Sabine Vöhringer
Karl Valentin ist tot
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Andy Ilmberger / stock.adobe.com
Illustrationen: Sabine Vöhringer
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6278-8
Für meine Familie und alle,
die München, Bayern und meine Krimis lieben.
Es muaß was g’scheng,
weil, wenn ned boid was g’schieht,
dann passiert no was!
Karl Valentin (1882–1948)
Freitag, 24. Februar 2017. München. Innenstadt.
Fassungslos hielt der 17-jährige Fabian Brühl sein Zeugnis in den Händen. Die Aula begann sich um ihn herum zu drehen. Seine Finger zitterten. Durchgefallen. Wegen Deutsch. Die Erkenntnis traf Fabian wie ein Schlag. Seine Nase begann zu kribbeln. Ein Blutstropfen fiel feucht und schwer auf das Zeugnisblatt.
Der rote Fleck machte sich breit wie ein schlechtes Omen.
Man hatte den kläglichen Rest des ersten Abiturjahrgangs des Karl-Valentin-Gymnasiums mitten in der Münchner Altstadt am letzten Tag vor den Faschingsferien zur Zeugnisvergabe versammelt. Fabian nahm wie in Trance wahr, wie sich seine Mitschüler nun langsam erhoben. Hauptsache cool. Die wenigen Stimmen hallten in seinen Ohren wider.
Keiner, auch Carla nicht, kam auf ihn zu. Sie fühlte sich von ihm verraten. Und Fabian konnte sogar verstehen, warum.
Er griff nach einem Papiertaschentuch, riss ein kleines Stück ab, stopfte es in das blutende Nasenloch. Mit dem anderen Stück saugte er den Fleck auf dem Blatt auf, was nur mäßig gelang. Was würde sein Vater zu seinem Scheitern sagen? Normalerweise sah Sascha Schule nicht so eng, aber die aktuellen Umstände waren besonders.
Fabians Vater, Alexander Andreas Brühl, genannt Sascha, war Schauspieler. Der Hang zur Literatur steckte der Familie im Blut. Fabian sah die ausgezehrte Gestalt seines Vaters vor sich. Wie Sascha seinen überlangen Pony auf die Seite werfen würde. Ein Relikt aus der Jugend, obwohl sein Haar längst zu dünn dafür war. Der ehemals umjubelte Film- und Theaterschauspieler Sascha Brühl war ein gebrochener Mann. Vor wenigen Jahren hatte er sein Vermögen verloren. Dann seine geliebte Frau. Fabians Mama.
Sein Sohn war Saschas ganzer Stolz.
Und alles, was ihm blieb.
Fabian atmete tief durch, las den fettgedruckten Satz am Ende des Blattes erneut: »Der Schüler Fabian Brühl wird nicht zur Abiturprüfung zugelassen. Wir wünschen ihm für die Zukunft alles Gute.«
Zwei Sätze. Zwei Zeilen auf einem weißen Blatt Papier. Sie entschieden über sein weiteres Leben. Fabian rieb seine feuchten Hände an der Jeans. Kämpfte tapfer gegen den Drang in seiner Blase an. In den letzten zwei Jahren hatte er schon einmal wiederholt.
Seine Chance war vertan.
Und ausgerechnet für die Eichstätt, die ihn jetzt hatte durchfallen lassen, hatte Fabian sich in die Bresche geworfen. Weil er hatte verhindern wollen, dass die Meute über die Lehrerin herfiel und Rache nahm. Rache für all die kleinen Gemeinheiten, mit denen sie die Schüler tagtäglich quälte. Immer so, dass ihr nichts vorzuwerfen war.
Er hatte nicht Gleiches mit Gleichem vergelten wollen.
Doch was hatte es ihm gebracht?
Fabian wischte sich mit dem Ärmel unauffällig übers Gesicht. Seine Augen brannten. Jetzt mit Tränen erwischt zu werden wäre das Allerletzte. Dabei ging es gar nicht um ihn. Es ging um Sascha. Der Gedanke an seinen Vater brannte wie eine offene Wunde. Wo doch der Schmerz über den Tod der Mutter gerade erst zu verheilen begann.
Fabian erhob sich, als seine Mitschüler und die Lehrer den Raum verlassen hatten. Er musste kämpfen. Das war er Sascha schuldig. Der Moment der Rücksicht war vorüber. Fabian tastete nach dem Notizbuch in seiner Tasche.
Das Geheimnis. Jetzt würde er es nutzen.
Auch wenn er dabei ins offene Messer lief.
Fabians Blick streifte die Karl-Valentin-Statue am Eingang, als er die ersten Treppenstufen erklomm. Eine moderne Interpretation des Künstlers, den er verehrte und dessen Stücke er in- und auswendig kannte. Sein Vater hatte sie an diversen Theatern auf der ganzen Welt gespielt. Wie hatte Fabian als Kind gelacht, wenn Sascha den Komiker gab. Karl Valentin und Liesl Karlstadt.
Das waren schöne Zeiten gewesen.
Fabians Beine gehorchten nur widerwillig, als er sich eine Treppenstufe nach der anderen am Geländer hochzog. David auf dem Weg zu Goliath. Es roch nach Pause. Nach frischen Brezn und Orangensaft. Doch der Geruch, den er sonst so liebte, löste jetzt Übelkeit aus.
Sein Blick glitt durch die großen Außenfenster. Von hier oben konnte man die Türme der Frauenkirche durchblitzen sehen. Auf der anderen Seite führte die Josephspital- in Richtung Sonnenstraße, wo ein steter Fluss von Autos die Spuren auf dem Altstadtring wechselte.
So schnell, dass Fabian jetzt schwindelig wurde.
Seine Hände umklammerten den Lauf des Geländers fester. Er musste sich bücken. Das Geländer war tief. Es reichte ihm knapp bis zur Hüfte. Wackelte unter seinem Gewicht. Ungewöhnlich für diese sonst so perfekte Schule. Aber wann lief jemals jemand am Rand? Man schritt selbstbewusst in der Mitte. Vor allem die Lehrer. Das Geländer war nichts als eine Attrappe, die Fabian jetzt als Stütze diente.
Er nahm zwei Stufen auf einmal, den Blick starr auf die vor ihm liegenden Stufen fixiert. Plötzlich klapperten Absätze von oben.
Die Eichstätt. Ausgerechnet!
Wie ein Racheengel schwebte sie die Stufen herab, direkt auf ihn zu.
Ihr Rock flatterte, ihr üppiger Busen wippte. Ihre Blicke kreuzten sich, bevor sie auf seiner Höhe war. Fabian wich zurück vor dem Triumph in ihren Augen. Sie zog die Brauen hoch, sprach kein Wort. Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Sie war froh, ihn los zu sein.
Der Geruch ihres süßlichen Parfüms umhüllte ihn noch, als sie ein halbes Stockwerk tiefer tippelte.
