Wir danken Prof. Dr. Christoph Spunda
für die Genehmigung, dieses Werk
seines Vaters neu aufzulegen
und für das Vorwort
Vorwort
Erstes Buch:
Das Lichtwunder der Sophia
Der junge Anthemios
Das Weiße Kloster
Der Heilige Palast
Cisterna Basilica
Nika
Sophia
Gnosis und Gold
Ein Schwamm, ein Brot und eine Harfe
Amalasuntha in Byzanz
Die Zahl der Achamoth
Die Einweihung des heiligsten Hauses der Erde
Theodora und der Tod
Zweites Buch:
Die Verfinsterung
Laimo Kopia
Das Gedicht des Paulus Silentiarius
Auf den Mauern
Sofi
Justinianus?
Irene
Die Verfinsterung beginnt
Wunderzeichen
Der 29. Mai 1453
Das Lied der Sophia
Was ist Sieg, was ist Untergang?
Es kommt darauf an,
wie wir dies oder jenes ertragen.
Vor Gott zählt beides nicht,
sondern nur, wie wir uns dabei bewähren.
Franz Spunda
Das Werk hat zwei Wurzeln: einerseits die immer wieder aufgenommene Beschäftigung des Autors mit entscheidenden Phasen der Entwicklung Europas, beginnend mit der kretischen Minoskultur über die faszinierende Darstellung des Schicksals der Westgoten, bis zu farbigen Renaissancegemälden etwa um Giordano Bruno oder Bonifaz VIII. Die zweite Wurzel seines Werkes liegt in der sein ganzes Schaffen umfassenden Nähe zu den historischen und geistigen Aspekten des Griechentums, einschließlich der Orthodoxie. Der Roman führt uns das Schicksal des byzantinischen Gegenstückes zum römischen Petersdom in zwei dramatischen Akten vor Augen, nämlich die Jahre der Erbauung der gnostischen Hagia Sophia (532-537) durch Justinian I. und das Jahr der Erstürmung Konstantinopels durch Mehemet II. (1453). Erstaunlich, fast unverständlich nach heutigen Maßstäben sind die architektonischen und organisatorischen Leistungen am Beginn, grauenhaft die Massaker und Zerstörungen nach dem Fall der Stadt, darunter aber auch singuläre Akte der Gnade und des Mitleids mit den Besiegten. Stephan Zweig hat Gleiches beschrieben. Nach Jahrhunderten als Moschee wurde die Kirche 1934 unter Atatürk in ein Museum umgewandelt. Die plastische, personen- und gesprächsreiche Darstellung lässt uns eintauchen in eine nur auf den ersten Blick ferne Welt. Zuneigung und Hass, Demut und Maßlosigkeit entfalten sich vor unseren Augen als Spiegelbilder des menschlichen Wesens. In anderen Gestalten und Kostümen, aber uns wirklich so fremd? Vielleicht möchte dieses Werk zur Besinnung über die Vergänglichkeit selbst von Feindschaften beitragen.
Christoph Spunda, Wien, Dezember 2007
Als die ägyptische Triere »Bubastis« das offene Meer gewann und die letzten Strahlen der Abendsonne das goldene Doppelkreuz der Johanneskirche von Ephesos aufgleißen ließen, versammelten sich die Reisenden auf dem Heck zur Abendandacht, die ein junger Diakon leitete. Nur einer der Fahrgäste hielt sich abseits, ein junger, schmächtiger Mann, der mit wehmütigem Glutblick der entschwindenden Küste nachstarrte, die im Gegenschein des verglühenden Abendrots in violenblauer Umnachtung wie ein hinschwindendes Traumbild versank.
»Du bist kein Christ?« hörte er sich plötzlich angesprochen. Anthemios fuhr bei dieser gefährlichen Frage zusammen, die er sofort durch ein hastig geschlagenes Kreuz auf Brust und Stirn bannte.
Der andere, offenbar ein Ägypter, lächelte verstehend: »Du brauchst keine Angst zu haben. Bei uns in Ägypten kann jeder glauben, was er will, sofern er dadurch niemanden schädigt.« Es war ein Handelsmann aus Heliopolis, Minanch, der mit einer Ladung lydischer Wollwaren heimfuhr. Der junge Anthemios begrüßte die Gelegenheit, von dem gebildeten Mann Erkundigungen über das Land einzuziehen, dem er mit klopfendem Herzen entgegenfuhr. Um sein Vertrauen zu gewinnen, erzählte er kurz seine Lebensgeschichte. Er war der jüngste von fünf Brüdern aus dem Landstädtchen Tralles und reiste nach Alexandrien, um sich dort an der Architektenschule auszubilden. Ebenso wie die Baukunst fesselte ihn die Theologie. In Tralles war das religiöse Leben in einer kleinlichen Orthodoxie erstarrt; er hoffe, in Ägypten ein lebendigeres Christentum anzutreffen, das Verständnis für alle Fragen seiner ruhelos drängenden Seele hatte, ohne durch kirchliche Gebote gehindert zu sein. Die Sehnsucht danach sei durch einen koptischen Wandermönch, Paulus, in ihm wachgerufen worden, der auf seiner Fußreise nach Konstantinopolis im Elternhause das Feuer der Gotterkenntnis in seine Seele geworfen habe.
»Gib Acht, dass du dabei nicht den Verstand verlierst!« warnte Minanch. »Die Theologie ist ein Labyrinth, aus dem es keinen Ausgang gibt. Wer sich dahinein verirrt, der ist verloren. Da lobe ich mir das, was die Christen Heidentum nennen! Da ist alles klar und einfach. Die alten Götter beruhigen das Herz, der Christengott aber ist ein Abgrund, in den zu schauen gefährlich ist. Du kannst den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Glauben in Ägypten aus eigener Erfahrung kennen lernen. In der Oase Augila wird noch immer Ammon Ra verehrt, auf der Insel Philae steht noch das Heiligtum der Mutter Isis mit dem Horosknaben im Arm, angebetet von Scharen gläubiger Pilger. Das Serapeion in Alexandrien ist zwar zu einer Kirche des heiligen Arkadios umgewandelt, aber der Orden der Serapionsbrüder pflegt das alte Wissen der Pharaonenzeit weiter.«
Dem jungen Griechen brannte eine andere Frage auf den Lippen, ob er etwas von der Geheimlehre der Gnosis wisse, von der ihm Paulus erzählt hatte, aber er trug Scheu, sein Herz vor dem Fremden zu öffnen, und ließ sich von ihm lieber über die wissenschaftlichen Anstalten Alexandriens unterrichten. So erfuhr er, dass die Akademie für Mathematik und Architektur in der ehemaligen Festung Brucheion untergebracht war und mit der Musikakademie im Serapeion in Verbindung stand, denn jeder Mathematiker musste zugleich Musiker sein.
