Impressum
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成龙:还没长大就老了
Copyright 2015 © 成龙 & 朱墨
All rights reserved.
German language edition arranged
with Beijing Fonghong Books Co, Ltd
through Mondhase Agency.
Verlag Neues Leben –
eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage
ISBN E-Book 978-3-355-50062-3
ISBN Buch 978-3-355-01892-0
1. Auflage 2020
© der deutschen Ausgabe:
Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann
unter Verwendung eines Fotos von Feng Yu
www.eulenspiegel.com
Für meine Eltern
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
KAPITEL EINS
KANONENKUGEL
KAPITEL ZWEI
DER BESCHÜTZER
KAPITEL DREI
DAS EINZIGE, WAS ICH ZUTIEFST BEREUE
KAPITEL VIER
EIN DUNKLES JAHRZEHNT
KAPITEL FÜNF
ERSTE LIEBE
KAPITEL SECHS
NUMMER NEUN
KAPITEL SIEBEN
MEIN DURCHBRUCH
KAPITEL ACHT
WILLKOMMEN IN AUSTRALIEN
KAPITEL NEUN
AUSTRALIEN, DIE ZWEITE
KAPITEL ZEHN
DER ZUM DRACHEN WIRD
KAPITEL ELF
ÜBER NACHT ZUM ERFOLG
KAPITEL ZWÖLF
DER GEIST VON BRUCE LEE
KAPITEL DREIZEHN
WILLKOMMEN IN HOLLYWOOD
KAPITEL VIERZEHN
DIE LIEBELEI
KAPITEL FÜNFZEHN
FREIER FALL
KAPITEL SECHZEHN
DAS EINGEMACHTE
KAPITEL SIEBZEHN
DIE LIEBE MEINES LEBENS
KAPITEL ACHTZEHN
UND WENN ICH NUN STERBE?
KAPITEL NEUNZEHN
WILDFANG
KAPITEL ZWANZIG
VATERSCHAFT, TEIL I
KAPITEL EINUNDZWANZIG
NOCH EIN VERSUCH
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
MEINE ABSOLUTEN HIGHLIGHTS
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
MEHR GELD ALS VERSTAND
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
CO-STARS
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
VATERSCHAFT, TEIL II
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
JACKIES GUTER JAHRGANG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
ÜBERS OHR GEHAUEN
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
GEBEN
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
DER VATER VON KARATE KID
KAPITEL DREISSIG
SINGEN
KAPITEL EINUNDDREISSIG
DER WAHRE KUNG-FU-STAR
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
MEINE DREI VÄTER
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
NATIONALHEILIGTUM
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
VIER HÄUSER IN SINGAPUR
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
FÜR DIE FANS
DAS KRÖNENDE ENDE
EINLEITUNG
Im Jahr 2016 erhielt in den Ehren-Oscar für mein Lebenswerk. Nach sechsundfünfzig Jahren, nach über 200 Filmen und zahllosen Knochenbrüchen – nie hätte ich gedacht, dass ich das erlebe. Als ich den Anruf bekam, wurde ein Traum wahr.
Zu dieser Zeit drehte ich gerade in Taiwan. Mein Manager Joe Tam rief mich an und sagte, dass die Präsidentin der Motion Picture Academy, Cheryl Boone Isaacs, gern mit mir sprechen würde. Ich telefonierte mit Cheryl, und sie überbrachte mir die unglaubliche Nachricht. Wenn ich »unglaublich« sage, dann, weil ich es wirklich nicht fassen konnte. Ich fragte: »Sind Sie sicher, dass Sie mich wollen?«
Die Nacht, in der die Governors Awards verlieren wurden, war pure Hollywood-Magie. Bei der Preisverleihung saß ich neben meinem alten Freund und Filmpartner Arnold Schwarzenegger. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, und war überrascht, als ich sah, wer mich auf der Bühne vorstellte.
Zunächst einmal bezeichnete mich Tom Hanks – Tom Hanks! –, mit dem ich nie zusammengearbeitet hatte, aber den ich gut zu kennen meine, ganze drei Mal als »chan-tastisch«.
»Jackie Chan, ein Mann, der aus fantastisch ›chan-tastisch‹ macht, weil er vor allem in Martial-Arts-Filmen und Actionkomödien mitgewirkt hat, zwei Genres, die bei den Oscars aus irgendeinem Grund, sagen wir mal, traditionell unterrepräsentiert sind. Das würde sich ganz schnell ändern, wenn ich im Komitee etwas zu sagen hätte«, sagte er. »Es ist besonders erfreulich, dass wir heute mit diesem Governors Award Jackies enorme Kreativität würdigen können, sein riesiges Talent für die physische Performance und die unglaubliche Hingabe, die er in seine Arbeit steckt. Gute Schauspielerei gibt es in vielen unterschiedlichen Formen, aber wenn man selbst Schauspieler ist, erkennt man sie sofort, wenn man sie sieht. Und Jackie Chans Filme sind sowohl unglaublich ernst, manchmal sogar auf erschreckende Weise, als auch unglaublich lustig, so sehr, dass sie Millionen von Menschen überall auf der Welt erfreuen. Einerseits könnte man sagen, hier haben wir eine chinesische Version von John Wayne – die ernsten Filme – und andererseits einen chinesischen Buster Keaton – die Komödien. Wie ist das bei einem einzigen Mann möglich? Er muss wahrhaft chan-tastische Talente besitzen. Aber Jackie tut etwas, das keine dieser Filmlegenden jemals fertiggebracht hat. Keiner dieser großen Künstler des Kinos hat jemals seine verpatzten Szenen im Abspann gezeigt, und niemals konnte man in den Outtakes sehen, wie John Wayne oder Buster Keaton sich den Ellenbogen brechen oder einen Sehnenriss erleiden. Dies ist nur einer der Gründe, warum die in der Academy vertretenen Schauspieler so erfreut darüber sind, Jackie den chan-tastischen Chan zu ehren.«
Mit den Outtakes hatte er recht. Angefangen 1980 bei »Meister aller Klassen«, gab es in meinen Filmen nach dem Abspann immer Outtakes. Manche zeigen, wie ich meinen Text vermassele oder andere Fehler mache, aber meistens sieht man die Stunts, die schiefgehen, und wie ich mich lächerlich mache und unsanft zu Boden gehe, während die Crew zu mir herübereilt.
