Die Antwort der Engel
Ein Dokument aus Ungarn,
mündlich überliefert von Hanna Dallos,
aufgezeichnet und kommentiert von Gitta Mallasz
Deutsche Fassung und Herausgabe
von Lela Hinshaw-Fischli
mit freundlicher Hilfe von Gitta Mallasz
DAIMON
VERLAG
14. neu überarbeitete und ergänzte Auflage 2014
ISBN 978-3-85630-938-1
© Copyright der erweiterten deutschen Ausgabe 2014 und
© Copyright erste deutsche Fassung 1981: Daimon Verlag
Hauptstr. 85, CH-8840 Einsiedeln, Schweiz
www.daimon.ch
Alle Rechte vorbehalten
Contents
Einleitung
TEIL I DIE GESPRÄCHE IN BUDALIGET
TEIL II DIE GESPRÄCHE IN BUDAPEST
Dieses Buch ist ein Dokument.
Es ist weder Dichtung noch Journalismus,
sondern ein getreuer Bericht von Geschehnissen,
die sich während der Jahre 1943 und 1944 in Ungarn ereigneten.
Einleitung
Eine kurze Einleitung ist nötig, um Hintergrund und Ausgangspunkt der zukünftigen Ereignisse verständlich zu machen. Ich möchte zeigen, wie unspektakulär das Leben war, das meine drei Freunde und ich bis zum Beginn der Gespräche führten. Es war ein Leben inmitten zunehmender politischer Spannungen, was in uns die Frage nach dem Sinn unseres Lebens und unserer Zukunft immer größer werden ließ. Ich war 16 Jahre alt, als ich Hanna begegnete. Es war im Jahre 1923. Wir studierten beide an der Kunstgewerbeschule in Budapest, wo unsere Arbeitstische nebeneinander standen.
Gleich von Anfang an bekundete mir Hanna eine so warmherzige Freundschaft, die mir – aus einer Offiziersfamilie stammend, wo die Parole regierte „Man kann nie genug abgehärtet sein!“ – fast etwas zu überschwänglich vorkam. Gefühle zu zeigen, wurde als Schwäche bewertet und ein Abschiedskuss rief allgemeine Verlegenheit hervor.
Hanna, deren Vater Pädagoge war, lebte dagegen in der viel natürlicheren Atmosphäre einer jüdischen Familie und zeigte offen, was sie fühlte. Ungehindert dieser Verschiedenheiten entstand zwischen uns während der drei Studienjahre eine tiefe Freundschaft.
Allerdings trennten sich unsere Wege nach den Schlussprüfungen wieder. Hanna setzte ihre Studien in München fort, während ich mich blindlings in den Sport stürzte. Meisterschaften im Schwimmen, Landesrekorde und die Vergötterung, mit der Ungarn seine Sportgrößen umgibt, schmeichelten mir und ließen mich an dieser oberflächlichen Lebensweise festhalten.
Zu dieser Zeit machte ich Lilis Bekanntschaft. Sie gab Bewegungs- und Entspannungskurse. Ihr warmes, herzliches Wesen zog mich sofort an und ich sah bald, dass ihre Kurse deshalb so überlaufen waren, weil ihre Schüler dort etwas fanden, was mehr war als bloß körperliche Entspannung.
Von Hanna erfuhr ich in dieser Zeit wenig, außer dass sie Joseph geheiratet hatte. Er war Möbeldesigner.
Joseph war ein stiller, etwas trauriger Mensch, dessen bloße Gegenwart jedoch einen beruhigenden Einfluss auf seine Umgebung auszuüben vermochte.
Als wir später im Dorfe Budaliget wohnten, konnte ich dies öfters gut beobachten. Wenn wir in die Dorfschenke eintraten, wo meist mit heißen Köpfen und viel Lärm über Politik gestritten wurde, beruhigten sich die Leute nach wenigen Minuten und wurden friedlich. Das war die Wirkung, die jeweils von Josephs wortloser Gegenwart ausging.
Des Sportes endlich überdrüssig geworden, entschloss ich mich, Hanna aufzusuchen. Sie und Joseph hatten sich in einem Atelier mit herrlicher Aussicht auf die Donau eingerichtet.
Hanna half mir mit viel Geduld, zu meiner künstlerischen Tätigkeit zurückzufinden, die ich in den vergangenen Jahren vollkommen vernachlässigt hatte. Ohne Hanna hätte ich kaum mehr die Freude an der gestalterischen Arbeit wiederfinden können. So aber gelang es uns dreien bald, ein gutgehendes Atelier zu gründen.
In den Jahren 1934-35 war der Antisemitismus in Ungarn schon stark fühlbar. Meine Rolle war es, staatliche Aufträge zu erhalten, hauptsächlich touristische Werbeinstallationen, wobei mir mein Sportruhm und meine Herkunft als Tochter eines höheren Offiziers sehr zustatten kamen. Natürlich musste ich jeweils verheimlichen, dass meine Mitarbeiter Juden waren.
Die Seele unserer gemeinsamen Arbeit war unleugbar Hanna. Sie besaß eine große, ungewöhnliche Konzentrationsfähigkeit und Intuition, was ihr erlaubte, jeweils sofort das Wesentliche in der künstlerischen Konzeption sowie in der praktischen Ausführung einer Aufgabe zu erkennen.
Die Probleme des Alltags löste sie mit viel gesundem Menschenverstand, mit treffender psychologischer Erkenntnis und vor allem mit viel Humor.