Die »Bubastis« legte bei gutem Wind am dritten Tag in Rhodos an. Im Hafen erregte eine riesige Kugel in Gestalt einer Melone die Aufmerksamkeit des Anthemios, eine Halle über einer Therme, wie man ihm berichtete. Er besichtigte den Raum, dessen Kuppel wie schwerelos in der Luft schwebte. Sie war aus porösem Bimsstein, wie man ihm erklärte.
»Es braucht nur ein Orkan zu kommen und das Kartenhaus fällt zusammen«, bemerkte er zu dem Baumeister, der ihn führte.
»Dann bauen wir die Kuppel in doppelter Größe auf. Die Stadt ist reich«, entgegnete jener mit einem verdächtigen Zwinkern der Augen, als ob er es nicht erwarten könne, sein Werk zerstört zu sehen.
»Ihr seid merkwürdige Leute«, erwiderte Anthemios. »Wenn ich einmal baue, muss es für die Ewigkeit halten.«
»Ach, die Ewigkeit! Weißt du nicht, dass die Welt ohnehin demnächst untergehen wird? Lies in der Apokalypse nach! Die große Hure Babylon hat den Thron der Welt bestiegen. In Byzanz ist die Zirkusdirne Theodora Kaiserin geworden.«
Anthemios wollte entrüstet aufbrausen und die Geschmähte verteidigen, denn er wusste es besser. Seine Brüder Metrodoros und Olympios, die am kaiserlichen Hof lebten, sprachen in Briefen, die sie nach Tralles geschickt hatten, nur in Worten der Hochachtung und Bewunderung für die neue Basilissa.
Einer der Mitreisenden missdeutete seine Verlegenheit und erklärte: »Wir leben in einer Zeit, wo die Hand Gottes erkennbar von oben eingreift. In der Thebais hat ein heiliger Anachoret einen Toten zum Leben wiedererweckt, im Kloster Pgol fand man ein Buch, das die geheimen Maße und Zahlen enthält, nach denen Gott die Welt gebaut hat, in Panopolis ist eine Mumie aus der Zeit des großen Ramses lebendig geworden, die von ihrer Reise im Jenseits berichtete und dann zu Staub zusammenfiel. Man hatte gerade noch Zeit genug, ihr die Nottaufe zu spenden.«
Anthemios wusste nicht, wie er es aufnehmen sollte. War dieses Volk so abergläubisch, dass es jene Ammenmärchen für bare Münze nahm, oder war die Zeit wirklich voll der Wunder? Je mehr man ihm von Ägypten erzählte, desto brennender wuchs in ihm der Wunsch heran, sich selber von allem zu überzeugen.
Das Kreisen von Meervögeln zeigte nach einigen Tagen die Nähe des Landes an. In der Nacht blinkte ein rotes Auge über den dunstigen Horizont, der Pharus von Alexandrien.
Das Schiff legte im Eunostoshafen an, und Anthemios machte sich auf, die Herberge zu suchen, die ihm Minanch empfohlen hatte.
Alexandrien hatte zwar nach dem Aussterben der Ptolemäer seine politische Vormachtstellung verloren, aber als Hort der Wissenschaft konnte die Stadt nicht entthront werden. Die unermesslichen Bücherschätze, seit Jahrhunderten in der Großen Bibliothek der Regia aufgestapelt, enthielten das gesamte Wissen der Welt, nicht nur alle griechischen und römischen Autoren samt ihren Kommentatoren und Exegeten, sondern auch fremdsprachige Werke, die von einem Heer von Grammatikern übersetzt wurden. In den angegliederten Akademien wurden alle Disziplinen gelehrt: Rhetorik, Grammatik, Mathematik, Musik, Architektur und Astronomie samt allen Nebenzweigen.
Das akademische Viertel lag im Stadtteil Gamma. Die ganze Stadt war in fünf Sektoren eingeteilt, die nach den Buchstaben des griechischen Alphabets bezeichnet wurden.
Durch den ungewohnten Lärm verwirrt, verlor Anthemios die angegebene Richtung und geriet in das Judenviertel beim Kanopischen Tor. Zurück über den Dromos, die vierte Seitengasse links, wo die empfohlene Herberge zum heiligen Hilarion lag.
Bevor Anthemios in die Akademie der Architekten aufgenommen wurde, musste er, weil er keine Bürgen seiner Rechtgläubigkeit stellen konnte, sich vom Diakonat des Kirchensprengels Gamma auf Herz und Nieren prüfen lassen, ob er kein verkappter Monophysit wäre. Denn die von Minanch gerühmte Glaubensfreiheit galt nur für Privatpersonen, für Besucher der staatlichen Akademien war durch ein kaiserliches Reskript, das auf Theodosios zurückging, Orthodoxie vorgeschrieben. Zum Glück war er in den heiklen Glaubensfragen über die Natur der göttlichen Personen gut beschlagen, weil ihm einmal sein Bruder Metrodoros die Haarspaltereien der Chalkedonischen Synode genau erklärt hatte. Dadurch entging er den ausgelegten Fußangeln, indem er im Brustton der Überzeugung darlegte, dass die monophysitische Glaubensformel über die beiden Naturen Christi »unvermischt und unverwandelt« falsch, hingegen die orthodoxe »ungeteilt und ungetrennt« richtig sein müsse, worauf in einer Diskussion bewiesen wurde, dass die beiden Naturen auch untrennbar seien.
Erst nach Bestehen dieser Prüfung verlangte man die Vorlage seiner bisherigen fachlichen Arbeiten. Seine Aufrisse und Pläne imaginärer Bauwerke, die er mitgebracht hatte, wurden nur flüchtig angesehen. Man verlangte von ihm Berechnungen über den Druck und Seitenschub von Kuppeln verschiedener Krümmung. Anthemios kannte nur die gebräuchlichen Hand- und Faustregeln, ohne sie mathematisch begründen zu können. Das war alles, was er in Tralles gelernt hatte.
Die Kommission schüttelte bedenklich den Kopf, Anthemios befürchtete, abgewiesen zu werden. Doch zu seinem Glück waren für den ersten Jahrgang noch drei Plätze frei. In Gottesnamen, man wollte es mit dem Provinzler versuchen.