Als Nächstes sprach Michelle Yoeh, die wie eine kleine Schwester für mich ist, über unsere lange Freundschaft: »Wie Kinobesucher auf der ganzen Welt wissen, hat Jackie Chan schon immer voller Überraschungen gesteckt«, sagte sie. »Er überraschte mich zum ersten Mal, als ich ihn vor dreißig Jahren kennenlernte. Ich war nach Hongkong geflogen, um einen Werbespot zu drehen mit einem Superstar namens Shing Lung. Ich hatte noch nie von ihm gehört, aber als er hereinkam, sagte ich zu mir: ›Das ist Jackie Chan, nicht Shing Lung …‹
Natürlich hatte ich ihn sofort erkannt, an seinem unverwechselbaren Gang, seinem riesigen Lächeln und seiner ansteckenden Ausgelassenheit, die ihn umgibt, wohin er auch geht. Jackie ist ein großherziger Schauspieler. Er ist so großherzig im Umgang mit seinen Drehpartnern wie auch mit seinem Publikum. Aber ich würde auch sagen, dass er den Wettbewerb liebt. Das Problem ist: ich auch. Als wir ›Supercop‹ drehten, ging es Auge um Auge. Wenn ich einen Stunt machte, musste Jackie einen machen, der noch toller war. Und ich musste den wiederum übertreffen …
Jackie nahm mich zur Seite und sagte: ›Wir müssen damit aufhören. Du rollst von einem Autodach, also muss ich vom Dach eines Gebäudes rollen. Du springst mit einem Motorrad auf einen Zug auf, also muss ich es mit einem Hubschrauber tun. Wenn das so weitergeht, bin ich am Ende tot.‹ Aber du hast überlebt, so wie auch sonst immer«, fuhr Michelle fort. »Viele Veteranen des Showbusiness haben über die Jahre den Governors Award erhalten, aber heute Abend ist Jackie Chan der erste kleine Junge, der einen gewinnt. Seine Freunde und seine Fans wissen, dass Jackie Chan das Geheimnis der ewigen Jugend entdeckt hat. Er ist eigentlich immer noch derselbe Mensch wie an dem Tag, als ich ihn kennenlernte. Er ist ehrlich, lustig, freundlich und verfügt trotz seines Alters immer noch über erstaunliche körperliche Fähigkeiten.«
Nun wurde eine Montage einiger meiner Filmszenen gezeigt, und schließlich kam Chris Tucker, mein guter Freund und Mitdarsteller in den »Rush Hour«-Filmen, auf die Bühne. »Der große Jackie Chan …«, sagte er. »Mit einer lebenden Legende zu arbeiten war unglaublich. Jeden Tag konnte ich es kaum erwarten, an das Set zu kommen und Jackie Chan zu sehen. Ich war meistens spät dran, aber wenn ich dann ankam, wartete Jackie mit überschlagenen Beinen und sagte: ›Wo ist Chris Tucker? Höchste Zeit!‹ Aber er beschwerte sich nicht. Er wusste, ich war dieser junge Typ, der, Sie wissen schon, seinen Text nicht kannte, aber er ließ sich darauf ein. Jackie, es war eine Ehre mit dir zu arbeiten, und ich kann es kaum erwarten, wieder mit dir zu arbeiten … Du hast viele Leute reich gemacht, Jackie. Sehr viele Leute. Aber ganz ehrlich, mit Jackie Chan zu arbeiten hat mich auch automatisch weltweit bekannt gemacht. Das war für mich ein Segen. Dafür danke ich dir, Jackie … Ich liebe dich, Mann, du bist ein Teil von mir … Und herzlichen Glückwunsch! Ich bin so glücklich und fühle mich so geehrt, hier dabei zu sein, dir den Preis zu überreichen, meinem guten Freund, Jackie Chan!«
Als ich auf die Bühne ging, um die goldene Statue entgegenzunehmen, war ich sehr gerührt. Michelle und Chris zu sehen, wie auch andere alte Freunde im Publikum wie Sylvester Stallone, gab mir das Gefühl, ein Kind zu sein, das zu seiner Familie nach Hause kommt. Später fand ich heraus, dass Joe mit der Academy zusammengearbeitet hatte, um meine Freunde dorthin zu holen und mich zu überraschen.
Ich hielt dann auch eine kleine Rede.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich hier stehe. Das ist ein Traum … Jedes Jahr, wenn ich die Oscarverleihung mit meinen Eltern im Fernsehen sah, sagte mein Vater zu mir: »Mein Sohn, du hast so viele Filmpreise auf der Welt gewonnen, wann wirst du einmal so einen bekommen?«
Dann sah ich immer meinen Vater an: »Ha ha ha, Papa, ich mache doch nur Actionkomödien.«
Viele Jahre später kam ich nach Hollywood, um die Regisseure großer Filmstudios zu treffen. Es war bei meinem Freund zu Hause, bei Sylvester Stallone, vor dreiundzwanzig Jahren. Da sah ich einen Oscar stehen. Ich berührte ihn, ich küsste ihn, ich roch an ihm. Ich glaube, meine Fingerabdrücke sind immer noch an ihm dran … Da sagte ich zu mir: »Ich will unbedingt auch einen.«
Endlich gehört er mir. Ich möchte Hongkong danken, der unglaublichen Stadt, meiner Heimatstadt, meinem Viertel, die aus mir den gemacht haben, der ich bin. China, mein Land. Ich bin stolz, Chinese zu sein! Danke, Hollywood, für all die Jahre, dafür, dass du mir so viel beigebracht und mich auch ein bisschen berühmt gemacht hast. Und ich danke vor allem euch, meiner Familie, meiner Frau Joan, meinem Sohn Jaycee, dem Jackie Chan Stunt Team – dieses Jahr ist das vierzigjährige Jubiläum des Jackie Chan Stunt Teams … Ich danke euch von ganzem Herzen … Ich danke meinen Fans überall auf der Welt, euretwegen habe ich einen Grund, weiter Filme zu machen, durch Fenster zu springen, zu treten und zu schlagen – mir die Knochen zu brechen.
