Cover: Foto eines Mauergemäldes in Willemstad, R. Ost, 2014
Copyright: @ 2015 Reinhard Ost
Published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.com
ISBN 978-3-7375-3095-8
„Sind wir Touristen oder was sind wir?“, fragte Bruno im Flugzeug. Bruno Heumann war erst sieben Jahre alt, und gemeinsam mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre älteren Schwester Luise flog er nach Amsterdam. Natürlich hatte er einen Fensterplatz bekommen, denn kleine Kinder sitzen in Flugzeugen meistens am Fenster. Ihre kleine Rauhaardackel-Hündin Balu hatten sie in einer ausgepolsterten Ledertasche verstaut, die meistens jemand auf dem Schoß hatte. Niedlich sah sie aus, wenn sie mit ihrem Köpfchen aus der Tasche lugte. Von Amsterdam aus sollte es weitergehen, auf die kleine Karibikinsel vor Venezuela, ihrer neuen Heimat Curacao. Jedenfalls war die Insel als Heimat für die nächsten zwei Jahre geplant. „Im Augenblick sind wir Touristen, aber dann werden wir Einheimische werden, weil wir auf der Insel leben werden“, antwortete Nikolaus Heumann, der am Gang neben seiner Frau Annika saß, also über sie hinweg sprechen musste. „Gibt es dort Schlangen?“, fragte Bruno weiter. Ihr Flugzeug hatte gerade die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von 900 Stundenkilometern in etwa zehn Kilometern Höhe erreicht. „Schlangen gibt es dort auch, aber keine giftigen Tiere oder solche, vor denen man sich fürchten müsste“, mischte sich Annika ein. Als Grundschullehrerin unterrichtete sie in Berlin die ganz kleinen Menschen, so dass jeder Satz, den sie auf ihre Kinder losließ, immer etwas Pädagogisch-Didaktisches hatte. Annikas sprachpädagogische Art im Umgang mit ihren Kindern hatte aber auch einen Nebeneffekt. Die Kinder fragten kaum einmal nach und erwarteten auch keine tiefergehenden Erläuterungen oder Erklärungen, weil Annika keinen Widerspruch erwartete. So formulierte sie ihre Sätze. Nunmehr aber hatte sie zwei Jahre Freiheit eingeplant und sich an ihrer Berliner Schule beurlauben lassen. Sie dachte in den letzten Wochen unentwegt an die warmen Winde und das samtige karibische Wasser auf den Niederländischen Antillen. Sie wusste selbstverständlich, weil sie sich vor ihrer Emigration gut vorbereitet hatte, dass schon 1954 den
Niederländischen Antillen die vollständige Autonomie in Bezug auf
die inneren Angelegenheiten gewährt wurde und nur für die Außen- und Verteidigungspolitik weiterhin das Königreich der Niederlande zuständig war. Inzwischen sind die Antilleninseln politisch unabhängig. Die Insel Curacao wurde im Jahr 2010 ein autonomes Land, allerdings ein Land in einem europäischen Königreich. Heute haben wir das Reich des niederländischen Königs Willem-Alexander, davor das seiner Mutter Königin Beatrix. Annika wusste, dass im April 2009 in Apeldoorn ein Attentat auf Beatrix und die königliche Familie verübt wurde. Beim Attentat wurden seinerzeit sieben Personen getötet und weitere neun verletzt. Die königliche Familie blieb zum Glück unverletzt. Zu den Motiven der Attentäter gehörte zweifellos auch der Umstand, wie man damals annahm, die Königsfamilie gehöre angeblich zu den Großaktionären des Shell-Konzerns. In den Medien wurde Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Beatrix der Niederlande, wie die Königin nach ihrer Abdankung im Jahr 2013 hieß, zu den reichsten Frauen der Welt gezählt. Ihr nicht näher beziffertes Gesamtvermögen schätzte man auf Beträge zwischen 250 Millionen bis 2,5 Milliarden Euro. Damals war der Geldverkehr, der durch die Banken lief, noch keine transparente oder gar öffentliche Angelegenheit, so dass man auf diese stark auseinanderlaufenden Schätzungen kam. Annika wusste interessierte sich für das Königshaus, weil sie in Recklinghausen geboren wurde und die berühmteste Person in Recklinghausen der Entertainer Hape Kerkeling war, der im Berliner Schloss Bellevue, verkleidet als Königin Beatrix, „lecker Mittagessen“ wollte. Dieser satirische Zusammenhang war der Ausgangspunkt für ihr Interesse, obwohl Adelshäuser sie eigentlich überhaupt nicht interessierten. In ihrem neuen Zuhause, in der Karibik, so war es geplant, wollten sich die Heumanns, direkt vor Ort, über die Geschichte des Kolonialismus informieren, um alles zu erfahren, was mit den schrecklichen Dingen im Zusammenhang der ehemaligen Kolonialmacht Niederlande zu tun hatte. Das schreckliche Attentat in Apeldoorn war für Annika im Prinzip eine Folgeerscheinung von Fehlentwicklungen in der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart des Jahres 2026 hineinreichten.