Hanna hatte schon einige Schüler, die bei ihr Graphik lernten. Eine dieser jungen Künstlerinnen, Vera, erzählte mir viele Jahre später folgendes:
„Die Intensität von Hannas Unterricht durchdrang nicht nur unsere berufliche Entwicklung, sondern unser ganzes Wesen, was einen so großen Anspruch an uns stellte, dass manche Schüler es nicht ertragen konnten und Reißaus nahmen.“
„Hanna korrigierte nie einen Entwurf, ohne dass wir uns zutiefst betroffen fühlten, selbst wenn es sich um ganz gewöhnliche Werbegraphik handelte. Sie sah jede Zeichnung als Ausdruck eines inneren Geschehens. Während des Unterrichts hatten wir einen ganz anderen Kontakt mit ihr als im übrigen Leben. Sie stellte sich intuitiv auf eine andere Wellenlänge ein und las in unseren Zeichnungen wie ein Arzt in einer Röntgenaufnahme. Dies geschah mit Liebe, Strenge und mit viel Humor. Bevor sie zu sprechen begann, hatte sie manchmal keine Ahnung, was sie uns sagen würde. Deshalb war sie oft über ihre eigenen Worte erstaunt.“
„Ich war eine junge Schülerin und hing sehr an ihr. Sie war mein Vorbild. Hanna aber lehnte diese Anhänglichkeit ab. Sie sagte uns: „Nach zwei bis drei Jahren Unterricht müsst ihr den Meister in euch selbst gefunden haben.“ Ihr größtes Anliegen war es, in uns den ‚Neuen Menschen’ zu wecken, das von der Angst befreite, schöpferische Individuum.“
Unser Atelier ging sehr gut. Trotzdem hatten wir immer mehr das Gefühl, am Rande eines Abgrunds zu leben. Die kollektive Blindheit nahm täglich zu und die Flut der organisierten Lüge wuchs stetig. Zu gleicher Zeit aber wuchs in uns ein tiefes Bedürfnis, das von soviel Falschheit überdeckte Wahre zu finden. Diese Umstände trugen dazu bei, dass Joseph und Hanna unweit von Budapest im Dorfe Budaliget ein einfaches Haus mieteten. Wir änderten unsere Lebensweise. Wir arbeiteten nur soviel, als es unsere täglichen Bedürfnisse erforderten. Lili verbrachte jedes Wochenende mit uns.
Das stille Dorfleben begünstigte unsere innere Entwicklung. Meinerseits begann diese Periode mit einem Gefühl von wachsender Leere. Die unerklärliche Erwartung von irgendetwas, das diese Leere ausfüllen sollte, beunruhigte mich tief. Oft begab ich mich auf lange Wanderungen durch die Wälder, um Ruhe zu finden. Ich überraschte mich auch während der Mahlzeiten, wie ich durchs Fenster zum Gartentor spähte, in Erwartung von irgendetwas, das kommen sollte, um mein Leben zu ändern.
Abends versuchten wir jeweils, die Ursachen unserer Probleme klarer zu erfassen. Hannas intuitive Fähigkeit war dabei von großer Hilfe, aber trotzdem fühlten wir uns alle in einer Sackgasse. Die Bibel, die Bhagavad Gita, Werke östlicher Autoren aus der Vergangenheit und Gegenwart sowie Schriften von Meister Eckhart gehörten zu unserer Bibliothek. Keiner von uns übte jedoch aktiv seine angestammte Religion aus.
Wir standen ratlos vor einer Welt der Lüge, der brutalen Niedertracht und dem anscheinenden Sieg des Bösen. Aber wir sagten uns, dass der Sinn unseres Lebens irgendwo verborgen sein musste, und wir dachten, dass die Hindernisse, ihn zu finden, in uns selbst zu suchen seien.
Wir beschlossen deshalb, dass ein jeder von uns die persönlichen Probleme, die ihn bewegten, so klar wie möglich niederschreiben solle, um sie nachher besser zusammen besprechen zu können.
Eines Tages, beim schwarzen Kaffee, las ich Hanna meine Aufzeichnungen vor, worauf sie meinte, ich hätte nur altbekannte Tatsachen aufgewärmt.
Das war nur zu wahr und meine offensichtliche Oberflächlichkeit bedrückte mich. Ich stellte Hanna Fragen, die ich mit geringer Anstrengung selbst hätte beantworten können, aber ich fand es viel bequemer, die Antwort fertig aufgetischt zu bekommen …
(Nun beginnen die Gespräche, die während 17 Monaten jeden Freitagnachmittag um 3 Uhr stattfanden.)
Vorbemerkung zur 14. Auflage 2013
Die neue Auflage der deutschen Übersetzung wurde aufgrund der uns heute vorliegenden Archivdokumente völlig überarbeitet. Mehrere bislang unveröffentlichte oder nicht in deutscher Sprache publizierte Texte sind neu beigefügt worden, die wesentlich zum Verständnis einiger zentraler Begriffe beitragen. Die Überarbeitung und Ergänzung stützt sich neben den Quellen von Gitta Mallasz auf Aufzeichnungen von Lili Strausz.
Lela Hinshaw-Fischli
Einsiedeln, August 2013
TEIL I
DIE GESPRÄCHE IN BUDALIGET
„Gibt es etwas Natürlicheres,
als dass wir miteinander sprechen können?“
Freitag, 25. Juni 1943
ERSTES GESPRÄCH MIT GITTA
(Hanna fühlt, wie angesichts meiner oberflächlichen Bequemlichkeit eine Spannung in ihr entsteht, die in eine ihr unbekannte Entrüstung übergeht. Sie hat mit offenen Augen folgende Vision:
Eine Kraft erfasst meine Aufzeichnungen, zerreißt sie und wirft sie vor mich hin, als Zeichen völliger Missbilligung dieser Arbeit, die so tief unter meinen Fähigkeiten ist. Hanna will etwas sagen, stockt aber plötzlich, da sie fühlt, dass es nicht mehr sie selbst ist, die sprechen will. Sie hat gerade noch Zeit, mich zu warnen: „Nicht mehr ich werde zu dir sprechen!“ … und dann höre ich folgende Worte:)
Gib acht! Bald wirst du Rechenschaft ablegen müssen.
(Ich höre Hannas Stimme, aber gleichzeitig weiß ich mit völliger Gewissheit, dass sie jetzt nur ein Werkzeug ist. Ich habe das Gefühl, den, der diese strengen Worte zu mir spricht, zu kennen und bin dementsprechend nicht so sehr erstaunt, sondern fühle, dass etwas ganz Natürliches, das geschehen musste, nun endlich geschieht. Ein helles Licht erfüllt mich, aber es ist nichts Beglückendes dabei. Im Gegenteil: es beleuchtet in unbarmherziger Klarheit meine dunklen Seiten und ich bin gezwungen, mich selbst ohne Lüge zu sehen. Es wird mir gezeigt, was ich der Wirklichkeit entsprechend hätte niederschreiben sollen.
Ich bin tief erschüttert und schäme mich.
Hanna fühlt, wie die Entrüstung desjenigen, der durch sie spricht, sich angesichts meiner aufrichtigen Scham mildert.)
Von Grund auf musst du dich ändern!
Sei selbständig!
Du hast zu viel und zu wenig.
G. Das verstehe ich nicht.
(Ich fühle, dass damit meine Trägheit im selbständigen Denken gemeint ist.)
