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IV

 

 

 

Die Sonne brennt gnadenlos auf Thea nieder. Sie liegt in voller Montur im Wüstensand und schmort wie eine Weihnachtsgans im Backofen. Eine Beduinenkarawane zieht vorüber, aber von denen nimmt niemand Notiz von ihr.

  »Gebt mir etwas Wasser, nur ein kleines Schlückchen«, ruft sie mit feiner, kraftloser Stimme, die gerade noch das ägyptische Sandmännchen hätte hören können. Mit Entsetzen erkennt sie, dass die Beduinen zum Stamm des gefürchteten Scheichs Achmahadi ben Suleiman des Großen gehören, dessen furchterregender Ruf ihm seit einigen Jahren, durch die ganze nordöstliche Sahara vorauseilt. Thea will gerade die angehaltene Luft erleichtert ausströmen lassen, da erspäht ausgerechnet der letzte Beduine in der Reihe, sie in einiger Entfernung im Sand liegen.

  Seinen Vorreitern ruft er etwas auf arabisch zu und springt vom Wüstenschiff. Auf dem kurzen Weg zu Thea greift er nach seinem Krummdolch. Die finsteren Augen sind nur durch einen Spalt bunter Tücher auszumachen, die er um seinen Kopf gewickelt trägt, um vor den knirschenden Sandkörnern der ewigen Sandstürme und den Sonnenstrahlen geschützt zu sein. Mordlüstern hebt der bunt gekleidete Beduine seinen Arm, der Dolch blitzt in der Sonne. Mit letzter Kraft schreit Thea ihm entgegen:

  »Bevor du mich tötest, sage mir erst die Wurzel aus minus neun!« Der Beduine reißt sich die Tücher aus dem Gesicht. Thea erkennt erst jetzt, dass es sich bei dem Beduinen um Kai den Penner, aus ihrer Klasse handelt. Der zischt mit orientalischem Akzent, ganz außer Atem:

  »Die Wurzel aus minus neun ist …«, er kratzt sich am Kopf, »… minus drei!?«

 »Falsch! Minus mal minus ergibt doch keinen negativen Wert«, klärt Thea ihn auf. Kai verzieht das Gesicht, als hätte ein Skorpion ein großes Durcheinander in seiner weiten Wüstenhose angerichtet. Wütend über das eigene mathematische Unvermögen und gekränkt in seiner Ehre, reißt er erneut den Dolch in die Höhe. Thea schreit in allerletzter Sekunde nach Jenny, Biene und Lea. Die Freundinnen springen ratzfatz von den anderen Kamelen und laufen so behäbig, als hätten sie riesige Klumpen Kaugummi unter ihren Sohlen. Dann setzen sie gemeinsam zu einem Schrei an:  

  »Iiiiiiiiiiiiiiihhhhhhhh!!« Der Schrei ist so laut, dass die Pyramiden wackeln, und der restaurierten Sphinx fällt die Nase wieder ab. Die entsetzt dreinblickenden Mädchen sehen, wie aus Kais flatternden Hose tatsächlich ein schwarzer Skorpion aus dem Hosenbein kriecht … 

Endlich wacht Thea schweißnass auf.

 

  Eine unerträgliche Hitze staut sich unter der Winterjacke, der vom Gesicht herablaufende Schweiß verklebt ihre Haare. Thea öffnet ihre Augen, die sich erst an die Helligkeit gewöhnen müssen. ›Wo, um alles in der Welt, bin ich?‹, fragt sie sich.

  Alles um sie herum ist so unglaublich hell, nur langsam werden Konturen und Schatten sichtbar, die sich nach und nach zu einem geräumigen Zimmer zusammenfügen. Das Bett unter ihr fühlt sich fest, aber bequem an. In der Zimmerdecke befindet sich ein gewölbtes Fenster, durch das Thea einen leuchtend blauen Himmel sehen kann. Sie richtet sich auf und öffnet den Reißverschluss ihrer Jacke.

  Der Raum ist sehr schlicht eingerichtet. Ein Tisch, ein Stuhl und ein Bett, nicht gerade das, was Thea unter ›wohnlich‹ versteht. Auf der Wand gegenüber schimmert ein großes weißes Rechteck, das plötzlich die Farbe wechselt. Vor dem grauen Hintergrund erscheint eine rote Digitaluhr, deren Ziffern die letzten Sekunden der siebten Stunde anzeigen: Sechsundfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig … 

  Vor ihren Augen entsteht ein wunderschönes Naturschauspiel, auf dem farbigen Display. Eine gleißend helle Sonne geht über dem glitzernden, türkisfarbenen Meer auf. Auf der rechten Seite ragen zwei Palmen ins Bild, die sich bogenförmig über den schäumenden Meeressaum recken. Ganz unvermittelt erscheint das ebenso strahlende Gesicht einer adrett gekleideten Dame, die mit schmeichelnder Stimme ankündigt:

  »Guten Morgen, verehrtes Volk von Solares! Es ist acht Uhr. Heute erwartet uns ein strahlend blauer Himmel, die Temperaturen steigen auf Werte zwischen fünfundzwanzig bis neunundzwanzig Grad Celsius, es weht ein leichter Wind von Nordost. Wolken sind heute nicht zu erwarten. Das MINISTERIUM FÜR KULTUR UND VERGNÜGUNG gibt bekannt, dass auch heute Ausstellungen, Theater-, Konzert-, und Festveranstaltungen in allen Teilen des Landes stattfinden werden. Eine detaillierte Programmübersicht finden Sie in Ihrem Kulturkanal SOLTUR. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen und einen guten Tag!« Die Dame verschwindet, das Display wechselt wieder in den Anfangsmodus zurück.