Statt sogleich mit dem Studium zu beginnen, mussten die Schüler zuerst als einfache Maurer alle Kunstgriffe des Handwerks erlernen. Anthemios wurde dem Baumeister Phtaokas zugeteilt, einem hellenisierten Ägypter, der für einen reichen Reeder einen Palast im Hain der Nemesis erbaute. Als Vorbild schwebte dem Bauherrn die Chalke von Konstantinopolis vor. Es galt also eine Kuppel zu wölben, die sich nach rückwärts in eine Halbschale, Konche, auflöste.
Phtaokas trieb seine Arbeiter zu den schwersten Anstrengungen an. Erst am Feierabend besprach er mit ihnen die Geheimnisse seiner Kunst. Einmal sagte er: »Jedes Bauwerk ist etwas Lebendiges, das atmet. Seine Mutter ist der Traum, sein Vater die Zahl. Seine Nahrung ist das Licht.«
So lernte Anthemios nach und nach die ägyptische Philosophie der Architektur kennen.
Unter den Mitschülern war auch ein Mönch vom Berg Sinai mit dem seltsamen Namen Bschai, der eifrigste von ihnen, aber auch der ärmste. Er hatte keine Herberge, er schlief in einer Ruine am Kanopischen Tor. Das notwendige Essen erbettelte er sich in den Garküchen bei dem Timonium.
Anthemios fühlte sich zu dem Wortkargen hingezogen, der von seinem Abbas in die Stadt geschickt worden war, um dereinst als Baumeister das Sinaikloster durch einen Neubau zu erweitern. Es stellte sich heraus, dass er den koptischen Wandermönch Paulus kannte, den er für den Abgesandten einer geheimen Sekte hielt, die am Kaiserhof das höchste Ansehen genoss. Mehr wollte er nicht verraten.
Die anderen Kameraden waren lustige Brüder, die sich in allen Schänken und Kneipen auskannten. Anthemios war kein Spielverderber und hielt bei tollen Streichen mit, ohne dadurch seine Studien zu vernachlässigen.
So vergingen die Monate in Ernst und Scherz.
Als er eines Abends nach Hause kam, fand er auf seinem Tisch einen Zettel. »Morgen zur siebenten Stunde bei der Kapelle des heiligen Sabbas.«
Lockte da ein Abenteuer oder war ihm eine Falle gestellt? Die angegebene Stelle lag am Mareotischen See am Judenfriedhof. Ein unheimlicher Ort.
Die Versuchung lockte, er ging hin. Der See lag wie ein Metallspiegel vor ihm, öde wie eine Hadeslandschaft. Er hatte für alle Fälle ein Kurzschwert mitgenommen und eine Alarmpfeife, um gegebenenfalls die Stadtwache vom Paneum herbeizurufen. Klopfenden Herzens näherte er sich der Kapelle und sah um sich. Niemand war da. Um sich Mut zu machen, ging er trällernd um das Sacellum und tat einige Schritte gegen das Wasser. Da raschelte es im Schilf, ein Kahn schob sich heran, in dem eine Gestalt stand, die den Staunenden heranwinkte.
Anthemios zögerte. Da sprach der Mann im Boot: »Der Bettelmönch Paulus sendet dir seinen Gruß.«
»Ist er von seiner Reise nach Byzanz schon zurück?«
»Komm mit uns, wenn du Nachricht von ihm haben willst.«
Da legte Anthemios seine Furcht ab und trat zu dem Fremden in den Kahn. »Wohin wirst du mich führen?« fragte er.
»Hilf mir rudern, damit wir schneller hingelangen!«
Sie legten sich in die Riemen. Die Stadt wich zurück, über ihr wurde der Pharus sichtbar. Die Fahrt ging nach Süden. Zuweilen flog ein Wasserhuhn auf, das sie aufgescheucht hatten.
Es ging gegen den Abend, Dunst legte sich über das Wasser. Wohin ging die Fahrt?
Eine Schlamminsel schob sich heran, zischend bog sich das Schilf vor dem Bug des Fahrzeugs auseinander. Sie legten an und gingen zu einer Hütte, die hinter einem Weidengebüsch auftauchte.
Zwei Mönche saßen an einem Tisch, auf dem eine Lampe glomm. Keiner von ihnen war Paulus.
Der eine, der sich Elmas nannte, bat den Gast um Verzeihung, ihm so große Beschwerden zugemutet zu haben, aber die Stadt sei voller Späher, man könne nicht vorsichtig genug sein.
Nach einer einfachen Bewirtung mit Feigen, Datteln und Brot begann Elmas also: »Paulus reiste nach Byzanz, um mich abzulösen, denn immer muss einer der Unsrigen bei der Kaiserin sein. Er lebt im monophysitischen Kloster bei dem Abt Zooras, dem geistlichen Berater Theodoras.«
»Wie, die Basilissa bei diesen auf der Synode verdammten Ketzern?«
»So höre denn, wie es dazu kam! Theodora war in früher Jugend als Tochter eines Bärenwärters Pantomimin im Zirkus. Dann wurde sie die Geliebte des reichen Hekebolos, und als dieser zum Statthalter von Alexandrien ernannt wurde, zog sie mit ihm. Er aber wurde ihr untreu, als er die Statthalterschaft von Kreta übernahm. Sie war von ihm gesegneten Leibes und sah sich plötzlich der ärgsten Not preisgegeben. Alle Häuser verschlossen sich ihr, es blieb ihr nichts anderes übrig, als das Armenspital für die Niederkunft aufzusuchen. Da nahm sich einer der Unsrigen ihrer an und rettete sie vor dem Verbluten. Sie hatte eine Frühgeburt, das Kind starb. Paulus brachte die Genesende in das Haus einer monophysitischen Witwe, die ihr, als sie hergestellt war, das Fahrgeld nach Byzanz gab. Dort wurde sie Teppichknüpferin im Sykaikloster. Der Abbas Zooras empfahl sie einem Diakon der Hagia Sophia, der die Mysterienspiele der Kirche leitete. Dort erregte sie durch ihre Schönheit und ihr ausdrucksvolles Spiel als Theotokos in einer Pantomime solches Aufsehen, dass auch der Thronfolger Justinianus davon erfuhr. Er suchte eine dieser Vorstellungen auf, sah Theodora, und von diesem Augenblick an wusste er, dass sie die ihm vom Himmel bestimmte Gattin war. Vergeblich wollte ihn seine Verwandtschaft davon zurückhalten, die übel Beleumundete zu ehelichen, schließlich gab der Basileus seinen Bitten nach, und Theodora wurde Justinians Gattin.«
»Ich beginne zu verstehen. Doch welche Aufgabe will mir Paulus anvertrauen?«
»Sachte, sachte! Paulus hat ihr damals, als sie im größten Elend darniederlag, den Aufstieg auf den Kaiserthron geweissagt, und er hat richtig prophezeit. Es geschieht in Byzanz nur das, was Zooras billigt, doch so, dass der Urheber unerkannt bleibt.« Elmas erhob sich und sprach feierlich: »Paulus hat in Tralles in den Gesprächen mit dir dich als den Geeignetesten gefunden, der befähigt ist, unsere Gedanken in Stein auszudrücken und ihnen Dauer über den Aion hinaus zu verleihen.«
»Er nannte mir damals ein geistiges Schlüsselwort: Gnosis. Ist dieses gemeint?«
»Du bist auf dem Weg dorthin. Wenn du alles gelernt hast, was an der Akademie gelehrt wird, werden wir dich in das Weiße Kloster schicken, damit du dort erfahrest, was uns das Wichtigste für unsere Zeit erscheint. Dann mögest du in Gottes Namen an den Kaiserhof fahren und dort das Erfahrene verwerten zum Heil und zur Erleuchtung der Welt.«
»Ich soll also Gnosis erleben?«
»Das von ihr, was für deine Aufgabe von Bedeutung ist.«
Auf der Rückfahrt über den See erwachte er allmählich wie aus einem Märchentraum. Theodora, die schönste und mächtigste Frau der Welt! Sie, die Hüterin des großen Geheimnisses! Sie sehen, sie anbeten, ihr dienen, für sie schaffen, was ihrer würdig ist!