Auf harte Kruste wird kein Same gesät.
Du wirst aufgepflügt werden durch ein Suchen ohne Rast.
Was bisher gut war – wird schlecht.
Was schlecht war – wird gut.
(Eine lange Stille bereitet folgende Frage vor:)
(Diese Frage berührt mich tief. Ich weiß, dass ich ihn kenne, dass er mein innerer Meister ist, und ich weiß es mit unbedingter Gewissheit. Aber ich habe kein Erinnerungsbild. Ich fühle nur dichte Nebelschichten, die mich davon trennen. Ich versuche sie zu durchdringen, bin dessen aber unfähig.)
(Diese erneute Frage durchdringt mich noch tiefer. Ich bin an der Grenze des Erinnerns und versuche mit allen Kräften, die trennenden Schichten aufzulichten. Umsonst! Hanna fühlt, dass mein Meister mich während meinen Versuchen mit Liebe betrachtet.)
(Ich ahne, dass mit dem Wort „heidnisch“ das Ursprüngliche, „Wurzelhafte“, gemeint ist.)
Einen Neuen Namen wirst du erhalten.
Der Name ist vorhanden,
aber ich darf ihn noch nicht entsiegeln.
Bereite dich auf ihn vor!
Du darfst fragen.
(Ich bin unfähig, auch nur eine einzige Frage zu stellen. Das langsame Bewusstwerden dessen, was mir geschieht, erfüllt mich zu sehr.)
Wir werden uns wieder treffen.
(Nach dem Gespräch notieren Hanna und ich das Gehörte. Das ist leicht, denn jedes einzelne Wort hat sich uns unauslöschlich eingeprägt.
Hanna beschreibt ihr persönliches Erlebnis folgendermaßen: „Während des ganzen Gesprächs war meine Wahrnehmung erweitert. Ich sah das Zimmer, dich, und was in dir vorging, mit erstaunlicher Klarheit. Gleichzeitig war ich mir der belebenden Anwesenheit deines Meisters voll bewusst. Ich nahm seine Gefühle wahr, die von einer ganz anderen Art waren als die unsrigen. Trotzdem kann ich sie dir nur mit gewöhnlichen Worten wie „Entrüstung“, „Liebe“, „Milde“ beschreiben.
Ich musste die richtigen Worte finden, um zu übersetzen, was er durch mich mitteilen wollte. Gleichzeitig war ich auch Zeuge der Worte, die ich formte, Zeuge meiner gespannten Erwartung, meiner Freude und meines Erstaunens.
Eine Frage liegt mir am Herzen: … und das Versprechen des Wiederkommens, wann wird es sich wohl erfüllen?“ Hanna antwortet: „Vielleicht in sieben Tagen.“
Abends erzählen wir Lili und Joseph, was sich ereignet hat.Joseph, der in seiner Jugend dialektischer Materialist war, ist etwas skeptisch und nimmt eine vorsichtig abwartende Haltung ein. Lili hingegen möchte gerne nächste Woche anwesend sein und ist bereit, das Gespräch zu notieren.)
Anmerkung
Alle folgenden Gespräche wurden sofort mitgeschrieben. Einige Gespräche fehlen, andere sind unvollständig. Der Text in Klammern wurde entweder gleich nach dem Gespräch oder später anhand von kurzen Aufzeichnungen beigefügt.
Während der Gespräche waren wir von einem spürbaren Kraftfeld umgeben, das von einer bisher unbekannten Intensität war und jede Zelle unseres Körpers zu erfassen schien. Wir fühlten uns von einer ungeahnten Kraft durchdrungen. Manche Worte hatten beinahe greifbare Qualität und prägten sich uns so tief ein, dass es unmöglich war, sie zu vergessen, was wir graphisch durch Großbuchstabenschrift anzudeuten versuchten. Die Worte, deren Betonung besonders eindrücklich war, wurden durch Kursivschrift hervorgehoben. Diese Schreibweise vermag einen annähernden Eindruck der Lebendigkeit dieser Worte, die nicht nur gehört, sondern mit dem ganzen Körper erlebt wurden, zu vermitteln. Der Tonfall ließ uns auch vermuten, ob von Gott oder von Jesus gesprochen wurde. Mit ER, IHM, SEIN, habe ich den vermuteten Hinweis auf Gott graphisch hervorgehoben, mit Er, Ihm, Sein den vermuteten Hinweis auf Jesus. Der ungarische Artikel dafür war „Ö“, der männlich und weiblich zugleich ist. Der Begleittext, der bei jeder Übersetzung wieder frei erzählt wurde, weist in den verschiedenen Ausgaben einige geringfügige Unterschiede auf.
Freitag, 2. Juli 1943
2. GESPRÄCH MIT GITTA
(Diese Woche war schwer. Die Ungewissheit, ob das Gespräch wieder stattfinden wird, beunruhigt mich. Auch ist das unbarmherzig wahre Bild meiner selbst, das mir gezeigt wurde, nicht leicht zu ertragen. Wir warten etwa um drei Uhr auf das Kommen meines Meisters und ich bin mir angstvoll bewusst, keinen Fortschritt aufweisen zu können. Bald hört Hanna folgende Worte:)
Hast du gelernt?
(Ich denke an die vergangene Woche zurück und möchte mich am liebsten im Erdboden verkriechen. Trotzdem fühle ich, dass ich mich etwas verändert habe und sage zögernd:)
G. Ja.
(Ich fühle mich so wertlos, dass ich in Tränen ausbreche.)
Fürchtest du dich vor mir?
(Ein freudiges Vertrauen erfüllt mich.)
G. Nein!
(Diese Worte trösten mich: auch er dient und darin sind wir uns ähnlich.)
(Hanna hatte mir als Geburtstagsgeschenk ein Bildnis gemalt: ich sitze auf einer Bergspitze und halte eine Kristallkugel, deren Facetten in vielen Farben schillern. Das Symbol der Lichtkugel scheint mir von großer Bedeutung.)
G. Wie könnte ich das Symbol der Lichtkugel nicht nur verstehen, sondern auch leben?
ICH STEIGE NIEDER ZU DIR,
DU ERHEBST DICH ZU MIR.
G. Wie ist das möglich?
(Ich fühle in dem Wort „Glaube“ eine lebendige Kraft, die nichts mit der intellektuellen Bejahung einer Konfession gemein hat.)
Könntest du die Lichtkugel ertragen?