Sie hatte ihn ausgetrickst.
Fabian fuhr herum. »Frau Eichstätt.«
»Keine Zeit.« Das Stakkato ihrer Absätze wurde schneller.
Fabian beugte sich weit über das Geländer. Eine übermächtige Wut übermannte ihn. Er hatte nachts an einem Rap-Text gefeilt. Noch war der Text einfach, das war ihm bewusst. Kein Karl Valentin mit seinem liebenswerten Witz und seiner originellen Wortakrobatik. Es war ein Text, der verletzten wollte.
Einmal triumphieren. Einmal nicht gegen eine Gummiwand laufen.
Einmal hineinstechen, bis die Luft zischend entwich.
Ihm war heiß. Sein Herz pochte.
Fabian nahm allen Mut zusammen, kämpfte gegen das Zittern in seiner Stimme an. Dann brach der Sprechgesang aus ihm heraus. Die Worte hallten durch das leere Schulhaus. »Sei kein Kind, sei eine Maschine. Sonst kommt die Eichstätt, die Lawine! Sie rollt dich über und macht dich platt. Sie wird vom Leid der Kinder satt.«
Fabian hörte, wie oben eine Tür aufgerissen wurde.
Dann war es totenstill.
Die Eichstätt war herumgefahren. Jetzt starrten ihre kalten Augen Fabian panisch an. Sie hatte Angst, dass er verriet, was er wusste.
Fabian beugte sich weiter über das Geländer. »Die Eichstätt denkt, sie ist genial. Labt sich dabei an deiner Qual. Doch schaust du hinter die Fassade, dann fällt die schöne Maskerade.«
Marianne Eichstätt rang nach Luft. Wurde puterrot. Die Pein stand ihr ins Gesicht geschrieben. Panische Angst, dass ihr Geheimnis aufflog. Dass ihr Ruf an der Schule zerstört sein würde.
Dass sie wieder neu anfangen müsste.
Plötzlich tat sie Fabian leid.
Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Welt über einem zusammenbrach.
Etwas lief ganz falsch. Der Kloß in seinem Magen begann zu glühen. Ihr Geheimnis war ihm so egal. Alles, was er wollte, war eine Chance. Eine Chance für seinen Vater und sich.
Fabian beugte sich weit über das Geländer. Suchte nach einem rettenden Satz. Einem Scherz, der einen Ausweg bot. Doch plötzlich entglitt ihm das Zeugnisblatt. Flatterte tänzelnd nach unten.
Fabian reckte sich danach. Wollte es zurück.
Es fiel schneller. Fabian holte weit aus.
Die Bewegung war heftig. Wie ein Stoß. Er kam ins Wanken. Verlor das Gleichgewicht. Kippte. Fiel. Mit dem Kopf voran.
Fabian sah die traurigen Augen seines Vaters vor sich.
Er warf ihm sein letztes Lächeln zu. Dann schlug sein Kopf auf.
Hart und endgültig in der prämierten Aula.
Das Notizbuch landete neben Fabians Körper.
»Mein Gott!«, rief Marianne Eichstätt. »Er ist tot!«
Donnerstag, 11. April 2019. München, Sendlinger Straße. 2.00 Uhr.
Hauptkommissar Tom Perlinger fuhr mit den Augen sanft den Schwung von Christl Weixners nackter Hüfte nach. Ihr T-Shirt war nach oben gerutscht. Das Höschen glänzte weiß. Sie hatte sich ihm seitlich zugewandt. Fasziniert verfolgte Tom ihre weiblichen Rundungen vom Brustansatz über die Taille bis zu ihrem entspannten Bauch.
Unter der schimmernden Haut zeichneten sich ihre Muskeln deutlich ab. Tom liebte diese Linie, wie alles an Christl. Er würde nie genug von ihr bekommen. Und konnte nur hoffen, dass es ihr genauso ging.
Ob es am Vollmond lag, dessen Licht hell in das Dachgeschoss des Wirtshauses in der Sendlinger Straße schien und den Raum in ein geheimnisvolles Licht tauchte? Oder daran, dass es trotz des offenen Fensters so mild im Zimmer war, dass Tom jetzt zu schwitzen begann? Nachdem es vor einigen Tagen noch geschneit hatte, brach nun der Föhn mit Macht über München herein.
Tom lauschte Christls gleichmäßigen Atemzügen.
Plötzlich hörte er ihre tastenden Finger auf dem Laken.
Ihre Fingerkuppen berührten sich, dann die Hände.
Langsam streichelte Tom sich an der Innenseite von Christls Arm nach oben, bis sie näher an ihn heranrutschte. Sie warfen beide die Bettdecken zur Seite und küssten sich leidenschaftlich.
»Pille genommen?«, hauchte er in ihr Ohr.
Sie nickte, während er den Druck ihrer Zunge fester an seiner spürte.
Er erwiderte den Kuss, genoss ihren warmen Duft, ließ seine Zunge über ihr Ohr gleiten, folgte einer spontanen Idee. »Magst du sie nicht mal absetzen?«
Er zog sie dichter an sich.
Christls Kopf schnellte zurück. Sie rückte von ihm ab. Warf die dicken braunen Locken mit einem temperamentvollen Schwung über die Schulter zurück.
Ihre Augen glühten. »Was soll denn das jetzt?«
Er streichelte sanft ihren Bauch. Er wusste auch nicht, was plötzlich über ihn kam. Er, der ruhelose Bummler zwischen den Welten, der seine Zukunft noch vor wenigen Jahren als Eremit auf den Hügeln Japans oder bei seinem Vater in New York gesehen hatte. »Stell dir mal vor! Eine Mini-Christl!«
Diese wunderbare Bauchlinie kam sicher nicht daher, dass sie die Pille doch abgesetzt hatte, wie es manche Frauen einfach taten, ohne es zuzugeben. Und wie er sich insgeheim gewünscht hätte, dass sie es auch getan hätte. Diese wunderbar geschwungene Linie war eher ein Ergebnis ihrer täglichen Yogaübungen, die sie seit Kurzem so konsequent durchführte, dass sich die Muskeln perfekt definierten.
»Geh. Soll das jetzt romantisch sein?« Die Iris ihrer Augen schimmerte fast schwarz.
Der Kontrast zu ihren auffallend weißen Augäpfeln wurde durch den dichten, dunklen Wimpernkranz verstärkt. Christl stemmte sich auf die Unterarme. Sie wirkte kampfeslustig. Gleichzeitig so erschrocken, als ob Tom einen Geist freigelassen hätte.
Christl streckte ihre linke Hand weit von sich und betrachtete den funkelnden Brillanten an ihrem Verlobungsring.