Wirst du es leisten können? O Gott, gib mir die Kraft, ihre Nähe zu ertragen! Aber auch wenn ich bei ihrem Anblick vergehe, ist mein Erlöschen Seligkeit!
Von nun an widmete sich Anthemios mit mönchischer Inbrunst seinen Studien und vertiefte sich in Probleme, in denen Mathematik in Philosophie überging. So geriet er in den Zaubergarten der Pythagoreer, in dem mystische Zahlen gedeihen. Aus ihm führte ihn sein Lehrer Eustates in die dürre Heide der Atomistik des Leukippos, worauf er ihm die Welt Platons und Plotins eröffnete.
Unter den Schülern gab es drei Gruppen: die Hyliker, die nur die Materie gelten ließen, die Psychiker, hauptsächlich Grammatiker, Rhetoren und Ärzte und schließlich die Pneumatiker, die den reinen Geist als Triebfeder des Weltalls erkannten, in der Mehrzahl Theologen. Als Anthemios einmal im Gespräch mit ihnen das Wort Gnosis fallen ließ, trat sogleich ein betretenes Schweigen ein. Eustates winkte ihn abseits und verwarnte ihn: »Du hast da ein gefährliches Wort ausgesprochen, man sieht, dass du ein Fremder bist. Der Patriarch hat schon seit Jahren jede Erinnerung an jene Ketzerei unter schwere Strafen gestellt. Sei also gewarnt!«
Einige Tage darauf erhielt er einen Brief aus seiner Heimat. Sein Bruder Dioskoros hatte seine Frau Verecunda verstoßen und war nach Sizilien gezogen. Die Frau tat ihm leid. Als Anthemios beinahe noch ein Knabe war, hatte er eine scheue Zuneigung zu ihr empfunden. Doch jetzt waren die Gedanken an sie vor dem Bild Theodoras verblasst.
In seiner Leidenschaft für sie suchte er alle Stätten auf, die ihr Fuß betreten hatte, den Palast, den sie mit Hekebolos bewohnt hatte, das Armenspital, in dem sie beinahe verblutet wäre.
Seine Unrast wollte sich nicht legen. Er schrieb seinem Bruder Metrodoros nach Byzanz, dass er in Kürze seine Studien beendigen und zu ihm fahren werde und bat ihn, seine Ankunft empfehlend vorzubereiten.
War er aber wirklich dazu schon geistig reif? Durfte er die Einladung in das Weiße Kloster ausschlagen?
Er musste Klarheit gewinnen. Daher mietete er einen Kahn und fuhr gegen die Schilfinsel.
Die Hütte war leer, aber Fußspuren im Sand verrieten ihm, dass sie bewohnt war. Anthemios wartete also geduldig auf die Rückkehr der beiden Mönche. In der Einsamkeit ging er mit sich zu Rate. Er wusste, dass er vor dem entscheidendsten Schritt seines Lebens stand. Wenn er in irgend einer Kleinigkeit versagte oder sich eine Blöße gab, war alles verloren. In deiner jetzigen Zerfahrenheit wirst du alles verderben, du musst gefasst und selbstsicher werden! Du wirst Theodora sehen und darfst sie nicht enttäuschen! So warnten ihn seine Gedanken.
Gegen Abend traten die Erwarteten ein, die den Besucher begrüßten: »Wir haben alles für deine Nilfahrt vorbereitet und einen geeigneten Begleiter für dich gefunden. Es ist Zeit! Mach dich bereit, ihm zu folgen! Er heißt Markos.«
»Aus Byzanz habt ihr keine Nachricht? Von Justinian und Theodora?«
»Der Kaiser lässt das ganze Stadtgebiet untersuchen, um an geeigneten Stellen Katakomben anzulegen«, war die Antwort.
»So rechnet er mit einem Krieg und einer Belagerung?«
»Nach dem Tod des großen Theodosius ist der Besitz Italiens gefährdet. Die Hunnen haben den Goten von Ravenna ein Bündnis angetragen, um gemeinsam Justinian zu stürzen, doch die Königin Amalasuntha hat abgelehnt.«
»Und Theodora?« kam es stockend von den Lippen des Errötenden.
Elinas erwiderte ernst: »Du sollst nicht nach ihr fragen, sie ist jenseits aller irdischen Wünsche. Das Weiße Kloster wird für dich eine heilsame Schule der Erkenntnis sein. Wenn du ihr dienst, wie es ihr geziemt, wird sie dir gnädig sein.«
Anthemios fühlte sich durchschaut und schwieg. Elmas händigte ihm dann Empfehlungsschreiben ein, die er in Pgol und im Weißen Kloster abgeben sollte, dann fuhr der Besucher nach Alexandrien zurück.
