Marc Späni
Lämpe
Kriminalroman
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Trümmlig (2018)
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Christine Braun
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © markusspiske / photocase.de
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6282-5
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
In der Umgangssprache verschiedener Schweizer Dialekte bedeutet »Lämpe« so viel wie Ärger, Schwierigkeiten oder Streit. Man kann »Lämpe« bekommen, man kann sie mit jemandem haben oder jemandem bereiten. »Mach kei Lämpe!«, heißt es dann gern: Mach keinen Aufstand, keine Schwierigkeiten!
Ursprünglich stand das Wort für die Fetthaut am Hals des Rindviehs, später auch für ein fettes Kinn oder die herabhängende Unterlippe einer Person, davon abgeleitet vielleicht allgemein für etwas Unangenehmes oder Unschönes, was man mit sich herumträgt. »Den Lämpe hangen lassen« hieß früher auch, verstimmt oder nachlässig zu sein, und »Lämp« war fast gleichbedeutend mit »Lump«.
Die zwei Typen vor dem Eingang des »Paradiesgärtli Pub« schenkten Felber keine Beachtung, auch im Lokal hob kaum einer der Gäste den Kopf. Er stand schon eine ganze Weile am Tresen, als ein älterer Mann mit ärmelloser Lederweste sich mühsam erhob, zu ihm rüberschlurfte und gelangweilt nach seiner Bestellung fragte.
»Ich möchte Reto Bucher sprechen«, sagte der Ermittler.
Der Alte musterte Felber abschätzig, verzog dann das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und wandte sich an die Gäste: »Kennt einer von euch einen Bucher?«
Sofort verstummten die Gespräche, ein paar lachten leise. Es waren um die zehn Personen im Raum, nur Männer, lauter finstere Gestalten, einige mit Tattoos, Kahlschädeln und Lederjacken, mehr die Art von Typen, mit denen die Sitte oder die Patrouillen der Stadtpolizei zu tun hatten.
»Ich weiß, dass Bucher seine Büros hier oben hat«, sagte Felber ruhig und ohne auf die Provokation einzugehen.
Schon bei seinen ersten Worten hatte sich von einem der Tische ein Kerl erhoben, ein Koloss von Mann, kahl rasiert, mit Oberarmen wie Schiffspfähle. Er ging drohend auf Felber zu und stellte sich ihm gegenüber auf, die Hände zu Fäusten geballt. »Nicht frech werden, ja?«
Felber würdigte den Kerl nur eines kurzen Blicks und fixierte wieder den Wirt. Bewusst behielt er eine lockere Körperhaltung bei. Er kannte diese Art von hirnloser Muskelmasse; man durfte sie nur nicht provozieren, nicht das geringste Signal von Aggression zeigen.
»Vielleicht ist er ja von der Polizei?«, meinte einer der Gäste am Tisch ängstlich, ein Dunkelhaariger mit einem ungesund roten Gesicht.
Der Alte musterte den Rotgesichtigen abschätzig und wandte sich dann wieder an Felber. »Polizei?«
»Ich möchte Bucher in einer privaten Angelegenheit sprechen.«
Die Situation schien wie festgefroren: Standbild mit Koloss.
»Herr Bucher erwartet mich«, ergänzte Felber nach einer Weile.
Der Kraftprotz spielte mit seinen Armmuskeln, die es mühelos mit einem ausgewachsenen Gorillamännchen aufgenommen hätten, die Gäste hielten den Atem an. Der Alte hatte mittlerweile die Hand auf ein altes Mobiltelefon gelegt, das auf dem Tresen lag, machte aber noch keine Anstalten, es auch zu benutzen.
»Wäre es vielleicht möglich«, startete Felber nach einer Weile einen neuen Versuch, »dass einer der Herren mich bei Herrn Bucher anmelden könnte?«
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Alte im Zeitlupentempo das Telefon nahm, eine Nummer eingab und – den Blick auf Felber gerichtet – meldete, dass jemand den Chef sprechen wollte. »Name?«, fragte er den Ermittler.
»Felber. Pascal Felber.«
Der Wirt wiederholte den Namen, legte die Stirn in Falten und wandte sich erneut an Felber. »Kantonspolizei?«
Ein Raunen ging durch die Gäste, der Dunkelhaarige starrte Felber mit offenem Mund an und der Koloss zuckte immer schneller mit seinen Muskeln.
Felber atmete hörbar aus. »Eine Privat-Angelegenheit«, wiederholte er betont ruhig. »Ich bin nicht beruflich hier.«
»Einmal Bulle, immer Bulle«, murrte einer der Männer, während der Wirt wieder das Telefon ans Ohr nahm.
»Herr Bucher möchte wissen, worum es geht«, fragte er nach einigen Sekunden.
»Das sage ich ihm gern selber. Herr Bucher …«
»Erwartet Sie, ja?«, unterbrach ihn der Wirt spöttisch, und Felber spürte, dass die Situation einen kritischen Punkt erreicht hatte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, die Spannung war greifbar, und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er nicht nur unbewaffnet war, sondern dass auch keiner seiner Kollegen wusste, wo er sich im Moment befand.
Der Wirt hielt noch immer das Handy am Ohr, horchte, nickte dann. Schließlich senkte er langsam den Arm mit dem Telefon. »Jemand holt Sie ab.« Mit diesen Worten begann er, Gläser abzutrocknen, als wäre nichts gewesen. Der Koloss zog sich einige Schritte zurück, blieb aber mit verschränkten Armen stehen und ließ Felber nicht aus den Augen. Dieser versuchte, sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen, fingerte sein eigenes Handy aus der Tasche und tat, als checke er seine Mails oder lese SMS. Die Gespräche an den Tischen gingen weiter und vermischten sich mit der Rockmusik aus den Lautsprecherboxen.