Wir gingen gemeinsam zum Dinner, und danach gab es eine Party. Als wir ins Hotel zurückkehrten, war alles wieder normal. Am nächsten Tag ging ich wie immer an die Arbeit, besuchte Drehbuch-Meetings und besprach neue Projekte.
Michelle hatte gesagt, dass ich das Geheimnis der ewigen Jugend entdeckt hätte und im Herzen immer noch ein kleiner Junge wäre. Ich glaube, sie hat recht. Niemals erwachsen zu werden gelingt, indem man das liebt, was man tut. Ich liebe Filme. Sie zu drehen hält mich im Herzen jung. Die meiste Zeit vergesse ich, wie alt ich bin! Erst wenn ich meinen Sohn Jaycee sehe, der siebenunddreißig ist, erinnere ich mich daran, dass ich fünfundsechzig bin.
Viele, viele Jahre lang habe ich nicht geglaubt, dass es überhaupt möglich wäre, einen Oscar zu gewinnen. In Asien war ich berühmt, aber ich hätte nie gedacht, dass irgendwer in Amerika meine Filme zur Kenntnis nehmen würde. Von Hollywood diese Ermutigung und Anerkennung zu bekommen – und das, solange ich noch jung bin! – erfüllte mich mit tiefer Dankbarkeit. Und ich bin der erste chinesische Filmemacher in der Geschichte, der den Preis erhielt.
Doch die wahre Ehre und der wahre Lohn, das, was ich am meisten schätze, ist die Chance zu haben, die Träume meiner Kindheit im Film auszuleben, und das schon seit so langer Zeit und so erfolgreich. Ich habe vor, weiterzumachen.
Tatsächlich habe ich mir zum Ziel gesetzt, noch eine kleine goldene Statue zu gewinnen. Ich glaube nicht, dass es bei den Oscars eine Regel gibt, die besagt, dass man keinen Preis als Schauspieler oder Regisseur erhalten kann, wenn man schon für sein Lebenswerk geehrt wurde, oder?
Also, mein Leben ist noch nicht vorbei! Mit fünfundsechzig Jahren fange ich gerade erst an.
KAPITEL EINS
KANONENKUGEL
Ich wurde am 7. April 1954 in Hongkong geboren, im Jahr des Pferdes. Mein Vater nannte mich Chan Kong-Sang, was »geboren in Hongkong« bedeutet.
Als ich noch im Bauch meiner Mutter lag, war ich schon ein unartiges Kind, ich bewegte mich hin und her und trat viel. Daran ist nichts Ungewöhnliches, aber das Seltsame war, dass meine Mutter länger als die üblichen neun Monate mit mir schwanger war. Ich weigerte mich, herauszukommen. Eines Tages hatte sie dann unerträgliche Schmerzen, also brachte mein Vater sie schnell ins Krankenhaus. Sie lag da, krümmte sich voller Qualen und wand sich so sehr, dass sie irgendwann unter dem Bett lag. Nachdem sie sie untersucht hatte, sagte die Ärztin, dass das Baby zu groß sei und es eine schwierige Geburt werden könne. Sie schlug einen Kaiserschnitt vor.
Nur, ein Kaiserschnitt kostete mehrere hundert Hongkong-Dollar, und meine Eltern hatten das Geld nicht. Die Ärztin, die selbst keine Kinder hatte, machte meinem Vater einen Vorschlag: Wenn meine Eltern das Baby ihr gäben, würde sie nicht nur die Operation umsonst durchführen, sondern ihnen zusätzlich fünfhundert Dollar zahlen. Das war sehr viel Geld, und mein Vater zog ihr Angebot tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde in Betracht. Zu dieser Zeit war es gang und gäbe, dass arme Leute ihre Babys weggaben, damit sie von den Reichen großgezogen wurden. Nicht nur kamen die Eltern so an etwas Geld, sondern sie konnten ihren Kindern auch ein materiell besseres Leben garantieren. Zum Glück entschieden sich meine Eltern dagegen. Immerhin war ich ihr erstes Kind und würde vielleicht ihr einziges sein. Meine Mutter war bereits vierzig und wäre womöglich nicht in der Lage, noch eines zu bekommen.
Mein Vater unterzeichnete die Einverständniserklärung für die Operation. Zwei Stunden später kam ich aus dem Bauch meiner Mutter und wog 5400 Gramm. Die Ärztin und meine Eltern waren fassungslos. Von meinen riesigen Ausmaßen wurde sogar in den örtlichen Zeitungen berichtet, unter der Schlagzeile »Riesenbaby«. Weil ich so kräftig war, gaben meine Eltern mir den Spitznamen Kanonenkugel. Die Freunde meiner Eltern meinten: »Ein fünfeinhalb Kilo schweres Baby! Diesem Kind könnte später mal etwas Beeindruckendes gelingen!« Sie liehen meinem Vater sogar etwas Geld, um seine Schulden bei der Ärztin zu bezahlen.
In den fünfziger Jahren waren meine Eltern vom chinesischen Festland nach Hongkong geflohen und fanden im französischen Konsulat Anstellungen als Küchenchef und Dienstmädchen. Als Flüchtlinge zu dieser Zeit hatten sie ziemliches Glück. Obwohl meine Eltern nicht viel Geld hatten, lebten wir im luxuriösen Botschaftsviertel Victoria Peak, nur dass wir nicht in einem prachtvollen Haus direkt an der Straße wohnten. Unser Zuhause war ein heruntergekommenes, kleines Hinterhaus. Die Leute im Konsulat behandelten uns gut, aber von Anfang an lebten wir in zwei verschiedenen Welten.
Unser Zuhause war sehr sauber – und sehr überfüllt. Wir drei lebten dicht gedrängt auf wenigen Quadratmetern. Meine Mutter polierte die Möbel, die mein Vater mit seinen eigenen Händen baute. Es gab nicht genug Platz für zwei Betten, also schliefen wir in einem Stockbett, meine Eltern oben und ich unten. Ich war ein sehr unruhiger Schläfer. Jede Nacht hatte ich Schreianfälle und machte einen solchen Lärm, dass alle Konsulatsnachbarn davon aufwachten. Manchmal kamen sie, um nachzusehen, was los war, was meinen Eltern peinlich war. In manchen Nächten war ich so laut, dass die Nachbarn ein paar Häuser weiter riefen: »Wessen Kind ist das? Halt die Klappe!« Wenn das passierte, packte meine Mutter mich warm ein und nahm mich mit in den nahegelegenen Park, wo sie mir vorsang, bis ich einschlief. Ich war ein schweres Kind, und für meine Mutter war es anstrengend, mich durch die Gegend zu tragen, nachdem sie den ganzen Tag hart gearbeitet hatte. Sie machte es trotzdem.
