1.png

Impressum

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet,

dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Eulenspiegel Verlag – eine Marke der

Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

ISBN E-Book 978-3-359-50091-9

ISBN Print 978-3-359-01186-6

© 2020 Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Karoline Grunske

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Überall begegnet Susi Groth, Mutter zweier Jungs, den perfekten Mamas, die alles wissen, alles richtig machen, sich selbst und die Kindererziehung dauernd »optimieren« und ständig von »gesund-alternativ-nachhaltig« reden. Auf dem Spielplatz »beschützen« Helikoptermütter ihren Nachwuchs, im Kindergarten übertreffen sich die Mamas im »Styling« der Kleinen, und wer am Nachmittag mit seinem Sprössling keinen Yoga-, Taekwondo- oder Musikkurs auf-sucht, verbaut seinem Kind die Zukunft. Da kann und will Susi nicht mitmachen!

Über die Autorin

Susi Groth, 1978 in Jena geboren, studierte Anglistik, Psychologie und Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität und arbeitete bei verschiedenen Zeitschriften, Radiostationen und Magazinen, unter anderem der »Bunten« und »SUPERillu«. Seit 2012 ist sie als freiberufliche Redakteurin und Kolumnistin tätig. Mit ihrer »Mami-Kolumne« in der »SUPERillu« sorgt sie allwöchentlich für amüsante Unterhaltung und erhält von den Lesern begeisterten Zu- sowie gelegentlich heftigen Widerspruch. Susi Groth lebt mit ihrer Familie in Jena.

Für meine Jungs, E., C. und H.

Inhalt

Prolog

Ein verflucht großartiges Weihnachtsfest

Keinen Bock auf Nutella-Werbung

Kampf um den Milchbar-Stammplatz

Was zur Hölle ist denn Fondong?

Super-Mom versus Stino-Mutti

Takuos Weltrekord-Papierflieger

Mami, Scheiße sagt man nicht!

Mongolische Wüstenrennmäuse zu Besuch

Eine Überdosis »Paw Patrol«

Wie die Hühner auf der Stange

Schnick Schnack Schnuck vorm Elternabend

Kaputte Klimanlage und »Kotzeritis«

Zombies mit Kopf- und Halsweh

Die Klopapier-Monster-Strategie

Eine Spielplatz-Typologie

Latzlose Matschhosen vom Discounter

Berufsverbot: Influencer!

Kampf dem Oberschenkelgeschwabbel

Selfish Mother

Epilog

Prolog

»Wie lange, sagten Sie, waren Ihre Kinder nicht beim Zahnarzt???«

»Äh, der Kleine noch nie. Und der Große vor etwa zweieinhalb Jahren.«

Ich stand am Empfangstisch unserer Zahnarztpraxis vor mir die Zahnarzthelferin, die mich entgeistert und meine Kinder mitleidig betrachtete. Auf einen Schlag fühlte ich mich ziemlich klein mit Hut. So als hätte ich mich gerade durch den gesamten Osterhasenvorrat der Kita gefuttert und plötzlich steht der Einrichtungsleiter mit wütendem Blick vor mir.

Die Zahnarzthelferin wieder: »Frau Groth, Ihr kleiner Sohn ist drei und Ihr Großer viereinhalb. Sie hätten schon mindestens viermal vor mir stehen müssen. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

»Ist ja guhut. Ich hab’s verstaaaanden!«, lag mir auf den Lippen das hätte mein Großer jetzt vermutlich in seinem typischen leicht angenervten Sing-Sang-Sprech geantwortet, aber ich biss mir auf die Zunge, bevor der Satz entfleuchen konnte. Stattdessen sagte ich im freundlichsten Callcenter-Agenten-Ton: »Aber jetzt sind wir ja da!«, und strahlte sie dabei an – mit der Bitte in den Augen, dass sie doch nun endlich mit ihrer Vorwurfslitanei aufhören möge.

Zum Glück war wenigstens auf meine Kinder und deren Beißerchen Verlass: Die Zahnärztin gab beiden ein 1-A-Siegel für ihre super gepflegten Zähne. Gott sei Dank!