  Na, das ist ja mal eine freundliche Begrüßung, denkt Thea. Aber mit der Frau stimmte irgendetwas nicht, zumindest was ihre Augen betraf. Sie strahlten so weiß wie dieses Zimmer. Nur kleine, schwarze Pupillen waren in den hellen Augen sichtbar. Thea weiß nicht, was abstoßender auf sie wirkt, die pechschwarzen Augen der Chronos oder die weißen Augen der Solares mit den dunklen Stecknadelpunkten … 

  

  Thea fährt aus ihren Überlegungen auf, als sie merkt, dass Susa nicht im Zimmer ist, auch der Rucksack ist weg. Schleunigst lässt sie ihre Beine vom Bett rutschen und geht auf die Tür zu. Im Gehen zieht sie ihre Jacke und den Pullover aus, bleibt stehen und wirft beides zurück aufs Bett. Noch während Thea nach einer Möglichkeit sucht, die Tür öffnen zu können, schiebt sie sich bereits wie von Zauberhand zur Seite. Das Herz pulsiert ihr bis zum Hals. Was wird sie dahinter erwarten?

  

  Thea ist verärgert über ihre erneute Unsicherheit. Wen oder was sollte sie denn fürchten? Hatte Medo sie denn nicht wissen lassen, dass Solares die Erfüllung ihrer Wünsche sei? Ihr felsenfestes Vertrauen in Medo sollte eigentlich jede Furcht verdrängen und über jeden Zweifel erhaben sein. Sie gibt sich ja alle Mühe selbstbewusst zu wirken … was geht ihr nicht alles durch den Kopf, während sie beherzt, aber mit Beinen wie aus Pudding durch die Tür schreitet …

 

  Als sie sich unmittelbar dahinter nach links wendet, betritt sie einen langgestreckten, hellen mit Sonnenlicht durchfluteten Raum mit hohen Fenstern. Nur wenige Meter von Thea entfernt, sitzt eine vierköpfige Familie an einem langen, schmalen Tisch, bestehend aus einer massiven Holzplatte. Die Vier sind gerade dabei, sich ihr Frühstück schmecken zu lassen. Etwas irritiert richten sie ihre weißen Augen auf Thea. Die Eltern lassen das Besteck sinken, die Kinder dagegen scheinen mit dem Müslilöffel im Mund eingefroren zu sein. Ihre Augen mustern Thea dafür um so ausgiebiger, die schwarzen Nadelpunkte flitzen auf und ab.

 

  Thea fällt nichts Gescheites ein, darum platzt sie gleich mit ihrem größten Anliegen heraus:

  »Guten Morgen, ich bin Thea. Wie komme ich hier her und wo ist meine Katze?« Im selben Moment meint sie, dass das dumm geklungen haben muss, ihre Wangen färben sich puterrot und an ihrer Stirn bildet sich ein feiner Schweißfilm.

  Die Dame des Hauses erhebt sich etwas umständlich von ihrem Korbstuhl und stolziert auf Thea zu, während sie ihr zugleich die Hand entgegenstreckt. Als Thea sie ergreift, fühlt sie, dass ihre Haut weich und zart wie die eines Säuglings ist.

  »Ich bin Margot Solveig, und das ist mein Mann Stephan.« Er nickt freundlich. Dann weist sie mit der flachen Hand auf die beiden Kinder: »Bernadette und Maximilian haben mit dem Frühstück gerade erst begonnen. Dürfen wir dir auch etwas anbieten?«

  Theas Magen hat die Frage ebenfalls gehört, zumindest antwortet der mit einem leisen Grummeln. Gerne möchte sie aber erst ihre wichtigste Frage beantwortet haben, darum wiederholt sie höflich: 

   »Sehr gern, aber, wo bitte ist Susa?« Maximilian grinst und kichert leise. Frau Solveig sagt etwas widerwillig:

  »Eine Katze gehört nicht ins Haus! Wir haben ihr draußen neben der Terrasse genügend Wasser und Katzennahrung hingestellt. Sie ist ein süßes Ding, wenn auch etwas anhänglich, aber wenigstens läuft sie nicht weg«, sagt Frau Solveig etwas gekünstelt. Thea weiß nicht recht, was sie von dieser Antwort halten soll.

  

  Es ist ihr noch nie so schwer gefallen, das Alter einer Frau einzuschätzen. Ihr Gesicht wirkt ernst und lässt auf einige Lebenserfahrung schließen, andererseits sprüht es geradezu von jugendlicher Frische. Margot Solveig ist schlank und groß, mit goldblonden, hochgesteckten Haaren. Sie trägt ein cremefarbenes Kostüm, darunter eine weiße Bluse mit breitem Kragen, der das schmale Revers ihres Kostüms überdeckt. Um den schmalen Hals liegt eine hübsche Perlenkette, die ihrer seriösen Ausstrahlung eine gewisse Autorität und Distinguiertheit verleiht. Das hochwangige Gesicht lässt überhaupt keine Falten erkennen.

