Wilhelm, Adolf etc., immer fleißig unterstützt. Damit habt ihr an der Katastrophe in diesem Land maßgeblich mitgewirkt. Wir aber, die sogenannten Bürgerlichen, wir haben das Land zur Blüte gebracht, anstatt es auszusaugen. Wir haben tatkräftig an der Schaffung von Volksvermögen, Macht und Einfluss dieses Landes mitgearbeitet.“
So ging es immer, wenn Großvater Franz Diethelm zu Besuch kam. Sein Lieblingsthema war es, auf Lars' adliger Mutter herumzuhacken.
Die Mutter stammte aus einer Familie des Pommerschen Uradels. Viele ihrer Verwandten, Onkel, Großonkel und Vettern, hatten schon zu Kaisers Zeiten und früher eine Militärkarriere eingeschlagen, da jeweils nur der älteste Sohn das landwirtschaftliche Gut erben konnte. So war auch der Großvater mütterlicherseits als dritter Sohn von der Erbfolge des Landgutes ausgeschlossen. Er hatte ebenfalls traditionsgemäß eine Militärkarriere eingeschlagen. Das Kasernengebrüll war ihm dann jedoch zu dumm geworden. Im Übrigen hatte er sich wohl als rabiater junger Mann einige Körperverletzungen und Beamtenbeleidigungen zuschulden kommen lassen. Er war auch in späterem Alter recht jähzornig und schlug schnell zu, wenn ihm etwas in die Quere kam. Ein solcher Grund hat wohl auch dazu geführt, dass er 1910 mit seiner Verlobten Dorothea – kurz: Dora – in die damalige Kolonie Deutsch Südwest-Afrika auswanderte und dort Farmland zur Züchtung von Karakulschafen und Rindern erwarb. Sein Entschluss wurde vermutlich auch durch entsprechende Amnestiegesetze für auswanderungswillige Straftäter gefördert. Er kam schnell zu erheblichem Wohlstand. Alsbald wurden dort auch Lars' Mutter und deren Bruder geboren.
Der Großvater hatte sich wohl nicht damit abfinden können, dass nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Briten die deutsche Kolonie übernahmen und sie unter das Protektorat von Südafrika stellten. Denn eines Tages erschienen zwei britische Soldaten auf der Farm des Großvaters und begannen ihm auf Englisch zu erklären, dass dies nunmehr britisches Hoheitsgebiet sei, dass er aber durchaus bleiben könne, wenn er sich den britischen Regeln unterwerfe. Die Soldaten konnten kaum ausreden, als der Großvater sie in deutscher Sprache anherrschte, dass hier Deutsch gesprochen werde. Denn Deutsch sei eine Weltsprache. Als die Soldaten ihm weiter in englischer Sprache die neue Zeit zu erklären versuchten, befahl der Großvater seinem schwarzen Vorarbeiter, dem Engländer einige Schläge zu verpassen. Der Vorarbeiter wusste, wer sein Boss war. Er kam diesem Befehl sofort nach.
Einige Zeit später erschienen zwei bewaffnete britische Offiziere, die dem Großvater einen Ausweisungsbefehl mit ungefähr folgendem Inhalt vorlegten: Er habe binnen kurzer Frist nur mit tragbarer Habe und höchstens hundert Schilling mit dem nächsten Frachtschiff, bei lebenslangem Verbot der Rückkehr, das Land mit seinen beiden Kindern zu verlassen. Seine Frau Dora war einige Jahre zuvor an akuter Blinddarmentzündung und Blinddarmdurchbruch gestorben, nachdem sie wegen schlechter Transportmöglichkeiten zu spät in die Landeshauptstadt Windhuk zur Operation gebracht werden konnte. So musste der Großvater mit Lars' Mutter unter Zurücklassung seines gesamten Vermögens das Land endgültig verlassen. Auf der Überfahrt auf einem britischen Handelsschiff nach Europa musste er die englische Schiffsmannschaft bedienen. Sobald er dies nicht zur vollen Zufriedenheit der englischen Herren erledigte, wurde er zur Strafe unter Deck – auch mit anderen zwangsweise repatriierten deutschen Kolonisten – in einen Holzverschlag gesteckt, vor dem ein Schwarzer zum Hohn mit einer hölzernen Gewehrattrappe die Gefangenen bewachte. Das hatten sich die Briten zur besonderen Demütigung unbotmäßiger Gegner ausgedacht, zumal die schwarzen Einwohner der Kolonien seinerzeit in ihrem Sklavenstatus rechtlich eher als bewegliche Sachen des jeweiligen Kolonialherren behandelt worden waren. Es war also kein Wunder, dass der Großvater nicht gut auf die „Tommys“ zu sprechen war und später, als inzwischen etwas gealterter Offizier, mit Begeisterung in den Zweiten Weltkrieg zog.