Beim Gehen warf ich der Zahnarzthelferin einen übertriebenes Halogenstrahlen zu und dachte, ohne es auszusprechen: »Siehste! Prima Zähne dank Muttis Putzdisziplin – zumindest mehr oder weniger und nicht dank der regelmäßigen Zahnarztbesuche.« Dennoch gelobte ich artig, dass wir bis zum nächsten Praxisbesuch nicht wieder so lange trödeln würden. »Ich trage mir gleich, wenn ich zu Hause bin, für Juli in den Kalender ein: Zahnarzttermin machen!«, versprach ich … Bis heute herrscht in der Juli-Spalte unseres Familienküchenkalenders übrigens gähnende Leere.

Ich könnte jetzt sagen: Weil ich einfach kein Mensch bin, der so weit im Voraus planen möchte, weil ich so sehr im Hier und Jetzt verankert bin und jeden kostbaren Moment des Lebens bedachtsam und bewusst ausschlürfe, ohne mich dabei von lästigen Zukunftsgedanken ablenken zu lassen … Die Wahrheit ist: Ich hab schlicht und einfach vergessen, die Notiz einzutragen.

Am Abend nach dem Zahnarztbesuch, die Kinder schliefen schon, saß ich auf der Couch im Wohnzimmer in der einen Hand einen Eierlikör im Schokowaffelbecher, in der anderen mein Handy und dachte nach: Wie groß ist der Rabenmutterfaktor, wenn man vergisst, mit seinen Kindern zum Zahnarzt zu gehen? Ich kam zu dem Schluss: Auf einer Skala, auf der bei eins Super-Mom steht und bei zehn Rabenmutter bin ich eine … Zwei! Zwei minus? Na gut, wohl eher eine Drei. Aber schlechter nicht. Nur: Wer will schon eine Super-Mom sein? Die überambitionierten, übereifrigen, oberschlauen Klassenstreber unter den Muttis … Nein, danke! Dann doch lieber gute Durchschnittsmama.

Ich knabberte meinen Schokobecher auf, scrollte mich auf dem Handy durch meinen Instagram-Feed und in mir stieg sogleich der Groll auf, so dass ich zum Kühlschrank ging und ich mir noch ein Likörchen genehmigte. Seit ich Mutter bin, vertrage ich leider keinen Alkohol mehr. Nach ein paar Schlucken dröhnt mir sofort der Schädel. Nur nicht bei Eierlikör.

Ich nahm mein Handy wieder auf und klickte mich weiter durch die virtuelle Nabelschau. Teils aus privatem, teils aus beruflichem Interesse folge ich unter anderem einigen Blogger-Müttern und Promi-Mamis und schaue in loser Unregelmäßigkeit, was diese Ladys so posten. Eine von ihnen spazierte gerade mit ihrem von Kopf bis Fuß in Luxusmarken gehüllten Söhnchen durch die New Yorker Upper East Side. Eine andere präsentierte ihrer Follower-Schar die angeblich selbst gebackene und eigenhändig dekorierte Geburtstagstorte für ihre Zwillinge: ein dreistöckiges, frostblau-glitzerndes Kunstwerk, verziert mit Anna- und Elsa-Püppchen. Eine weitere gertenschlanke Mutti, die vor wenigen Monaten entbunden hatte, zeigte ihren Zuschauern in einem Video, mit welchen Bauch-Beine-Po-Übungen man »ganz easy peasy« schlank wird, wie sie selbst. Und dann gab es die Mutti, die mit ihren im Bioladen gekauften Lebensmitteln demonstrierte, wie man im Handumdrehen, versteht sich ein leckeres Lammragout mit Rote-Bete-Stampf auf Quinoa-Bett zauberte.

Das i-Tüpfelchen auf meiner Genervtheit bildeten schließlich die Fotos einer Model-Mutter, die gerade mit ihrer ganzen katalogschönen Rasselbande in einem Familien-Luxusresort in der Karibik Urlaub machte und Schnappschüsse am Pool, am Meer, unter Palmen, im Edelrestaurant et cetera zeigte und dabei unzählige Male den Namen des Luxusresorts erwähnte, damit auch der hinterletzte Depp schnallte, wo sie ihren Urlaub verbringt und ihr Werbepartner zufrieden ist.

Mich piept dieses inszenierte Angeber-Getue, dieser Selbstoptimierungswahnsinn, diese Seht-her-was-ich-Tolles-kann-Mentalität in den sozialen Medien so was von an! Aber Neid ist das Letzte, was ich dabei fühle. Da sitz ich doch lieber in meinem Garten, esse Selterswasserkuchen vom Blech, schaue meinen Kids beim Planschen im aufblasbaren Pool zu und freu mich auf das Rostbrätel, das der Papa später grillen wird.