  

  Herr Solveig passt äußerlich sehr gut zu seiner Frau. Er ist etwa so groß wie sie und strahlt die gleiche Vitalität aus. Sein Haar ist dagegen rabenschwarz, nicht ein einziges graues Haar kann Thea ausmachen. Er trägt eine weiße Hose und einen weißen Rollkragenpulli. Seine Augen sind schmal und durchdringend, aber sympathisch. Die Nase hat dagegen etwas von einem Hexer sie ist lang und spitz. Die straffe Haut weist keine Falten oder Bartstoppeln auf. 

  Mit lauten Grummelgeräuschen macht Theas Magen wieder auf sich aufmerksam. Sie kommt nochmal auf das Angebot zurück und sagt:

  »Die Einladung zum Frühstück nehme ich gerne an.« Thea setzt sich auf den angebotenen Korbstuhl, links neben Bernadette. Von diesem Platz aus kann sie durch eine breite Fensterfront in den Garten schauen. Als sie Susa über den Rasen tapsen sieht, beruhigen sich ihre Nerven ein wenig.

 

  Links neben ihr öffnet sich leise zischend eine Schiebeklappe, durch die auf einem Tablett geschnittenes Brot, ein Croissant, zwei Brötchen sowie Milch, Orangensaft, Butter, verschiedene Sorten Käse, Gelee und Erdnussbutter hereingeschoben kommen. Ein dünner, mechanischer Metallarm bewegt sich schleifend zurück, dann schließt sich die Klappe wieder.

  Verdutzt schaut Thea auf das Tablett und dann zu Maximilian und Bernadette. Die Kinder prusten los, dass die Milch nur so spritzt, sogleich ermahnen die Eltern ihre Sprösslinge unverhältnismäßig streng.  

  Endlich bekommen die beiden ihre Löffel aus dem Mund und setzen das Frühstück fort. Maximilian ist etwa zehn Jahre alt, von seinem Kopf stechen dunkle Igelhaare hervor. Wegen des schmalen Gesichts und der durchdringenden Augen, sieht er seinem Vater sehr ähnlich nur die Knubbelnase wird wohl noch etwas wachsen müssen …

  

  Seine Schwester ist älter, vielleicht so alt wie Thea, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Ihr Gesicht ist viel runder, die Augen auch. Das lange, braune Haar ist streng nach hinten gekämmt und mit einem pinkfarbenen Zopfband zusammengebunden.

  

   Als Bernadette ihren Blick wiederholt über Theas verdrecktes Kleid wandern lässt und immer dann wegschaut, wenn Thea ihrem Blick begegnen will, spürt sie instinktiv ihre Abneigung. Thea weiß sehr wohl, dass sie nicht angemessen gekleidet ist, aber das ist noch lange kein Grund so hochnäsig zu sein, denkt sie. 

  »Lass es dir schmecken! Guten Appetit, Thea!«, wünscht Frau Solveig, sie lächelt, aber ihre Augen lächeln nicht mit. Thea bedankt sich höflich und lässt es sich sogleich richtig gut schmecken. Die beiden Solveig-Kinder haben jetzt nur noch Augen für das ungewöhnlich gekleidete Mädchen, mit strähnigen Haaren, verdrecktem Gesicht, riechender Kleidung und verschmutzter Fußbandage. Thea stört das herzlich wenig, sie isst von den köstlichen Speisen, die ihr fast fremd geworden waren.

  Sie fragt sich, warum niemand wissen will, woher sie kommt und wohin sie geht. Darum ergreift sie selbst die Initiative und fragt zwischen den Bissen nach den Ereignissen des gestrigen Abends, an den sie keinerlei Erinnerung hat:

  »Wie bin ich zu Ihnen ins Haus gekommen, wenn ich fragen darf? Ich kann mich an gar nichts erinnern.«

  »Das Überwachungssystem meldete gestern Nacht, dass eine Person ohne Identifizierungs-Chip in die Nähe unseres Grundstücks geraten ist«, antwortet Frau Solveig. »Stephan schaltete die Gartenbeleuchtung ein, um einen prüfenden Blick über die angrenzenden Grünflächen werfen zu können. Nachdem er dich in der Nähe des Sees schlafend vorfand, trug er dich ins Haus, anschließend brachten wir dich in unserem Gästezimmer unter.«

  »Oh, vielen Dank für die Mühe, die Sie sich meinetwegen gemacht haben. Ich werde darauf achten, dass so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommt«, erklärt Thea entschuldigend, und beißt in ein Käsebrötchen. Frau Solveig kann ja nicht ahnen, dass Thea in den letzten drei Tagen ihre ganz persönliche Hölle durchlebt hat, und annähernd tausend Ängste überwinden musste. Hat denn hier eigentlich niemand etwas von den kriegerischen Auseinandersetzungen in Chronos mitbekommen? Wie weit mag Chronos von Solares entfernt sein? Nach dem Übergang nach Solares hat Thea das Gefühl für Entfernungen verloren.