Mein Vater war Tag für Tag in der Küche beschäftigt, und meine Mutter kämpfte mit Bergen schmutziger Wäsche. Als ich etwas älter war, nahm sie mich mit. Während sie putzte, schrubbte, bügelte und die Wäsche faltete, kroch ich um ihre Füße herum, so dass sie beinahe über mich stolperte. Wenn sie gerade nicht hinsah, aß ich Papierschnipsel oder Seifenstückchen, was ihr Sorgen machte, bis sie schließlich eine Lösung fand: Wenn sie mich in eine Wanne voll mit Wasser setzte, plantschte ich fröhlich und beschäftigte mich mit mir selbst, und sie hatte endlich etwas Ruhe.
Mein Vater sagte, ich ähnelte als Kind eher meiner Mutter. Ich war mollig, hatte langes Haar von Geburt an, kleine Augen und eine große Nase. Es ist mir etwas unangenehm, das zuzugeben, aber meine Mutter vergötterte mich so sehr, dass sie mir die Brust gab, bis ich drei war. Sie wollte es mir abgewöhnen, an der Brust zu trinken, aber ich ließ nicht locker. Wahrscheinlich brachte ich sie das ein oder andere Mal in Verlegenheit, wenn sie mit ihren Freunden Mahjong spielte – in einer ihrer seltenen Pausen –, und ich zu ihr gerannt kam, ihre Bluse hochhob und zu trinken versuchte.
Als ich vier war, begann mein Vater damit, mich bei Sonnenaufgang zu wecken und mich aus dem Haus zu ziehen, um Frühsport zu machen und danach zusammen kalt zu duschen. Er war handwerklich begabt und stellte die Geräte für unsere Übungen aus Holzresten selbst her. Mein Vater hatte die Hung-Gar-Kampfkunst erlernt und brachte mir einfache Bewegungen bei. Dann sah er mir dabei zu, wie ich sie übte.
Manchmal fragten mich die Nachbarn, was ich werden wolle, wenn ich einmal erwachsen wäre, und ich antwortete immer, ich wollte fliegen.
Sie fragten mich: »Fliegen? Wie denn?«
Und ich deutete auf den Himmel und sagte: »Ganz hoch!«
Dann lachten sie und sagten, ich sollte besser noch nicht fliegen, ich würde mir sonst noch wehtun. »Warte, bis du erwachsen bist!«
Ich wusste, dass es höflich war, zu nicken, also tat ich es, aber es gefiel mir nicht, auf irgendetwas warten zu müssen. Ich wollte außerdem ein Cowboy sein, wie die in amerikanischen Filmen. Sie wirkten so tapfer und schneidig, und ich stellte mir vor, ich wäre einer von ihnen. Ich bearbeitete meine Eltern, bis ich ein Cowboy-Outfit bekam, das ich mit Stolz zu jeder sich bietenden Gelegenheit trug.
Mit fünf Jahren ging ich widerstrebend zur Schule. Meine Eltern hatten kein Auto, also musste ich jeden Morgen früh aufstehen und den Hügel hinunter zur Schule laufen. Bevor ich ging, machte meine Mutter mir ein üppiges Frühstück und packte mir ein belegtes Brot oder Mittagessen ein. In diesem Alter hatte ich einen enormen Appetit und liebte es, zu essen. Auf dem Weg nach unten bekam ich jedes Mal Hunger und hatte mein Mittagessen schon aufgegessen, bevor ich das Klassenzimmer betrat.
Meine Mutter machte sich Sorgen um meine Sicherheit und gab mir jeden Tag ein paar Münzen mit, damit ich den Bus nach Hause nehmen konnte, anstatt am Ende des Tages den Hügel hinauf zu laufen. Aber ich gab das Geld zwangsläufig für Nudeln aus und hatte keine andere Wahl, als nach Hause zu laufen. Wenn ein Auto an mir vorbeifuhr, versuchte ich, per Anhalter zu fahren und wurde oft von wohlmeinenden Leuten mitgenommen. Nie wollte mich irgendwer entführen oder mir etwas antun.
Natürlich gab es auch Tage, an denen ich Pech hatte und kein einziges Auto vorbeikam, so dass ich nach Hause laufen musste. Das dauerte eine ganze Weile. Damit ich schneller zu Hause sein und vor meiner Mutter verheimlichen konnte, dass ich das Fahrgeld für Fast Food ausgegeben hatte, nahm ich bei der letzten Anhöhe eine Abkürzung. Ich sage »Abkürzung«, dabei war es vielmehr eine Todesfalle. Ich musste eine steile Felswand erklimmen und mich an Zweigen und hervorstehenden Felsen festklammern wie ein Affe, und das den ganzen Weg bis zu unserem Hinterhof. Einmal erwischte mich mein Vater, als ich gerade an der Klippe hing. Er zog mich mit einer Hand nach oben, warf mich in den Schuppen und sperrte mich für den Rest des Tages ein. Damit erteilte er mir eine wichtige Lektion: Von diesem Tag an hielt ich immer nach meinem Vater Ausschau, bevor ich über den Rand kletterte.
Die reichen Kinder, mit denen ich zur Schule ging, konnten sehen, wie ich auf dem Nachhauseweg den Hügel hinaufkletterte, während sie in ihren Autos vorbeifuhren, und sie riefen mir Gemeinheiten zu wie »Dienerjunge!« und »Hey, du Bettler, wenn du kein Geld für den Bus hast, dann komm nicht zur Schule!« Nach einer Weile konnte ich diese Beleidigungen nicht mehr aushalten. Eines Tages auf dem Spielplatz machten sie wieder eine hinterhältige Bemerkung, und ich stürzte mich auf sie. Wir fingen an, uns zu prügeln und wälzten uns auf dem Boden. Ich wendete alle Tricks an, die mein Vater mir beigebracht hatte, aber ich war nur einer gegen viele. Als einer von ihnen nach meinem Bein griff, verlor ich das Gleichgewicht und fiel hin. Ich schlug mit dem Kopf auf einen Stein auf, und alles wurde schwarz. Ich lag auf dem Boden und bewegte mich nicht. Das Kind, das mich niedergeschlagen hatte, war der Sohn eines Botschafters. Er rannte nach Hause, um Hilfe zu holen, und die anderen zerstreuten sich in alle Winde.