Was mir bei diesen Social-Media-Fotos einfach fehlt, ist die Authentizität, die Bodenständigkeit, die Ehrlichkeit – schlicht: das Stinknormale. Umso ausgeprägter erscheint mir der Narzissmus der jeweiligen Protagonisten. Heute scheint es wichtiger zu sein, wie man wirkt, und nicht mehr, wer man eigentlich ist. Ist es echt eine Schande, wenn man keine Superlative zur Selbsttitulierung findet? Dabei sind ganz viele Mütter weder megaschlank, noch megareich, noch megatalentiert, noch megakreativ, noch megairgendwas.

Ich bin keine dieser Super-Moms – nicht mal annähernd. Ich bin Durchschnitt. Mal guter Durchschnitt und mal darunter. Ich folge nicht jedem Trend, ich kaufe nicht jedes noch so angesagte Was-auch-immmer-Produkt, ich mache nicht jeden Hype mit selbst wenn er vom populärsten Öko-Gesundheits-Familien-Experten empfohlen wird. Ich habe keinen Po wie Kim und keine Möpse wie Heidi, geschweige denn, dass ich danach strebe. Und vor allem versuche ich nicht, jemand zu sein, der ich gar nicht bin.

Ich hab Ecken und Kanten, Macken und Meisen. Ich mache Fehler, ich schwindele, ich bin vergesslich, ich bin launisch, ich fluche, ich lach mich tot, ich heule und ich schrei auch mal … Auch vor meinen Kindern. Weil normale Menschen all das tun. Und genau das will ich ihnen vorleben. Mami ist nicht perfekt, weil niemand perfekt ist. Auch nicht die, die so tun, als seien sie es.

Bevor ich ins Bad und dann ins Bett ging, tat ich das einzig Richtige, was ich schon längst hätte machen sollen: Ich klickte bei all den mich schon lange nervenden Influencer-Muttis, die mir viel zu viel wertvolle Lebenszeit geklaut haben, auf: »Nicht mehr folgen« und strich sie aus meinem Leben. Tschö, ihr weichgezeichneten, dreimal gefilterten Super-Moms. Und hallo, du echtes, manchmal verrücktes, manchmal rätselhaftes, manchmal krasses, in jedem Fall tolles Leben!

Ein verflucht großartiges
Weihnachtsfest

VERDAMMTE-HACKE-MISTSCHEISSDRECK-AUUUUUAAAA-VERFLUCHTER-HIMMEL-ARSCH-UND-FAAAACKKKKK! WANN HÖRT DAAAASSSS ENDLICH AUUUUUUF! ICH HAAAAAAB KEINEN BOCK MEEEEEEEHR!

Es war der Heilige Abend und statt mich über Wiener Würstchen, Kartoffelsalat und Obstsalat herzumachen, lag ich im Kreißsaal und fluchte wie ein Bierkutscher. Die Geburt meines zweiten Sohnes stand kurz bevor, und ich krallte mich mit beiden Händen am rechten Haltegriff des Krankenhausbettes fest, schrie irgendwelchen Nonsens und führte mich wie ein Äffchen auf, das zu viele gegorene Kokosnüsse ausgeschlürft hat und sich entsprechend verrückt gebärdet. Der Liebste stand neben meinem Bett und kämpfte mit einem Gefühlschaos aus Hilflosigkeit, Panik, Fürsorge und auch Scham ob meiner peinlichen und ohrenbetäubenden Flucherei.

Doch ich war weder betrunken noch auf anderen Drogen was ich in diesem Augenblick sehr bereute – denn die Schmerzen der Wehen, die mich minütlich durchpeitschten, waren – und das ist nicht übertrieben unglaublich brutal. Ich musste in dem Moment an mein erstes und gleichzeitig letztes Waxing-Erlebnis denken. Die Kosmetikerin hatte, als sie mir die Haare herausriss und mir bei jedem Ratsch vor Schmerz Tränen in die Augen schossen, ungerührt gesagt: »Kinderkriegen tut mehr weh.« Damals, noch kinderlos, konnte ich mir nicht vorstellen, dass etwas mehr schmerzen könnte als dieses Haar-Massaker, und ich schwor mir, nie wieder einen Fuß in einen Waxing-Salon zu setzen. Jetzt wusste ich: Sie hatte recht. Kinderkriegen toppt dieses Schmerzerlebnis um Längen.