 

  Thea schaut sich um und lässt die Eindrücke auf sich wirken. Das Haus, in dem die Solveigs leben, macht einen sehr modernen Eindruck auf sie. Der etwas erhöht liegende Essbereich ist nur ein kleiner Teil des weitläufigen Wohnzimmers. Auf der Seite gegenüber, befindet sich ein riesiger, sauber geputzter Kamin. Thea vermutet, dass der schon lange nicht mehr benutzt wurde oder ganz neu ist. Um in den tiefer gelegenen Wohnbereich zu gelangen, muss man drei breite Stufen hinabsteigen. Schwere, elfenbeinfarbene Wohnzimmermöbel aus weichem Leder, bilden das gemütliche Zentrum dieses Raumes, dessen Fußboden mit weißem Marmor ausgelegt ist. Die Stoffe der Stuhlpolster, der Kissen und der Vorhänge an den Fenstern, sind dick und luxuriös. Das morgendliche Sonnenlicht bricht sich in dem riesigen Prisma des Wohnzimmer-Glastisches und lässt ein breites, leuchtendes Farbspektrum an der Zimmerdecke erstrahlen.

  Der gläserne Tisch scheint Teil eines großen, künstlerischen Gesamtkonzepts zu sein, das der Gestaltung des Hauses insgesamt zugrunde liegt. Erst jetzt wird Thea klar, dass das gesamte Haus wie ein riesiges Prisma konstruiert und erbaut wurde, dessen längste Seite das Erdgeschoss bildet. Diese ausgefeilte Architektur hat vielleicht etwas mit dem Einfallswinkel der Sonneneinstrahlung zu tun. Das wäre für ihren Physiklehrer Herrn Bornhorn sicherlich interessant gewesen, vermutet Thea.

  Von hier aus kann sie einen eingeschränkten Blick in das obere Stockwerk erhaschen, dessen umlaufende Galerie mit einer filigranen Balustrade aus gebürstetem Edelstahl umgeben ist. Weiter hinten neigt sich die Decke fast wellenförmig bis zur oberen Türeinfassung des Haupteingangs herab, dessen breite Türflügel vollständig aus Glas bestehen. Die Glastür gibt den Blick auf einen kurz gemähten, mit Buxus eingefassten Rasen frei. Links neben dem blitzsauberen Kamin erheben sich ebenfalls hohe Fenster, durch die Thea die Hügel wiedererkennt, die sie gestern Nacht im Mondschein gesehen hatte. Der Bereich zwischen Wohnhaus und Hügellandschaft ist mit einem wunderschönen, parkähnlichen Garten ausgefüllt. Die ausgedehnte Grünfläche in der Mitte des Gartens ist an den Seiten abwechselnd bepflanzt mit Kirschlorbeer, Eukalyptus und Glanzmispel. Auch hier ist der Rasen mit akkurat gestutztem Buxus umgeben. Unmittelbar vor den sanft ansteigenden Hügeln leuchten prachtvolle Rhododendrenblüten in den Farben Orange, Gelb, Violett und Feuerrot. Vereinzelt kann Thea auch blaue Hortensien sowie lila und rosa Cosmea ausmachen.

 

  Herr Solveig bemerkt ihre forschenden Blicke und beginnt eifrig zu erklären: »Dieses Haus ist etwa fünfhundert Jahre alt, aber es verfügt über eine alterungsresistente, sich selbst weiterentwickelnde, autarke Technologie, die darauf programmiert ist, einen exakt bemessenen Energieaustausch vorzunehmen, der auf unsere individuellen Bedürfnisse abgestimmt ist. Das gilt für sämtliche Bereiche des Hauses, wie Fenster, Wände, Bodenplatte und Bedachung.«

  Er springt auf und setzt seine gespreizten Finger auf das Fenster neben der Terrassentür. Er doziert:

  »Das Material, aus dem beispielsweise das Glas besteht, setzt sich aus Molekülen zusammen, die von uns Solares nanophysikalisch modifiziert wurden. Die molekularen Verbindungen verändern ihre Konsistenz dahingehend, dass bei erhöhter ultravioletter Strahlung ihre Struktur dichter und die Elastizität geringer wird, auf diese Weise gelangen weniger UV-Strahlen in den Wohnraum. Überschüssige Lichtteilchen werden als Energie gespeichert und anschließend zum einen auf unsere Lichtsensoren für den Abend, und zum anderen auf die Heizelemente im Fußboden transferiert. Ist die Technologie der Solares nicht hervorragend?«, fragt Vater Solveig und lässt die schwarzen Punkte seiner Augen über die Gesichter der Anwesenden wandern. Die ganze Familie erhebt einmütig preisend ihre Stimme: »Einfach großartig … wunderbar … genial … fantastisch …«, klingt es vierstimmig durch das Wohnzimmer, dann herrscht knisternde Stille.

  Etwas verwundert über soviel (gespielte?) Einmütigkeit schaut Thea in die Gesichter der Familie, bis sie merkt, dass Maximilian sie mit einem merkwürdigen Blick mustert:

  »Und, was sagst du dazu?«, will er wissen.

  »Wirklich interessant«, gibt sie zu.

 »Aber, das ist doch nicht alles, oder?«, setzt Bernadette schnippisch nach. Sie legt ihre Stirn in Falten, lässt ihren Mund offen stehen und nickt auffordernd, als erwarte sie mehr Zustimmung für die Worte ihres Vaters. Aber Thea will sich nicht darauf einlassen.