Den Ring hatte Tom nach der Verfolgungsjagd auf die Motorradfahrer bei seinem letzten Fall verloren geglaubt. Als Christl seine heiß geliebte Lederjacke flicken wollte, nachdem sie bei einem Schusswechsel beschädigt worden war, musste sie das Futter auftrennen. Dabei war der Ring ganz überraschend herausgekullert. Er hatte sich durch ein kleines Löchlein in der Innentasche tief zwischen Leder und Futter gegraben. Sie hatten ihre Verlobung ein zweites Mal gefeiert. Dieses Mal mit Ring.
Tom küsste ihre Hand.
»Das ist der absolut falscheste Moment.« Christl wandte sich ab.
»Hätten Tina und Felix auf den richtigen Moment gewartet, so gäbe es Mia heute nicht.« So schnell wollte Tom nicht aufgeben. Er dachte an die kleine Familie zwei Stockwerke unter ihnen.
Der Schock war zunächst groß gewesen, als seine Nichte Tina mit 17 ein Kind erwartet hatte. Doch inzwischen war die kleine Mia drei Jahre alt. Ein richtiger kleiner Goldschatz und der Liebling der Familie. Oma Magdalena kümmerte sich um die Kleine, wenn sie nicht im Kindergarten war. Papa Felix studierte Medizin, Tina Sozialpädagogik, mit dem Ziel, als Erzieherin zu arbeiten.
Alles lief perfekt. Sie würden das auch hinbekommen.
Das war der Vorteil des Mehrgenerationenhauses, in das er nach seinem Sabbatjahr quer durch Asien zurückgekehrt war. Tom musste lächeln, als er das Eckhaus in der Sendlinger Straße wie ein Puppenhaus mit drei Stockwerken vor sich sah.
Unten das Wirtshaus, Stammhaus der Hacker-Pschorr-Brauerei. Im ersten Stock die Altwirtin Magdalena mit Tinas Familie. Im zweiten Stock die Wirte, Toms Bruder Max mit seiner Frau Hedi. Im dritten Stock schließlich der Journalist und Historiker Hubertus Lindner, der die Familie schützend umkreiste wie ein Adler das Nest. Ganz oben im Dachgeschoss: Christl und er.
Alle zusammen waren sie seine Familie. Seine Heimat. Der ruhende Pol, nach dem er sich all die Jahre in der Ferne trotz aller Abenteuerlust gesehnt hatte. Nicht zu vergessen, dass sein »Hacker-Team« auch immer wieder einen guten Tipp für ihn hatte.
Max kannte als Wirt nicht nur eine Menge Leute, sondern er war auch bestens mit den Hintergründen der alteingesessenen Münchner Familien vertraut. Er wusste das, worüber man hinter vorgehaltener Hand sprach. Hubertus dagegen war ein versierter Kenner der Bayerischen Geschichte. Tom nannte ihn in Gedanken seinen »Q«. Nur, dass Hubertus nicht mit Technik, sondern mit historischen Theorien tüftelte und daraus geschickt Parallelen zur Gegenwart zog.
Tom räkelte sich zufrieden, während Christl ihm jetzt ein müdes Lächeln schenkte. Sie sah aus, als ob sie etwas sagen wollte, brachte aber nur einen verzweifelten Augenaufschlag zustande.
Noch ein Versuch. »Wenn wir uns ranhalten, dann können die beiden zusammen spielen.«
In Gedanken sah er, wie die energische Mia eine krummbeinige, dunkel gelockte Miniaturausgabe von Christl über die Sendlinger Straße hinter sich herzog. Im Dirndl.
Christl schüttelte heftig den Kopf, machte sich frei und wollte das Bett verlassen. Tom hielt sie zurück.
Er lächelte. »Es muss ja nicht gleich sein, wenn du nicht magst.«
Sie warf ihm einen langen, prüfenden Blick zu, dem er eisern standhielt. Er verstand sie in dieser Beziehung nicht.
»Bist du auch ohne Kind glücklich mit mir?«, fragte sie ernst.
Wahrscheinlich war tatsächlich nicht der richtige Zeitpunkt. Sie mussten ein anderes Mal in aller Ruhe darüber sprechen. Mal wieder in die Berge fahren. Auf andere Gedanken kommen. Abschalten.
»Aber sicher doch, mein Schatz!« Das sollte unbeschwert klingen.
Tatsächlich schien es Christl zu beruhigen. Sie ließ es zu, als er sanft ihren Rücken zu streicheln begann.
Christl ließ sich zurück aufs Laken sinken und schmiegte sich an ihn. Tom begann, die lange Narbe quer über ihrem Oberschenkel zu liebkosen, die sich bis in den Unterbauch zog. Wie gut sie roch. Er arbeitete sich lustvoll nach oben, während sie seinen Kopf kraulte. Noch immer wirkte sie ungewöhnlich unbeteiligt und starrte in Richtung der Dachluke.
»Schau mal!«, rief sie plötzlich. »Was für eine unglaubliche Farbe der Himmel hat.«
Unwillig hob Tom den Blick. Tatsächlich glühte der Himmel in Richtung Sonnenstraße in einem feurigen Orange. Es wirkte fast bedrohlich. Doch es war Tom egal.
Er beugte sich über Christl. »Pure Leidenschaft. Wie bei mir.«
Sie lachte hell auf, als er sie in der Taille anzuknabbern begann.
»Da nicht, das kitzelt!«
Seine Hände massierten ihre Brüste. Sie räkelte sich wohlig, war wieder die Alte. Entschlossen streifte sie ihm das T-Shirt über den Kopf. Gerade, als sie sich rittlings auf ihn schwingen wollte, jaulte die Feuerwehrsirene in nächster Nähe los.
Die Feuerwache 1 an der Hauptwache war nur einen Katzensprung entfernt. Sie schraken beide heftig zusammen. Kurz darauf hörten sie, wie eine ganze Armada von Fahrzeugen ausrückte.
»Romantik scheint heute nicht das Thema zu sein«, flüsterte sie.
Tom ermunterte sie weiterzumachen. »Egal! Wir passen unseren Rhythmus an!«
Christl stöhnte immer heftiger, als er sanft die Hüften zu bewegen begann. Einige Minuten später sank sie erschöpft, aber sichtlich zufrieden neben ihn. Kaum war Tom über ihr und wollte zum Endspurt ansetzen, da heulte sein Handy los.
»Jetzt reicht’s dann aber!«, brummte er. Seine Lenden brannten.
Doch das Dröhnen hielt an. Er konnte es nicht mehr ignorieren. Christl griff unter ihm zum Nachttisch und reichte ihm das Gerät.
»Diesmal war ich schneller«, lächelte sie.
Tom warf einen Blick auf das Display. 2.15 Uhr.
»Ja, wachsen eich Schwammerl in de Ohrwaschl?«, drang die Stimme eines Kollegen vom Kriminaldauerdienst an sein Ohr. »Keine 200 Meter von euch entfernt steht das Karl-Valentin-Gymnasium in Flammen!«
»Was hat das mit der Mordkommission zu tun?«, knurrte Tom. Zumal sie gerade an einem ungeklärten Fall saßen.