Der Mann, der ein paar Minuten später auftauchte, um Felber abzuholen, kam ihm bekannt vor, ohne dass er ihn gleich zuordnen konnte. Er war hager, hatte eine spitze Nase und Knopfaugen und trug ein zu enges weinrotes Hemd. Er führte Felber durch eine Tür neben den Toiletten in ein muffiges Treppenhaus.
»Felber«, sagte er mit heiserer Stimme, während er nach oben wies und den Ermittler vorgehen ließ, »dass Sie den Nerv haben, hier aufzutauchen!«
In diesem Moment erinnerte sich Felber, dass auch dieser Mann in der Postraubsache damals eine Rolle gespielt hatte, auf den Namen kam er allerdings nicht. Er erhaschte beim Zurückblicken nochmals einen Blick auf das hagere Gesicht. Die Miene bestätigte, was die Stimme verraten hatte: Der Mann war sichtlich nervös.
Nervös wirkte auch Reto Bucher, wenngleich er sich offensichtlich Mühe gab, Felber souverän und geschäftsmäßig entgegenzutreten. Er war seit dem Prozess damals runder geworden. Er trug sein langes gekraustes Haar mit Gel nach hinten gestrichen und zu einem lockeren Zopf zusammengebunden. Mit seiner blau geränderten Brille und dem weißen Hemd, dessen oberste Knöpfe er offen trug, machte er ganz auf Geschäftsmann. Felber sah ihm sofort an, dass er von seinem Besuch überrumpelt worden war und sich wohl erst nach einigem Hin und Her entschieden hatte, Felber zu empfangen. Und das auch nur, weil alles andere noch viel verdächtiger gewesen wäre.
Er schüttelte dem Ermittler etwas zu enthusiastisch die Hand und wies ihm einen hohen lederbezogenen Stuhl an einem gläsernen Konferenztisch zu. Der Raum war leer bis auf ein Sideboard und einige Regale mit Bundesordnern.
»War das eben …«, begann Felber, und wie erwartet lieferte Bucher den Namen des Hageren.
»Schläpfer, ja.«
Sebastian Schläpfer – jetzt erinnerte sich Felber.
»Auch er hat seine Zeit abgesessen«, erkläre Bucher, »arbeitet jetzt für mich. Aber nehmen Sie doch Platz.«
Felber setzte sich, während sich Bucher am Sideboard zu schaffen machte.
»Lange her«, murmelte er, stellte Felber ein Glas auf den Tisch und öffnete mit fahrigen Bewegungen eine Mineralwasserflasche. Dann setzte er sich ihm gegenüber hin und zupfte seinen Hemdkragen zurecht. »Eine private Sache, sagen Sie?«
Felber nickte. »Es geht um meine Frau.«
Bucher nickte, bevor er weitersprach. »Ich habe davon gehört«, sagte er zu Felbers Überraschung. »Sie wird noch immer vermisst?«
»Sie ist tot«, korrigierte Felber und schluckte leer.
Buchers rotes Gesicht wurde noch etwas dunkler. »Man hat sie also gefunden?«
»Nicht direkt«, antwortete Felber. Es fiel ihm schwer, darüber zu reden, wie ihm ein Unbekannter den abgeschnittenen Finger seiner seit vier Jahren vermissten Frau geschickt hatte, per Post an seine Adresse bei der Kantonspolizei Zürich, nachdem er sich all die Jahre mit der Frage herumgequält hatte, ob sie sich das Leben genommen hatte. Die rechtsmedizinische Untersuchung hatte ergeben, dass der Finger post mortem abgetrennt worden war. »Wir wissen aber trotzdem, dass sie tot ist. Wahrscheinlich wurde sie ermordet«, fasste er zusammen.
Bucher wusste offenbar nicht recht, wie er mit der Situation umgehen sollte, und schenkte sich zuerst einmal selber Mineralwasser ein, wobei er einige Tropfen neben das Glas schüttete.
»Das tut mir leid«, sagte er, fuhr sich durch das gelverklebte Haar und blickte kurz aus dem Fenster, von wo aus man die gegenüberliegende Häuserfront sehen konnte. »Aber warum kommen Sie damit zu mir?«
Felber lehnte sich vor und holte Luft. »Ich … wollte Sie um Hilfe bitten.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich will den Typen finden, der ihr das angetan hat.«
Bucher nickte langsam, schien aber immer noch nicht recht zu wissen, was er von der Sache halten sollte.
»Ich muss davon ausgehen«, fuhr Felber in sachlichem Ton fort, »dass die Entführung, Gefangennahme und Tötung in erster Linie gegen mich gerichtet war.«
»Und ich …?«, fragte Bucher zögerlich und zog die Augenbrauen zusammen.
»Bucher, Sie kennen jede Menge Leute, vor allem solche, Sie wissen schon, mit denen ich damals ebenfalls zu tun hatte, als Ermittler.«
Bucher schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe nichts mehr mit diesem Milieu zu schaffen. Was wir hier machen, sind Immobiliengeschäfte, Baufinanzierungen …«
Felber winkte ab. »Was Sie machen, interessiert mich nicht. Aber Sie haben die Kontakte, Sie können sich umhören.«
»Sie wollen Rache«, murmelte Bucher und rieb sein Kinn.