In seiner Entlassungsrede an seine Schüler führte Eustates aus: »Das, was lehrbar ist, habe ich euch gelehrt. Aber es kommt nicht darauf an, eine gestellte Aufgabe mathematisch richtig zu lösen, sondern darüber hinaus etwas ganz Persönliches, Einzigartiges zu schaffen. Durch diese Mehrleistung erhält das Werk die ihm zukommende Weihe. Denkt daran, dass alles, was ihr schafft, heilig sein soll. Jedes Haus, auch das eines Schusters, soll zeigen, dass sein Bewohner durch seine Seele Anteil an dem Göttlichen hat.«
Dann überreichte er einem jeden sein Diplom und gab jedem einen Merkspruch mit. Dem Anthemios aber sagte er nichts, doch er umarmte ihn und legte ihm segnend die Hand auf den Scheitel.
Markos, der von Elmas versprochene Begleiter, stellte sich nach einigen Tagen bei Anthemios ein. Dieser regelte seine Angelegenheiten in der Stadt und fuhr mit jenem zunächst nach Bubastis, wo sie auf ein geeignetes Fahrzeug warteten, das sie nilaufwärts bringen sollte.
Es war Niederwasser, sie kamen nur langsam zwischen den vielen Sandbänken weiter.
Unweit von Kainopolis erkrankte Anthemios. Markos bat den Schiffspatron, bei dem Dorf Pgol anzulegen, um den Kranken an Land zu schaffen.
Drei Stadien vom Nil entfernt lag in einem Palmenwald das Kloster verborgen, eine Zweigniederlassung des Weißen Klosters, wie Markos erzählte. Es hatte im Laufe der Zeit viel gelitten und beherbergte in seinen Mauern kaum mehr als ein Dutzend Mönche. Ein Heilkundiger nahm sich des Kranken an und stillte dessen Fieber durch Mittel aus der Klosterapotheke.
Der erste Gang des Genesenen galt der Kirche. Er erschrak bei ihrem Betreten: Welchem Gott wurde da gedient? Waren die Mönche Christen?
Der Gottesdienst bestand aus Psalmengesang, Räucherungen und Besprengungen. Die Wandgemälde zeigten geometrischen Schmuck, nirgends ein Kreuz. Die Apsis enthielt ein seltsames Mosaik: Fünf Stufen führten zu einem goldenen Thron empor, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag mit den fünf griechischen Vokalen samt den verschollenen Buchstaben Stigma, Koppa und Sampi.
»Was soll das bedeuten?« fragte erstaunt der Gast.
»Hetoimasia«, erklärte der führende Abbas. »Der Thron des Weltenheilands im zukünftigen Aion ist schon vorbereitet. Die Fülle der Vokale und die drei mystischen Buchstaben lobsingen ihm schon jetzt die mystische Achtzahl. Auf der fünften Stufe der Weltentwicklung wird die Vollendung thronen.«
»Sind die Mönche von Pgol Gnostiker?« fragte staunend der Fremde.
Der Abbas gab keine Antwort und entfernte sich. Markos zeigte auf die der Apsis gegenüberliegende Wand. Dort schlangen sich Spruchbänder mit persischen Schriftzeichen, unterbrochen von hängenden Kelchen, Opferschalen und Becken, denen Feuer entstieg.
»Bis zu ihrer Vertreibung unter Theodosios lebten hier Manichäer«, erklärte Markos.
Anthemios erschauerte. Er war in eine geheime Kultstätte Verfemter geraten. Auf den bloßen Verdacht des Manichäismus stand Todesstrafe. Wie konnte die Lehre des Mani in Beziehung zur Gnosis stehen? Und Theodora wusste davon? Rätsel über Rätsel!
In der Nacht quälten ihn schreckliche Träume. Er sah sich krank im Armenspital von Alexandrien. Ein vermummter Arzt nahte sich ihm mit einem glühenden Feuerbecken und beugte sich über ihn. Da verschob sich die Verhüllung, er sah das Gesicht – es war Theodora.
Von Pgol gelangten sie nach einigen Tagen an die Stelle, von der sie landeinwärts zum Weißen Kloster gehen mussten. Sie übernachteten in Schilfhütten, die auf hohen Pfosten standen, denn die Heide, durch die sie zogen, war im Frühsommer vom Nil überflutet. In der Nacht scheuchte sie das Geheul von Schakalen auf. Gegen Morgen strich ein Rudel Löwen an ihnen vorüber.
Mit zagem Herzen setzten sie die Reise fort. Nach einigen Stunden wuchs vor ihnen ein kahles Steingebirge auf, grellweiß, dass ihnen beim Hinstarren die Augen schmerzten. »Dort hinauf, hinter jenen Wänden ist das Kloster versteckt!« Die Hitze, die ihnen von den Felsen entgegenprallte, nahm ihnen die Sinne. Anthemios glaubte, vor Durst zu vergehen.
Man hatte die Ankommenden von oben bemerkt, zwei Boten kamen den Verschmachtenden mit einem kühlen Trunk entgegen. Auf dem Treppenabsatz erwartete sie der Abbas und begrüßte sie mit dem Bruderkuss. Hierauf lud er sie zur Bewirtung ein. Als Anthemios an das Fenster trat, stieß er einen Ruf des Entzückens aus: unter ihm lag eine Oase von ungefähr hundert Palmen, zwischen Gärten und Feldern. Hinter ihnen die endlose libysche Wüste.
Es bewohnten gegen vierzig Mönche den Steinbau, der mehr einer Festung als einem Kloster glich. Sie alle waren Kopten, einige sprachen griechisch. Der Fremdenvogt führte Anthemios in die Geschichte des Weißen Klosters ein: »Als der heilige Pachomios um das Jahr 320 in der Thebais das erste Kloster gründete, bestand schon unsere Ansiedlung als Mandra vorchristlicher Asketen, der Therapeuten und Essener. Wegen der Verborgenheit der Lage überstand sie alle Stürme der Zeit und konnte somit das Christentum in seiner ursprünglichen Gestalt bis heute bewahren. Jeder Abbas führt den Titel Schenute. Der jetzige ist der dreiundzwanzigste dieses Namens.«
»Was bedeutet das Wort?«
»Sohn Gottes.«
Am nächsten Tag überließ man ihn sich selbst. Anthemios drängte nicht und beteiligte sich ungefragt an der Arbeit im Garten der Oase. Abends las er in den Büchern der Bibliothek. Er wunderte sich darüber, dass es hier anscheinend keinen Gottesdienst gab. Oder würdigte man ihn nicht ihrer Gemeinschaft?