Leider hielt es die Hebamme nicht für nötig, mir, gleich nach unserer Ankunft eine PDA (kurz für: Periduralanästhesie, zu deutsch: Hammer-Schmerz- und Betäubungsmittel, das im Bereich der Wirbelsäule, oberhalb des Hinterns »reingejagt« wird) zu verabreichen, nach der ich lautstark und ohne jede höfliche Floskel gebrüllt hatte, was sonst gar nicht meine Art ist. Aber für Manieren hatte ich in dem Augenblick echt keine Kapazitäten mehr. Die Hebamme lehnte meine dezibelstarke Bitte jedoch mit den Worten ab, dass mein Muttermund erst einen Zentimeter weit auf sei und dass es für eine PDA noch viel zu früh sei. WHAT!?! Ich dachte, ich höre nicht recht. Seit früh um fünf kämpfte ich mit diesen verdammten Wehen, und nun, zwölf Stunden später, war dieser verdammte Muttermund erst einen winzigen Spaltbreit aufgegangen, obwohl ich mittlerweile alle drei Minuten von einem Uteruskrampf durchgerüttelt wurde!?! Ich brüllte die Hebamme an: »Vergessen Sie´s! Ich liege nicht noch stundenlang unter Schmerzen hier rum. TUN SIE WAS!!!« Trotz meines Tons, als sei sie meine Dienstmagd, lächelte sie nur milde und sagte: »Ich kann Ihnen gern ein paar Globuli gegen die Schmerzen geben.« »Ach du jemine,« dachte ich nur, »jetzt will sie mich wirklich hops nehmen!«

Denn Globuli und ich – wir werden in diesem Leben wohl keine Freunde mehr. Seit der Geburt meines Großen glaube ich nicht mehr an die wundersame Heilwirkung dieser Zuckermürmelchen. Mittlerweile halte ich alle Anhänger der Homöopathie mögen mir verzeihen den Verkauf von Globuli für reine Geldschneiderei. Aber diese Einstellung hatte ich nicht immer. Damals, als ich mit meinem Großen schwanger war, ließ ich mich im Geburtsvorbereitungskurs tatsächlich überzeugen, aus meiner Plazenta Globuli herstellen zu lassen. Die könne man dann bei bestimmten auftretenden Wehwehchen bei Mama und Kind einsetzen. Ja, das klingt sehr seltsam – und das ist es ja irgendwie auch. Noch vor der Entbindung – ich war gezwungen, einen Kaiserschnitt machen zu lassen, weil mein Sohn Kopf-oben-Popo-unten lag, einen zu großen Schädel hatte und sich die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt hatte reichte ich der anwesenden Schwester zwei Röhrchen, mit der Bitte, doch nach der Geburt kleine Stücke meiner Plazenta darin zu sammeln. Sie grinste nur. Offenbar musste sie dieser absurden Bitte in letzter Zeit häufiger nachkommen. Diese mit braunen Klümpchen gefüllten Röhrchen schickte ich dann wenige Tage nach der Entbindung in eine Apotheke und ließ für Unsummen an Euro Globuli in verschiedenen Potenzen anfertigen. Dazu gab es eine Übersicht, bei welchen Leiden man welche und wie viele Kügelchen einnehmen solle. Der Liebste war gleich skeptisch und fragte mich ernsthaft, ob ich noch ganz dicht sei, so viel Geld für solchen Käse zu verpulvern. Da ich aber eine vorbildliche Mutter sein wollte, die ihrem Kind nur das Beste zukommen lassen will, machte ich diesen Quatsch mit. Und was soll ich sagen? Die Murmeln zauberten weder die Blähungen noch die Erkältung meines Sohnes weg, noch halfen sie gegen den Milchstau, unter dem ich kurzzeitig litt, oder dämpften die schlafmangelbedingten Kopfschmerzen. Sie schmeckten lediglich ganz gut, zuckrig süß eben. Seither ist mein Glaube an überteuerte Globuli komplett und nachhaltig erschüttert. Vielleicht bin ich dafür aber auch einfach nicht esoterisch genug.