»Ich will vor allem meine Kinder schützen«, erwiderte Felber. »Solange der Typ frei herumläuft, kann ich keine Nacht ruhig schlafen.«
Bucher biss sich auf die Unterlippe und musterte Felber kritisch. Dazu fingerte er in seinen Haaren herum. »Warum sollte ich Ihnen helfen?«, fragte er nach einer Weile ruhig. »Wegen Ihnen habe ich vier Jahre und fünf Monate kassiert.«
»Nicht wegen mir«, erwiderte Felber ebenso ruhig, »das wissen Sie selber, sondern weil Sie zusammen mit Ihren Kumpels in Zürich eine Postfiliale überfallen haben.«
»Dafür habe ich meine Strafe abgesessen, jeden einzelnen Tag. Und weil die Beute nie aufgetaucht ist, bin ich noch jetzt, elf Jahre später, auf dem Radar Ihrer Kollegen. Ich kann kein Geschäft machen, ohne dass man mir auf die Finger schaut, ich bin überzeugt, mein Telefon wird abgehört …«
»Ich weiß, dass Sie mir nichts schuldig sind«, unterbrach ihn Felber. »Wenn Sie Nein sagen, lasse ich Sie in Ruhe. Sie können sich vorstellen, dass mir der Gang zu Ihnen nicht leichtgefallen ist.«
Bucher überlegte lange, nahm dann seine Brille ab und hielt sie gegen das Licht der Deckenlampe. »Vielleicht könnten wir uns auf einen Deal einigen.«
»Ich kann Ihnen nichts anbieten.«
»Doch, das können Sie. Ich arbeite mit Immobilienprojekten, wie gesagt, aber Sie haben schon recht: Viele Kontakte sind noch von früher, und manchmal kommt Kundschaft, die uns falsch einschätzt, die das Gefühl hat, bei uns ließen sich krumme Geschäfte machen … Leute, mit denen wir nicht unbedingt zu tun haben möchten, die uns sogar gefährlich werden könnten …« Er hielt inne und setzte die Brille wieder auf.
»Was wollen Sie?«, fragte Felber.
Bucher schaute ihn konsterniert an. »Informationen«, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Wie gesagt, Ihre Kollegen von der Wirtschaftskriminalität beschatten mich, die wissen alles über die Leute, die sich an uns wenden, mehr als wir selber. Ich könnte deren Einschätzung brauchen, um mich zu schützen, um nicht in Geschäfte hineingezogen zu werden, mit denen ich nichts zu tun haben will.«
Felber war klar, dass er Bucher nicht trauen konnte. Außerdem war ihm bewusst, dass er schon viel zu weit gegangen war, dass ihn die Sache – allein schon dieses Gespräch – seine Karriere kosten konnte.
»Wenn ich etwas erfahre«, fuhr Bucher fort, »was für Sie wichtig ist, gebe ich Ihnen Bescheid, und umgekehrt. Ein fairer Deal.«
Felber starrte lange vor sich auf die Tischplatte. »Sie sind sich bewusst, was Sie da von mir verlangen? Nur schon dafür könnte ich Sie …«
Bucher, der offenbar sein Selbstvertrauen zurückgewonnen hatte, zuckte nur mit den Schultern. »So schnell verkehren sich die Positionen ins Gegenteil.«
Felber musterte mit müden Augen sein Gegenüber, schließlich streckte er ihm die Hand hin.
Eine halbe Stunde später setzte sich Pascal Felber in der Nähe vom Bahnhof Wallisellen, nur einige Straßenzüge vom »Paradiesgärtli« entfernt, in eine Bäckerei und bestellte Kaffee und einen Gipfel. Es war kurz vor 14 Uhr, die letzten Mittagsgäste brachen auf. Nur an zwei Tischen saßen noch einzelne Senioren, und im vorderen Teil unterhielten sich ein paar junge Mütter, deren Kinder offenbar in ihren hypermodernen Kinderwagen schliefen. Felber hatte sein Notizbuch vor sich und machte unter dem Stichwort »Reto Bucher« einige Einträge. Danach blätterte er durch die nächsten zehn, fünfzehn Seiten, auf denen er jeweils erst einen Namen notiert hatte. Auf die erste ganz leere Seite schrieb er »Sebastian Schläpfer« und wollte eben ein paar Stichworte ergänzen, als sein Handy klingelte. Es war sein jüngerer Kollege Lukas Baumgartner, der ihn wegen eines Einsatzes anrief.
»In Wald?«, fragte Felber entgeistert.
Auf einen Einsatz in einer Gemeinde im Oberland, rund eine Stunde von Zürich entfernt, hatte er nun wirklich keine Lust, aber ihm war bewusst, dass er sich in der jetzigen Situation nicht viel leisten konnte. Seit Gewissheit über den gewaltsamen Tod seiner Frau herrschte, hatten wohl einige Kollegen behauptet, er sei nicht mehr einsatzfähig. Und seit einiger Zeit schien sich auch Dani Pedrone, der immer sein engster Vertrauter unter den Kollegen gewesen war, von ihm abzuwenden. Vielleicht, überlegte er sich, schickte ihn die Dienstchefin ganz bewusst in die Pampa, um ihn ein wenig aus der Schusslinie zu nehmen.
Er ließ sich von Baumgartner eine erste Schilderung des Falles geben. Brand in einem Einfamilienhaus, eine verletzte Person, Rauchvergiftung.
»Na gut«, seufzte er. »Wer kommt? – Du und Melanie, schön. – Nein, natürlich fahre ich nicht mit euch. Ich bin beim Bahnhof Wallisellen. Wir treffen uns oben.« Er legte auf und suchte mit der App des Zürcher Verkehrsverbundes die schnellste Verbindung. Wenn er in zehn Minuten losfuhr, in Wetzikon und Rüti umstieg, wäre er kurz nach 15 Uhr in Wald.
»Sag mal, bist du total übergeschnappt?« Schläpfer stützte sich mit den Händen auf dem Glastisch ab und schaute verständnislos auf Bucher hinunter, der widerwillig von den Dokumenten aufsah, die er vor sich ausgebreitet hatte.