Luise Heumann saß eine Reihe vor den anderen ihrer Familie im Flugzeug, natürlich auch am Fenster. Sie kniete sich auf ihren Sitzplatz, weil sie die Fragen ihres kleinen Bruders Bruno gehört hatte und sich beteiligen wollte. Ihre Sitznachbarin war zum Glück eine nette ältere Dame, die ganz froh darüber war, neben einer so quirligen jungen Schülerin zu sitzen. Sie hatte nichts dagegen, dass Luise kniete, vor allem, weil sie sah, dass sie ordentlich ihre Schuhe ausgezogen hatte. „Wenn wir da sind, was werden wir dann als erstes tun, Niko?“, fragte sie. Sie hatte sich inzwischen angewöhnt, nicht mehr Papi oder Papa zu sagen, sondern nannte ihren Vater einfach beim Vornamen. Ihre Mutter Annika nannte sie aber immer noch Mama. „Wir werden uns am Hato-Flughafen in Curacao ein Auto mieten und dann zu unserem Haus nach Ascencion fahren“, antwortete Nikolaus. „Haben wir das Haus eigentlich gekauft oder nur gemietet? Denn wenn wir es gekauft haben, dann müssen wir es ja auch wieder verkaufen, wenn wir wieder nach Hause fahren.“ „Mach dir keine Sorgen“, antwortete Niko, „wir haben das kleine Haus für zwei Jahre gemietet, aber eine Kaufoption haben wir auch.“ „Was ist eine Kaufoption“, fragte Luise nach. Annika fühlte sich angesprochen: „Das ist ein Recht, das wir haben. Wenn wir länger bleiben wollen, dann könnten wir das Haus auch kaufen.“ „Und wie teuer ist es?“, so Luise. „Wir könnten uns das Haus auf alle Fälle leisten, denn dein Vater geht ja in Curacao arbeiten und verdient das Geld für uns.“ „Was arbeitet er denn?“ fragte Luise dann relativ laut. Sie sprach von ihrem Vater in dritter Person. Annika schaute ihren Mann an, was nicht weniger bedeutete, als dass er darauf antworten sollte. Nikolaus schien es unangenehm zu sein, im Flugzeug, vor allen Leuten, seinen Job zu erläutern und sagte nur: „Ich erkläre dir das später, ich werde an der Uni arbeiten. Vielleicht nehme ich dich gleich am Anfang mal mit ins Büro, damit du siehst, was ich dort mache.“ Luise fand die Antwort völlig ausreichend. Mehr wollte sie gar nicht wissen. Die Hauptsache war, dass die Antwort etwas mit ihr zu tun hatte und sie persönlich in die Geschehnisse eingebunden war.
Der Flug von Berlin nach Amsterdam war kurz, auch weil sich alle Heumanns auf den großen Anschlussflug über den Atlantik in die Karibik freuten. Den Zwischenaufenthalt von zwei Stunden auf dem großen Amsterdamer Flughafen gestalteten sich die Heumanns sehr bequem. Ihr umfangreiches Gepäck hatten sie schon in Berlin aufgegeben. So schlenderten sie durch die Hallen des Flughafengebäudes, schauten sich die Souvenirläden an und gingen in zwei Restaurants, wo sie jeweils eine Kleinigkeit zu sich nahmen. „Die Leute auf Curacao haben eine knallschwarze Haut. Was essen die dort eigentlich?“, fragte Bruno, kurz bevor sie eincheckten. Annika antwortete: „Die Leute essen das Gleiche wie wir. Dort gibt es tolle Supermärkte wie bei uns in Berlin. Aber das Obst ist viel süßer und schmeckt viel leckerer.“ Im großen Flieger, einem Airbus, saßen nun alle vier Heumanns nebeneinander in einer der mittleren Sitzreihen, fast ganz hinten. Nikolaus hatte die Sitze ganz hinten im Flugzeug gebucht, weil es nicht so weit zu den Toiletten war und weil ihre Hündin Balu eventuell ein wenig Auslauf bekommen würde. Das Flugzeug war voll. Luise dachte deshalb, dass ja doch sehr viele Menschen nach Curacao auswandern würden. Vor allem waren es viele Holländer. Das hörte man. Für die Holländer war die Insel eine sehr normale Insel, eben nur ein beliebtes Reiseziel für Kurzreisende. Es war die eigene Sprache, die sie dort sprechen und verstehen konnten. Im Grunde war Curacao eine Angelegenheit aus der Geschichte. Viele Holländer verspürten dort anscheinend ein gewisses Heimatgefühl.
„Wie können wir dort eigentlich sprechen und klarkommen? Was haben die für eine Sprache?“, fragte Luise dann eine halbe Stunde nach dem Start. Annika antwortete, weil sie am Gang neben ihr saß. „Die Leute dort sprechen im Wesentlichen drei Sprachen: Niederländisch, die einheimische Sprache Papiamento und natürlich auch Englisch. Das Holländische versteht ihr ja sowieso ganz gut, und Papiamento ist ganz niedlich. Das hört sich manchmal wie Holländisch, Deutsch, Spanisch, Portugiesisch und Englisch zusammen an. Man kann die Sprache sehr schnell erlernen. Wenn ihr dort in die Schule geht, dann gehe ich davon aus, dass ihr in zwei bis drei Monaten sehr gut Holländisch und auch Papiamento sprechen könnt. Ich kann euch beim Holländischen behilflich sein, denn ihr wisst ja, dass euer Opa in Den Haag geboren wurde. Und Englisch könnt ihr sowieso schon ganz gut.“ „Mama, sag mal ein paar Worte auf Papiamento? Kannst du das?“, fragte Bruno dann. „Danke heißt Danki, Saft heißt Djus. Brot heißt Pan - genauso wie im Englischen. Wie geht’s dir? heißt Kon ta bai?“ Bruno griente verschmitzt.