(Ich antworte leichtfertig:)
G. Ja.
(Ich werde sofort unsicher:)
G. Du weißt es …
(Hanna fühlt, dass er mich wie ein Kind betrachtet, das nicht weiß, was es sagt.)
aber das KIND spielt mit ihr,
denn es ist aus Gleichem geformt: aus LICHT.
(Das Wort „KIND“ hat eine ganz neue Bedeutung, die ich nicht erfassen kann. Ich beginne, wie durch Nebel zu hören und frage ganz stumpf:)
G. Darf man damit spielen …?
(Der Nebel in mir wird immer dichter. Ich bin ganz verwirrt.)
G. Also bin ich zu klein für die Kugel?
(Blitzschnell kommt die schneidende Antwort:)
(Hanna sieht, dass mein kleines „Ich“ zu groß ist.)
G. Wovon muss ich mich also befreien?
(Hanna fühlt die aufsteigende Entrüstung meines Meisters über meine Stumpfheit. Sie hätte eine mich reinigende, kraftvolle Gebärde ausführen sollen, findet aber nicht die nötige Kraft in sich und kann nur folgende Worte formen:)
Was groß ist – stürzt ein.
Was hart ist – zerbröckelt.
(Die Gebärde voller brennender Kraft, die Hanna nicht übermitteln konnte, hätte dieses „Einstürzen“ und „Zerbröckeln“ in mir bewirken sollen.
Nach einer langen Stille höre ich die tröstenden Worte:)
Freitag, 9. Juli 1943
3. GESPRÄCH MIT GITTA
(Diese Woche war etwas leichter, aber mit dem Freitag kehren auch die verdunkelnden Nebelschichten zurück. Jetzt erst nehme ich wahr, dass ich 36 Jahre lang unbekümmert in diesem Nebel dahingelebt hatte, ohne mir seiner bewusst zu sein. Nun aber sehe ich ihn und leide darunter.
Nach dem Kaffee plaudern wir noch, als Hanna plötzlich ein strenges Wort hört:)
(Es ist drei Uhr und ich hätte bereit sein sollen, meinen Meister zu empfangen.)
(Ich fühle mich so wertlos, dass ich zu weinen beginne.)
(Meine Weinerlichkeit empört ihn. Ich hätte freudig, mit erhobenem Haupt vor ihm erscheinen sollen.)
G. Wie könnte ich immer deine Stimme hören …
(Mit verächtlichem Tonfall wird mein Satz beendet:)
G. Das verstehe ich nicht.
Du musst dich mir nähern.
G. Darf ich fragen?
G. Soll ich am Freitag jeweils fasten?
(Ich dachte, dass Fasten ein Läuterungsmittel sein könnte.)
(Auf Hanna weisend:)
(Ich hole etwas erstaunt ein Glas Wasser.)
G. Warum kann ich meine Familie nicht genug lieben?
(Hanna sieht, dass meine Familie das verstärkt, was ohnehin zu dicht in mir ist: die Materie.)
wirst du lieben können.
G. Bin ich weit davon entfernt?
G. Darf ich deinen Namen erfahren?
(Hinter dieser Frage verbirgt sich mein Bedürfnis, ihn immer rufen zu können und so in Sicherheit zu sein.)
(Die dunklen Nebelschichten beginnen mich zu peinigen. Meine Frage ist wie ein Hilferuf.)
G. Ich bin im Dunkeln … was soll ich tun?
ALLES ANDERE IST IRRWEG.
(Stille)
(Ich traue meinen Ohren nicht. Ich … und singen! Das scheint mir unmöglich – so hart ist der Panzer hinter dem ich seit meiner Kindheit meine Gefühle verberge.)
G. Ich habe deine Worte nicht gut gehört …
(Jedes Wort ist nun eindringlich betont und berührt mich tief:)
(Etwas löst sich in mir und ich seufze erleichtert auf. Ich beuge mich vor, aber eine Geste hält mich zurück. Sollte meine dichte Ausstrahlung meinem Meister unerträglich sein? Oder aber ist seine Ausstrahlung zu intensiv für mich?)
G. Ich hatte einen Traum, dessen Sinn mir nicht klar ist.
ich bin ein Wegstück.
Er ist der Weg.
(Das Wort „Er“ wird mit tiefer Verehrung ausgesprochen. Hanna ist zu müde, um weiter zu übersetzen. So bleibt das, was sie noch hätte mitteilen sollen, wie eine Botschaft in ihr, die sie mir später übergibt:)
sondern errichtet eine Wand.
(Ich fühle, dass mein verkrampftes Streben gemeint ist.)
Freitag, 9. Juli 1943
3. GESPRÄCH MIT LILI
(Lili hat sich entschlossen, auch ihrerseits Fragen zu stellen. Hanna ruht sich ein wenig aus und Lili nimmt den Platz ihr gegenüber ein, während ich mich vorbereite, das Gespräch zu notieren.)
Du hast mich gerufen.
Ich habe dich gerufen.
(Die Stimme ist milde geworden und entspricht nicht dem viel strengeren Tonfall meines Meisters.)
L. Wann werde ich mich nach oben öffnen?
Lüge ist Furcht.
Du hast keinen Grund zur Furcht.
L. Was ist meine erste Aufgabe?
(Geste eines nach unten hin zugespitzten Dreiecks)
L. Könntest du mir meine Aufgabe auch anders erklären?
Die „Helfende“ fürchte sich nicht!
Eine gute Botschaft bringe ich dir:
du bist mir lieb.
Willst du mich wieder sehen?
L. Ja.
Wünschest du mich wieder zu sehen?
L. Ja.
(Wie klar sehe ich nach der Botschaft der vergangenen Woche, dass weder Wollen noch Wünschen uns unseren Meistern näher bringt. Augenblicklich ist es Lili, die es nicht versteht. Sie sagt etwas verwirrt:)
L. Ich möchte dich nur besser sehen …
WIRST DU MICH SEHEN.
Ich gehorche.
L. Ich möchte auch gehorchen können.
(Lilis Stirne berührend:)
(Lili war das letzte Kind einer zahlreichen Familie.)
Im Geiste bist du die Erste unter den Neugeborenen.
Ich nehme Abschied.
(Ich bin beglückt, dass Lili ihren Meister gefunden hat. Die milde, liebevolle Ausstrahlung seiner Gegenwart hat auch mich vollkommen entspannt.
Während der folgenden Tage denke ich oft an das „Nicht-Wollen“ und „Nicht-Wünschen“, das mir so wichtig erscheint.)