»Ein kleiner Deal«, erklärte er beschwichtigend, »ein Austausch von Informationen.«
Schläpfer schüttelte nur den roten Kopf, auf dem sich ein paar Schweißperlen abzeichneten. »Das ist doch ein Trick, der … der will was von uns.«
Bucher lehnte sich seufzend zurück und nahm die blaue Brille ab. »Entspann dich, Seb. Wir machen ja keine illegalen Geschäfte.« Dabei verzog er die Mundwinkel zu einem feinen Lächeln. »Außerdem sind wir eh schon im Fokus der Polizei, vergiss das nicht. Und etwas genauer Bescheid zu wissen, kann uns nur Vorteile bringen.«
»Vorteile, Vorteile«, äffte ihn Schläpfer nach. »Das glaubst du doch selber nicht! Und hast du dir überlegt, wie die Russen reagieren, wenn sie erfahren, dass du mit der Polizei Informationen austauschst?«
Bucher schüttelte nach kurzem Nachdenken den Kopf. »Felber war privat hier. Ich kann mir vorstellen, dass seine Truppe nichts von seinem Alleingang weiß. Immerhin geht es um seine Frau. Glaubst du, die lassen ihn da auf eigene Faust ermitteln?«
Der Hagere schüttelte in einem fort den Kopf. »Nimmst du ihm das etwa ab?«
Bucher nickte ernst. »Die haben sie entführt, vier Jahre gefangen gehalten und dann getötet.«
»Ist das unser Problem?«, unterbrach ihn Schläpfer aufgebracht, aber Bucher zuckte nur mit den Schultern.
Der Hagere machte ein paar Schritte durch den Raum, bevor er sich wieder zu Bucher drehte. »Und jetzt willst du herumgehen und selber Detektiv spielen? Glaubst du, die Leute, mit denen Felber damals zu tun hatte, sind Psychopathen, Entführer und Mörder?«
Bucher setzte seine Brille wieder auf.
»Für mich stinkt das zum Himmel«, insistierte Schläpfer und kratzte sich an der Nase. »Aber ich sag dir eines: Ich lasse nicht zu, dass der uns Ärger macht, ich nicht.«
Bucher machte eine beschwichtigende Handbewegung und blickte wieder auf seine Akten.
»Ich kenne Leute«, sagte Schläpfer leise und eindringlich, »da reicht ein Anruf und die erledigen solche Dinge.« Er fuhr sich mit der ausgestreckten Hand über die Kehle. »Sauber und endgültig.«
Die Teenager fielen Felber zum ersten Mal in der S14 Richtung Wetzikon auf. Drei Jungs von vielleicht 16 Jahren, die einander anpöbelten, schubsten und grölend über die Obszönitäten lachten, die sie sich gegenseitig an den Kopf warfen. Beim Umsteigen auf die S5 in Wetzikon ging Felber in einen anderen Wagen, aber in Rüti, bei dieser Bahnstation mit der hässlichen türkisen Kachelung, musste er auf einen Bahnersatzbus ausweichen, und da waren sie wieder, grölend und balgend, und auch sie bestiegen zu seinem Leidwesen den Bus der ZVO, der die letzten Kilometer bis nach Wald abdeckte. Während sich der Gelenkbus durch weite Kurven, an Industriewerken der Gründerzeit vorbei das Jonatal hinaufschlängelte, beobachtete Felber, der hinten saß, wie die drei Rotzlöffel sich über zwei Afrikaner lustig machten, sie provozierten und einander dabei gegenseitig anstachelten. Die beiden – vom Aussehen her Eritreer; aus Eritrea waren in den letzten Jahren viele in die Schweiz gekommen – ließen das Ganze ohne die geringste Reaktion über sich ergehen, als ob sie diesen Umgang gewöhnt wären. Die anderen Fahrgäste blickten auf ihre Handys oder aus dem Fenster. Felber verfolgte eine Weile die Sticheleien. Er erwog schon aufzustehen und die drei nach Strich und Faden fertigzumachen – nicht der guten Sache wegen oder um als Held dazustehen, vielmehr hätte es ihm gutgetan, nach der Sache mit Bucher ein wenig Dampf abzulassen –, da hielt der Bus an einer Haltestelle namens »Pilgersteg«. Die Afrikaner stiegen aus und verschwanden zwischen den Gebäuden einer zur Gewerbezone umgebauten Industrieanlage.
Die 10.000-Seelen-Gemeinde Wald am Fuße von Bachtel, Scheidegg und Batzberg hatte – wie viele Oberländer Gemeinden – ihren Aufschwung im 19. Jahrhundert der Textilindustrie zu verdanken. Von den 16 Textilbetrieben, die der Gemeinde damals den Namen »Manchester der Schweiz« eingebracht hatten, waren am Ende der Ära kaum mehr drei vorhanden. In die alten Textilfabriken hatten sich alle möglichen Betriebe und Fabriken eingenistet, manche waren zu Wohnhäusern mit originellen Lofts umgebaut worden. Seit einigen Jahrzehnten spielte im Oberland auch der Tourismus eine wichtige Rolle. Wald lag nur 200 Meter höher als Zürich, schaute aber dadurch auch in der kalten, grauen Saison häufig aus dem Hochnebel heraus, während die Kantonshauptstadt, die Seegemeinden und das ganze Unterland permanent in der dicken Suppe hockten, die in den Wintermonaten so sehr auf die Stimmung drückte. Die wenigen Male, die Felber schon in Wald gewesen war, waren ihm die vielen Unterländer aufgefallen, die die Gegend für Familienausflüge nutzten, kleinere Wanderungen machten oder die Sommerrodelbahn weiter hinten im Goldingertal besuchten.
Als er jetzt vor dem lachsfarbenen Bahnhofgebäude ausstieg, machte sich die Sonne zwar über dem Nebel bemerkbar, zu durchbrechen vermochte sie die dünne Restschicht aber trotzdem nicht ganz.