  »Ich möchte diese harmonische Stimmung ungern unterbrechen, aber ich muss ganz dringend duschen und brauche saubere Kleidung. Haben Sie vielleicht etwas für mich?«, fragt Thea an Frau Solveig gerichtet.

  Sie nickt und sagt: »Zunächst bestelle ich dir etwas Vernünftiges zum Anziehen und dann zeige ich dir das Bad.« Sie tippt auf ein Display, das sich in der Wand, direkt neben dem Tisch befindet. Thea hatte es bis jetzt gar nicht bemerkt, weil es in den Küchenapplikationen integriert ist.

  Auf dem Bildschirm erscheint ein helles, imposantes, mit dicken Säulen umgebenes Gebäude. Unten rechts im Bild leuchtet der Schriftzug MINISTERIUM FÜR WARENAUSGABE auf.  

  Frau Solveigs Finger fliegen nur so über die Bildfläche, als habe sie nie etwas anderes gemacht.

  »Stelle dich bitte dort auf die Markierung.« Sie zeigt auf eine im Marmorboden eingefasste Glasplatte, etwa zwei Meter vom Tisch entfernt. Als Thea sich auf der gläsernen Fläche positioniert hat, beginnen zwei Lasersensoren ihre Konfektions- und Schuhgröße abzutasten. Unmittelbar darauf erlischt das Sensorlicht.

  »Du darfst jetzt deinen Stil selbst auswählen«, bietet Frau Solveig großzügig an und lässt eine Vielfalt von Kleidungsstücken auf dem breiten Monitor erscheinen: Sweatshirts, T-Shirts, Pullover, Blusen, Hemden, Overalls, Hosen, kurze Röcke, lange Röcke, kurze und lange Kleider, Unterwäsche, aber auch Blousons, Jacken, Mäntel und vieles andere mehr, für alle Gelegenheiten und Anlässe. Schuhe, Stiefel, Sandalen, Sportschuhe, in allen erdenklichen Materialien und Designs – allerdings ausschließlich in weiß. Thea fühlt sich von diesem Angebot geradezu erschlagen, gleichwohl von der Farbe gelangweilt. Sie fragt:

  »Gibt es denn keine Farben zur Auswahl? Ich will ja nicht unhöflich sein, aber dauert es nicht viel zu lange, bis die Kleidung hier eingetroffen ist? Bis dahin habe ich mein Kleid selbst gewaschen und mit 'nem Fön getrocknet.«

Frau Solveig schüttelt verständnislos den Kopf:

  »Die bestellte Ware ist in höchstens fünf Minuten geliefert. Und natürlich ist die Kleidung nur in jener Farbe erhältlich, die eines Solaren würdig ist, es ist die Farbe der Reinheit, der Überlegenheit und der Vollkommenheit.«

  »Und das ist nun mal die Farbe weiß«, gibt Herr Solveig ungehalten von sich, seine Stimme klingt etwas gereizt. Thea blickt ihn erstaunt an, er lächelt gequält. Sie weiß nicht, ob es ein entschuldigendes oder ein gezwungenes Lächeln ist.

  Damit sie nicht noch mehr Unruhe in dieses traute Heim bringt, wendet sie sich nun schweigend dem Monitor zu und tippt behutsam auf die Grafiken mit den Kleidungsstücken, die ihr auf Anhieb gefallen: zwei Hosen, zwei T-Shirts, eine Trainings- und eine Windjacke,  dazu Unterwäsche und Socken. Für die sommerlichen Temperaturen, die derzeit herrschen, sollte diese leichte Bekleidung vollkommen ausreichen. Dazu kommen noch Sandalen und ein Paar Sportschuhe. Den Verband dürfte Thea nach dem Duschen wohl nicht mehr benötigen.

  »Was ist das da, an deinem Fuß?«, möchte Bernadette zu gerne wissen und zeigt mit ihrem weiß lackierten Fingernagel auf Theas Verband.

  »Ich hatte mir den Zeh verletzt, der ist aber fast verheilt«, setzt Thea schnell nach, weil sie glaubt, dass alles Unreine und Verletzliche in dieser Familie nicht geduldet wird, hoffentlich ist das nicht bei allen Solares so … 

  Bernadettes Gesicht lässt Ekel erkennen, sie schüttelt angewidert den Kopf und schiebt das Frühstück von sich. Maximilian schaut keine Spur entspannter aus, er betrachtet Thea abschätzig, auch ihm ist der Appetit vergangen.

  »Beeilt euch mit dem Essen! Ihr müsst gleich zum AMT FÜR INFORMATION, der Unterricht beginnt in zwanzig Minuten.« Die Geschwister behaupten, dass sie nichts mehr herunterkriegen würden, sie springen sofort von ihren Stühlen auf.

  Frau Solveig führt Thea ins obere Stockwerk, dabei stakst sie selbstsicher mit ihren Stöckelschuhen voran. Auf einmal erfüllt eine durchdringende Vibration die Luft.

  »Der Lieferservice ist da!«, ruft Bernadette.