Auf der Seite, wo Nikolaus neben Luise saß, schob die Stewardess inzwischen einen Essenswagen durch den schmalen Gang. Balu in der Tasche wurde auf dem Mittelplatz der Reihe, zwischen ihnen, abgestellt. Diesen Platz hatten sie extra für sie gebucht. Als die zweite Stewardess in dem anderen Gang bei den Heumanns ankam, bestellte Annika ihr Essen auf Holländisch, denn alle flogen mit KLM. Bruno bestellte das Gleiche ebenfalls auf Holländisch noch einmal, obwohl er die Sprache wenig beherrschte. Nur durch pure Nachahmung konnte er sich also verständlich machen. Das fand er toll. Luise bestellte etwas später ihr Menü auf Englisch: One Coca-Cola and Chicken with Rice. Um den Mut zum Sprechen und um den Spracherwerb brauchen wir uns also keine Sorgen zu machen, frohlockte Nikolaus.
Je länger der Flug dauerte, desto ruhiger wurden die Kinder. Bruno lag quer über den Sitzen und schlief. Luise schaute einen Märchenfilm nach dem anderen, insgesamt vier. Balu verhielt sich sehr gesittet. Sie wollte gar nicht aus ihrer Tasche aussteigen.
Der Flug ging langsam zu Ende. Noch eine Stunde und drei Minuten las Bruno auf dem kleinen Bildschirm vor seiner Nase. Er hatte zwar noch kein echtes Zeitgefühl, wie lang eine Stunde überhaupt sei, aber trotzdem spürte er irgendwie das nahende Ende des Fluges, das ja auch der Anfang in der Neuen Heimat war. Annika versuchte die Länge einer Stunde an einigen Fernsehsendungen, insbesondere an Kindersendungen, zu erläutern. Aber irgendwie funktionierte das nicht richtig. Bruno hatte ein solches Zeitverständnis noch nicht.
Sie waren immer dem Sonnenaufgang hinterher geflogen, so dass es schließlich ein Vormittag war, an dem sie ankamen. Sie sahen durch die Bullaugen schon die Landebahn des Flughafens Hato. Ein sehr kleiner Flughafen schien es zu sein, mit einer einzigen Landebahn, jedenfalls von ganz oben betrachtet. Die Sonne lachte, und das Meer funkelte und glitzerte, sogar noch direkt neben der Landebahn. Alles Weitere lief dann unkompliziert ab: das Aussteigen, das Holen des Gepäcks vom Band, die Kontrollen und so weiter. Als sie dann vor dem Flughafengebäude standen, wussten sie endlich genau, was sie schon erwartet hatten: Es war 27 Grad warm. Der Passatwind wehte angenehm. Es war ein sonniger Novembertag. Im Netz hatten sie gelesen, dass es zu dieser Jahreszeit auf Curacao fast immer 27 Grad warm ist: nachts, morgens, tagsüber und abends, auch wenn es regnete, windig war oder gar stürmte. Und das schien sich nun von Beginn an zu bestätigen.
Einen Mietwagen hatte Nikolaus schon vorab in Berlin gebucht. Ein Kombi-Audi war es. Nach wenigen Minuten fuhr Nikolaus mit dem „deutschen“ Wagen vor. Bruno beäugte sehr kritisch das neue Auto, befand es aber für gut und ausreichend. Als die Vier im Auto saßen, mitsamt ihrer kleinen Hündin Balu, ihrem Gepäck und ihrer guten Laune, war der Umzug von Berlin nach Ascencion auf Curacao schon fast geschafft.
Die Autofahrt war nicht lang. Nur knapp eine halbe Stunde fuhren sie. Und dabei hatte sich Nikolaus sogar noch verfahren. Die Straßen der Insel waren für ihn reichlich merkwürdig angeordnet, meistens nicht im rechten Winkel zueinander, jedenfalls die Hauptstraßen nicht. Wenn man eine Abzweigung verpasste, dann musste oder sollte man besser als Anfänger umkehren und das Auto wenden. Aber im Grunde war das Straßennetz ausgesprochen überschaubar, dennoch konnte man sich gut verfahren. Mit der Vorfahrtsregel nach dem T-Prinzip hatte Nikolaus keinerlei Probleme. Wenn eine Straße auf eine andere Straße traf, so galt nicht rechts vor links, wie in Europa, wenn man mal die Engländer außen vor lässt, sondern die Autos auf der Hauptstraße hatten stets Vorfahrt. So sparte man wahrscheinlich tausende Verkehrsschilder ein, dachte Nikolaus. Das Wichtigste aber war, dass die Leute nicht sehr schnell fuhren und man andere Verkehrsteilnehmer, auch wenn sie keine Vorfahrt hatten, häufig sehr großzügig vorließ. Die Insel ist nicht groß, etwa 60 Kilometer in der Länge und 15 Kilometer in der Breite, jedenfalls an der breiten Stelle. Die höchste Erhebung nennt man den Sint Christoffelberg mit 375 Metern. Autofahren, im amerikanischen und europäischen Sinne von Vielfahren oder Schnell- und Weitfahren, war auf der Insel wirklich nicht zu machen. Außerdem waren die Busverbindungen hervorragend, was man schon nach wenigen Kilometern an den vielen Haltestellen sah, auf deren Schildern „Bushalte“ stand, so dass Nikolaus schon zu Beginn überlegte, ob er nicht ganz auf ein Auto verzichten könne.