Die Bahnhofstraße führte zwischen alten Bürgerhäusern, an einer kleinen Coop- und einer kleinen Migros-Filiale vorbei. Überall hingen Wahlplakate mit uniformen Köpfen, die Gemeindepräsident, Kantonsrat oder Bezirksrichter werden oder bleiben wollten, je nach Partei in Blau, Rot, Grün, Orange oder Gelb, ansonsten so originell und abwechslungsreich wie Todesanzeigen in einer Tageszeitung.
Um die Tageszeit herrschte wenig Betrieb, aber nur wenige Meter vor Felber gingen erneut die drei Halbstarken, als wären sie zu Felbers Eskorte abbestellt worden. Auch in die Bachtelstraße bogen sie ein, wo er, am Ende einer Reihe versetzter alter Häuser mit niederen Stockwerken und stereotyp grünen Fensterläden, auf der linken Seite das Logo der Kantonspolizei erblickte. Das Haus mit der altertümlichen Aufschrift »Kantons-Polizei« auf der Wand neben der Tür wirkte eher wie ein lokales Polizeimuseum, weniger wie der Posten der Regionalpolizei, der für das ganze Gebiet der Gemeinden Wald und Fischenthal zuständig war. Hier konnten höchstens fünf Leute arbeiten, sagte sich Felber und sah sich um. Es war 15.30 Uhr. Ein Streifenwagen parkte vor der Wache – wohl der einzige, den sie hier zur Verfügung hatten –, von Baumgartner, Melanie Keller, der Staatsanwaltschaft und den Spezialisten von der Brandermittlung keine Spur. Die Jugendlichen verschwanden auf der anderen Straßenseite hinter einem Werkhof.
Felbers Magen knurrte. Außer dem Gipfel in Wallisellen hatte er noch nichts gegessen, also zündete er sich in Ermangelung von etwas Essbarem eine Zigarette an und ärgerte sich beim ersten Zug schon darüber, dass er überhaupt mit diesem Unsinn wieder angefangen hatte.
Auf dem Posten wurde Felber aufs Freundlichste begrüßt. Die Beamtin war wahrscheinlich jünger, als sie auf den ersten Blick wirkte. Sie hatte eine rundliche Figur, war pausbackig und rotwangig und trug die Haare zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war das komplette Gegenteil der griechischen Venus Pamela Galtzidis, die an der Kasernenstraße in Zürich, Sitz der Kantonspolizei und Felbers Arbeitsplatz, den Empfang bediente. Mit ihrem Handschlag hätte die Walder Beamtin mühelos ein Glas zerdrückt.
»Susanne Lanter. Wachtmeisterin.«
»Felber. Ermittlungsgruppe ›Leib/Leben‹, Einsatzabteilung Gewaltkriminalität, Zürich.«
»Die andern sind schon beim Brand«, erklärte sie. »Haben Sie die Adresse?«
»Ich bin mit dem Bus gekommen«, erklärte Felber und machte eine entschuldigende Handbewegung. Er hasste nun mal Autofahren und schätzte den ÖV, weil er ihm kleine Auszeiten ermöglichte, in denen er nicht zu Gesprächen mit seinen Teamkollegen gezwungen war.
»Was machen wir mit Ihnen?«, fragte Susanne Lanter unschlüssig und blickte auf die Uhr. »Ich habe noch bis 16 Uhr Dienst, und im Moment ist niemand da, der Sie hochfahren könnte.«
»Ist es weit?«
Sie zog die Brauen hoch. »Sie wollen ja wohl nicht zu Fuß gehen?«
»Ich geh gern«, murmelte er, aber davon wollte sie nichts wissen. »Da können Sie gleich warten, bis ich hier fertig bin. Ich fahre dann mit Ihnen hoch.« Damit war die Sache für sie offenbar geklärt.
Felber schmunzelte und nickte.
Wachtmeisterin Lanter telefonierte kurz hinter der Theke und meldete danach, Felbers Kollegen seien auch noch nicht da. »Wollen Sie einen Kaffee?«
Die Frau gewann endgültig sein Herz, als sie zur dampfenden Tasse auch ein Tellerchen mit Guetzli auf den Tisch stellte.
»Selber gebacken?«, fragte Felber anerkennend, aber sie sah ihn nur scheel an. »Coop.«
Nach den letzten Häusern ging es steil bergauf. Der Brandplatz lag nur wenige Minuten entfernt an der Südflanke des Bachtels.
»Jetzt halten Sie sich fest«, sagte sie, als sie hinter einem Bauernhof um die letzte Kurve bogen. Aufgrund dessen, was ihm Baumgartner kurz am Telefon mitgeteilt hatte, erwartete er eines dieser Standard-Einfamilienhäuser, wie sie kurz zuvor eine Reihe passiert hatten. Was er dann aber sah, konnte er im ersten Moment überhaupt nicht einordnen. Es war ein Formendurcheinander, ein kubistisches Flickwerk, ein visuelles Chaos, und er musste mehrmals hinsehen, bis er erfasste, was er da vor sich hatte: Es sah aus, als hätte jemand ein normales Haus genommen und absichtlich alle Elemente verzerrt und verschoben. Es gab keine Waagerechten, keine Senkrechten, alles schien aus der Form gefallen, Balken standen quer und sogar die Wände waren nach innen oder außen geneigt, sodass das ganze Gebäude auf den ersten Blick in einem gefährlichen Ungleichgewicht zu stehen schien, das Felber ungemein irritierte. Irgendwie erinnerte ihn das Haus an ein Plastikmodell der Mondlandefähre »Eagle«, das Linus als Kind einmal zusammengeklebt und bemalt hatte.
»Wer stellt denn so was in die Landschaft?«
Die Wachtmeisterin lachte. »Gefällt’s Ihnen nicht?«
Felber zuckte mit den Schultern. Schräg, dachte er, aber für diese Konstruktion war das wohl stark untertrieben.