In diesem Geburtsvorbereitungskurs fühlte ich mich sowieso wie ein Alien. Alle anwesenden Muttis wollten entweder im Geburtshaus oder sogar zu Hause gebären. Ich war, neben einer weiteren Schwangeren, die noch haderte, die Einzige, die auf jeden Fall ins Krankenhaus wollte. Die Einwände der anderen Mütter, dass es doch im Krankenhaus so steril und klinisch sei und gar nicht kuschelig und heimelig, konnte ich nicht nachvollziehen. »Ich will doch dort nicht einziehen, sondern nur ein Kind kriegen. Und ich glaube, dem Kind ist es ziemlich wumpe, ob die Wand gegenüber weiß gestrichen oder mit zarten Gänseblümchen und einem Regenbogen bemalt ist. Es kann anfangs ja ohnehin nicht so weit gucken«, so mein Einwand. »Und außerdem, was mir viel wichtiger ist als das Muster der Tapete: dass im Notfall ein Arzt oder eine Ärztin bereit steht, um das Leben meines Kindes und auch meins zu retten.« Ich hatte zu viele Horrorgeschichten von Notkaiserschnitten gehört und wollte auf jeden Fall auf Nummer sicher gehen und einen Arzt in Rufnähe wissen. Am Ende der Schwangerschaft, als klar war, dass mein Sohn aufgrund seiner Lage sowieso ein Kaiserschnittkind werden würde, erübrigte sich die Frage nach Kreißsaal oder Geburtshaus sowieso.

Aber das war nicht der einzige Grund, warum ich in dem Kurs häufiger dachte, ich sei im falschen Film. Eine Mutter, sie hatte bereits zwei Kinder, erzählte zum Beispiel, dass sie diesmal auf jegliche Untersuchungen beim Frauenarzt und der Hebamme verzichtete, weil sie diesen so persönlichen Prozess der Schwangerschaft ganz allein und für sich genießen und zu Ende bringen wolle. Ich fragte sie, warum sie dann hier im Kurs sei. Ihre Antwort: um mal Ruhe vor dem Rest der Familie zu haben.

Eine andere erzählte daraufhin, sie habe kürzlich ein Video von einer Frau gesehen, die ihr Kind allein im Wald geboren hatte. Und dass diese Idylle sie sehr inspiriert habe, ihr Baby auch in freier Natur zu bekommen. Ich fand das recht mutig, bei all den Füchsen, Luchsen, Wildschweinen und neuerdings auch Wölfen, die sich in unseren Wäldern so rumtreiben. Nicht dass ihr Baby noch wie Mogli endet und im tiefsten Thüringer Wald aufwachsen muss – allein unter Tieren, nach der Geburt im Moosbett unter einer Kiefer von einem Wolf entführt.

Den unglaublichsten Kursbesuch erlebte ich jedoch, als sich alles um das Thema ›Plazenta‹ drehte. Ich hatte mir bis dato noch nie groß Gedanken um den Mutterkuchen gemacht. Ich wusste, das ist ein quallenartiges rotbraunes rundliches Schwabbelding, an dem die Nabelschnur hängt und das ein paar Minuten nach der eigentlichen Geburt rausflutscht, nachdem es neun Monate mein Kind ernährt hat. Was man damit postnatal alles anstellen konnte, darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Eine der werdenden Mamas erzählte, sie wolle ihre Plazenta mit heim nehmen, im Hofgarten verbuddeln und eine Sonnenblume darauf pflanzen. Unweigerlich sah ich einen Hund vor mir, der das Teil kurz darauf mit großem Appetit wieder ausbuddelte … Eine andere Mutter wollte Teile der Plazenta einfrieren und hin und wieder in ihr Essen mischen, weil das eine heilsame und immunstärkende Wirkung haben solle. Sie habe sogar schon im Netz leckere Smoothie-Rezepte gefunden. Ich würgte innerlich bei dem Gedanken an den blutroten Himbeer-Johannisbeer-Plazenta-Früchteshake. Doch die Krönung in der ganzen Plazenta-Diskussion war die Mutter, die ernsthaft über eine Lotus-Geburt nachdachte. Bis dahin hatte ich noch nie davon gehört. Ich kannte den Lotus-Sitz aus dem Yoga und eine Lotus-Blüte von diversen Bildschirmschonerbildern. Aber eine Lotus-Geburt? Klang ja erst einmal ganz hübsch. Die Hebamme klärte uns auf: Bei einer sogenannten Lotus-Geburt bleibt der Säugling auch nach der Geburt für ein paar Tage über die Nabelschnur mit dem Mutterkuchen verbunden, bis sich die Nabelschnur von selbst von dem Kind ablöst. Die frischgebackene Mama nimmt also zwei siamesisch verbundene Bündel mit nach Hause – in einem ihr Baby, in dem anderen die Plazenta. Vor meinen Augen tauchte ein schlafendes Baby auf und neben ihm lag – statt eines süßen Teddys – eine rotbraune, schwabbelige und glibschige Masse im Bett. Das hatte ja schon Albtraumpotential! Den Schreckensschrei konnte ich gerade noch unterdrücken. Sofort verbuchte ich Lotus-Geburt innerlich unter: No-No-No-Go!