»Wie’s scheint, war da noch jemand drin. Die Spurensicherung ist schon vor Ort. Und ihr habt schließlich Bereitschaft.«
»Du siehst heute früh auch nicht besser aus als ich.« Kommissarin Jessica Starke musste lächeln, als sie Tom erblickte. Selbst im rötlichen Licht des Feuers wirkte sein Gesicht zerknautscht und sein rotblondes Haar völlig verstrubbelt. Mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen zu werden, schien für ihn ebenfalls kein Vergnügen gewesen zu sein.
Die Atmosphäre vor Ort war gespenstig.
Noch immer zuckten orangene und schwarze Flammen tanzend an der Pergola im Innenhof der Schule hoch. Auf der Straße drängten sich mehrere Feuerwehrfahrzeuge, darunter ein Leitwagen mit Drehleiter und zwei Rettungswagen.
Feuerwehrmänner rannten hektisch umher. Kommandos tönten durch die Nacht. Die Schutzpolizei sicherte die Brandstelle weitläufig. Besondere Sorgfalt galt der Tankstelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Man tat alles, um die Hitze fernzuhalten.
Der hintere Teil des Schulgebäudes war in graue Rauchschwaden gehüllt. Schaulustige drängten sich hinter den Absperrungen. Fotografen, Kameramänner, Journalisten und Blogger standen in einer Gruppe um den Pressesprecher des Präsidiums herum.
Flüchtig fiel Jessica ein älterer Mann mit langen Haaren auf, der sich an die Pressegruppe drängte. Er wirkte irgendwie aufgelöst. Wahrscheinlich ein freier Mitarbeiter einer Zeitung, der längst wusste, dass er keine Chance mehr auf Veröffentlichung und ein Honorar hatte.
»Ganz schön was los!« Tom zog die Augenbrauen hoch. »Mayrhofer?«, fragte er dann.
»Ist vermutlich gleich ins Büro und beißt in seine erste Leberkäs-Semmel.« Jessica ließ die Tankstelle nicht aus dem Blick. Sie mochte sich nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn es zu einer Explosion kam.
»Um kurz vor drei in der Früh?«
»Geht bei ihm immer.« Sie zuckte die Schultern. Kollege Mayrhofers Leberkäs-Semmel-Sucht war legendär.
»Und?« Tom zeigte auf das Chaos vor ihnen. Der Brandgeruch war beißend. Die Flammen wurden nach und nach eingedämmt. »Gibt es schon irgendwelche Erkenntnisse?«
Jessica trat von einem Fuß auf den anderen. »Nicht viel.«
Sie schaute zum Gruppenführer der Feuerwehr, der ihr eingebläut hatte, sich fernzuhalten. Sie würden sich noch etwas gedulden müssen. Es gab sogar eine winzige Chance, dass sie völlig umsonst hier standen und gleich nach Hause ins warme Bett zurückkehren konnten.
Doch sie glaubte nicht daran.
Einige Feuerwehrmänner und Sanitäter drangen nun mit Atemschutzmasken und Schutzanzügen ins Innere des Schulgebäudes vor. Brandfahnder und die Kollegen der Spurensicherung – angeführt von der Kommissariatsleitung Anna Maindl – folgten ihnen.
Ein überdurchschnittlich großer Mann im Anzug, der sich dem Trupp anzuschließen versuchte, aber zurückgehalten wurde, weckte Jessicas Interesse. Nach einer kurzen Auseinandersetzung schritt der Mann in Begleitung eines Feuerwehrmannes in Richtung des anderen Schulflügels, der weitgehend unbeschädigt schien. Es war, als ob er sich einen Überblick über die Ausmaße des Schadens machen wollte, den das Feuer angerichtet hatte.
Sie stupste Tom an: »Das könnte der Schuldirektor sein. Der Gruppenführer meinte, der Hausmeister hat ihn auch informiert.«
Sie beobachteten gemeinsam, wie die beiden Männer im Dunkeln verschwanden.
»Wieso warst du eigentlich vor mir hier?«, fragte Tom plötzlich.
Eine berechtigte Frage. Wäre sie aus ihrem Einzimmerapartment in der Schleißheimer Straße gekommen, hätte sie um einiges länger gebraucht als er.
Jessica seufzte und sah Tom scharf an. »Berufsgeheimnis.«
Sie hatte absolut keine Lust, ihm hier und jetzt mehr zu verraten. Tom hob die Augenbrauen und schaute wieder in Richtung des Chaos vor ihnen. Jessica atmete innerlich auf. Tom würde nicht insistieren. Er war diskret.
Sie hatte heute das erste Mal bei Benno übernachtet. Wenn Jessica es sich richtig überlegte, konnte sie froh sein, dass ihr der Einsatz das gemeinsame Frühstück mit Benno ersparen würde. Egal, ob ihre Anwesenheit nun überflüssig war oder nicht. Dieser erste Teil der Nacht war ein absolutes Desaster gewesen. Wie hatte sie nur glauben können, dass Benno, der einmal leidenschaftlich in Christl verliebt gewesen war, auf einmal ihrem Charme erliegen könnte?
Sie war das genaue Gegenteil von Christl. Klein, pummelig, mit einem aktuell roten Haarschopf, dem nur der überlange Pony einen gewissen Pfiff verlieh – wie ihr zumindest hin und wieder bestätigt wurde. Aber schon ihr Tonfall, der ihre Herkunft aus dem Berliner Kiez nicht verbergen konnte, prallte fast schmerzhaft auf Bennos deftiges Bairisch. Vermutlich hätte er sich trotz aller Gutmütigkeit die Bettdecke übers Gesicht gezogen, wenn sie ihn heute früh verschlafen und gut gelaunt mit »Schön’ juten Tach« begrüßt hätte.
Jessica seufzte.
Warum nur hatten sie es gestern Abend nach dem Absackerbier und den Schafkopfrunden nicht bei der bisherigen Freundschaft belassen können. Warum hatten sie der langsam wachsenden Spannung ausgerechnet jetzt nachgeben müssen. Weil sie beide ausgehungert waren? Weil sie sich beide nach einem Partner sehnten? Reichte das? Wie sich im Bett gezeigt hatte, wohl eher nicht. Dabei wären ihnen peinliche Momente erspart geblieben. Sein Blick auf ihre nackten Speckringe. Ihm das Fehlen von Aufputschmitteln im entscheidenden Moment. Sie seufzte tief und hätte sich am liebsten in ein Erdloch verkrochen.
Wie sollte sie aus dieser Nummer je wieder herauskommen?