Eines Abends, als er an der Quelle saß, setzte sich Vater Schenute zu ihm und sprach: »Es ist gut, dass du deine Neugier und Ungeduld gezügelt hast, das spricht für dich.«
»Vater, belehre mich! Du weißt, dass mich nicht eitle Begier antreibt.«
»Du wirst an den Kaiserhof gehen und in den Strudel der Gewalt geraten. Gott aber ist das Gewaltlose.«
»Wie kann ich dort meinen Gottesfrieden retten?«
»Indem du das in dir bewusst erlebst, was du seit jeher in dir hattest. Dieses innere Erschauen, die Evidenz, nennen wir Gnosis. Dennoch ist alles, was man darüber aussagt, unzulänglich. Am Anfang von allem steht der Widerspruch. Gnosis ist das göttliche Drama, das sich gleichnisweise in jeder menschlichen Seele wiederholt.«
Nach einer Pause setzte er erklärend fort: »Die Ideenlehre Platons ist nichts anderes als eine Vorwegnahme der gnostischen Schau. Philo von Alexandrien drückt es so aus: Ideen sind die organisierenden Bildekräfte, die das Weltall gestalten. Er nennt sie Emanationen, Ausstrahlungen Gottes. Eine davon ist für uns fassbar, die Logoskraft. Den Urquell aller Emanationen nennen wir die Fülle, das Pleroma. Denke in der heutigen Nachtwache über den folgenden Spruch unseres Meisters Valentinus nach: Das Pleroma ist die selige Erfüllung aller geistigen Möglichkeiten.«
Am nächsten Tag gesellte sich ein Mönch als Versucher zu ihm.
»Wie, das Pleroma soll die Fülle des Möglichen in der Einheit sein? Doch Einheit gibt es nicht, überall wirst du nur Zweiheit finden. Selbst Christus konnte diesem Gespaltensein nicht entgehen. Zeigt nicht das Christentum von allem Anfang an ein doppeltes Gesicht, aus dem sich alles kommende Unheil entwickelt hat? Bergpredigt und ›Aug um Auge, Zahn um Zahn‹. Da kann sich jeder herauslesen, was er gerade braucht. Und wurde nicht die Bergpredigt als Köder benutzt, um ahnungslos Gläubige einzufangen?«
»Deine Einwände berühren nicht den Kern der Sache. Denn die Einheit der Welt ist die Liebe.«
Der Versucher entwich. Eine überselige Heiterkeit erfüllte das Herz des Wachenden.
Anthemios arbeitete in einem Beet, in dem Heilkräuter gezogen wurden. Da vernahm er aus einem nahen Gebüsch ein ersticktes Schluchzen, das gleichzeitig ein Jubeln war: »O das Glück! Es ist zuviel, es ist zuviel!« Ein Mönchlein saß unter einem Terebinthenbusch mit verzückten Mienen, über welche Tränen der Freude flossen. Der Fremde fragte teilnehmend: »Was hat dich so überselig gemacht?«
»Eine Schicht nach der anderen ist von mir abgefallen, übrig ist nur ein kleines Pünktchen geblieben. Bin ich es selber? Es hat zu glühen angefangen, und auf einmal war es eine große Sonne.«
»Darfst du darüber etwas aussagen?«
»Ach, es ist jenseits aller Worte und Begriffe! Stelle dir ein unendlich strahlendes Etwas vor, das gleichzeitig Geist und Licht ist, eine ätherische Schwingung, ein Schwelgen für Geistesohren, ein Schwelgen ohne Maß. Wie ein Lichtkatarakt stürzt es aus drei Kugelschalen auf mich herab, und gleichzeitig schwinge ich im gleichen Rhythmus hinauf. Das Dichter- und Dünnerwerden ist wie das Pressen eines Atems. O das Glück, es ist zuviel, es ist zuviel!« Der Mönch klammerte sich mit beiden Händen an den Fremden, wie um an ihm einen Halt zu finden, der ihn vor dem Verwehen in das Nichts retten sollte.
In der nächsten Nachtwache sagte Vater Schenute: »Man kann die seligen Erlebnisse der Gottnähe nur gleichnisweise in Worten, Tönen, Farben, Zahlen oder Mythen ausdrücken. Valentinus wählte die Form symbolischer Mythen. Höre nun, wie er das Weltendrama auffasst, das zugleich das Drama der menschlichen Seele ist!
Der Ausgangspunkt ist das Pleroma, die unendliche Fülle der Möglichkeiten in Indifferenz, ein unendlicher Ozean von Lichtvibrationen, deren Schwingungen sich in alle Dimensionen nach oben und unten ergießen. Die letzteren wirken als Bildekräfte, die in der Sprache der Gnosis Aionen genannt werden. Eine von ihnen, Sophia, die Weisheit, erlebt folgendes Drama: in ihrem Wissenstrieb hat sie das heiße Bestreben, die ganze Größe des Pleroma zu erfassen, wäre aber, wenn sie ihr Ziel erreicht hätte, von seiner Süßigkeit verschlungen worden. Deshalb tritt ihr der Grenzhüter Horos entgegen, der sie davon überzeugt, dass das Pleroma unerforschlich sei. Sie erkennt das Frevlerische ihrer Leidenschaft, geht in sich und wird traurig darüber, dass ihr Wissensdurst begrenzt bleiben muss. Sie sinkt in ihrer materiellen Form immer tiefer und gebiert aus sich eine Abspaltung, eine zweite Sophia, deren Geheimname Achamoth ist. – Denke in dieser Nachtwache darüber nach, wie du das Gleiche in irdischem Maß schon selber erlebt hast!«
Der Abbas setzte in der folgenden Nachtwache fort: »Aus dem Nichtwissen der Sophia entstand ihre Trauer. Moth, der irdische Tod, ist ihre tragische Form. Dieser erste Prozess kann als Ausatmen des Pleroma verstanden werden. Danach jedoch setzt die pleromatische Gegenbewegung ein, das Einatmen. Damit die gesunkene Sophia sich als geflügelte Achamoth erheben kann, sendet ihr das Urlicht zwei Helfer, Christos und den Heiligen Geist. Durch sie kann sie auf den Schwingen ihrer Flügel emporsteigen, anders gesagt, Materie wandelt sich wieder zu Seele und Geist.«
Hierauf führte ihn Schenute in die Geheimnisse der Lehre von den Dimensionen ein. Anthemios aber dachte bei seinen Worten an Theodora. Wie gleicht ihr Schicksal dem der Sophia! Eine Frau, die aus der untersten Tiefe in das hellste Licht emporgestiegen ist. Wenn er sich doch von ihr eine Vorstellung machen könnte! Außer Verecunda kannte er keine Frau. Sie war seine erste Jugendliebe, von der er sich mit einem bitteren Gefühl trennte, als sie die Frau seines Bruders Dioskoros wurde. Welcher Dämon verblendet dich, an Theodora überhaupt zu denken?