Freitag, 16. Juli 1943
4. GESPRÄCH MIT GITTA
(Endlich bereite ich mich mit Freude auf den Freitag vor. Mein Leben hat eine grundlegende Änderung erfahren. Eine Türe hat sich geöffnet und ungeahnte Möglichkeiten stehen vor mir.
Doch da packt mich plötzlich eine kalte Angst und der Gedanke drängt sich mir auf:“ … wenn er nicht mehr käme?“ Ich will das nicht denken, ich verscheuche es, aber es bemächtigt sich meiner mit erneuter Kraft, genährt von der Angst, in die Leere meiner ehemaligen Lebensweise zurückzufallen. Da erkenne ich, dass ich mich selbst an das, was mir am meisten bedeutet, nicht binden darf. Ich muss mein angstvolles Anklammern aufgeben.
Diese strenge Forderung steht unausweichlich vor mir und ich bin mir bewusst, dass es entscheidend ist, sie zu befolgen. Dieses innere Loslösen ist schwerer als alles, was ich bis jetzt erfahren hatte. Es ist mir, als ob ich mein eigenes Leben abschneiden würde.
Hanna ruft mich, es ist 3 Uhr. Ich fühle bald die Anwesenheit meines Meisters und eine lange Pause folgt. Ich weiß nicht, ob er zu mir sprechen wird. Mit einem Seufzer der Ergebung sage ich in meinem Inneren: „DEIN Wille geschehe!“
In diesem Augenblick fühle ich vor mir ein Feuer, dessen Rauch zum Himmel steigt. Danach höre ich folgende Worte:)
G. Was ist mein Weg?
AM ANDERN ENDE – DAS LICHT.
ZWISCHEN DIE BEIDEN BIST DU GESPANNT.
DAS IST DEIN WEG.
Hundert Tode sind zwischen den beiden.
Die Liebe ist Träger des Lichtes.
LIEBE OHNE LICHT IST NICHTS.
LICHT OHNE LIEBE IST NICHTS.
Verstehst du mich?
(Ich verstehe wohl, aber es kommt mir schwer vor, mein kleines „Ich“ hundert Tode sterben zu lassen, es hundertmal zu überwinden. Ich senke den Blick.)
(Das wohlbekannte Gesicht Hannas, das gewöhnlich weder schön noch hässlich ist, nimmt einen anderen Charakter an und spiegelt eine beinahe erschreckende Würde.)
(Geste nach unten:)
Zwischen den beiden – du.
G. Wer ist es?
(Ich denke mit Verachtung: Wie? Dieses primitive, egoistische Wesen, das kleine „Ich“!)
G. Das kleine „Ich“, das kenne ich gut, nur zu gut,
dich aber kenne ich nicht genug.
(Hanna sagt mir später, was diese zwei Worte bedeuten: „Wie könntest du dein kleines „Ich“ kennen? Nicht einmal eine einzige Zelle deines Körpers kennst du! Ebenso wenig wie mich! Wie lange wirst du noch so blind bleiben?“)
Trenne nicht, was eins ist.
Urteile nicht! Vor IHM ist nichts zu klein.
G. Belehre mich, denn ich weiß nichts!
(Ich sage mit falscher Bescheidenheit:)
G. Doch, ich weiß, ich stelle dumme Fragen.
(Hanna nimmt seine Gedanken wahr: „Was spielst du mir da vor!“ aber sie fühlt sich nur zu folgender Antwort berechtigt:)
(Ich fühle mich durchschaut, als ob ich aus Glas wäre, und sage:)
G. Ich habe viele Fragen, aber du weißt ja ohnehin im voraus, was ich fragen will …
Gehe den Weg!
Möchtest du viel wissen?
G. Nur soviel, wie zur Aufgabe nötig ist.
(Vergangene Nacht sah ich im Traum einen Menschen in leuchtenden Farben, der Harmonie, Kraft und Ruhe ausstrahlte.)
G. Was bedeutet mein Traumbild?
G. Werde ich zu diesem Neuen Menschen werden, wenn ich das Überflüssige ablege?
G. Was muss ich tun, um Formende zu werden?
(Nun scheint auch Hannas Körper ein Instrument zu sein, das vollbewusst dient, denn ihre Gebärden werden bedeutungsvoll, einfach und sehr würdevoll.
Selbst ihr Arm scheint verändert. Es sammelt sich eine Kraft darin in größer Konzentration, die Muskeln spannen sich an und ich muss unwillkürlich an die Skulpturen Michelangelos denken. Nun folgt eine Geste, die wie ein Blitz anmutet:)
(Ich bin erschrocken, erschüttert und voller Staunen. Aber das verschwindet schnell beim Anblick Hannas. Sie zittert vor Kälte und sagt mir: „Bring reinen Alkohol!“ Nie hatten wir im Haushalt reinen Alkohol gehabt, aber heute hatte ich „zufällig“ ein Fläschchen gekauft. Ich träufle ein wenig davon auf einen Zucker und gebe ihn Hanna. Bald erlangt sie ihre Kräfte wieder und sagt: „Ich musste alle meine Energien zusammenraffen, damit ein Funken brennender Kraft sich in dir entzünde. Dein Verzichten auf das Kommen deines Meisters war unvermeidlich, denn du musstest entsagen lernen.“)
Freitag, 16. Juli 1943
4. GESPRÄCH MIT LILI
(Nach einer Ruhepause fühlt sich Hanna für das Gespräch mit Lili bereit. Lili hat einen blauen Rock und eine rote Bluse an.)
L. Warum?
Das Rot trage das Blau!
Das bezieht sich auch auf deine Arbeit.
(Lili besinnt sich auf ihren Unterricht der vergangenen Woche und dessen Folgen.)
Was ist – ist nicht mehr.
Die „Helfende“ wende ihre Aufmerksamkeit dorthin,
wo das WERDEN entsteht.
Es nimmt wenig Raum ein,
doch von dort kannst du alles formen.
(Lili war krank.)
L. Nein, ich fühle mich nur nicht wohl.
Ist das Blau oben, so erstarkt es.
Ist das Rot unten, so wird es schwächer.
Der schwache Körper ist ebenso Last,
wie der allzu starke, der die Oberhand hat.
Rot – Eros – ist irdische Liebe. Blau ist himmlische Liebe.
Purpur ist Seine Farbe.