Benno war einer der Geschäftsführer des Wirtshauses. Tom und Jessica hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, ein Feierabendbier in trauter Runde am Stammtisch gemeinsam mit dem Rest der Familie zu trinken. Jessica war inzwischen eng mit Christl befreundet. Christl konnte ja nichts dafür, dass Benno sich nicht von ihr lösen konnte. Ihr wäre vermutlich nichts lieber gewesen, als dass Benno und Jessica so glücklich waren wie Tom und sie. Jessica wusste, dass Christl sich weiterhin für Benno verantwortlich fühlte und bis heute ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie Benno damals verlassen hatte, als Tom aus Düsseldorf zurückgekehrt war.
Jessica nahm einen Schluck von dem inzwischen kalten Pulverkaffee, den sie sich bei Benno noch schnell in ihren To-Go-Becher gefüllt hatte. Sie hatte geahnt, dass um die Uhrzeit die U-Bahn-Station Sendlinger Tor geschlossen war, wo sie auf dem Weg von Bennos kleiner Wohnung in der Lindwurmstraße vorbeigekommen war. Sie hätte einen Cappuccino bevorzugt. So schmeckte der Kaffee bitter und widerlich. Trotzdem machte er sie wach und verdrängte die störenden Gedanken.
»Komm«, meinte Tom jetzt. »Das muss der Hausmeister sein.«
Sie nickte und folgte Tom, der auf den Gruppenführer zuschritt, neben den jetzt ein zitternder älterer Mann getreten war. Der Hausmeister fiel durch sein volles dunkles Haar und seinen von grauen Fäden durchwirkten Oberlippenbart auf. Er hatte sich einen bunt gestreiften, glänzenden Morgenmantel über einen Pyjama mit langer Hose geworfen. Sein Oberlippenbart zitterte, als sie auf ihn zutraten.
Tom streckte den beiden Männern die Hand hin und stellte Jessica und sich vor. Der Gruppenführer wollte gerade zu größeren Ausführungen ansetzen, da erhielt er einen Anruf.
»Die Tankstelle!« Er hob entschuldigend die Schultern und hetzte – das Handy dicht am Ohr – davon.
Akay Özdemir, so hatte sich der Hausmeister vorgestellt, zog den Bademantel enger um die Hüften. »Mei, hätt’s des jetzt braucht?«
»Sie glauben, dass noch jemand im Schulgebäude ist?« Tom bückte sich zu dem wesentlich kleineren Mann hinunter.
Akay Özdemir nickte. »Meine Frau hat Licht im Keller gesehen. Als sie nach Hause kam.«
»Wann war das?« Jessica versteckte ihr Gesicht hinter dem Kaffeebecher, als sich ihre und die Blicke des Hausmeisters auf Augenhöhe trafen. Akay Özdemir schien sie erst jetzt richtig wahrzunehmen. Vermutlich sah sie aus wie ein Nachtgespenst.
»Nach Mitternacht. Meine Frau putzt bei der Sparkasse. Als sie über den Schulhof gegangen ist, hat sie Licht im Keller gesehen. Conny Bergmüller ist oft bis spät in die Nacht hier. Sie bereitet eine Ausstellung vor.«
Sein Deutsch war perfekt. Die Sprachmelodie bairisch.
»Conny Bergmüller?«, fragte Tom.
»Die Kunstlehrerin.« Der Hausmeister nickte.
Seine Augen glänzten feucht.
»Aber von einem Brand hat Ihre Frau nichts bemerkt?«, hakte Tom nach.
Der Türke schüttelte den Kopf.
»Wie und wann ist Ihnen denn der Brand aufgefallen?« Tom stellte den Kragen seiner schwarzen Lederjacke auf. Jessica sah, dass er nur ein dünnes T-Shirt darunter trug. Für April – selbst in dieser verhältnismäßig lauen Nacht – zu wenig.
»Meine Frau hat nicht einschlafen können. Ich bin aufgewacht, weil sie mir die Nase zugehalten hat und ich keine Luft mehr bekam.«
»Sie schnarchen?«, grinste Tom.
Akay Özdemir schlug die Augen nieder und nickte.
»Als ich hellwach war, ist meine Frau eingeschlafen. Ich habe mir ein Glas Wasser in der Küche geholt und aus dem Fenster geschaut. Unsere Wohnung ist da oben.« Er zeigte mit dem Finger auf die entfernteste Ecke des Gebäudes. »Im dritten Stock. Von da oben sehen wir fast alles.«
Jessica und Tom nickten.
Der Hausmeister fuhr fort: »Ich habe meinen Augen nicht getraut. Plötzlich schossen am anderen Ende des Gebäudes Flammen nach oben. Dort, wo das Gerüst steht. Die ganze Pergola hat lichterloh gebrannt. Und das Lehrerzimmer. Dort wird gerade umgebaut. Auch im Keller war Feuer. Ich habe an Conny gedacht. Mein Gott! Ich bete zu Allah, dass sie da nicht mehr drin ist!«
Akay Özdemir schüttelte den Kopf, als ob er die Vorstellung damit verscheuchen könnte. Dann griff er in seine Tasche und holte ein großes Stofftaschentuch heraus, mit dem er sich über die Augen fuhr.
Jessica beobachtete, wie Anna Maindl in Begleitung einiger Männer mit gesenktem Kopf in großen Schritten auf sie zusteuerte.
Es sah aus, als ob sie etwas gefunden hatten.
Denis von Kleinschmidt lehnte sich im Sitz der Limousine zurück und genoss den Service, sich nach Hause chauffieren zu lassen. Der Fahrer sprach kein Wort. Doch Denis wusste, dass der Mann ihn beobachtete. Denis griff weder nach seinem Handy noch stellte er dem Fahrer Fragen, obwohl er beides gern getan hätte.
Er riss sich zusammen.
Die dunkle Limousine rollte gemächlich über Odeons-, Wittelsbacher- und Maximiliansplatz am Stachus vorbei über die Sonnenstraße. Iwan Maslov, der große Unbekannte, der seit zwei Jahren die Hauptrolle in Denis’ Kopfkino spielte, war endlich zur Realität geworden. Denis hatte soeben mit ihm zu Abend gegessen. »Gespeist« traf es wohl besser. In einem piekfeinen Restaurant in der Kardinal-Faulhaber-Straße, unweit des Dienstsitzes des Erzbischofs von München und Freising. Im dritten Stock eines altehrwürdigen Gebäudes im extra für sie reservierten Separee.
Endlich war Denis gelungen, worauf er seit Carolyns Abgang hingearbeitet hatte. Ab heute hatte er ganz offiziell ihren Platz eingenommen. Denis drückte sich zufrieden noch tiefer in die beigen Lederpolster, strich sanft mit den Fingern über seine Glatze, die sich für sein Alter viel zu früh zeigte.