Als sie in Ascencion ankamen, war ihre erste Empfindung, dass ihre neue Heimat sehr gut überschaubar ist, ein schlichtes Straßendorf eben. Ein kleines Häuschen stand neben dem anderen, in respektabler Entfernung voneinander, keines höher als maximal 3 bis 5 Meter. Ruhig wirkte es, sowohl auf der Straße, wegen der wenigen Autos, als auch auf den menschenleeren Bürgersteigen, die fast überflüssig erschienen. Am Straßenrand standen vertrocknete Sträucher in allen Formen und kuriosen Gestalten. Manchmal befanden sich knallbunte Blüten an total vertrockneten Ästen, aber kaum grüne Blätter sah man. Und es gab viele Vögel in den Büschen. Die hörte man, wenn man langsam an den Gebüschen vorbeifuhr. Schwarze Köpfe und Hälse sowie ein dunkelorangenes bis hellgelbes Gefieder hatten einige der Vögel, die man deshalb sehr gut ausmachen konnte, weil sie farblich außerordentlich präsent waren, Zuckervögel eben, die sich frech auf alles Süße stürzen. Den Reinemachefrauen in den großen Hotelanlagen klauen sie die Zuckertütchen aus den Rollwagen mit den Putzutensilien. Das wusste Annika durch die Beschreibung einer Schulkollegin, die schon einmal hier gewesen war. Auch die Heumanns kamen sich im Prinzip wie vier große Zuckervögel vor, die nach allem, was der Sehnsucht wert war, Ausschau hielten, nicht zu vergessen noch ein ganz kleines Vögelchen, das aber ein Hund war und Balu hieß. Im Grunde waren sie nicht anders als die vielen holländischen Touristen auf der Insel oder auch die brutalen Kolonialherren, die das süße Leben in der Karibik auf unterschiedliche Arten und Weisen suchten.
Sie parkten vor ihrem neuen Haus und stiegen neugierig aus. Luise und Bruno hüpften wie zwei kleine Kanarienvögel umher. Knallbunt war das Haus, wie auch die Zuckervögel. Auf den Fotos im Prospekt hatte es nie so sehr aufregend gewirkt. Die eindringlichste weil häufigste Farbmischung war helllila und dunkelgrün. Wie ein kleines Haus in Berlin-Lichtenrade sah es für Niko aus, nur eben viel farbiger und einzelner stehend. Um das Grundstück herum war ein Holzzaun in einer wiederum ganz anderen Farbzusammenstellung gezogen, nämlich in einem orange-farbigen Grundton. Von der Straße aus konnte man alles sehr gut überblicken, weil die Landschaft auf dieser Straßenseite etwas anstieg. Hinter dem Haus sahen sie den „Curacao-Wald“, wildes undurchdringliches Gestrüpp, bis zu drei-vier Metern hoch, durch das man kaum hindurchgehen konnte, so meinten sie, weil sie es aus einiger Entfernung betrachteten. Neben ihrem Haus bzw. ihrem Grundstück war nichts, nicht einmal ein Weg oder Ähnliches. Das nächste kleine Haus, rechts neben ihrem von der Straße aus gesehen, war etwa 200 Meter entfernt. Die Heumanns wussten bereits, dass dort ebenfalls eine deutsche Familie wohnte, allerdings schon etwas älteren Jahrgangs. Vater und Mutter, etwa um die 60 Jahre alt, wohnten dort mit ihrem 40-jährigen Sohn, der eine Sprachbehinderung hatte und auch in anderen Lebensbereichen angeblich auf Unterstützung angewiesen war. Über all das konnten sie sich vorher mit dem Vermieter ihres Hauses austauschen, der alles genau beschrieben hatte, die Nachbarschaft, die wenigen Läden, die Lebensumstände eben.
Als erste stürmte Balu, wie von einem Katapult abgeschossen, aus dem Auto. Die Hündin merkte anscheinend, dass ihre lange Reise in der Tasche nun zu Ende war. Sie schlüpfte durch die hölzerne Gartenpforte, weil allein sie zwischen die Holzlatten hindurch passte. Luise fand, dass ihr neues Heim wie die Villa Kunterbunt von Pippi Langstrumpf aussah. Und weil sie Pippi liebte und auch viele andere Bücher von Astrid Lindgren kannte, fühlte sie sich plötzlich sehr kräftig und stark. Sie sah übrigens auch im Gesicht ein wenig wie Pippi aus, hatte ihre Mutter einmal gesagt, mit einigen wenigen Sommersprossen, weniger allerdings als die Schauspielerin Inger Nilsson in den Verfilmungen, die ja genauso wie Pippis Affe hieß. Es war auf der Insel nur so, dass viele dieser bunten Häuser am Straßenrand standen, nicht nur eins, wie im Pippi-Land. „Warum ist das alles so bunt hier?“, fragte sie dann ihren Vater. Nikolaus allerdings litt unter Jetlag, und deshalb antwortete er nur kurz, während er zwei Koffer in der Hand trug: „Weil die Leute sich hier ihre Häuser so anstreichen dürfen, wie sie wollen.“ Er verschwieg in diesem Augenblick die durchaus erwähnenswerte Geschichte der Hausfarben auf der Insel, die er erzählen könnte, wenn er gewollt hätte. Er verschwieg also, dass man annimmt, ein ehemaliger niederländischer Gouverneur habe unter einer Augenkrankheit gelitten, weswegen er alle Häuser in unterschiedlichen Farben anstreichen ließ, damit ihn die Sonnenreflexionen durch die weißen Häuserwände nicht blendeten. Hinter vorgehaltener Hand wird jedoch darauf hingewiesen, dass der Gouverneur der Besitzer einer Farbenfabrik war.