»Hat in der Gemeinde für ziemlichen Wind gesorgt. Abidi hat es selber entworfen.«
»Wer ist Abidi?«
Auf dem Kiesplatz unterhalb des Hauses standen ein Streifenwagen, ein Jeep der Feuerwehr und ein Privatwagen, aus dem ein Mann mit einer Fototasche stieg.
»Lokalpresse«, schnaubte die Lanter verächtlich.
Baumgartner und Melanie Keller fuhren in ihrem Dienstwagen fast zeitgleich mit Lanter und Felber auf den Platz. Kurz nach ihnen kam das Team von der Brandermittlung in einem Lieferwagen an: drei Mann mit dunklen Overalls und Mienen wie Leichenbestatter.
»Stau auf der Forch-Autobahn«, erklärte Baumgartner grinsend. Melanie Keller machte ihr übliches säuerliches Gesicht und nickte nur knapp zur Begrüßung.
»He, Sie!«, blaffte Susanne den Journalisten an. Zu Felber sagte sie über die Schulter: »Gehen Sie schon mal nach oben. Kollege Bernet und der Staatsanwalt sollten schon da sein.«
Von dieser Seite machte das Haus, abgesehen von der schiefen Bauweise, einen absolut intakten Eindruck. Ob man da wirklich die Kantonspolizei von Zürich hatte herbeordern müssen?
Ein großer schlanker Mann in Uniform mit rötlichem Kraushaar und Sommersprossen unterhielt sich mit einem Glatzkopf in einer teuren Windjacke. Der Uniformierte begrüßte Felber, Baumgartner und Keller steif und stellte sich als Leiter des Postens Wald vor: Samuel Bernet, Leutnant. Hier trug man also noch Uniform, sagte sich Felber, und Bernet schien sich darin wohlzufühlen. Er hatte die Hand locker auf dem Pistolenholster aufgestützt. Dorfsheriff!
Der andere, der mit der teuren Outdoorjacke, gab sich als Jan Vieli von der Staatsanwaltschaft See/Oberland zu erkennen.
»Ich nehme an, Sie verfügen schon über die wichtigsten Informationen«, begann Bernet, was Felber natürlich nicht tat.
»Was wissen wir denn schon?«
»Der Brand wurde kurz vor 9 Uhr morgens gemeldet«, resümierte der Walder Polizeistationsleiter etwas irritiert, »von Jürg Alpiger, der seinen Hof weiter oben betreibt. Die Feuerwehr ist zuerst mit einem Löschzug vorgefahren, später ist ein zweiter dazugekommen. Es gab eine starke Rauchentwicklung und es war nicht klar, ob noch Personen im Haus waren.«
»Eine Frau wurde verletzt?«, merkte Felber an, Bezug nehmend auf das, was er von Baumgartner am Telefon gehört hatte.
»Es handelt sich um die Mitbesitzerin beziehungsweise um die Ehefrau des Besitzers.«
»War sie im Haus?«, fragte Felber nach, ohne auf die komplizierte Wortwahl von Bernet einzugehen.
»Als die Sanität eintraf, war sie draußen. Offenbar hatte sie sich selber ins Freie retten können, musste dann aber mit einer mittelschweren Rauchgasvergiftung hospitalisiert werden.«
»Keine Verbrennungen?«, fragte Baumgartner.
Bernet schüttelte den Kopf.
»Was sagt sie?«, wollte Felber wissen.
»Sie ist noch nicht ansprechbar.«
»Und sonst hielt sich niemand im Haus auf?«
»Sobald es möglich war, hat die Feuerwehr einen Bergungstrupp ins Haus geschickt, aber niemanden gefunden.«
»Lebt sie allein hier?«
Bernet schaute ihn fragend an und schüttelte den Kopf. »Sie, ihr Mann und die fünfjährige Tochter.«
»Und wo waren die?«
»Wir haben sie bisher nicht kontaktieren können.« Er verwarf die Hände. »Sie werden die Nacht anderswo verbracht haben, bei den Großeltern der Kleinen, was weiß ich. Die Kollegen …«
»Mitten in der Woche?«, fiel ihm Felber ins Wort. »Die Kleine ist fünf, sagten Sie?«
Bernet nickte.
»Mit fünf ist sie im Kindergarten«, brachte sich Baumgartner ein, während Melanie Keller noch immer stumm dabeistand.
»Na ja«, mischte sich der Staatsanwalt ein, der von Nahem viel jünger wirkte. »Da kann man die Kinder ja mühelos rausnehmen.«
»Mitten in der Woche«, wiederholte Felber. »Und nicht einmal auf dem Handy erreichbar.«
»Die Kollegen sind dran«, sagte Bernet mit Bestimmtheit. »Wir suchen, aber wir haben nicht die Mittel wie Sie in Zürich. Wir sind nur zu viert, und tagsüber muss der Posten besetzt sein.«
»Ja, ja«, beschwichtigte Felber. »Haben wir irgendwelche Zeugen?«
»Nein, außer dem Alpiger, der den Hof oben betreibt.«
»Ich muss genau wissen«, diktierte Felber, »was Sie schon gemacht haben, welche Anfragen Sie gestartet haben, mit wem gesprochen …«
Bernet nickte etwas beleidigt und der Staatsanwalt schlug vor, die Brandstelle einzusehen. Die Experten von der Brandermittlung waren schon vorausgegangen.
Während Melanie Keller zum Wagen ging, folgten sie dem Walder Polizeichef an einer gläsernen Schrägwand vorbei zur Rückseite des Hauses.
»Ich sag Ihnen«, murmelte Bernet, »das ist wieder einer von diesen Fällen, bei denen nichts herauskommt, eine bloße Versicherungsangelegenheit, davon bin ich überzeugt.«
»Ach ja, sind Sie das?«
Bernet ignorierte Felbers Anmerkung.