Wie von ferne hörte er die Worte des Weisen: »Der Heilsprozess ist ein Kyklos nach einem kosmischen Rhythmus, Gott atmet ein, Gott atmet aus. Aus dieser Doppelbewegung bildet sich ein Kreislauf des Erkennens, das Rad des Lebens. Erst wenn dieses zum Stillstand gelangt, hat die Seele das Unbewegliche erreicht, die Vollkommenheit, teleiotes.«
»Wie ist das zu verstehen, Vater?«
»Das Wissen, das zugleich Nichtwissen ist.«
Nach dieser mündlichen Einweihung wurde Anthemios zu einem Gottesdienst zugelassen.
Die Kirche war eine in Stein gehauene Krypta, die von einem Kranz matter Alabasterscheiben von oben her erhellt wurde, jede in einer anderen Farbe. »Farben sind«, erklärte der Abbas, »Licht gewordene Zahlen und Töne. Gnosis ist pneumatologische Mathematik.«
Die Feier fand ihren Höhepunkt darin, dass ein Priester Feuer aus einem Stein schlug, eine Ampel entzündete und dann brennende Kerzen an die Gläubigen weitergab. Die Eucharistie wurde hinter einer Bilderwand zelebriert, den Blicken aller entzogen. Dabei ertönte ein leises Klirren gleich dem Klingen eines ägyptischen Sistrums. Am Schluss der Feier erhielten die Andächtigen den Leib des Herrn in Gestalt eines Opferkuchens.
Anthemios konnte sich nicht verhehlen, dass er enttäuscht war. Er hatte Außergewöhnliches erwartet. Alle Sinne hätten mitjubeln, die Seele hätte zutiefst erschüttert werden sollen. Gab es vielleicht keine gnostische Kunst? Was könnte aus dem geistigen Gehalt der Gnosis geschaffen werden, welche Musik, welches Drama, welche Gesänge, welche Bauten!
Das wäre deine Aufgabe! Ein gnostischer Dom, der das mystische Drama der absinkenden und aufsteigenden Sophia in Stein darstellt. Das also meinen Paulus und Elmas, davon träumt Theodora! Ein Bau, der das ganze Weltendrama in sich einschließt und doch für jedermann verständlich ist, der Bewegung und Ruhe, der Wissen und Nichtwissen zugleich ist! Eine Symphonie in Räumen, Farben, Maßen und Tönen! Ein Werk, bei dessen Anblick einem das Herz stockt, das die Materie auflöst und ganz reine Himmelswonne ist!
Zum Abschied führte ihn der Abbas in die Apotheke, wo Heiltränke nach altägyptischen Rezepten aufbewahrt waren. Er übergab ihm einige Phiolen, Säckchen und Tiegel mit genauen Anweisungen für ihre Verwendung. »Damit kannst du den Tod nicht bannen«, belehrte er ihn, »aber du kannst ihn verzögern, wenn es zur Ehre Gottes gereicht.«
Dann sprach er über ihn den Reisesegen: »Möge das gewaltlose Licht der Gottesliebe in allen deinen Werken ausstrahlen!«
Markos übernahm Briefe, die an befreundete Klöster in Syrien, Persien und Arabien gerichtet waren.
Ein Geleit von vier Brüdern führte die Scheidenden an den Nilstrom, wo sie warteten, bis ein flussabwärts fahrendes Schiff sie aufnahm.
Markos vertiefte sich in die Abschriften, die er von einem gnostischen Kodex gemacht hatte, während Anthemios gegen die Felswände schaute, hinter denen das Weiße Kloster lag, bis sie wie eine erlöschende Lichtspiegelung verschwanden.
Erst auf offenem Meer erfuhr Anthemios, dass er auf einem Schmugglerschiff war, das außer Ölfässern eine kostbare Ladung Seide mit sich führte. Wenn das Geschäft glückte, konnte man den zwanzigfachen Einkaufspreis hereinbringen, denn Seide war im byzantinischen Reich Staatsmonopol.
Der Schiffspatron Aetius hatte sich für seine Zwecke ein besonderes Fahrzeug bauen lassen. Es hatte einen Laderaum mit doppeltem Boden. Das Schmuggeln betrieb er als Sport, denn er war ein reicher Mann, der es nicht nötig hatte, aber es bereitete ihm ein Vergnügen, den Zöllnern ein Schnippchen zu schlagen.
Anthemios hörte den Erzählungen von seinen Streichen schmunzelnd zu, aber lieber war es ihm, wenn Aetius von dem Leben in Byzanz plauderte. Der Händler kannte alle Handelshäuser und viele hoch angesehene Palastdamen, die es nicht verschmähten, unter der Hand unverzollte Seide einzukaufen.
Von Theodora sprach er mit der größten Hochachtung. Er rühmte ihre Wohltätigkeit für die Armen, ihre Klugheit in den Staatsgeschäften und ihre Schönheit. Dennoch hatte sie Neider, die ihr nicht verzeihen wollten, dass sie aus einem niederen Stand kam. »Diese Leute flüstern von Schandtaten aus ihrer Jugend, aber niemand nimmt ihr Reden ernst. Ich glaube, das einzige Laster, dem sie frönt, ist anderer Art.«
Auf die staunende Frage des Fremden setzte der Patron fort: »Das Laster von Byzanz heißt Theologie. Es ist zum Lachen, wenn man als Unbeteiligter zuhört, wie sich die Leute darüber erhitzen, ob Christos eine oder zwei Naturen in sich enthält, welches die Beziehungen des Vaters zum Sohn sind und die des Heiligen Geistes zu beiden. Ich komme mir dabei wie in einem Narrenhaus vor. Und das sind dieselben Menschen, die auf dem Markt um jeden Fillos feilschen und ganz genau wissen, wieviel ich für meine Seide in Tapobrane gezahlt habe.«
An einem anderen Tag weihte Aetius ihn in die Geschichte des Hippodroms ein. »Es gibt vier Parteien, die ursprünglich einem heidnischen Kult des Wagenrennens entsprechen und die vier Elemente bedeuten: blau das Wasser, grün die Erde, weiß die Luft und rot das Feuer. Die beiden letzteren haben an Einfluss immer mehr verloren. Seit zwanzig Jahren ringen die Blauen und die Grünen mit wechselndem Glück um die Macht, indem sie sich dem Hof als unentbehrlich beweisen wollen. – Sei vorsichtig und schließe dich nicht voreilig einer Partei an, denn wenn du ihr nur den kleinen Finger hinreckst, packt sie dich bei der ganzen Hand und lässt dich dein Leben lang nicht mehr los. Du musst dich zuerst um einen Beschützer umsehen, dem du dich anschließen kannst. Als Baumeister wirst du bald Arbeit finden. Am besten, du heiratest in eine Baufirma ein.«
Seine Brüder traf Anthemios nicht an, aber von Metrodoros lag ein Empfehlungsschreiben an den Deuteros des Heiligen Palastes für ihn in der verabredeten Herberge, das er bei jenem abgeben sollte.