Bald darauf erschien der Vater des Jungen und betrachtete mich sorgenvoll. Später erfuhr ich, dass die Familie große Angst hatte, dass ich schwer verletzt wäre. Immerhin befanden wir uns im Botschaftsviertel, und wenn hier ein Kind ein anderes ernsthaft verletzte, konnte sich das möglicherweise zu einer internationalen Angelegenheit auswachsen. Wenn meine Eltern Anzeige gegen sie erstatteten, kämen sie in echte Schwierigkeiten.
Aber so schwer verletzt war ich nicht. Ich war nicht ohnmächtig geworden, mir war schwindlig, und ich war zu benommen, um ohne Hilfe stehen zu können. Der Botschafter brachte mich nach Hause, und ich dämmerte in den Schlaf. Als ich wieder aufwachte, tat mir alles weh und ich spürte einen pulsierenden Schmerz am Hinterkopf. Als ich die Stelle berührte, stieß ich auf eine riesige Beule.
Kurz darauf kam mein Vater nach Hause und sagte: »Kanonenkugel, der Sohn des Botschafters hat dir ein Geschenk gebracht.« Er hielt eine gigantische Pralinenschachtel in den Händen. Mein Vater legte sie neben mir ab, zauste mir das Haar – was höllisch wehtat – und ging.
Pralinen! Für einen Gierschlund wie mich war das das beste Geschenk überhaupt. Obwohl ich Schmerzen hatte und mir immer noch schwindlig war, hatte ich doch meinen Appetit nicht verloren. Ich riss die Schachtel auf und steckte mir eine in den Mund. Der süße Geschmack, der meinen Mund erfüllte, half mir über meine schmerzliche Niederlage hinweg. Also aß ich noch eine und noch eine. Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte ich die ganze Schachtel aufgegessen – und mir war schlecht. Beharrlich versuchte ich, das Rumoren in meinem Magen zu ignorieren. So etwas Leckeres würde ich mit Sicherheit nicht erbrechen.
Die Tür wurde wieder geöffnet und mein Vater kam herein. Als er meinen mit Schokolade beschmierten Mund sah, fragte er erschrocken: »Du hast die ganze Schachtel aufgegessen? Weißt du denn nicht, dass man aufpassen muss, was man isst, wenn man verletzt ist?«
Tatsächlich hatte ich das nicht gewusst. (Ich war erst sechs!) Ich sagte: »Oh.«
Nun, mein Vater war nicht erfreut, dass ich mir den Bauch vollgeschlagen hatte. Er befand, dass ich mich ausreichend von meiner Verletzung erholt hatte und er mir eine ordentliche Tracht Prügel verpassen konnte.
Ich werde diesen Tag immer als das erste Mal in Erinnerung behalten, dass ich einen Kampf verlor. Als ich älter wurde, musste ich noch viele Male Niederlagen einstecken, aber das wusste ich damals noch nicht. Und ich werde den bittersüßen Geschmack von Schokolade immer mit diesem Tag in Verbindung bringen.
KAPITEL ZWEI
DER BESCHÜTZER
Für all die reichen Kinder in Victoria Peak, unter ihnen viele Kinder ausländischer Botschafter, war ich nur ein armer Chinese. Keiner von ihnen spielte je mit mir. Zum Glück hatte der französische Konsul, der Chef meiner Eltern, eine Tochter, die ungefähr in meinem Alter und sehr schön war. Ich will sie Sophie nennen. Wir spielten oft miteinander, und sie nannte mich immer ihren Boyfriend. Dieses Wort ließ mich eine gewisse Verantwortung fühlen, aber um ehrlich zu sein, in diesem Alter verstand ich überhaupt nicht, was es bedeutete – bis sich irgendwer über Sophie lustig machte. Da wusste ich, dass ich sie beschützen musste.
Wie ich schon erwähnte, hatte mein Vater in jungen Jahren Kampfkunst trainiert, und er übte immer noch regelmäßig, um in Form zu bleiben. Er brachte mir sein Können bei, und mein Körper war von Haus aus stark. Abgesehen von dem Tag, an dem ich mir den Kopf gestoßen hatte, gewann ich in der Regel jede Prügelei mit anderen Kindern (und Prügeleien gab es viele). Ich schikanierte jedoch nie andere, sondern schlug nur zurück, wenn sich jemand mit mir anlegte oder es wagte, meine »Freundin« zu ärgern. Ich nahm sie immer sofort in Schutz. Egal, wer dumm genug war, ihr auf die Nerven zu gehen oder sie zum Weinen zu bringen, egal, wessen Schuld es war, ich war gleich zur Stelle und schlug auf denjenigen ein, bis er um Gnade flehte und sich entschuldigte.
Bei einer dieser Gelegenheiten ertappte mich mein Vater, wie ich einen Nachbarsjungen verprügelte. Sein Gesicht und sein Hals waren schon über und über mit blauen Flecken bedeckt, dabei heulte er laut. Mein Vater stürzte herbei, packte mich, bevor ich noch weiteren Schaden anrichten konnte, und half dem Jungen auf die Beine. Als ich sah, wie mein Opfer jaulend nach Hause rannte, schwoll meine Brust vor Stolz.
Mein Vater dagegen? Er war nicht so zufrieden mit mir. Er zerrte mich nach Hause, während ich hinterher stolperte und protestierte: »Aber Papa, ich habe gewonnen! Ich habe gewonnen!«
Sobald wir unser Haus betreten hatten, löste mein Vater seinen Gürtel und verprügelte mich, dann steckte er mich in den Abfallschuppen der Botschaft, wo ich für gewöhnlich landete, wenn ich etwas ausgefressen hatte. Ich verstand es nicht. Ich hatte die Ehre meiner Freundin verteidigt, und dafür wurde ich bestraft?