Denis hatte den Russen von seinen Fähigkeiten und seiner Loyalität überzeugt. Bei allem, was sie taten, würden sie dezent vorgehen. Alles andere war ein K.-o.-Kriterium, das hatte Maslow ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben. Kein Wunder. Nachdem die DeuWoBau GmbH & Co. KG hatte schließen müssen, war es nun umso wichtiger, unsichtbar zu bleiben, wenn ihr Plan gelingen sollte. Das Potenzial in München war gewaltig, die Konkurrenz überschaubar. München galt als eine der sichersten Städte Deutschlands. »A gmahde Wiesn«, wie man hier so schön sagte. Ein leicht zu bewältigendes Vorhaben.
Denis hatte schließlich zugestimmt, sich nach Hause bringen zu lassen. Natürlich war ihm bewusst, dass Maslov ihm damit deutlich machen wollte, dass es für ihn ab heute kein Privatleben mehr gab. Er wollte sichergehen, dass ihm mit seinem neuen V-Mann im Ministerium für Wohnen, Bau und Verkehr, das zuvor dem Bayerischen Innenministerium untergeordnet gewesen war, nicht ein ähnliches Malheur unterlief wie mit Carolyn Wallberg.
Gestern erst hatte man sich dazu durchgerungen, die Maschinen abzuschalten. Einen Tag zuvor hatte es einen unvorhersehbaren Zwischenfall gegeben, der in der Diagnose »Gehirntod« geendet hatte. Jetzt würde sie endlich in wenigen Tagen beerdigt werden.
Carolyn hatte im Koma gelegen, seitdem sie bei Toms letztem Fall angeschossen worden war. Der Ursache dieses kleinen Zwischenfalls auf den Grund zu gehen, hatte man geflissentlich vermieden. Sonst hätte man einen Zusammenhang mit einem unerwünschten Besucher kurz zuvor festgestellt. Die Sicherheitsmaßnahmen vor Carolyns Krankenzimmer waren mit der Zeit immer lockerer gehandhabt worden. Man hatte nicht länger warten wollen. Wäre sie wieder erwacht, so wäre ihre Aussage einer Katastrophe gleichgekommen.
Denis fühlte einen Hauch von Sentimentalität, als er für einen kurzen Augenblick an die leidenschaftlichen Stunden dachte, die er mit der schönen Carolyn verbracht hatte. Den Anblick ihres nach oben gerutschten Röckchens, wenn er sie von hinten genommen hatte, würde er nie vergessen. Wenn er sich einer Frau jemals hingegeben hatte, dann ihr. Dabei war ihm bewusst gewesen, dass das umgekehrt nicht gegolten hatte. Carolyn hatte nur einen geliebt. Denis’ Magen zog sich zusammen, als er an ihn dachte. Dabei hatte sie ein Kind von einem anderen gehabt. Denis zwang sich, jeden Gedanken an Carolyn zu verscheuchen. Er rieb sich die Hände. Der Fall Carolyn Wallberg war abgeschlossen. Ein für alle Mal. Ihr Platz war frei. Die Dinge kamen ins Rollen. Es galt, keine Zeit zu verlieren und alle Gefühle beiseitezuschieben.
Ein Blick aus dem Fenster sagte ihm, dass sie bald das Sendlinger Tor erreichen würden. Natürlich begab er sich auf einen schmalen Grat, das war ihm durchaus bewusst. Ab heute würde es kein Zurück mehr geben. Für einen kurzen Moment dachte er daran, wie sein weiteres Leben verlaufen würde, wenn dieses heimliche Treffen nicht stattgefunden hätte. Vielleicht war er gerade dabei, einen verhängnisvollen Fehler zu begehen.
Dennoch. Er hatte das Abenteuer, den Kick, das Adrenalin schon immer geliebt. Er war Autorennen gefahren, die steilsten Pisten hinuntergeschossen. Er hatte immer alles gegeben, doch der Erfolg und die Anerkennung waren überschaubar geblieben. Jetzt endlich war der Moment des Erntens gekommen. Was bedeutete dagegen das Risiko, das den Reiz ausmachte. Auf der einen Seite winkten Langeweile und Normalität, auf der anderen Kitzel, Geld, Erfolg und Macht.
Er musste es einfach versuchen.
Denis öffnete das Fenster einen Spalt. Die Nachtluft kühlte sein erhitztes Gesicht. Doch gleichzeitig drang plötzlich ein beißender Brandgeruch in seine Nase. Erst jetzt fiel ihm das Verkehrschaos auf, mit dem der Fahrer zu kämpfen hatte.
Was war hier los? Er richtete sich auf.
Ein Brand in bester Innenstadtlage? Ein Brandobjekt schuf nicht selten Platz für einen Neubau. Wenn ich es nicht besser wüsste, dachte Denis, könnte man denken, Maslov steckt dahinter. Aber kannte er wirklich alle Pläne, die der Russe hatte?
Als er gleich mehrere Feuerwehrautos in die Josephspitalstraße biegen sah, bat er den Fahrer, am Sendlinger Tor umzudrehen. Der Fahrer gehorchte nach kurzem Zögern. Dann schlichen sie auf der rechten Spur im Schritttempo zurück in Richtung Stachus. Kurz vor der Josephspitalstraße wies er den Fahrer an, anzuhalten und auf ihn zu warten.
Denis stieg aus.
Mit hochgeschlagenem Mantelkragen und eingezogenem Hals riskierte er es, sich einem Pulk von Schaulustigen anzuschließen.
Dann sah er, was los war.
Das Karl-Valentin-Gymnasium, die Vorzeigeschule in Eins-a-Altstadtlage, hatte gebrannt. Das Feuer war inzwischen gelöscht. Die ersten Löschfahrzeuge fuhren bereits wieder ab. Soweit er das erkennen konnte, war der gesamte äußere östliche Flügel stark beschädigt. Denis rieb sich die Hände. Das Schicksal spielte ihm geradezu gespenstisch zu. Eben noch war er mit Maslov die besten Stadtlagen durchgegangen, ohne dass sie fündig geworden wären.
Schon bahnte sich eine neue Chance an.
Denis wollte gerade zurück zur Limousine, da zuckte er zusammen. Unwillkürlich ballte er die Fäuste in der Manteltasche, zog die Schultern höher, senkte das Kinn. Er hätte es sich denken können! Denis’ Pulsschlag beschleunigte sich. Das Blut dröhnte in seinen Ohren.
Da stand er. Wie Phönix, der jedes Mal aufs Neue wieder aus der Asche auferstand. Tom Perlinger!
Groß, durchtrainiert, mit schwarzer Lederjacke und seinem rot-blonden strubbeligen Haarschopf, war er in ein angeregtes Gespräch vertieft. Unverkennbar. Der Mann, der Carolyn Wallberg zum Verhängnis geworden war. Der ihnen diesen Ärger überhaupt eingebrockt hatte und Iwan Maslov schon seit dem unheilvollen Fall in Düsseldorf ein Dorn im Auge war.