Anthemios zog durch die Stadt. Ein Menschenstrom riss ihn mit sich gegen das Hippodrom. Es gab zwar heute keine Spiele, aber es waren beim Standbild des Esels Nikon die Pläne ausgestellt, nach denen der Stadtteil Sykai reguliert werden sollte. Und da wollte jeder seine Meinung dazu abgeben, auch wenn er vom Städtebau nichts verstand; das war sein altrepublikanisches Recht.
Bei dem Milion, dem Goldenen Meilenstein, stieg links über dem Häusermeer ein gewaltiger Kuppelbau empor, die Chalke, der Eingang zum Heiligen Palast. Mit klopfendem Herzen kam Anthemios näher, da versperrte ihm ein Posten den Weg. Er brachte sein Anliegen vor und wurde in einen Wartesaal gewiesen. Daselbst erschien ein Spatharius und führte ihn durch eine Galerie in ein anderes Zimmer. Dort begrüßte ihn ein Eunuch in weißen Gewändern und teilte ihm mit, dass der Deuteros jetzt nicht zu sprechen wäre. Er arbeite mit dem Protospatharius der Exkubitoi das Programm für den Umzug bei dem Fest der heiligen Theodosia aus. Der Fremde möge indessen im Garten der alten Schole warten. Dann sagte der Eunuch mit seiner hohen Stimme: »Keleusate!« und geleitete ihn in einen gedeckten Säulengang, in dem Käfige an Seidenschnüren mit seltenen Vögeln hingen. Anthemios betrachtete die Tiere, unter denen er auch einen Ibis gewahrte, wie er ihn einmal am Nil gesehen hatte. Andere Vögel kreischten in Lauten, aus denen man ganze Worte heraushören konnte. Sprach da nicht einer: ›Monogenes‹, eingeboren? Trieben in Byzanz sogar die Vögel Theologie?
Anthemios lachte hellauf. Da huschte schon ein Eunuch herbei und rügte sein ungebührliches Verhalten. Es gesellten sich andere Diener zu diesem, die sich im Flüsterton unterhielten. Denn im Heiligen Palast ist Schweigen vorgeschrieben, worüber eigene Beamte wachen, Silentiarii.
Endlich trat der Erwartete ein, dem er das Schreiben übergab. Der Deuteros las es mit sichtlichem Behagen und sagte: »Wenn du deinen Brüdern nachgerätst, wirst du dein Glück machen.«
Metrodoros war erster Paidagog im Hause des Nobilissimus Cognatus, Olympios arbeitete im Stab des Logotheten Tribonianus an der Neufassung der Gesetze, die der Basileus angeordnet hatte. »Und was ist mit dir, was hast du gelernt?« Der Gefragte wies sein Diplom aus Alexandrien vor. Es traten Neugierige heran, die den Fremden musterten und wohlgefällig seine Glieder betrachteten. Ein Katepan der Exkubitoi wollte ihn gleich für seine Truppe anwerben, doch da fuhr der Deuteros dazwischen: »Den lasse ich mir nicht von dir wegschnappen, aus dem mache ich etwas Besseres als einen Soldaten.«
Zuerst musste der junge Architekt untergebracht werden. Ihn im Heiligen Palast zu beherbergen, verbot die Dienstordnung. Das nahegelegene Xenodocheion des Eubulus war zu kostspielig.
Da kam gerade ein Zug von Palastdamen vorüber, darunter die Gattin des Nomarchen Koriskos. Der Deuteros trat zu ihr heran, stellte ihr seinen jüngsten Schützling vor und empfahl ihn ihrer Fürsorge.
Die Hochgestellte prüfte ihn mit einem huldreichen Blick. »Er soll um die sechste Stunde zu mir kommen.«
Anthemios hatte es gut getroffen, denn Koriskos war mit der Ausmessung und Planung von Brunnenhäusern beauftragt. In seinem Haus im Viertel Psammatia beriet er sich seit Wochen mit Fachleuten. Es hieß, dass Justinianus eine zweite, eine unterirdische Stadt bauen wolle, um die Bevölkerung im Fall einer Belagerung zu sichern.
Andere vermuteten, die unterirdischen Räume sollten Arsenale sein. Oder Katakomben wie in Rom? Aber wo gibt es eine irdische Macht, die das siegreiche Christentum in Katakomben zurücktreiben könnte?
Koriskos ließ sich von Anthemios seinen Studiengang erzählen und zeigte sich erfreut, einen brauchbaren Mitarbeiter gefunden zu haben. Er räumte ihm ein Zimmer in seinem Haus ein und betraute ihn mit einer heiklen Arbeit, einer Berechnung von überkreuzten Tonnengewölben. Der Neuling wollte gleich zu zeichnen beginnen, doch Koriskos wehrte lächelnd ab: »So eilig haben wir es nicht! Schau dir zuvor die Bauten der Stadt an!«
Anthemios ging in die Chalke, um dem Deuteros von seinem raschen Aufstieg zu erzählen. »Heute habe ich Zeit, ich werde dir den Heiligen Palast zeigen.«
Er nahm den Fremden an der Hand und sagte im Weitergehen: »Justinianus, der Apostelgleiche, will ein ganzes Viertel von Palästen erbauen, die alten Bauten aus der Zeit des Arkadius und Theodosius genügen ihm nicht mehr. So der ganze Block da vor dir. Er heißt der Palast der Daphne und dient jetzt als Kaserne der Leibgarde. Die eigentliche Residenz liegt gegenüber, der Prunksaal des Oktogons und der Triklinos der neunzehn Tische, an den sich die Wohnräume der Majestäten anschließen. Das Gefolge wohnt in dem zweistöckigen Bau am Ende der Säulenhalle, des Onopodiums.«
Sie gingen weiter. Es gab keine Türen, die einzelnen Räume waren durch Vorhänge abgeteilt. Immer neue Säle taten sich vor ihnen auf. Überall war der Boden mit kostbaren Teppichen belegt. Die Wände waren mit geglätteten Platten aus Halbedelsteinen bedeckt, Achat, Sardonyx und Jaspis; die Decken zeigten üppige Stuckornamente.