Schließlich waren alle Koffer, Kisten und Taschen ins Haus gebracht. Insgesamt acht große Gepäckstücke hatten sie aus Berlin mitgenommen: Kleidung im Wesentlichen, auch Kochtöpfe, Geschirr, Hundefressnapf, Besteck und eine ganze Anzahl Bücher. Annika hatte lange hin und her überlegt, ob es überhaupt sinnvoll sei, Bücher mitzunehmen, denn alles Literarische konnte man ja sowieso elektronisch auf den Pads abrufen. Drei Touch-Pads hatten sie nämlich mitgenommen. Zwei Pads, weiß und rot, waren zum Spielen der Kinder gedacht und eines, in schwarzer Farbe, zum Arbeiten und Kommunizieren. Vor allem durch die Erkenntnis der Notwendigkeit, deutschsprachige Kinderbücher vernünftig vorlesen zu können, kamen dann die Printwerke zustande. Für dringend notwendig erachteten sie auch ein dickes großes Kochbuch in Printform, sowie einen Gesundheitsatlas und noch zwei andere lexikalische Nachschlagewerke. Die Bibel hatte Nikolaus als App auf sein Handy geladen. Eine schön bebilderte Bibelversion lud er auf die anderen beiden Touch-Pads. Auch eine E-Book Version der „Göttlichen Komödie“ vom italienischen Dichters Dante Alighieri und eine alte Ausgabe der „Buddenbrooks“ von Thomas Mann hatte er schon vorab in Berlin ins Buchverzeichnis gespielt, im Grunde, weil die Bücher so voluminös, kostenlos und trotzdem ein Stück Weltliteratur waren.
Als Allererstes prüfte Nikolaus, nachdem er die letzten Gepäckstücke im Eingangsbereich abgestellt hatte, ob die versprochene WLAN Verbindung im Haus klappte. So war es dann zum Glück. Der Vermieter hatte nicht zu viel versprochen. Die Netz-Verbindung war kostenlos. Ohne Passwort konnte jeder Nutzer auf der Insel kommunizieren, wie und wo er wollte.
Ihr neues Häuschen war klein aber oho. Es existierte ein geschmackvoll eingerichtetes, großes Wohnzimmer mit älteren, spanisch wirkenden Möbelstücken und einem riesigen Fernsehbildschirm direkt an der Wand. Auch hier war es so, dass Nikolaus die Netzverbindung prüfte. Er schaltete alle Sender durch. Neben den einheimischen Sendern, vier holländischen Sendern, den üblichen amerikanischen Nachrichtensendern fand er auch drei deutsche Programme: die deutsche Welle, das ZDF und RTL. Die Kinder rannten inzwischen unermüdlich durchs Haus, durchstöberten jeden Winkel. Sie juchzten und kreischten. Mit Hilfe des Grundrisses hatten sie schon vorab in Berlin zwei kleine Kinderzimmer geplant. Das allerkleinste Zimmer sollte als Elternschlafzimmer sein. Es hatte aber zum Glück direkten offenen Zugang zum Bad, mit Dusche und Wanne, Klo und Bidet. Im Grunde war das Schlafzimmer ein vergrößertes Badezimmer. Die Küche war großzügig angelegt. Eigentlich könnte man von einer amerikanischen Küche sprechen, wegen des Mauerdurchbruchs zum Wohnzimmer, wodurch das Wohnzimmer noch größer wirkte, ein ähnliches Prinzip wie beim Bad, in dem das große Doppelbett stand. Alles war im Prinzip fabelhaft. Nur einige Bilder an den Wänden schienen zu fehlen. Annika und Nikolaus nahmen sich an die Hand, als sie die wandbreite Gardine im Wohnzimmer aufzogen und dann auf die Terrasse schauten, welche nach hinten zum aufsteigenden Hang lag, also nicht zur Straße hin. Das war sie nun, von der sie geträumt hatten: 20 Quadratmeter rustikal gefliester Terrassenboden mit einer Überdachung, die sich an zwei kräftigen runden Säulen festhielt, zur Sonne ausgerichtet und mit dem Ausblick auf den Garten und den dahinterliegenden Gestrüpp-Wald. Draußen auf der Terrasse stand ein runder, gusseiserner, leicht verrosteter Tisch mit fünf Korbstühlen, die ordentlich im Kreis angeordnet waren. Zwei Meter schräg daneben befand sich ein hoher, weit ausladender, ockerfarbener Grill mit einer alt-lila angemalten Überdachung aus Metall. Die Farbe platzte schon ab, und alles reichlich angeschwärzt vom Grillen aus. Zwischen der Terrasse und dem nahen Wäldchen war ein gartenartiges Gehege angelegt. Es war für Europäer ein sehr ungewöhnlicher Garten. Auf rotem, kahlen und leergefegten, Lehmboden standen originell angeordnete Terrakotta-Töpfe, sehr große und ganz kleine, mit den merkwürdigsten Blumen und anderen Gewächsen bepflanzt. Eine freistehende Duschkonstruktion stand mittendrin, ein schmaler Metallstab mit rundgebogenem Rohr und breitem Duschkopf, an dem noch ein extra Wasserschlauch zum Blumengießen befestigt war. Der Gartenzaun, der hinten um das Grundstück herumlief, war nicht mehr ganz so ordentlich wie die Zaunfront zur Straße hin. Schiefe Holzpfähle hielten ein arg zerbeultes Maschendrahtgeflecht. „Was braucht der Mensch denn mehr“, schoss es den beiden nunmehr eingewanderten Deutschen unentwegt durch den Kopf. Luise und Bruno dachten nicht an solche Dinge, aber auch sie waren natürlich sofort zur Stelle, an der es nach draußen ging. „Ooch, gar keine Wiese“, rief Bruno zunächst, als er auf die Terrasse trat. Eigentlich trat er im eigentlichen Wortsinn nicht, sondern er hüpfte, genauso wie Luise. Wie immer aber bekam er von Annika eine ordentliche Antwort, diesmal sogar auf eine nicht so ordentlich gestellte Frage: „Hier gibt es keine Wiesen auf der Insel. Es ist zu trocken und zu heiß. Nur einige reiche Leute legen sich kleine Rasenflächen an. Die Gärten sehen hier alle so kahl aus, vor allem wegen der Kriech- und Krabbeltiere.“ Aber schon den letzten Satz hörte Bruno nicht mehr, weil er sich inzwischen zum kleinen Gartenhäuschen, nach links hinten in der Gartenecke, aufmachte. Balu folgte ihm auf Schritt und Tritt. Dort angekommen, öffnete er die schmale Holztür, die unverschlossen war. Balu huschte hinein. Gartengeräte aller Art, zwei alte zerknautschte Fußbälle, viele halbleere Tüten voller Baumaterial, einige Düngemittelpäckchen, alles wild durcheinandergewürfelt, fand er vor. Und vor allem sah er einen bunten Papierdrachen, der ihn, an der Decke ordentlich befestigt, anlachte. Und schon wieder hüpfte er enthusiastisch umher und schrie laut nach seiner Schwester: „Luiiise.“
Für Nikolaus und Annika war das genau die Freiheit, die sie suchten. Das fröhliche Schreien und das laute Juchzen der Kinder störten hier niemanden. Niemanden brauchte man zu fürchten, auf den man Rücksicht nehmen musste. Im Gegenteil, das Johlen und das lautere Leben von Kindern, durch den Passatwind physikalisch sogar noch ein wenig gedämpft, durchschnitt die Ruhe in angenehmer Weise. In Annikas rechtem Ohr machte es pflopp, weil sie immer noch einen „verstopften Gehörgang“ durch die Landeprozedur des Flugzeugs hatte. Dieses Geräusch hörte nur sie allein.