Am Ort des Geschehens begutachteten die drei Brandexperten zusammen mit einem Feuerwehrmann den Schaden. Der Anbau, eine Art Wintergarten, ebenfalls in unregelmäßig geometrischen Formen, stand zwar noch, war aber durch das Feuer vollkommen schwarz. Im Innern war alles zertrümmert, die Scheiben durch die Hitze geborsten. Felber hätte am liebsten zuerst die Streben geradegerichtet, die zerstörten Fensterfronten in die Senkrechte gebracht und das Dach anständig waagrecht darübergelegt. Die ganze moderne Architektur des Hauses beleidigte seinen Sinn für Symmetrie.
»Eggenberger«, stellte sich der junge Feuerwehrmann vor. Die anderen drei hielten es nicht für nötig, es ihm gleichzutun.
»Waren Sie heute Morgen dabei?«, fragte Felber.
»Erst mit dem zweiten Zug«, antwortete Eggenberger und begann gleich, vom Brand, den Schwierigkeiten bei den Löscharbeiten, der Rauchentwicklung und den Gasexplosionen zu erzählen, und wie schnell sie da gewesen und wie professionell sie die Situation unter Kontrolle gebracht hätten, immerhin seien bei dem Wind die Verhältnisse ganz anders, und überhaupt …
»Brandstiftung?«, unterbrach Felber die Ausführungen, und der Staatsanwalt zückte den Stift. Eggenberger und die Brandexperten blickten ratlos in die Zerstörung. »Schwer zu sagen«, meinte der Älteste der drei. »Die Ermittlungen werden mindestens eine Woche dauern.«
Es war immer dasselbe. »Was ist Ihr Eindruck, wenn Sie das sehen?«, insistierte Felber. »Könnte es Brandstiftung gewesen sein?«
»Wie es ausschaut, sind durch den Brand mindestens zwei Gasflaschen explodiert, die zu einem größeren Grill gehörten. Die Frage ist, ob das Feuer drinnen entstand oder ob jemand etwas Brennbares von außen hineingeworfen hat. Deshalb untersuchen wir zuerst, ob wir Scherben und Teile der Fensterrahmen auch auf der Innenseite finden.«
»Gasflaschen können explodieren?«, fragte Felber. »Ich dachte immer, das gäbe es nur im Film.«
»Natürlich, Chef«, mischte sich Baumgartner ein, »bei entsprechender Hitze.«
»Ja, das Gas dehnt sich aus und explodiert irgendwann«, gab ihm der Brandermittler recht. »Wir müssen Schritt für Schritt, Schicht für Schicht abtragen, bis wir mit einiger Sicherheit sagen können, ob jemand den Brand gelegt hat und auf welche Weise.«
»Es ist also nicht ausgeschlossen«, versuchte es nun der Staatsanwalt, erhielt aber auch keine klare Antwort.
Felber fragte sich, wie man sein Leben mit der Analyse von abgebrannten Dingen verbringen konnte, und beschloss, sich auf dem Grundstück umzusehen. Eine Stelle am Rand der Wiese, wo der Wald begann, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er ging über den akkurat geschnittenen, jetzt aber vom Löschwasser aufgeweichten und vom Löschbetrieb durchfurchten Rasen zu den Tannen. Baumgartner folgte ihm.
»Hast du eine Taschenlampe?«, fragte Felber, und Baumgartner beförderte stolz ein kleines Teil aus der Tasche, das einen überraschend hellen Lichtkegel auf den Waldboden warf.
»Was machen Sie da?«, rief Bernet, der beim Wintergarten stehen geblieben war.
»Wenn du einen Brandsatz aufs Haus werfen würdest, Lukas, von wo aus würdest du das tun?«
»Nun, von … von …«
»Von hier etwa«, beantwortete Felber die Frage selbst. Mittlerweile waren auch Bernet und Vieli rübergekommen. »Haben Sie was?«
»Wir brauchen die Kriminaltechnik«, erklärte Felber knapp. »Die sollen das hier untersuchen.«
»Da gibt es doch nichts«, wandte Bernet ein.
»Wo führt der Pfad hin?«, fragte Felber ungerührt.
Bernet verwarf die Hände. »Nach 20, 30 Metern kommt man an die Straße. Ein Parkplatz ist in der Nähe, weiter unten ein Hof und oben der Alpiger-Hof. Wollen Sie etwa den ganzen Wald absuchen?«
»Den Parkplatz auf jeden Fall.«
Bernet verdrehte die Augen. »Die ersten schönen Tage, der Schnee ist weg, die Straßen werden von Töfffahrern überschwemmt. Die halten an jeder Ecke und schmeißen ihre Abfälle weg …«
»Lukas, du kontaktierst den kriminaltechnischen Dienst«, sagte Felber, der sich mittlerweile einen Spaß daraus machte, den Dorfsheriff zu ignorieren.
Es war bereits 17.30 Uhr, als Felber, Baumgartner und Melanie Keller sowie Bernet und Susanne Lanter zum Posten in Wald zurückfuhren. Die Brandwache sollte nächstens abgelöst werden, die Brandexperten hatten sich schon in den Feierabend verabschiedet und würden erst morgen früh weitermachen. Das Haus war weitläufig mit rot-weißen Bändern abgesperrt. Auch Jan Vieli meldete sich ab, er wollte mit der Dienstchefin Petra Meienberg die Ermittlungsstrategie besprechen und auf die Berichte warten.
Erst auf dem Posten merkte Felber, wie ihm die Märzkälte in die Knochen gefahren war. Umso dankbarer nahm er Susanne Lanters Kaffee entgegen, diesmal allerdings ohne Guetzli. Lukas Baumgartner und Melanie Keller trugen unter ihren Windjacken Faserpelze, aber schließlich waren sie auch nicht aus einer Konditorei in der Zürcher Agglomeration abberufen worden. Bernet telefonierte mit der Notfallstation des Spitals Wetzikon. Die Frau sei immer noch nicht ansprechbar, vermeldete er.