  Thea begreift, das die Vibration eine andere Art der Türglocke ist, ein Läuten konnte sie jedenfalls nicht hören. Im selben Augenblick erscheint das Gesicht des Paketboten auf dem großen Display. Maximilian drückt eine grün leuchtende Schaltfläche unter dem Videobild. Unmittelbar darauf öffnet sich die Haustür, durch die der Lieferant mit einem weißen Kunststoffbehälter ins Haus geeilt kommt. Thea bleibt in der Tür zum Bad stehen sie blickt ins Erdgeschoss hinunter und beobachtet, wie der freundliche Herr im weißen Overall und mit Schirmmütze die bestellte Kleidung auf einen bestimmten Platz vor dem Bad abstellt, den Herr Solveig dem Lieferanten zuweist.

  »Mannomann, geht das schnell«, sagt Thea leise. ›Daran können sich unsere Paketdienste mal ein Beispiel nehmen‹, fügt sie in Gedanken hinzu.

 

  Nachdem Frau Solveig ihr die komplizierten Funktionen der Dusche erklärt und das Bad verlassen hat, genießt Thea die wohltuende Entspannungsphase unter der heißen Brause. Verstand und Gefühl bekommen erst jetzt die Gelegenheit, sich der neuen Welt anzunähern. Zu häufig ist sie enttäuscht worden, als dass sie leichtfertig auf ihre eigenen Wunschvorstellungen hereinfiele. Sie versucht andere Gefühle in ihrem Innern zu finden, als nur die Erleichterung, der boshaften Welt der Chronos entkommen zu sein. Und da ist wirklich etwas, es ist ein gemischtes Empfinden von Überlebenswillen und Wissensdurst nach jener Welt, die sie hier und heute umgibt.

  Nach ein paar Minuten der Sammlung stellt Thea den Temperaturregler des Duschwassers auf kalt, sodass ihr Kreislauf eine gehörige Belebung erfährt. Anschließend wickelt sie sich in ein großes Handtuch, öffnet vorsichtig die Tür zum Flur und zieht die Kunststoffkiste ins Bad.

  Die Klamotten passen wie angegossen, stellt Thea zu ihrer Zufriedenheit fest, nachdem sie den Inhalt nach und nach aus der Kiste herausgenommen und angezogen hat. Zudem ist ihr Zeh ausgezeichnet verheilt, daher kann sie ohne Verband in die neuen Sportschuhe schlüpfen. Es tut so gut, wieder normal gehen und auftreten zu können, sie ist Medo so dankbar …

  Als Thea wieder das Wohnzimmer betritt, sieht sie gerade noch, wie die komplett gedeckte, beinlose Tischplatte wie von Geisterhand in der Wand verschwindet, um gleich darauf blitzblank wieder zum Vorschein zu kommen. Stolz blickt Frau Solveig auf ihren neu eingekleideten Gast und stellt mit einem befriedigten Unterton in der Stimme fest:

  »Diese Kleidung steht dir ausgezeichnet. Solares bietet dir stets ausgewählte und edle Stoffe für die anspruchsvolle Abendgarderobe, aber auch für die zeitgemäße Freizeitbekleidung in gehobener Ästhetik. Die perfekt aufeinander abgestimmten Kollektionen, einfach bestechend in ihrer Eleganz, repräsentieren zugleich die Philosophie der Solares, nämlich das Streben nach den höchsten Werten.« Ihre Stimme bekommt einen fast übertrieben feierlichen Klang, der Thea zuwider ist. Sie wird das Gefühl nicht los, eine Werbeveranstaltung für Solares-Produkte zu besuchen … 

  »Wo sind Stephan, Maximilian und Bernadette?«, versucht Thea Frau Solveig auf andere Gedanken zu bringen.

  »Stephan besucht die Ausstellung ›Botschaft des Kubismus in der Postmoderne‹, danach wird er zu einer Denkmalseinweihung in der Hauptstadt erwartet. Zu diesem Anlass wird er auch eine Rede halten. Alles, was Rang und Namen hat, wird dort vertreten sein. Am späten Nachmittag treffe ich ihn wieder bei einem Tennis-Match mit Freunden.« Frau Solveig fällt eine blonde Haarsträhne ins Gesicht, die sie mit ihren schmalen Fingern herausstreift. Dann erzählt sie weiter:

  »Die Kinder verbringen den gesamten Vormittag im AMT FÜR INFORMATION. Unmittelbar nach dem Mittagessen besuchen sie diverse Sport- und Kulturveranstaltungen. Zum Abendessen werden wir uns hier zu Hause wieder einfinden. Dann steht die Planung für die Gestaltung des Abends und des nächsten Tages an.«

  Für Thea klingt das nach purem Stress, aber sie lässt sich das nicht anmerken.

  Frau Solveigs Gesichtszüge zeigen endlich mehr Lebendigkeit, zuvor wirkte sie fast wie aus Stein gemeißelt. Sie sagt:

  »Als Bürger dieses wunderbaren Staates habe ich die Pflicht, meinen Gästen die Agrar- und Produktionsstätten von Solares zu präsentieren«, für einen Augenblick lässt Frau Solveig sogar ein herzliches Lächeln aufblitzen. »Darum besuchen wir jetzt gemeinsam ein besonders schönes und interessantes Stück Natur. Von einem besonderen Aussichtspunkt in den Bergen, bekommen wir einen ausgezeichneten Überblick über die wichtigsten Anbaugebiete, deren Erträge den Hauptanteil an der Nahrungsmittelversorgung von Solares ausmachen.« Sie wendet sich zum Gehen und nickt Thea dabei aufmunternd zu. Gemeinsam schreiten sie durch das riesige Wohnzimmer und verlassen das Haus durch den vorderen Eingang.