(Das Wort „Seine“ schwingt in tiefer Verehrung.)
L. Erhalte ich in meinem Beruf Hilfe,
oder muss ich alles selbst beginnen?
(In der folgenden Pause frage ich mich, was für Entwicklungsmöglichkeiten dem Menschen wohl noch offen stehen und sofort erhalte ich Antwort auf meine stummen Gedanken:)
Dies ist die Richtung der menschlichen Entwicklung:
(Diese Worte werden von einer Geste nach oben begleitet, die genau zwischen waagrechter und senkrechter Richtung liegt.)
Freitag, 23. Juli 1943
5. GESPRÄCH MIT GITTA
(Ich dachte während der ganzen Woche an das „Entflamme!“. Während wir auf das Gespräch warten, fühlt Hanna hinter sich in halbkreisförmiger Anordnung die Gegenwart hoher Wesen.)
G. Letzte Woche sprachst du von den „hundert Toden“.
Ich möchte schon „sterben“, mein „Ich“ überschreiten können …
(Ich freue mich so sehr über die Anwesenheit meines Meisters, dass mir Tränen in die Augen treten.)
(Ich verstehe, dass auch meine Rührung in Leuchten verwandelt werden müsste.)
G. Ich bin noch nicht entflammt.
(Ich weiß, das mir etwas Entscheidendes mitgeteilt wurde, bin aber weit davon entfernt, dessen Sinn zu verstehen. Wieder fühlt Hanna hinter sich die Gegenwart hoher Wesen in kegelförmig angeordneten Halbkreisen. Alle Blicke sind auf mich gerichtet.)
Viel erwarten wir von dir.
(Ich fühle mit Freude eine große Verantwortung.)
G. Ich würde schon so gerne der Aufgabe dienen können.
G. Kannst du mir die Aufgabe mitteilen?
G. Was in mir wird diese Worte gebären?
G. Mein Wunsch, der Aufgabe dienen zu können?
(Die Schwingung dieser Worte vermittelt mir den Vorgeschmack einer ganz neuen Lebensintensität.)
G. Du sagtest: „Viele sind wir.“ Wer?
(Hinter diesem Wort spüre ich eine sich ergänzende Vielfalt. Plötzlich frage ich mich: „Sollte mein innerer Meister ein Engel sein?“)
(Den Blick gesenkt, die Hand nach oben weisend, leise:)
(Zum ersten Mal ahne ich, was Anbetung ist.)
G. Siehst du IHN immer?
(Abwehrende Geste, als hätte ich etwas Verbotenes gefragt.)
G. Wie könnte ich immer die Stimme meines Herzens hören,
ohne dass sich mein Kopf einmischt?
G. Doch, aber alles geht so langsam,
und ich würde schon so gerne dienen!
(Hanna fühlt in ihm ein Zögern: vor mir liegt ein Weg voller Hindernisse, der Weg des allmählichen Bewusstwerdens, ein sicherer, aber langer Weg. Mein Meister sieht ein Unwetter kommen und die schwere Last meiner Familie sowie mein Mangel an Selbstvertrauen könnten mich niederdrücken, bevor ich zum Ziel gelange. Die Zeit aber drängt. In diesem Augenblick bittet Hanna in ihrem Herzen: „Zeige ihr den kurzen Weg, bitte! Ich bürge für sie.“)
Sei heiter! Sei leicht!
Die „Sprechende“ findet keine Worte.
(Nach oben flammende Geste von erstaunlicher Leichtigkeit.)
Fühlst du Schwere, so irrst du.
(Hanna erklärt mir später ihre Schwierigkeit, die richtigen Worte zu finden: „Du musst eine noch unbekannte Heiterkeit, ein neues Lächeln finden. Drückt das Schwere dich nieder, so verlierst du den Weg. Trägst du Schweres leicht, so bist du auf deinem Weg. Doch sei nicht oberflächlich! Du wirst dieses neue Lächeln nur in der Tiefe des Lebens finden können!“)
G. Wo sind meine Grenzen?
(Die Hände formen einen Zylinder, der seitwärts begrenzt ist, nach oben hin aber geöffnet, und ich begreife, dass Grenzen in der Materie notwendig sind, der Weg nach oben aber frei ist.)
G. … also bin ich – du?
(Lächeln:)
Genug für heute.
(Hanna ist nach dem Gespräch so müde, dass sie sofort einschläft. Lili konnte heute nicht kommen.)
Freitag, 30. Juli 1943
6. GESPRÄCH MIT GITTA
(Diesmal habe ich mit größter Sorgfalt viele Fragen vorbereitet.)
(Dieser Anfang enttäuscht mich. Ich frage zaghaft:)
G. Darf ich fragen?
(Nur ein stummes Kopfnicken.)
G. Warum wart ihr letzte Woche so zahlreich?
G. Was erwartet ihr von mir?
G. Begieße ich den Samen genug?
(Ich hatte mich während der letzten Woche sehr bemüht und hätte gerne ein Lob gehört.)
(Der trockene Ton der Antwort macht deutlich, wie falsch mein Heischen um Anerkennung war.)
G. Die Toten meiner Familie kamen zu mir im Traum.
Kann ich etwas für sie tun? Versäume ich hier etwas?
G. Wie könnte ich ihnen helfen?
G. Wie kann ich erntereife Frucht tragen?
(Diese Antwort berührt mich tief.)
G. Warum hast du heute wenig Zeit?
Ich antworte noch auf eine Frage.
(Ich suche schnell die wichtigste Frage.)
(Ich entspanne mich und meine Frage kommt von Herzen:)
G. Was in mir gleicht deinem Bild am wenigsten?
Ich werde es aus mir herausreißen.
G. Das verstehe ich nicht.
(Ich senke den Blick.)
(Ein Ausdruck beinahe furchterregenden Ernstes erschüttert mich.)
(Ich fühle noch einige Minuten seine wortlose Gegenwart und in dieser Stille erwacht in mir der tiefe Wunsch, seinem Bild gleich zu werden.)
Freitag, 30. Juli 1943
6. GESPRÄCH MIT LILI
L. Danke, dass du wieder gekommen bist!
L. Warum fällt es mir so schwer,
mich von meinem gewöhnlichen „Ich“ zu befreien?
SO VERLÄSST DU DAS SCHLECHTERE.
Mit unauslöschlichem Durst wirst du das Bessere suchen.
L. Warum bin ich so unsicher,
dass ich nicht einmal weiß, was ich tun soll?
denn du hast ihn mit vielen unnützen Speisen verdorben.