Viel unternahmen die Heumanns am Tag der Ankunft nicht mehr. Annika räumte Koffer aus und zog weiße Bettwäsche auf, welche sie sich aus Berlin mitgebracht hatten. Nikolaus machte sich mit dem Auto auf den Weg. Er wollte etwas zum Essen und Trinken kaufen. Die Kinder wollten nicht mitfahren, und Balu auch nicht. In etwa drei Kilometern Entfernung fand er einen Mini-Market direkt an der Straße. Die dunkelhäutigen Menschen, denen er vor dem Laden und während des Einkaufens begegnete, nahmen ihn gar nicht zur Kenntnis. Zu viele „Zuckervögel“ waren den Einwohnern wahrscheinlich schon begegnet und an einer „Hauptstraße“ wie dieser sowieso. Sprachlich konnte er sich an der Kasse gut in Englisch verständigen, weniger gut auf Holländisch, wie es schien. Er packte eine große Menge Lebensmittel ein, die er in Blickhöhe zu greifen bekam, aber nicht etwa wahllos: Milch, Eier, Mineralwasser, Orangenbrause, Brot, Butter, Wurst und Käse, Salz, Pfeffer, Spülmittel, viele Tomaten und verschiedene Nudelsorten. Mit fünf vollen Plastiktüten bepackt stieg er wieder ins Auto. Der Einkauf hatte nur etwa 20 Minuten gedauert. Auf dem Nachhauseweg hielt er noch an einem kleinen Obststand am Straßenrand an, wo er zwei riesengroße und kugelrunde Melonen erwarb. Die Melonen waren äußerst preiswert, alles andere war in etwa so teuer wie in Europa. Seine vier Familienmitglieder erwarteten ihn schon wild gestikulierend vor dem Eingang des Grundstücks, fast auf der Fahrbahn stehend, denn ein anderes Auto kam sowieso nicht vorbei. Annika wollte ihre Kinder so früh wie möglich an den Straßenverkehr gewöhnen, denn im Haus einsperren wollte sie niemanden, auch Balu nicht. Nicht nur die drei Europäer mit Hund warteten an der Straße, sondern auch vier einheimische Ziegen. Zwei kleine und zwei größere Tiere grasten etwa 20 Meter von ihnen entfernt, direkt neben der Asphaltdecke. Die Ziegen grasten eigentlich nicht, weil es gar kein grünes Gras zum Grasen gab, sondern eigentlich nur das niedere Gestrüpp mit einigen grünen Flecken durch die wenigen Blätter. Schmal gebaut sahen die Ziegen aus, sehr niedlich aber auch sehr dünn, vom Knabbern an den Büschen.
Mit Winken und Hüpfen wurde Nikolaus empfangen. Wie gut tat ihm das doch, nach alledem, was er in den letzten zwei Jahren in der „zivilisierten“ Welt mitgemacht hatte. Als Berliner Kriminalkommissar war er solche freundlichen Begrüßungsszenen ohnehin nicht gewöhnt, sondern eher das ganze Gegenteil. Als er mit seinen Einkaufstüten aus dem Auto stieg, sagte er laut und frech: „Schokolade gibt’s hier nicht, aber alles andere habe ich mitgebracht.“ „Hast du auch an Salz gedacht?“, fragte Annika nach. „Natürlich habe ich an Salz gedacht, denn ohne Salz müssten wir unsere Nudeln ja in verdünntem Meerwasser kochen. Morgen werden wir uns gleich mal auf den Weg machen, um das karibische Meer zu suchen“, antwortete er. Wie zauberhaft fand er seine eigenen Sätze, nicht wie die, die er gemeinhin in Deutschland formulierte, wenn er zum Beispiel sagte: „Bring doch noch eine Packung von diesem oder jenem mit, Sel mit Fluorid oder auch ohne, Bio-Reis oder den anderen. Haben Sie den Mörder erkannt oder gesehen? Wo ist er hingelaufen? Würden Sie ihn wiedererkennen?“
Der erste Einkauf schien gut gelungen. Das stand fest: Es gab Nudeln mit einer Soße aus frischen Tomaten am frühen Nachmittag, mit einigen dünnen Schinkenstreifen sowie geraspeltem Parmesan Käse darüber gestreut. Der runde gusseiserne Tisch auf der Terrasse, bekam keine Tischdecke verpasst, weil sie eine solche nicht besaßen. Beim Essen entwickelte sich ein fröhliches Beisammensein. Selbst im Schatten war es ziemlich heiß. Aber für alle war es eine angenehme Wärme. Außerdem würden sie sich an die Temperatur ganz rasch gewöhnen, vermerkte Nikolaus. Luise und Bruno liefen schon die ganze Zeit in Badekleidung herum. Annika hatte ihren beiden Kindern sogar eine Badekappe aufgesetzt, weil sie ständig im Garten in der prallen Sonne herumliefen. Die Kappen fanden die Kinder dann ausgesprochen schick. Nach kurzer Zeit bekamen sie, wegen der starken Sonneneinstrahlung, noch ein T-Shirt übergezogen. So angezogen saßen sie beim Mittagessen.