Er sagte: »Ich habe dir den Kampfsport nicht beigebracht, damit du anderen Leuten wehtust.«
Ich flehte: »Aber Papa, sie haben Sophie geärgert. Ich musste ihnen eine Lektion erteilen.«
Er funkelte mich zornig an, und ohne ein weiteres Wort schloss er die Schuppentür, verriegelte sie und ging.
Ich setzte mich auf einen Müllsack. Ich konnte hören, wie draußen meine Mutter herbeigeeilt kam und meinen Vater anflehte, mich rauszulassen. Sie stritten sich eine ganze Weile darüber, aber er gab nicht nach. Dann wurde es wieder still.
Ich stellte mich auf eine lange Wartezeit ein. Inzwischen kannte ich diesen kleinen, engen Raum schon sehr gut. Dort drin zu sein war nicht so schlimm, aber mein Magen hatte zu knurren begonnen. Ich verhungerte! Wenn ich doch nur etwas zu essen hätte. Ich starrte auf den winzigen Lichtschimmer, der durch die Türritze fiel, und dachte mir, da kann ich genauso gut ein Nickerchen machen. Dann würde ich immerhin den Schmerz des Hungers nicht spüren.
Ich schloss die Augen und dachte, ich hasse meinen Papa! Ich hatte meine Freundin wie ein Held verteidigt. Er sollte mich loben und nicht bestrafen!
Trotz meiner Wut war ich ein wenig weggedämmert, bis ich von einem leisen Klopfen an der Tür geweckt wurde. »Wer ist da?«, fragte ich.
Die Stimme meiner Mutter sagte: »Kanonenkugel, sieh nach oben.«
Sie schob etwas durch den Spalt über der Tür. Ein eingewickeltes Päckchen landete in meinem Schoß. Noch bevor ich das Papier abgemacht hatte, konnte ich den köstlichen Duft eines riesigen Braten-Sandwichs riechen. Ich dachte, ich liebe meine Mama! Es war das beste Geschenk, das ich in meinem ganzen Leben bekommen hatte. Ich flüsterte ein »Danke«, und sie schlich davon. Ich verschlang mein Essen und fühlte mich unfassbar glücklich.
Ich war zu jung, um die Situation zu durchschauen. Erst später fand ich heraus, warum mein Vater so wütend gewesen war. Der Junge, den ich verprügelt hatte, war der Sohn eines Botschaftsbeamten, und mein Vater machte sich Sorgen, dass er wegen dieses Vorfalls seinen Job verlieren würde. Unsere Familie war der Gnade anderer komplett ausgeliefert, und wir mussten aufpassen, dass die, die höhergestellt waren, uns wohlgesonnen blieben. Als er mich endlich aus dem Schuppen herausließ, zwang mich mein Vater, zu dem Jungen nach Hause zu gehen und mich bei ihm und seiner ganzen Familie zu entschuldigen. Er war kurz davor, mich wieder zu schlagen, dieses Mal vor ihren Augen. Der Botschaftsbeamte aber stoppte ihn und sagte: »Das ist nicht notwendig. Kinder streiten sich nun mal. Machen wir keine große Sache draus.«
Durch diesen Zwischenfall war ich zwar nicht weniger bereit, Sophie zu verteidigen, aber es war klar, dass ich es ab sofort cleverer angehen musste. Bevor ich das nächste Mal zuschlug, musste ich mich umsehen und sichergehen, dass keine Erwachsenen in der Nähe waren. Schon bald hatten die meisten der anderen Kinder in der Nachbarschaft meine Fäuste geschmeckt, oder sie wussten, dass sie sich nicht mit mir und meiner Freundin anlegen sollten. Von nun an musste ich mich nicht mehr so oft prügeln.
KAPITEL DREI
DAS EINZIGE, WAS ICH ZUTIEFST BEREUE
Ich hasste die Schule von dem Moment an, als ich erfuhr, dass ich hingehen musste.
Eines Morgens vor unserem Frühsport sagte mein Vater: »Kanonenkugel, du musst nun bald zur Schule gehen.«
Wieso? Ich wusste, was Schule war. Ich hatte die reichen Kinder gesehen, wie sie mit ihren Schultaschen und ihren braven Uniformen jeden Morgen in ihre Autos einstiegen, um den Hügel hinunterzufahren, und ich fand, sie alle sahen lächerlich aus. Ich dagegen konnte auf unserem Grundstück herumrennen und spielen, solange ich wollte. Wenn mir langweilig wurde, konnte ich meiner Mutter helfen, die Wäsche zu falten, meinem Vater beim Kochen zusehen oder Zeit mit Sophie verbringen, was immer Spaß machte.
»Ich will nicht zur Schule!«, protestierte ich. »Ich kann auch zu Hause Sachen lernen!«
Es nützte nichts. Nach ein paar Tagen wurde ich zur Tür hinaus geschubst, hielt eine Schultasche in der Hand und trug eine Uniform, genau wie die Kinder, die ich verabscheute.
Nan Hua war eine sehr gute örtliche Grundschule. Die Lehrer dort waren ausgezeichnet und im Umgang mit den Schülern immer geduldig und freundlich. Die Schüler kamen alle aus gutem Hause. Die Klassenzimmer sahen ordentlich aus, alles hatte einen edlen Anschein. Meine Eltern mussten ihre Beziehungen spielen lassen, damit ich dort aufgenommen wurde, und sie sagten mir immer wieder, ich solle mich glücklich schätzen, dort zu sein. Damals aber war mir das alles egal. Sobald ich durch das Schultor trat, war ich todunglücklich.
Der Unterricht war langweilig, nichts, wofür ich mich interessierte. Ich verstand nicht einmal jedes Wort, das die Lehrer benutzten. Ich sah einfach nur zu, wie ihre Münder auf und zu gingen, während ich mit den Gedanken ganz woanders war.
Ehrlich gesagt wäre es mir sogar lieber gewesen, im Schuppen auf den Müllsäcken herumzusitzen! Alles wäre besser gewesen, als an diesem kleinen Schreibtisch festzusitzen. Das einzige Fach, mit dem ich etwas anfangen konnte, war Sport, weil wir dann immer nach draußen durften.