(Lili hatte jeden Sommer in den Bewegungs-Schulen des Auslandes neue pädagogische Richtungen studiert.)
L. Warum komme ich so langsam vorwärts,
und warum haste ich so kopflos?
Ich behüte dich ja.
(Beschützende Geste.)
L. Ich weiß nicht einmal,
welchen Namen ich meiner Arbeit geben soll.
L. Von Grund auf scheint meiner Arbeit etwas zu fehlen.
Was kann das wohl sein?
L. Danke.
Freitag, 6. August 1943
7. GESPRÄCH MIT GITTA
(Da ich letzte Woche belehrt wurde, Maß zu halten, beschließe ich, heute nur wenige Fragen zu stellen.)
G. Mein Blick ist trübe, mein Herz unsicher.
Wie könnte ich dich klarer sehen und fühlen?
Ich könnte mich dann besser nach deinem Bilde formen.
aber IHN – die einzige Wirklichkeit – kann es nur erahnen.
G. Wie könnte ich mir deine Worte besser einprägen,
damit sie in mir leuchten?
Ich habe immer Angst, dass sie verblassen.
(Ich will auf keinen Fall zu den Schwachen gehören!)
G. Ich habe nicht so Angst!
G. Dann werde ich arbeiten, um mich davon zu befreien!
Glaube, so hast du nichts zu befürchten!
(Ich fühle, dass Glaube nicht Zugehörigkeit zu einer Konfession ist, sondern eine lebendige, wandelnde Kraft.)
(Seit meiner Kindheit weiche ich dem Leiden wenn möglich mit Lügen aus. Leide ich aber, so quäle ich mich lange.)
DOCH LASS IHN WEITERZIEHEN, WENN ER SCHEIDEN WILL!
G. Wie kann ich das Leiden annehmen und dennoch heiter sein?
(Ich habe noch Fragen, doch fühle ich, dass er sprechen will und so schweige ich.)
(Im Wort „wir“ ist wieder der vollkommene Einklang des Chores spürbar. Hanna sagt mir später: „Du hast das Maß des Schweigens richtig gefühlt. Deine unbeantworteten Fragen werden dennoch Antwort erhalten. Stelle dir ein weißes Blatt vor! Die Antworten werden sich darauf einschreiben. Am Feuer deiner Frage werden sie sich entzünden.“)
Freitag, 6. August 1943
7. GESPRÄCH MIT LILI
L. Ich danke Gott, dass du wieder kommen durftest.
(Eine Atmosphäre tiefster Andacht folgt dem Wort „Gott“.)
L. Ich danke für alles, was ich diese Woche erhielt.
(Lili hatte eine unerwartete Hilfe gefühlt.)
L. Ich habe mich nicht im Gebet dafür bedankt …
DAS GEBET IST DER FLÜGELLOSEN FLÜGEL.
Deine Flügel wachsen schon.
L. Darf ich erfahren, was mein schwächster Punkt ist,
um daran arbeiten zu können?
(Lili hatte eine freudlose Jugend gehabt. Freude war ihr größter Mangel.)
L. Ich war diese Woche so froh wie noch nie zuvor!
L. Ich konnte meine Aufgabe aber nicht beenden …
(Lili hatte versucht, das Wesentliche ihrer Arbeit zu definieren.)
L. Ich hätte so gerne etwas Ganzes, Abgerundetes gebracht.
(Bewegung, die eine Spirale darstellt.)
L. Ich fühle, dass ich jetzt sehr viel arbeiten muss.
Nicht „Viel“ – nur eines hast du zu tun!
(Erhebende, darbringende Geste.)
Freitag, 13. August 1943
8. GESPRÄCH MIT GITTA
(Schon einige Zeit vor Beginn der Gespräche – und lange Zeit danach – hatten wir oft sehr eindrückliche Träume, die wir „Lehrträume“ nannten. Wir konnten sie nicht vergessen, denn sie übten jeweils eine große Wirkung auf uns aus. Wir erzählten sie einander beim Frühstück und versuchten dann gemeinsam, ihren verborgenen Sinn zu entschleiern. Hannas Träume bezogen sich oft auf zukünftige Ereignisse.)
G. Ich träumte heute von einer neuen Hostie,
ich kann den Sinn des Traumes aber nicht verstehen.
Die Neue Hostie ist Bild der Neuen Schöpfung.
G. Die Materie schien mir im Traum wichtig,
aber auch das ist mir nicht klar.
Die Sünde des Menschen – Adams – hat die Materie verflucht.
Endet der Fluch, so wird die Materie wieder Heiligtum.
DIE MATERIE IST DAS KIND GOTTES.
Frage!
G. Wie könnte ich meinen Glauben so stärken, dass ich
über die Dualität – das Leben in Gegensätzen – hinaus gelange?
G. Das verstehe ich nicht.
Nicht zum Schauen ist dein Auge da.
G. Schaue ich zu sehr nach außen?
(Es folgt ein blitzschnelles Umwenden der Handfläche. Ich verstehe die Geste nicht, fühle aber, dass ich das „Umwenden“ leben werde.)
G. Meine Liebe versagt oft.
Es ist so schwer in meiner Familie …
(Gebärde der linken Hand:)
(Gebärde der rechten Hand:)
In dir sind die zwei nicht im Einklang,
und das wird noch lange so sein.
G. Letzte Woche erwartete ich deine Antwort auf weißem Blatt aufgezeichnet. Sie kam in anderer Form.
G. Das ist wahr, du hast mir aber dennoch geantwortet. Danke!
(Hanna sagt mir später: „Verlasse dich keinen Augenblick auf die Kraft deines Meisters! Nur dein Feuer ruft die Antwort hervor.“)
G. Auch jetzt habe ich Rührungstränen in den Augen,
und ich weiß, dass du das nicht liebst.
(Geste nach unten:)
Das wahre Gefühl ist anders. Bald lehre ich es dich.
Lasst uns IHN anbeten!
(Eine gesammelte Stille folgt. Mein Herz erhebt sich und ein tiefer Friede erfüllt mich.)
Freitag, 13. August 1943
8. GESPRÄCH MIT LiLI
L. Ich danke Gott, dass du wieder kommen konntest.
L. Darf ich mich ganz gehen lassen, wenn ich allein bin?
L. Warum bin ich so oft verzweifelt und entzweigerissen?
Du bist nicht immer eins mit der anderen Hälfte.