Warum ich letztendlich den Unsinn mit den Plazenta-Globuli mitmachte, verstehe ich bis heute nicht. Vielleicht ließ ich mich darauf ein, um nicht als komplett spießig und konventionell vor den anderen Teilnehmerinnen dazustehen? Mittlerweile weiß ich: Ich bin einfach zu wenig Yoko Ono und für Placebo-Effekte gänzlich ungeeignet.

Bei der Geburt meines Kurzen hatte ich also keine Plazenta-Röhrchen mit im Gepäck. Und die Globuli, die mir die Hebamme gegen die Schmerzen geben wollte, hatte ich natürlich vehement abgelehnt obwohl ich tierischen Jieper auf etwas Süßes hatte. Aber ich bin auch prinzipientreu. Statt der ersehnten PDA verpasste mir die Schwester einen Einlauf, der mich sofort zum Klo wanken ließ. Dort redete ich auf meinen ungeborenen Sohn ein und beschwor ihn, auf keinen Fall mehr noch lange in mir zu bleiben. Wenn mir schon der 24. Dezember durch die ununterbrochenen Wehenpeitschen ruiniert wurde, dann sollte er auch heute noch herauskommen. Ich tätschelte meinen prallen Bauch und versprach ihm das tollste Weihnachtsgeschenk – auf jeden Fall etwas mit vielen Knöpfen und das viel Lärm macht, wenn er seine Mami nicht mehr so lange quälen würde.

Ich wankte zurück in den Kreißsaal und teilte dem Liebsten meinen Entschluss mit, unseren Sohn auf jeden Fall heute noch zu gebären. Und was tat er: Er lächelte genauso milde, wie es die Hebamme gerade getan hatte, nickte nur beruhigend, nahm mich in den Arm und sagte nichts! Das musste er auch nicht – denn der Zweifel an meiner Kampfansage war ihm fett ins Gesicht gedruckt. Ich war kurz davor, ihm in den Bauch zu boxen. (Später erfuhr ich, dass ihm die Hebamme gesagt hatte, wir sollten uns auf eine längere Wartezeit einstellen. Das traute er sich aber nicht, mir zu sagen. Dann hätte ich ihm vermutlich tatsächlich Muhammad-Ali-mäßig einen Zwerchfellhaken verpasst.)

Doch nun schwor ich mir: jetzt erst recht. Ihr könnt mich alle mal. Kleiner Zwerg, mach, dass du rauskommst! Ich blase zum Angriff!

In der folgenden Stunde stöhnte, schrie und fluchte ich so laut und hemmungslos, dass sich Herr Adolph Knigge und Fräulein Rottenmeier im Grab umgedreht hätten – und plötzlich, nach etwa einer Stunde, spürte ich einen unbändigen Druck und brüllte, mittlerweile heißer: »ER KOHOMMMMMT!!!!« Der Liebste, die Worte der Hebamme noch im Kopf, dachte, ich verschaukle ihn, und beruhigte mich, dass das ja gar nicht sein könne. Ich kreischte ihn darauf an: »Wenn du jetzt nicht sofort die verdammte Hebamme holst, lasse ich mich scheiden.« Er zurück: »Das musst du nicht. Wir sind ja gar nicht verheiratet.« Aus Angst vor einer Eskalation lief er dennoch los und holte die Hebamme zurück. Sie schaute mir zwischen die Beine, tastete und wurde plötzlich ganz hektisch, denn: Ich hatte recht. Unser Sohn Nummer 2 hatte sich tatsächlich auf den Weg nach draußen gemacht! Ob’s an meinem Versprechen lag, ihm das tollste Weihnachtsgeschenk zu machen, oder weil er keinen Bock mehr auf meine vulgären Flüche und mein hysterisches Geschrei hatte – wer weiß das schon. Auf jeden Fall befanden wir uns nun auf der Zielgeraden.