Nur wenn ich herumalberte, entkam ich der Monotonie des Unterrichts. Mal lehnte ich mich absichtlich zu weit mit meinem Stuhl zurück und fiel hin, was alle zum Lachen brachte. Mal schnitt ich Grimassen in Richtung meiner Mitschüler oder trommelte so laut auf meinem Schreibtisch, dass der Lehrer den Unterricht unterbrechen musste, und mich anbrüllte. Verloren die Lehrer die Geduld, schickten sie mich aus dem Klassenzimmer hinaus auf den Flur. Ein bestimmter Lehrer ließ keinen Zweifel daran, was er von mir dachte. Er sah mich böse an und sagte: »Herr Chan, glauben Sie ja nicht, Sie seien etwas Besonderes!«
Aber es spielte keine Rolle, was er sagte oder tat. Ich würde die Schule nie lieben, auch wenn er wirklich sein Bestes gab, meine Einstellung zu ändern. Eine seiner kreativen Strafen war es, mich auf dem Flur stehen zu lassen, während ich einen Stuhl über meinem Kopf hielt, bis er erlaubte, ihn herunterzunehmen. Natürlich stellte ich den Stuhl ab und lehnte mich an die Wand, um ein kleines Nickerchen zu machen, sobald der Lehrer nicht nach mir sah. Wenn ich in dieser Zeit irgendetwas gelernt habe, dann, wie man im Stehen schläft. (Diese Fähigkeit kam mir später gelegen: Ich nutzte diese Methode, um am Filmset zu dösen.) Andere Lehrer hängten mir ein Schild um den Hals, auf dem meine Vergehen standen, zum Beispiel »Ich habe im Unterricht herumgealbert« oder »Ich habe mein Schulbuch verloren« oder »Ich habe meine Hausaufgaben nicht gemacht«. Manchmal schrieben sie auch einfach nur das Wort »nutzlos« darauf! Ich konnte nicht immer lesen, was auf den Schildern stand, aber ich verstand jedes Wort, das die Lehrer mir entgegenbrüllten, also wusste ich, was ich falsch gemacht hatte.
Schließlich verbrachte ich mehr Zeit draußen auf dem Flur als drinnen im Klassenzimmer und war mit der Zeit berüchtigt dafür. Ich hatte also irgendwann einen Ruf zu verteidigen und spielte daher weiter Streiche, machte meine Hausaufgaben nicht, verlegte meine Bücher, geriet in Prügeleien und bereitete meinen Lehrern und der Schulverwaltung Kopfzerbrechen. Ich zerriss meine Schuluniform, als ich auf dem Nachhauseweg die Felswand hochkletterte, und verlor des Öfteren meine Schultasche wer weiß wo, was zu einer Tracht Prügel von meinem Vater und einem weiteren Nachmittag im Abfallschuppen führte.
Es war keine Überraschung, als ich am Ende meines ersten Schuljahrs sitzen blieb. Meine Eltern mussten notgedrungen einsehen, dass ihr Sohn nicht unbedingt für die Schullaufbahn geeignet war. Sie beschlossen, mich von der Schule zu nehmen, was mich mit enormer Freude erfüllte. Jetzt konnte ich endlich zurück zu meinem sorglosen Leben und den ganzen Tag nur spielen!
Doch meine Freude war nur von kurzer Dauer.
Im nächsten Jahr wurde ich in Meister Yu Jim-Yuens China Drama Academy eingeschrieben, wo kaum Schulunterricht gegeben wurde. Anstelle von Lesen, Schreiben und Rechnen lernten wir Kampfkunst, Singen und Tanzen.
Der Meister sagte: »Wahres Lernen kommt von großer Tugendhaftigkeit und Zuneigung zu den Menschen. Sich daran zu halten ist rechtschaffen. Zu verstehen, wann man aufhören muss, bringt Beständigkeit und damit auch Frieden. Frieden bringt Gelassenheit und klares Denken mit sich, womit ihr eure Ziele erreichen könnt.«
Meister Yu Jim-Yuen war nicht so wie die Lehrer, die ich bis dahin getroffen hatte, die Schilder beschrifteten und mich zwangen, einen Stuhl in die Höhe zu halten. Wer an der China Drama Academy das Training verschlief oder es nicht schaffte, die klassischen chinesischen Texte auswendig zu lernen, der wurde vom Meister mit dem Stock auf den blanken Hintern geschlagen. Also dachten die anderen faulen Schüler und ich uns ein System aus, wie wir den Prügeln entgehen konnten. Wenn wir etwas nicht im Gedächtnis behalten konnten, machten wir den fleißigen Schülern so lange Angst, bis sie behaupteten, sie hätten die Aufgaben auch nicht erledigt.
Unser Klassenlehrer hieß Tung Long-Ying. Bis zum heutigen Tag erinnere ich mich an seine schöne Handschrift – immer in einem einzigen Strich, sehr geschmeidig. Natürlich hatte keiner von uns Lust darauf, Pinsel-Kalligrafie zu lernen. Wir dachten: Was bringt uns das?
Jedenfalls, wenn wir Texte aufsagen sollten, sagte er etwa: »Fünftes Kapitel der Gespräche des Konfuzius. Yuen Lou, sag es auf!« Yuen Lou war mein Name an der Akademie. Wir alle bekamen neue Namen mit »Yuen«, nach Meister Yu Jim-Yuen.
Dann stand ich auf und sagte: »Tut mir leid, ich habe es nicht gelernt.«
Der Meister starrte mich an und rief meinen älteren Mitschüler Sammo Hung auf, alias Yuen Lung. »Dann sag du es auf!«
Sammo stand auf und gab zu, dass er den Text auch nicht kannte. Wenn wir alle sagten, dass wir ihn nicht gelernt hatten, würde Meister Tung Long-Ying sich nicht die Mühe machen, uns bei Meister Yu Jim-Yuen zu melden, damit wir bestraft würden. Es war eine Sache, ein oder zwei Kinder zu verprügeln, aber er hatte nicht die Energie, es bei ein paar Dutzend zu tun.