Zunächst kehrte er mit seinen beiden kleinen Kindern in sein Ursprungsland Pommern zurück. Dort wurden sie von ihren Verwandten als mittellose Flüchtlinge nicht gerade begeistert aufgenommen. Immerhin kam der Großvater mit einigen fantasievollen Geschäften wieder zu Geld. Er verschaffte Lars' Mutter als erster Tochter in der gesamten Familiengeschichte die Möglichkeit, Medizin zu studieren und nach erfolgreichem Abschluss eine Zahnarztpraxis zu eröffnen. Er war trotz wilhelminischer gutsherrlicher Prägung insoweit seiner Zeit ein Stück voraus. Denn zu jener Zeit hielt man es im Landadel für unnötig, Töchtern eine höhere Ausbildung zu gewähren. Vielmehr hatte beispielsweise ein Gutsfräulein von Schneckenschiss gefälligst zu warten, bis sich ein Freiherr von Rumpelstolz näherte, um sich beim gutsherrlichen Vater schnarrend um dieses Töchterchen zu bewerben. So war Lars' Mutter zwar vom alten Schrot und Korn der nachwirkenden Kaiserzeit geprägt, aber durch Erleben der Kolonialzeit und durch ihr Studium in verschiedenen Studienorten aufgeklärter und weltoffener als beispielsweise ihre Kusinen Karla, Frieda, Erna, Olga und dergleichen. Und wenn die nicht gestorben sind, dann warten sie noch heute auf einen Bräutigam.
Lars' Großvater väterlicherseits hingegen entstammte einer ostfriesischen Bauernfamilie. Auch er war nicht der erstgeborene Sohn, so dass er den Hof ebenfalls nicht erben konnte. Er entschloss sich, mit sehr viel Arbeit und Ehrgeiz in Hannover eine Versicherungsagentur mit wachsendem Kundenstamm aufzubauen. Diesen Kundenstamm brachte er eines Tages in eine sehr große deutsche Versicherung in Leipzig ein und wurde als Gegenleistung in den Vorstand mit einem guten Gehalt und einer eleganten Dienstvilla befördert. Er bekam die Funktion der Personalverwaltung. Wie er später immer wieder nicht ohne Stolz erzählte, hat er vor der Einstellung eines neuen Mitarbeiters immer darauf bestanden, dass der ihm erst einmal seine Ehefrau vorstelle. So könne man sich ein besseres Bild vom Bewerber machen, erklärte er. Mit seiner Frau Erna hatte er einen Sohn, Lars' Vater. Dieser wuchs als verwöhntes Einzelkind in einer gut situierten großbürgerlichen Familie auf. Er absolvierte ein Jurastudium und traf im Jahre 1939 auf Lars' Mutter. Sie heirateten im Jahre 1941. Beide hatten zwar in etwa dieselben Wertvorstellungen wie Ehrlichkeit, Gehorsam, Sittlichkeit usw., waren aber von der Herkunft sehr verschieden.
Während die Mutter sehr offen, fröhlich und positiv sowie auch unternehmerisch gestimmt war, war der Vater eher skeptisch bis pessimistisch. Er wurde zunehmend ein egoistischer Miesmacher. Beide hatten aber gegenüber ihren Kindern nicht in Frage zu stellende Grundeinstellungen. Kinder hatten den Mund zu halten, wenn Erwachsene redeten, sie mussten aufessen, was die Eltern auf ihren Teller wuchteten, und es schmeckte gefälligst – sonst: Aua! Kinder mussten ordentlich angezogen und stramm gescheitelt sein, sie durften nicht schmutzen, das Kinderzimmer musste immer aufgeräumt sein – sonst … Auf Fragen der Kinder hieß es meist: „Davon verstehst Du nichts.“ Oder entgegenkommend und ausnahmsweise wohlgelaunt, scheinbar geradezu verständnisvoll: „Dazu bist Du noch zu klein.“
Untereinander gingen sie ebenso wenig würdevoll und schon gar nicht verständnisvoll miteinander um: Dem Vater machte es offenbar immer wieder Freude, der Mutter ihre gewisse Korpulenz vorzuwerfen und sie „Mops“ zu nennen. Schlimmer noch war, dass er ihr als Frau wohl in allen Lebensbereichen die erforderliche Kompetenz bestritt und ihr immer wieder deutlich machte, dass sie keine Ahnung insbesondere von wirtschaftlichen und finanziellen Dingen hätte. Dabei hatte sie es geschafft, sich ohne nennenswertes Eigenkapital eine eigene Praxis aufzubauen. Der Vater hatte es hingegen vorgezogen, anstatt den freien Beruf eines Rechtsanwalts oder Notars auszuüben, sich als Staatsanwalt auf einen sicheren Beamtenstatus zu begeben.
Die Ehe ging jedenfalls sehr schlecht. Sie lebten gemeinsam einsam und sie zogen es vor, sich möglichst aus dem Wege zu gehen. Ob sie die Ehe in geschlechtlicher Hinsicht hin und wieder vollzogen, war und blieb unklar. Irgendwelche Anhaltspunkte hierfür gab es nicht. Stattdessen war eine gegenseitige Verachtung und Kälte zu spüren, die auf das gesamte Familienleben durchschlug. Immerhin setzte sich die Mutter nach einigen Jahren mit ihrer immer besser funktionierenden Zahnarztpraxis gegen die ständige Miesmacherei („Milchmädchenrechnung“, meckerte er) des Vaters durch, dass ein Einfamilienhaus gebaut wurde.