Am späten Nachmittag gab es dann leider keinen Kuchen, den hatte Nikolaus vergessen zu kaufen. So erhielten die Kinder zwei Brötchenhälften mit Erdnussbutter und Balu einige Leckerlis. Dann, so langsam, machten sich die Reisestrapazen bemerkbar, zuerst bei den Kindern. Um 19.50 Uhr schliefen sie schon, und auch die beiden größeren Heumanns kamen langsam zur Ruhe. Balu hockte stets ganz nah bei ihnen. In einem antiken Sideboard unter dem großen Wandbildschirm im Wohnzimmer fanden sie, eher zufällig, einige alkoholische Getränke. Natürlich eine Flasche Curacao Bleu und eine Flasche Sekt: Die Flaschen hatte der Vermieter zur Begrüßung hingestellt. Am Abend, als es dann dunkel wurde, mixten sie sich daraus keinen Cocktail, sondern tranken alles getrennt voneinander. Die Sektflasche war schnell geleert. Der blaue Likör schmeckte pur viel zu süß. Die Temperatur lag immer noch bei 26 Grad Celsius. Aber weil sie wussten, dass sie in den Schlafzimmern eine gute Klimaanlage hatten, war ihnen um die Nacht nicht bange. Die Hündin bekam ihren Schlafplatz im Wohnzimmer gemacht, von dem man aber zunächst nicht ahnen konnte, ob Balu diesen wirklich akzeptierte.
Der nächste Tag begann so, wie der alte endete, voller Zuversicht und hohen Erwartungen auf das Neue, welches ihnen auf Schritt und Tritt auch begegnete. Die Kinder und Balu waren morgens schon relativ früh wach. Um 7.30 Uhr tanzten sie durchs Haus und öffneten die große Schiebetür zur Gartenterrasse. Für Annika und Nikolaus war im frühmorgendlichen Wachschlaf nicht ganz so ganz klar, ob sie ihre Kleinen alleine in den Garten hinauslassen könnten. Schließlich war der hintere Zaun reichlich marode. Noch im Halbschlaf führten sie im Bett eine entsprechende Debatte, die aber nur damit endete, dass Annika kurz aufstand und den beiden in deutlicher Form klarmachte, dass sie auf keinen Fall das Grundstück verlassen dürften. Die Kinder willigten ein und versprachen es hoch und heilig, weil sie ohnehin nicht vorhatten, weiter weg zu forschen. Man konnte Luise und Bruno in dieser Hinsicht voll vertrauen, so dass Annika sich wieder ins Bett legte und noch etwa eine Stunde weiterschlief. Nikolaus hingegen konnte nicht mehr einschlafen. Alle zehn Minuten horchte er ins Wohnzimmer hinein und sah oft aus dem verhangenen Fenster, die Gardine beiseite schiebend, in den Garten. Seine Kinder taten nichts Unbotmäßiges. Eigentlich taten sie so etwas nie. Die meiste Zeit spielten sie im Garten mit dem Wasserschlauch herum und spritzten sich nass. Und wieder waren es genau 27 Grad Celsius. Die Sonne in der Karibik stieg höher und höher. Das Licht wurde von Minute zu Minute strahlender. Niko dachte an das Wetter in Berlin, an den nasskalten und depressiven November dort, an den wolkenbehangenen Himmel, an das finstere Licht und die vergrauten Automassen, die sich durch die Straßen quälten. Wie sehr konnte man doch die Welt, an der Schwelle zwischen Herbst und Winter, in ganz unterschiedlichen Farben und Empfindungen sehen. Wie anders konnten die Bilder sein, die ein Maler am frühen Montagmorgen malte. „Gleich Morgen kaufen wir bunte Bettwäsche“, rief er Annika zu.
Zum Frühstück gab es dreierlei Eier mit Weißbrot und Ketchup. Annika hatte Rührei, Spiegelei und gekochtes Ei zubereitet. Jeder sollte mit seiner Lieblingseierform glücklich werden. Balu bekam die Reste vom Vortag. Nikolaus hatte tags zuvor leider vergessen Kaffee zu kaufen, so dass alle Tee tranken. Den grünen Tee fanden sie in drei kleinen Beutelchen in der Besteckablage. Zucker gab es aus den kleinen Tütchen, die sie sich aus dem Flugzeug vorausschauend mitgenommen hatten.