  Unmittelbar nach dem Schließen der vollautomatischen Glastüren vernimmt Thea ein fremdartiges Klicken. Sie glaubt, die Türen verriegeln sich automatisch, sobald man das Haus verlässt. Doch im nächsten Moment erkennt sie, dass dieses Geräusch aus der Garage gekommen sein muss, die sich links, direkt an das Haus anschließt. Mit einem leisen Summen versinkt eine schwere Stahltür in der Erde, um den Weg für ein perlmuttweißes Fahrzeug freizugeben, dass wenige Zentimeter über dem Erdboden schwebt. Es gleitet einige Meter die Einfahrt entlang, dann stoppt es. Links und rechts heben sich Flügeltüren wie die Schwingen eines Adlers. Zwei Metallplatten fahren beidseitig aus dem unteren Rand des Einstiegs heraus, bis sie den Boden berühren, dann verändern sie ihre Konturen, als flösse Quecksilber in eine unsichtbare Stufenform. Vor Erstaunen lässt Thea ihren Unterkiefer fallen und schaut, etwas benommen von soviel technischem Schnickschnack, in Frau Solveigs Gesicht.

  »Das ist überragende Solares-Technologie«, sagt sie im Brustton der Überzeugung. Dabei lächelt sie zufrieden, und fügt hinzu: »Es ist früheren Generationen gelungen, mittels eines Magnetfeldes die Schwerkraft punktuell außer Kraft zu setzen. Steig ein und mache es dir bequem.«

  »Wollen Sie die Haustür nicht abschließen?«

Frau Solveig wirft ihr einen ungläubigen Blick zu und meint:   

 »In Solares wird nichts verschlossen. Kriminalität, oder wie immer man das in anderen Kulturen nennt, gibt es in Solares seit über sechshundert Jahren nicht mehr. Ich habe auf dem Enzyklopädie-Chip davon gelesen. Die Zeit damals muss abscheulich gewesen sein.«

  »Aber, warum musste dann der Lieferant, der vorhin meine Kleidung brachte, draußen vor der Tür warten, bis Maximilian ihm öffnete?«

  »Das ist eine Frage des Respekts vor der Privatsphäre, die jedem Solares zusteht. Die Tür war nicht verschlossen. Der Bote wartete lediglich auf unsere Zustimmung, das Haus betreten zu dürfen.«

  Thea glaubt jetzt tatsächlich, in der Zukunft angekommen zu sein.

   Leichtfüßig läuft sie auf die Beifahrerseite des aerodynamisch geformten Fahrzeugs und lässt sich in den gepolsterten Sitz fallen. Als sie auf die Armaturen des ›Autos‹ blickt, stellt sie fest, dass es kein Lenkrad gibt. Auch Tachometer, wie Geschwindigkeitsanzeiger oder Drehzahlmesser fehlen vollständig. Es gibt also gar keine Fahrer- oder Beifahrerseite. Frau Solveig setzt sich neben sie. Die Flügeltüren sinken mit leisem Schsssst abwärts. Ein farbiges Display leuchtet am vorderen Ende der Mittelkonsole auf, bereit für die akustische Aufnahme des Reiseziels.

 

  Konzentriert befehligt Frau Solveig: »Solares-Plantagen, Sektor III, Abschnitt 4B.« Und dann an Thea gerichtet: »Von dort oben werden wir einen herrlichen Ausblick haben, sowohl auf die Hauptstadt, als auch auf das Meer.« Thea nickt freundlich, dann sucht sie den Sicherheitsgurt, findet aber keinen.

  »Müssen wir uns für die Fahrt nicht irgendwie sichern?«, schlägt Thea vor.

  »Sichern? Das Glas lässt nur sechsundzwanzig Prozent der UV-Strahlung in den Innenbereich des MagCars. Davon wirst du keinen Sonnenbrand bekommen.« Das Fahrzeug setzt sich bereits in Bewegung.

  »Das meinte ich gar nicht«, Thea verdreht ein wenig die Augen. »Ob wir uns nicht irgendwie vor eventuellen Gefahren oder Unfällen sichern müssen, falls uns irgend etwas in die Quere kommt? So etwas wie Anschnallen, meine ich.«

  Frau Solveig muss laut lachen: »Kindchen, Unfälle, oder wie du das nennst, sind hier völlig unmöglich. (Kindchen ist für Thea noch schlimmer als Theodora) Die Sensoren erkennen jedes Hindernis und lassen das MagCar sofort ausweichen, falls es nötig sein sollte.« 

  Vor Erstaunen zieht Thea kurz die Augenbrauen hoch. Doch als das Gefährt mächtig an Fahrt zulegt und die Insassen dabei regelrecht in ihre Sitze gepresst werden, bleiben Theas Brauen oben hängen, aus Unbehagen. 

  Bäume, MagCars, Menschen, Gebäude und vieles mehr, was sie aber nur undeutlich wahrnehmen kann, rast in atemberaubender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Thea schiebt die Schultern nach vorn und rutscht etwas tiefer in den ergonomisch geformten Sitz, weil sie sich der Willkür einer Höllenmaschine ausgesetzt fühlt. Nach etwa einer Viertelstunde endet die Fahrt fast so abrupt, wie sie begann.