Denis atmete so laut aus, dass die Frau vor ihm sich erschrocken umdrehte. »Ist was?«
»Nein, nein. Alles gut.« Denis trat den Rückweg an.
Tom Perlinger. Er stellte ein echtes Problem dar. Früher oder später musste er weg. Dann würde Denis nicht nur selbst Genugtuung finden, sondern auch in Maslovs Gunst weit nach oben rücken.
Innerlich aufgewühlt, doch nach außen hin lächelnd, ließ er sich im Schutz der Limousine in die Polster gleiten und bat den Fahrer, seine Wohnung in Thalkirchen anzusteuern.
»Annas Miene verheißt nix Gutes.« Tom zog die Augenbrauen hoch. Das Warten hatte ein Ende. Er kannte die Chefin der Spurensicherung gut genug, um zu wissen, dass Annas nach unten gesenkter Blick und ihre weit ausholenden, zielsicheren Schritte in den klobigen Gummistiefeln und dem weißen Tyvek-Overall mit Mundschutz nur eines bedeuten konnten: Es kam Arbeit auf sie zu.
Ob Unfall oder Mord: Der Brand hatte ein Opfer gefordert.
»Grüß euch.« Anna ließ ihre tiefbraun glänzenden Augen vielsagend auf Tom und Jessica ruhen.
Sie deuteten zur Begrüßung eine Umarmung an.
Tom mochte die burschikose Anna gern, an der alles etwas zu lang geraten war. Nicht nur Haare, Arme und Beine, sondern auch Nase, Zähne und Ohren. Das verlieh ihr eine geheimnisvolle, sehr individuelle Attraktivität. Zumal ihr Lächeln so herzlich war, dass man gar nicht anders konnte, als sie zu mögen.
Anna, die ihre kleine Tochter allein großzog, hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Spuren zu finden, die für andere unsichtbar waren. Im Mittelalter hätte man sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt, dachte Tom.
»Wir brauchen dringend jemanden von der Rechtsmedizin«, gab sie kurz und knapp zu verstehen.
»Ehinger müsste längst auf dem Weg sein«, meinte Jessica. »Er wurde gleichzeitig mit uns informiert.« Der Rechtsmediziner Professor Dr. Peter Ehinger, der in Straßlach südlich von Grünwald lebte, hatte den längsten Anfahrtsweg.
Damit hatten sich also die Vermutungen des Hausmeisters bestätigt. Sie waren nicht umsonst hier. Akay Özdemir sank in sich zusammen. Tom befürchtete, dass der Hausmeister einen Schwächeanfall erleiden könnte. Er rief die beiden Sanitäter, die hinter Anna herkamen und zum Krankenwagen eilten. »Seid so gut und gebt ihm was zur Beruhigung. Er soll aber bitte im Sani auf uns warten.«
Zwei Sanitäter griffen den kleinen Türken im Morgenmantel rechts und links unter den Ellenbogen und führten ihn zum Krankenwagen. Er protestierte nicht.
»Dann zeig mal, was ihr gefunden habt«, sagte Tom.
Er war erstaunt, wie schnell es gelungen war, den Brand in den Griff zu bekommen. Inzwischen hatte sich der Rauch im Inneren des Gebäudes dank des Hochdrucklüfters fast vollständig aufgelöst. Feuerwehrleute, Kollegen der Spurensicherung und der Brandfahndung inspizierten und dokumentierten geschäftig jeden Hinweis und versicherten, dass keine Gefahr von halb verbrannten Gegenständen drohte, die herabfallen konnten.
Sie konnten das Gebäude nun betreten.
Der Eingangsbereich war nahezu unversehrt. Vom Keller stieg ein beißender Geruch nach verschmortem Pressspan, Kunststoff und sonstigen Chemikalien auf.
Gut sichtbar am Eingang fiel Tom als Erstes die Karl-Valentin-Statue auf. Eine moderne Variante des Standbilds vom Karl-Valentin-Brunnen auf dem Viktualienmarkt.
»Hast du schon gesehen?«, sprach Tom Anna an.
Jemand hatte dem Künstler ein Schild um den Hals gehängt. Da der Brand nicht so weit vorgedrungen war, waren Statue und Schild unversehrt geblieben. Mit rot übermalten Zeitungsbuchstaben war ein zweizeiliger Satz auf einen Karton geklebt: »Karl Valentin ist tot.«
Der Karton – wahrscheinlich der Rücken eines Zeichenblocks – war mit durchsichtiger Plastikfolie überzogen worden. Durch zwei kleine Löcher rechts und links bohrte sich der rote Faden, an dem das Schild vom Hals des berühmten Komikers baumelte.
»Karl Valentin ist tot«, las Jessica den Text. »Was will uns das sagen?«
»Die Antwort wird die Lösung des Falls sein.« Tom betrachtete das Schild nachdenklich. Wer immer das getan hatte, hatte sich viel Mühe gegeben, um ihnen etwas zu übermitteln.
Eine sprechende Tat. Mit Karl Valentin als Sprachrohr.
»Das Schild müsst ihr bitte besonders genau auf Fingerabdrücke und sonstige Spuren untersuchen. Und den Boden rund um die Statue auch!«, rief Anna einen Mitarbeiter zu sich. »Setzt sämtliche Spezialgeräte ein.«
An Tom gewandt, fuhr sie fort: »Also so viel kann ich euch schon einmal sagen: Der Brand war kein Zufall!«
Sie blickte sich suchend in dem Basislager um, das sich die Spurensicherung in einer Nische geschaffen hatte.
Es stapelten sich weit mehr Kisten als üblich.
»Brandstiftung?«, fragte er.
Anna ging zu einer Kiste. »Ah. Hier sind sie. Wir müssen in den Keller. Der Rest der Mannschaft ist schon unten.«
Anna warf ihnen Gummistiefel hin. Ein Riesenpaar für Tom. Weit kleinere für Jessica.
»Haltet euch fest. Es ist furchtbar rutschig hier«, wies die Leiterin der Spurensicherung sie an.
Anna wirkte in dem schummrigen Licht in ihrem unförmigen Schutzanzug geradezu gespenstisch. Die Beine und Arme staksig lang, hielt sie sich am Geländer fest und stieg die Steintreppe seitlich hinab wie ein Skifahrer, der im Winter mit Skistiefeln feuchte Treppen bewältigte. Man hatte bereits Massen von Löschwasser abgesaugt. Dennoch blieb der Stein glitschig, die Treppenstufen kaum erkennbar. Tom knipste die Handytaschenlampe an und beleuchtete die Treppe.