Als alle am Frühstückstisch Platz genommen hatten, bekamen sie Besuch von einem großen Zuckervogel, der sich zunächst oben auf den Grill setzte und aufgeregt nach etwas Süßem Ausschau hielt. Dann flog er zu ihnen hinab und saß eine Zeitlang dicht neben dem Fuß von Nikolaus auf der Terrasse. Ein sehr zahmes Tier musste es gewesen sein. Bruno und Luise trauten sich kaum zu bewegen, weil sie nicht wollten, dass der bunte Vogel gleich wieder wegflog. Balu wurde eng an ein Stuhlbein gebunden. Sie gab keinen Mucks von sich und akzeptierte die enge Bindung. Dann lief der gelbschwarze Vogel, wie an einer Schnur gezogen, immer die gleiche Strecke auf dem Sandboden auf und ab. In stets gleichem Abstand zum gedeckten Frühstückstisch beäugte er neugierig die neuen Bewohner, wie sie aßen und tranken. Manchmal stieß er merkwürdig zackige Laute aus, so als wollte er mitteilen: „Gebt mir doch auch bitte etwas ab.“ Annika konnte dem strebsamen Vogel schließlich nicht wiederstehen und warf ihm ein Stück Brot hin, welches er eilig in den Schnabel nahm und damit wegflog. Erst am nächsten Morgen konnten sie ihn wieder begrüßen. Gerade als Luise vom Tisch aufstehen wollte, erschrak sie plötzlich und kreischte, fast wie ein Papagei. Ein mittelgroßer und dunkelgrüner Leguan lief etwa drei bis vier Meter vor ihnen an der Terrasse vorbei. „Was für ein wunderschönes Tier“, flüsterte Niko. „Das sind die Ureinwohner der Insel. Bitte erschreckt euch nicht. Das sind ganz harmlose und manche sogar recht zutrauliche Wesen. Der Leguan stoppte genau in ihrer Blickrichtung. Bewegungslos saß das Tier da und machte ein kleines sandfarbenes Wursthäufchen. Ein stiller Beobachter schien dieser Leguan zu sein, wie auch ihre Hündin Balu, die fasziniert das fremde Wesen beobachtete und wieder keinen Laut von sich gab. Merkwürdig! Irgendwie schien die Kleine verzaubert zu sein. Jetzt sahen sie auch die Spuren des Leguans im rötlichen Sand, die sich durch den Garten zogen. Dann erst sahen sie auch alle anderen Spuren, die überall kreuz und quer liefen, Kriechspuren von Echsen und Vogelfußabdrücke hauptsächlich. „Das ist sein Weg.
Und jetzt sind wir hier auch noch da“, sagte Annika. Sie zeichnete mit dem Finger die bisherige Spur des Leguans und auch seinen zukünftigen Weg nach. Luise und Bruno waren überwältigt. Bruno rief: „Wie ein Drachen aus dem Tertiär sieht der aus.“ Luise lachte und sagte: „Und einen tollen Kamm hat er oben auf seinem Rücken.“ Ein solches Tier kannten sie bisher nur aus dem Zoo oder aus dem Bilderbuch. Und jetzt stand dieses eigentümliche Wesen in freier Wildbahn vor ihnen. Niemand fütterte das Tier oder machte ihm sein Bett. Keine Glasfenster oder Gitter im Zoo behinderten seine Beweglichkeit. Dann schlich das Reptil weiter, ganz gemächlich und gänzlich unaufgeregt. Er schien seine neuen Mitbewohner akzeptiert zu haben. Was blieb ihm auch sonst anderes übrig. Balu bellte nur am Ende ganz kurz, als das Tier schon verschwunden war. Nun erzählte Nikolaus, dass es sehr viele Leguane auf der Insel gäbe. Viele von ihnen würden auch über die Straßen laufen und manchmal sogar überfahren werden, weil die Tiere die Angewohnheit hätten, bei Gefahr zunächst einfach still sitzen zu bleiben. „Gestern habe ich so ein tolles Tier auf dem Asphalt sitzen sehen, als ich zum Einkaufen fuhr“, erläuterte er. „Und was hast du gemacht? Hast du ihn etwa überfahren?“, fragte Annika intensiv nach. „Nein, natürlich nicht! Ich habe gebremst und angehalten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat ein anderes Auto auch angehalten, um ihn hinüber zu lassen. Schließlich ist er dann mit rotem, hoch aufgestelltem Kamm die letzten Meter fast aufrecht davongerannt“, antwortete er. „Die Autofahrerin gegenüber hat mir dann noch freundlich zugewinkt, weil wir uns anscheinend einig waren, dass man das Leben solcher beeindruckenden Tiere beschützen müsse. Zum Glück fahren die Leute hier nicht schnell, so dass man die Leguane auch von weitem gut erkennen kann.“ Bruno fand es ganz toll, was sein Vater sagte. Nikolaus merkte das und legte deshalb nach: „Leguane werden bis zu zwei Metern lang. Der Schwanz ist oft viel länger als der übrige Körper. Ihre Köpfe haben Schuppenkämme oder Kehlwammen, wie man sagt, die bei den Männchen ausgeprägter als bei den Weibchen sind. Vor allem bei Rivalitätskämpfen sind die Kämme wichtig. Die Männchen der meisten Arten sind territoriale Wesen. Sie verteidigen ihr Revier gegenüber den anderen männlichen Artgenossen. Sie dulden aber die Weibchen. Sie legen Eier, und bei der Paarung beißt das Männchen das Weibchen gewöhnlich in den Nacken. Die Tiere ernähren sich von Insekten, aber die pflanzliche Ernährung wird wohl auch immer wichtiger.“ Das war nun schon wieder zu viel des Guten für Bruno, für Luise allerdings nicht. Für Bruno nahm die langatmige Erläuterung seines Vaters jenen Zauber fort, den er zuvor verspürt hatte, und dadurch verlor er das Interesse. „Ich will noch ein gekochtes Ei“, sagte er, obwohl leider kein Ei mehr da war.
Im Laufe des Tages merkten die Heumanns, dass ihr Leguan immer zur gleichen Zeit vor ihrer Terrasse vorbeilief, etwa alle vier Stunden. Man hätte die Uhr nach seinem Rhythmus stellen können, wenn das nötig gewesen wäre.