  Thea spürt nun eine Mischung aus Wissensdurst und Misstrauen zugleich. ›Werde ich mit der ganzen Fülle neuer Eindrücke überhaupt klar kommen? Und was ist es nur, das mich so misstrauisch sein lässt? Ist es, weil sich das alles nicht echt anfühlt?‹, fragt sie sich, noch bevor die Flügeltüren wieder aufspringen.

  Versunken in diesen halbschweren Gedanken, steigt sie aus dem MagCar, dankbar, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Margot Solveig steht bereits neben ihr und streckt ihren Arm nach dem Mädchen aus. Thea ergreift die geschmeidige Hand und lässt sich über das taufeuchte Gras zu einer begrünten Anhöhe führen.

 

  Der Anblick, der sich ihnen von hier oben bietet, lässt sich kaum in Worte fassen. Zu schön, fast zauberhaft, breitet sich vor ihren Augen eine paradiesische Landschaft mit idyllischen Auen, Wiesen und Plantagen aus. Die Luft ist außergewöhnlich frisch und klar, die Sicht dementsprechend frei von Staubpartikeln und Dunst. In der Mitte des Panoramas liegt eine nahezu weiße Stadt, mit hübschen Türmchen, Kuppeln und hängenden Gärten, die Thea ein wenig an Tausendundeine Nacht erinnern, einfach atemberaubend schön, wie eine kostbare Perle. Ergriffen und innerlich ganz still folgen ihre Augen einem silbrig schimmernden Fluss, an dessen Ende ein prachtvoller, rauschender, ja fast donnernder Wasserfall eine gigantische Wolke emporsteigen lässt, die aus Milliarden von funkelnden Wassertröpfchen besteht.

  

  An den Rändern schmaler Waldbahnen, die sich nach Süden erstrecken, liegen prächtige Kräuter-, Gemüse- und Obstplantagen, Felder voll blühender schneeweißer und rosafarbener Kirschbäume, Apfel-, Birnen-, Pflaumen-, Pfirsichbäume und vieles andere Baum- und Beerenobst. Frau Solveig, ebenfalls angetan von der herrlichen Aussicht, erläutert, dass in den südlicheren Gebieten des Landes Bananen, Orangen, Sternenfrucht, Kiwi, Mango, Maracuja und Gemüse, wie Melone, Zucchini, Aubergine und vieles mehr gedeiht. Getreide werde ebenfalls dort angebaut, weil die Ernten in den wärmeren Distrikten noch ergiebiger seien. Hier wie dort reifen die unterschiedlichsten Traubensorten an Berghängen, nicht nur zum gewöhnlichen Verzehr, sondern vor allem für die Herstellung von Wein, Sekt und Champagner, der für viele Festveranstaltungen benötigt wird. Thea vermag vor Anerkennung und Erstaunen kein Wort herauszubringen.

  

  Etliche Minuten lässt sie die Eindrücke auf sich wirken. Etwas weiter rechts entdeckt Thea in großer Entfernung weite Flächen voll bunter Blumen und kleiner Seen, die das Blaue des Himmels widerspiegeln.

  »Wer erntet das alles?«, möchte Thea gerne erfahren.

 »Sämtliche Erzeugnisse werden vollautomatisch maschinell und computergesteuert geerntet, verarbeitet und anschließend in den Verteilungszyklus transferiert. Niemand braucht für seine Ernährung auch nur einen Handschlag zu tun. Sämtliche Maschinen und Produktionsmittel werden von Robotern bevorratet, gewartet und instand gehalten. Das Wort arbeiten kommt mir nur sehr schwer über die Lippen, weil wir es kaum noch verwenden. Die Solares können sich uneingeschränkt den höheren Dingen des Lebens widmen, der Kultur und dem Vergnügen«, sagt Frau Solveig frei heraus.

  

  Bei diesen Worten kommen Thea Zweifel, ob das überhaupt funktionieren kann. Sie hatte immer geglaubt, dass man für alles, was man zum Leben braucht oder besitzen möchte, arbeiten muss.

  Dann wendet sie auf dem Absatz und läuft einen Abhang hinunter, der sich auf der gegenüberliegenden Seite weiter links befindet. Unmittelbar vor dem Ende des abfallenden Weges, macht sie erschreckt einen Satz zurück.

  Was Thea zunächst nicht sehen konnte ist, dass sie sich unmittelbar vor einem sehr tiefen Abgrund befindet. Die grasbewachsene Ebene bricht steil ab, als hätte ein riesenhafter Hammer sie zerschlagen.

  Frau Solveig sieht ihr erschrecktes Gesicht und sagt:  

  »Habe keine Angst (Thea merkt, dass auch dieses Wort ihr nur zäh über die Lippen kommt). Du kannst gar nicht hinabstürzen. Probiere es aus, versuche doch einmal den Abhang hinunterzuspringen.«

  Beharrlich schüttelt Thea den Kopf, dann ergreift Frau Solveig selbst die Initiative. Aus dem Stand rennt sie los und springt in vollem Lauf über den Rand des Abhangs. Ein Schrei aus Theas Mund durchschneidet die friedliche Idylle wie ein zweischneidiges Schwert.