Wir wurden immer frecher. Wenn wir wussten, dass Meister Yu das Schulgelände verlassen hatte, um Freunde zu sehen oder um zu spielen, dann machten wir, was wir wollten. Die Jungs warfen Bücher durch die Gegend oder rangen, und die Mädchen tratschten laut miteinander. Der arme Landeskundelehrer wusste nicht, was er mit uns anfangen sollte. Wenn derjenige, der Schmiere stand, rief: »Der Meister ist wieder da!«, sprangen wir alle wieder auf unsere Plätze und taten so, als hätten wir die ganze Zeit über Aufgaben gemacht. Die Akademie bezahlte den Lehrern nicht gerade viel, damit sie es mit Bälgern wie uns aufnahmen. In nur ein paar Jahren schlugen wir elf Lehrer in die Flucht und waren sehr stolz darauf.
Ich habe gemischte Gefühle, was meine Ausbildung dort angeht, aber ich bereue es, nicht lesen, schreiben oder rechnen gelernt zu haben. Als ich erwachsen war und nach Amerika ging, um Filme zu drehen, benutzten alle um mich herum Kreditkarten, aber für mich war das unmöglich. Damals musste man einen Kreditkartenbeleg ausfüllen, um zu bezahlen, und ich konnte nicht schreiben. Wenn ich mit meinem Namen unterschrieb, sah es jedes Mal anders aus. Die Verkäufer verglichen die Unterschrift auf dem Beleg mit der Karte und konnten nicht glauben, dass es dieselbe sein sollte. Wenn fehlende Bildung es unmöglich macht, auch nur ein neues Hemd zu bezahlen, dann erst fühlt man sich wirklich unkultiviert. (Aktuell habe ich eine schwarze Karte mit unbegrenztem Kredit in meinem Portemonnaie und könnte damit einen Düsenjet kaufen. Sie hat keine Unterschrift. Heutzutage glauben mir die Leute, dass ich der bin, der ich behaupte zu sein.)
Als ich berühmt wurde, fingen die Fans an, mich um ein Autogramm zu bitten. Ich konnte einigermaßen gut »Jackie Chan« kritzeln, aber wenn mich jemand bittet, eine Widmung dazuzuschreiben, muss ich immer fragen, wie man den Namen schreibt. In Amerika ist es nicht so schwer, da das Alphabet dort nur sechsundzwanzig Buchstaben hat. Aber in China ist es mir unangenehm. Die geschriebene Sprache ist viel komplexer, und wenn mir die Leute ihren Namen nennen, kann ich ihn nicht schreiben. Dann erklären sie mir, welches Schrift- beziehungsweise Wurzelzeichen ich verwenden muss, und ich bleibe trotzdem hängen. Sie müssen es für mich notieren, damit ich es abschreiben kann, und wenn es in Schreibschrift ist, muss ich sie bitten, die Striche voneinander zu trennen, damit ich sie richtig sehen kann. Es kostet mich sehr viel Mühe und ist sehr peinlich. In der Zeit, in der ich zehn Autogramme auf Englisch geben kann, schaffe ich nur zwei auf Chinesisch. Wenn das vorkommt, bin ich danach immer angespannt und nervös. Wenn ich zu einer Wohltätigkeits- oder Publicity-Veranstaltung komme und einen Stift oder Kalligrafie-Pinsel auf dem Tisch sehe, bekomme ich Angst und tue so, als werde ich woanders erwartet.
Gebildete Menschen sind in der Lage, ein oder zwei Sätze mit guten Wünschen auf eine Karte oder ein Poster zu schreiben. Ich würde gern dasselbe tun, aber ich weiß nicht wie, und das beschämt mich. Wann immer ich die Möglichkeit habe, mit jungen Menschen zu sprechen, sage ich ihnen, dass sie fleißig lernen sollen. Mit Spenden von meinen Fans wie auch meinem eigenen Geld habe ich zahlreiche »Dragon’s Heart«-Schulen aufgebaut, damit Kinder in China eine Ausbildung bekommen können. Immer wenn ich gebildete, selbstbewusste und wohlerzogene Kinder von meinen Schulen, wo auch immer in der Welt, sehe, freue ich mich so sehr für sie, dass sie nicht die Probleme haben werden, die ich habe. Ich bin dankbar, dass ich dazu beitragen konnte, dass sie nicht dasselbe Leid erleben müssen.
Weil ich in Armut aufgewachsen bin, aber von Reichtum umgeben war, dachte ich nur daran, Besitztümer anzuhäufen. Lernen bedeutete mir nichts. Jetzt, da ich älter geworden bin, ist mir materieller Besitz völlig egal, und Lernen ist alles für mich. Die eine Sache, die ich in meinem Leben anders gemacht hätte, das Einzige, was ich bereue, ist, mich in der Schule nicht angestrengt und nicht gelernt zu haben.
Der Regisseur Feng Xiaogang sagte einmal zu mir: »Jackie, wenn du dich in der Schule mehr engagiert hättest, dann wärst du jetzt nicht Jackie Chan. Du solltest dankbar sein, dass du dich nicht angestrengt hast.« Das stimmt zwar, aber ich wünschte mir trotzdem, mehr Wissen zu haben. Oft gebrauche ich Wörter falsch, wenn ich rede, was zu vielen Missverständnissen führt.
Bruce Lee war ein gebildeter Mann und studierte sogar Philosophie. Folglich waren seine Worte immer sehr tiefgründig. Er sagte einmal: »Wasser hat keine Form, du kannst es nicht greifen oder schlagen oder auf irgendeine Art verletzen. Auch du sollst so beweglich und formlos sein wie das Wasser. Gibt man Wasser in eine Tasse, wird es die Tasse. Gibt man Wasser in eine Flasche, wird es die Flasche. Gibt man Wasser in eine Teekanne, wird es die Teekanne. Wasser kann tröpfeln, und es kann zermalmen. Sei wie das Wasser, mein Freund.« Nur jemand mit einer guten Bildung kann seine Sätze so hervorragend formulieren.
Ich könnte mir niemals etwas so Bedeutsames ausdenken.
Ich bezeichne mich oft selbst als Dummkopf, aber seit vielen Jahren lerne ich nun schon so viel, wie ich kann, und ich versuche weiterhin, meine Fehler zu korrigieren und mich zu verbessern. Ich hoffe, dass die jungen Leute ihr ganzes Potenzial ausschöpfen und ihre Nasen in Bücher stecken, oder sie könnten es am Ende bereuen, faul gewesen zu sein, so wie ich.