Du bist nicht weit vom Eins-Sein.
Du machst Fortschritte.
L. Darf ich kleine Kinder unterrichten?
L. Ich habe nicht genug Kontakt zu ihnen.
Glaube mir: Es gibt keinen Unterschied
zwischen Kindern und Erwachsenen.
L. Warum kann ich so selten Kind sein?
SO WIRST DU WIEDER ZUM KLEINEN KIND.
L. Ich will den VATER noch zu sehr suchen.
LASS DICH FINDEN!
L. Das ist das Schwerste …
Hilf allen andern, das zu erlernen!
L. Ich bin jetzt so froh und möchte immer so erfüllt sein,
doch bin ich so oft „platt“. Warum?
L. Ich habe Angst, in die Stadt zurückzukehren.
(Lili verbringt nur die Wochenenden in Budaliget.
Die angespannte politische Lage löst in Budapest eine zerrüttende Nervosität aus.)
L. Die Stadt wird mich niederziehen,
weil noch nicht genügend Kraft in mir ist.
Wir werden uns treffen.
Die Stadt ist ein leeres Muschelgehäuse – sie ist nicht mehr.
Erstarrter Fluch ist sie, Fluch selbst ihr Staub,
da nichts mehr in ihr wächst.
In dir aber wächst der Keim – bewahre ihn gut!
Erhebe dein Herz zu IHM.
(Lili fühlt zum ersten Mal in ihrem Leben die Kraft des wahren Gebets. Sie bricht in Tränen aus.)
Erhebst du dich ins Grenzenlose,
so können wir uns immer treffen.
Freitag, 20. August 1943
9. GESPRÄCH MIT GITTA
(Letzte Nacht träumte ich, dass ich auf einer endlos scheinenden Ebene stand. Plötzlich erscheint ein weißes Pferd voller Kraft und Schönheit. Gleichzeitig wächst ein spiralförmiger Weg in die Höhen. Ich fühle, dass das weiße Pferd mich in die Höhen tragen könnte.)
G. Was bedeutet das weiße Pferd?
G. Wie kann ich das?
G. Was ist das Schwere in mir?
(Hannas Sprache ist während der Gespräche von großer Schönheit, nahe den Wurzeln des Ungarischen. Augenblicklich findet sie für das, was sie jetzt sagen soll, bloß einen etwas trivialen Ausdruck, den mein Meister nur nach einigem Widerstreben annimmt:)
(Ich erinnere mich, gestern recht scharf geurteilt zu haben.)
G. Gestern …? Ja, da bin ich schön in die Falle getappt.
Wie könnte ich das vermeiden?
G. Wie könnten meine Bilder das Neue Licht enthalten und in jedem Betrachter eine Sehnsucht danach wecken?
Ich enthülle etwas:
Das LICHT ist dasselbe wie das Licht,
sein Ton ist derselbe.
Das Gewicht des Tones aber nicht.1
G. Soll ich zu malen beginnen?
Jedes deiner Bilder ist eine Stufe nach oben.
Beginne unten! Fliege nicht!
Du hast Flügel, viele haben keine. Verstehst du jetzt?
G. (sehr froh:) Oh ja! Jetzt sehr gut.
(Hanna fühlt, dass auch er froh ist.)
G. Wie kann jede meiner Taten Opfergabe werden?
G. Wie könnte ich mich von meinem kleinen „Ich“ befreien?
Ich verachte es!
G. Ich denke nicht an meinen Körper …
Du verachtest es, weil du es fürchtest.
Es belehrt dich ebenso, wie ich dich belehre.
LERNST DU DAS VERFLUCHTE ZU LIEBEN,
SO FINDEST DU DEINEN PLATZ.
G. Wie finde ich meinen Platz am schnellsten?
Wer eilt, eilt nur dem Tod entgegen.
(Geste zum Garten hin, wo Joseph liest:)
G. Wer?
(Ich erkenne, dass der Rufname nicht der wahre Name ist, der die Berufung zum Ausdruck bringt.)
WER SÄUMT, NÄHERT SICH DEM TOD VON HINTEN.
ZWISCHEN DEN BEIDEN IST DAS EWIGE SEIN.
WER ZUR RECHTEN ZEIT WIRKT,
KENNT KEINEN TOD.
(Hanna sieht das Gesagte bildlich: In einer haarscharfen senkrechten Linie vibriert das Leben. Wer zur rechten Zeit tut, ist in dieser Linie – im Jetzt – und lebt.
Wer eilt, ist in der Zukunft – im „Tod von vorne“.
Wer säumt, ist in der Vergangenheit – im „Tod von hinten“.)
(Segnende Gebärde über meine Hände.)
1 Die Schwingung
Freitag, 20. August 1943
9. GESPRÄCH MIT LILI
L. Darf ich fragen?
(Bejahende Geste.)
L. Ich verstehe die Lehre nicht,
die ich letzte Woche in Budapest erhielt.
(Lili versuchte zu spüren, in welchen ihrer Schüler der neue Same wohl keimen könnte.)
ER ist die treibende Kraft.
Ist ein Same da, so keimt er empor.
Suche nicht zu wissen, wo er ist. Dein Urteil ist nicht nötig!
L. Danke! Und danke für den Traum dieser Nacht.
L. Ich möchte schon so gerne erwachen!
L. Das verstehe ich nicht.
ABER BALD WIRD ER IN DIR ERWACHEN.
(Stille)
L. Wie kann ich meinen Familienmitgliedern helfen?
Vertraue IHM.
L. Warum habe ich jeden Morgen im Rücken und Nacken Schmerzen?
(Seit ihrer Kindheit stand Lili unter dem Druck der Familie.)
Wenn du dich vor IHM, dem einzig Würdigen, beugst,
wirst du aufgerichtet werden.
L. Ist die Ursache jeder Krankheit psychisch?
denn sein Wesen ist Trägheit.
Deine Rückenschmerzen kommen nicht von deinem Rücken.
(Stille)
Worüber freutest du dich dieser Tage?
L. Über meinen Traum, meinen guten Tag in der Stadt, und vor allem über dich.
Der Himmel segne dich!
(Während der Gespräche bin ich hie und da mit dem Mitschreiben im Rückstand. Jedes Mal, wenn dies geschieht, tritt eine kleine Pause ein, die es mir erlaubt, den Text zu ergänzen. Also bin ich überzeugt, dass genaues Mitschreiben erwünscht ist.)