Leider fiel mir jetzt auf die Füße, dass ich während meiner zweiten Schwangerschaft nicht noch einmal einen Geburtsvorbereitungskurs besucht hatte. Erstens meinte ich, alles, was man wissen muss, schon zu wissen. Zweitens hielt ich es für vertane Zeit. Lieber ging ich in der Zeit Babysachen shoppen, die wir eigentlich schon im Überfluss hatten. Und drittens hatte ich schlicht und einfach keine Lust darauf. Diese überhebliche Ignoranz gegenüber dem »Hechelkurs« rächte sich nun: Ich hatte schlichtweg keine Ahnung, wie man bei Geburtswehen richtig presst. Ende vom Lied: Ich presste statt nach unten in den Schoß, nach oben in den Kopf und dachte dabei jedes Mal, mein Schädel zerplatzt mir. Da konnte der Liebste und die Hebamme noch so oft im Wechsel brüllen: NACH UNTEN PRESSEN! Ehe mein überfordertes Gehirn diese Info verarbeitet hatte, waren mir im Gesicht schon sämtliche Äderchen geplatzt und ließen mich aussehen, als hätte ich mir unzählige Akupunkturnadeln in die Haut gesteckt und danach mit Wucht herausgezogen. Aber irgendwann, es war so gegen halb acht Uhr abends, war es da: unser persönliches Christkind. Alles dran, gesund und munter. Nur ohne Heiligenschein. Dafür ausgestattet mit einem Mundwerk so laut wie meins und einem gesegneten Appetit. Merry Christmas, mein Kleiner!

Ich war so glücklich, dass es dem Fratz gut ging, und unglaublich erleichtert, dass diese Tortur endlich ihr Ende gefunden hatte. Kurz dachte ich an den Spruch, den ich immer wieder gehört hatte: »Wenn dein Kind erst mal da ist, dann vergisst du die ganzen Schmerzen.« Wer hatte sich diesen Schwachsinn eigentlich ausgedacht?!? Also ich werde mein Lebtag nicht vergessen, was ich an diesem Weihnachtsabend durchgestanden habe. Dieses Gefühl, als würde im Körper ein Sumoringer sitzen, der mit ganzem Körpereinsatz seinen Weg nach draußen erkämpft. Dennoch, und da schloss ich mich dann doch der Meinung aller Mütter an: Dieser kleine Kerl da in meinem Arm war die Qualen wert.

OP

Ein kleines Prinzessin-Kate-Gefühl bekam ich dennoch, als gegen Mittag des 25. Dezembers eine Redakteurin und ein Fotograf der Lokalpresse ins Krankenhaus kamen, um über die frisch geborenen Weihnachtsbabys zu berichten. Obwohl ich keine große Lust darauf hatte, ließ ich mich zu einem Foto überreden. Mit mir hatte noch eine weitere Mama ihr Kind am Heiligabend zur Welt gebracht. Da saßen wir dann also mit unseren Babys im Krankenhausflur und lächelten schief in die Kamera. Ich redete mir ein, dass das Foto ja nur klein und in Schwarz-Weiß erschiene und man meine Horrorfratze dann eh nicht so genau erkennen könne.

Tags darauf blätterte ich durch die Zeitung, konnte mich und mein Kind jedoch nirgendwo entdecken. Stattdessen blickte ich in der Lokalspalte auf das Bild einer strahlenden Mutter, die im Krankenhausbett lag und ihr Kind liebevoll im Arm hielt. Ein tolles Foto, das musste ich anerkennen. Es zeigte die Mama und ihr Baby, mit der ich tags zuvor gemeinsam abgelichtet worden war. Das Presseteam hatte offenbar noch ein Foto mit beiden allein gemacht. Mein Sohn und ich wurden lediglich im Text beiläufig erwähnt. Ich fühlte mich kurz, als stünde ich ich vor Heidi Klums Schiedsgericht und müsste mir den unheilvollen Satz anhören: »Ich habe heute leider kein Foto für dich …« Aber wer konnte der Redaktion diese Entscheidung verdenken? Ich bin eben nicht Prinzessin Kate. Nicht mal annähernd. Ich seufzte, packte die Zeitung weg, nahm mein Handy und googelte: »Wie lange bleiben rote Presspunkte im Gesicht?«