Plötzlich rutschten seine Füße in den Gummistiefeln ab. Im Fallen spürte er einen Stich, der sich bis tief in seinen Brustraum zog. Bei unvorhergesehenen Bewegungen wie dieser schmerzte das Einschussloch in seiner Brust. Hier hatte ihn die Kugel damals im Kampf gegen Iwan Maslovs Sohn in Düsseldorf durchbohrt. Die Ärzte hatten Tom vorgewarnt. Die Vernarbungen verwuchsen sich durch den gesamten Brustkorb. Eine kürzlich überstandene Bronchitis hatte das Leiden verstärkt. Dieser Schmerz würde ihm bleiben.
Im Fallen bekam Tom den Lauf des Geländers zu fassen. Doch sein Handy polterte über zwei Stufen nach unten. Das Geländer hielt seinem Gewicht stand, worüber er heilfroh war. Im Polizeipräsidium hatten sie ein ähnliches schmiedeeisernes Modell – allerdings wesentlich niedriger. Tom bückte sich nach seinem Handy, dessen Display einen Sprung bekommen hatte. Sch… Mist!
Er schluckte das Wort hinunter, das er nicht mehr sagen wollte.
Im Keller wäre es ohne das Licht der Handytaschenlampe stockdunkel gewesen. Das Licht war ausgefallen. Tom erkannte einen langen Flur, von dem aus die einzelnen Räume nach rechts und links abgingen. Am Ende des Flurs stand ein Fenster offen.
»Das Fenster haben wir geöffnet vorgefunden«, erklärte Anna, als sie seinem Blick folgte.
Der hinterste Raum war von den mitgebrachten Tageslichtstrahlern der Spurensicherung hell erleuchtet. Sie wateten durch den feuchten Flur. Es sah wüst aus. Die Bilder an den Wänden waren zerstört, hingen schief oder waren ganz heruntergefallen. Gesprungenes Glas, schwarze Rauchspuren, Asche, geplatzte Lampen und der beißende Brandgeruch zeugten von der Feuersbrunst, die hier getobt hatte.
»Die Feuerwehr hat sich bemüht, so wenig Spuren wie möglich zu verwischen. Aber Lebensrettung hatte natürlich Priorität«, meinte Anna jetzt, als sie auf den hinteren Raum zuschritten.
Tom erkannte an der Farbe des Lichtes, dass bereits weitere Kollegen von der Spurensicherung vor Ort waren, die zum Notausgang hereingekommen sein mussten.
»Hat wohl trotzdem nicht geholfen«, stellte er fest.
Anna nickte. »Leider war die Frau schon tot, als die Männer sie fanden.«
»Dass heute an einer Schule so was überhaupt passieren kann!« Tom war ehrlich erstaunt.
Bei den heutigen Brandschutzvorschriften und einem so modern renovierten öffentlichen Gebäude war es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, dass ein Brand so weit fortschritt. Selbst nachts!
Er blickte zur Decke. Wie zu erwarten, waren in regelmäßigen Abständen Brandmelder installiert. »Wieso haben die Brandmelder nicht gleich losgefunkt? Die müssen doch direkt bei der Hauptwache aufgeschaltet sein.«
Anna nickte. »Das habe ich mich auch gefragt. Ich kann es mir nur so erklären, dass die Brandmeldeanlage aus irgendeinem Grund offline war. Warum, ist noch unklar.«
»Ist die Frau verbrannt?«, fragte Jessica mit ängstlicher Miene.
Als ob sie sich auf den furchtbaren Anblick einstellen müsste, der sie gleich erwarten würde. Tom wusste, dass seine um einige Jahre jüngere Kollegin mit der ersten Konfrontation eines gewaltsam verstorbenen Menschen ihre Probleme hatte. Wohl gerade deshalb, weil sie in ihrer Jugend in Berlin Extremsituationen erlebt hatte, die ihr in solchen Momenten wieder leibhaftig vor Augen standen.
Eine Brandleiche war ihnen in ihrer gemeinsamen Zeit bisher noch nicht untergekommen. Mit Schaudern dachte Tom an die entstellten Feuerleichen, deren Anblick selbst ihm das Blut in den Adern hatte stocken lassen.
»Ich habe mich auf die Spuren konzentriert.« Anna schien ziemlich ungerührt, doch als sie bemerkte, wie Jessica zusammenzuckte, fügte sie mitfühlend hinzu: »Ich glaube nicht, dass sie an ihren Verbrennungen gestorben ist.«
Jessica hatte ihm erzählt, dass Anna und sie eine über das berufliche hinausgehende Freundschaft verband. Sie trafen sich auch privat. Auch wenn sie das im Kollegenkreis nicht an die große Glocke hängten.
Anna fuhr fort. »Ich habe mir schon einen ersten Eindruck verschaffen können. Auf Grund der Spuren gehe ich davon aus, dass der Brand im Materiallager ausbrach. Die Flammen haben sich vom Keller über die vom Winter trockene Pergola an der Innenfassade in die oberen Stockwerke ausgebreitet. Das hat der Hausmeister gesehen.«
Tom konnte sich das sehr gut vorstellen. »Von der Straße aus hätte man den Brand erst später bemerkt.«
Anna stimmte ihm zu.
»Habt ihr sonst schon etwas Wichtiges gefunden? Handy oder so?«, fragte Tom. Die letzten Anrufe zu kennen würde ihnen eine Menge erleichtern.
»Leider nicht. Nur eine Schminktasche auf der Toilette. Kein Handy.«
»Schminktasche? Hatte sie ein Rendezvous?«, fragte Jessica.
Anna zuckte mit den Schultern. »Ihre Lippen sind jedenfalls knallrot geschminkt. Auch jetzt noch.«
Sie waren nun im hinteren Zimmer angekommen. Das musste der Kunstraum sein. Er war weit mehr in Mitleidenschaft gezogen als alles, was sie bisher gesehen hatten. Auf Grund der diversen Materialien hatten die Flammen reichlich Futter gefunden. Die Überreste halb verbrannter Papiere, Pappen und anderer Materialien lagen verstreut auf Tischen und Metallschränken herum, die größtenteils offen standen. Tom fiel ein Bildertrocknungswagen auf, neben dem ein umgekippter Tisch lag. Zwei Männer der Spurensicherung wuselten um das seltsame Stillleben herum. Nahmen Proben, sicherten Spuren.
»Hier hat jemand etwas gesucht«, stellte Tom fest. Es konnte auch ein Kampf stattgefunden haben. Zahlreiche Schubladen standen offen, verkohlte Bilder und Gegenstände hingen heraus, lagen auf dem Boden davor.
Auch Professor Dr. Peter Ehinger war inzwischen angekommen. Die Kollegen hatten ihn durch die Brandschutztür zum Innenhof hereingelassen. Der große Mann mit dem weißen Haarkranz und dem grauen Schnauzbart im faltenzerfurchten Gesicht blickte melancholisch wie immer durch die dicken Gläser seiner Brille. Er stellte seinen schweren Lederkoffer ab, dem seine chronisch gebückte Haltung geschuldet war.