»Und der Vater und das Mädchen?«
»Wir sind dran«, sagte Bernet schroff.
»Wir sollten eine Fahndung einleiten«, bemerkte Felber nachdenklich.
»Es ist noch nicht einmal ein Tag vergangen«, hielt Bernet dagegen, »vielleicht halten sie sich irgendwo außer Haus auf und kehren demnächst zurück.«
»Haben Sie eine Vermutung?«, fragte Felber, vom Kaffee wieder etwas aufgewärmt. »Sie kennen den Ort hier, die Leute.«
»Den Ort, die Leute«, wiederholte Bernet noch immer gereizt. »Wenn Sie mich fragen, war das wieder eine dieser rumänischen Einbruchbanden.«
»Eine Einbruchbande?« Felber war etwas verwundert.
Bernet nickte. »Wäre nicht das erste Mal in der Gegend.«
Tatsächlich hielten seit einigen Jahren osteuropäische Einbrecherbanden, die aus dem nahen Ausland Streifzüge in die Schweiz unternahmen, die Polizei auf Trab. Sie waren gut vorbereitet, schnell und im Notfall gewalttätig.
»Ist etwas entwendet worden?«
»Woher sollen wir das wissen, wo die Frau nicht ansprechbar ist und Abidi selber sich noch nicht gemeldet hat?«
»Was wissen wir vom Besitzer, von diesem … Abidi?«
»Abidi?«, fragte Bernet erstaunt. »Sie wissen nicht, wer das ist?«
Felber schüttelte den Kopf und Bernet holte Luft für einen Vortrag, auf den er offenbar wenig Lust hatte. Mittlerweile war ihm wohl aufgegangen, dass Felber sich gar nicht informiert hatte. »Kerim Abidi, Architekt aus Tunesien, seit sechs Jahren in der Schweiz, eingebürgert und mittlerweile so etwas wie eine Berühmtheit hier im Ort. Die Frau stammt aus Wald, daher das Grundstück. Der Schwiegervater, Armin Stutz, Immobilienspekulant und Baulöwe mit beträchtlichem Einfluss, macht Großüberbauungen, heikle Sanierungen, wird oft vom Heimatschutz angefragt, ist steinreich.«
»Eine Entführung vielleicht?«, spekulierte Baumgartner.
»Jetzt hören Sie aber auf«, schnaubte Bernet. »Hier in Wald, da kann noch jeder, auch ein Millionär, im Volg einkaufen.«
»Bis er entführt wird«, murmelte Baumgartner zu Felbers Vergnügen.
»Könnte ja auch eine Kindsentführung sein«, überlegte Felber. »Das ist der häufigste Fall, dass ein Elternteil das Kind mit ins Ausland nimmt.«
Bernet wehrte ab. »Ich bin überzeugt, das war ein dummer Unfall, eine undichte Gasflasche vielleicht. Abidi wird sich sicher morgen melden, kommt bestimmt von einem Ausflug zurück. Stutz hat Immobilien zum Abwinken, Ferienwohnungen überall. Vielleicht war dicke Luft zu Hause, Abidi brauchte etwas Distanz …«
»Ein fremdenfeindlicher Anschlag vielleicht?«, fragte Melanie Keller, deren Anwesenheit Felber schon fast vergessen hatte.
Es war Bernet anzusehen, wie er innerlich kochte. »Meinen Sie«, fuhr er auf, »nur weil wir hier auf dem Land sind, seien wir alle Rechtsextreme?«
Felber zuckte nur mit den Schultern und dachte an die Jungen im Bus.
»Das passt mir nicht«, sagte Felber zu Melanie Keller und Baumgartner, als Bernet im Nebenraum telefonierte. »Ich möchte die beiden als vermisst melden, jetzt schon, nötigenfalls eine Suchaktion starten. Mir ist nicht wohl bei der Sache.«
»Tu das«, meldete sich die Keller, die ihm schon während der Reibereien mit Bernet hin und wieder zustimmend zugenickt hatte. Baumgartner war gleicher Meinung.
Nach Rücksprache mit der Dienstchefin Petra Meienberg wurden Kerim Abidi und seine fünfjährige Tochter Selin folglich als vermisst gemeldet. Sollten sie sich bis am nächsten Morgen nicht eingefunden haben, würde eine Suchaktion gestartet und eine Taskforce für Kindsentführungen gebildet werden. Nachdem Bernet den lokalen Krisenstab vorab über einen möglichen Einsatz informiert hatte, beschloss man, für heute Schluss zu machen.
Fünf Minuten später stiegen die drei Kriminalbeamten der Zürcher Kantonspolizei draußen in den Dienstwagen von Lukas Baumgartner und Melanie Keller. Felber befahl »Zum Bahnhof!«, aber auf halbem Weg bat er Baumgartner, bei einem Gasthaus auf der linken Seite rauszufahren. Er stieg aus, kam nach wenigen Minuten zurück und verkündete, er bleibe über Nacht. »Morgen um 8 Uhr Rapport auf dem Posten«.
Das »Gasthaus Hotel Engel«, das dicht an der Hauptstraße zwischen Rüti und dem Tösstal lag, hatte seine besten Tage längst hinter sich. Die Fassade hätte einen neuen Anstrich vertragen. Auf der einen Seite der Treppe war eine Art Festzelt angebracht, das einmal weiß gewesen war. Als ob das nicht schon reichte, hatte man an die Seitenfassade eine kleine AVIA-Tankstelle gepfropft, deren rot-weiße Überdachung sich mit den blassgrünen Fensterläden des alten Hauses biss. Felber hatte in der kleinen Gaststube Bratwurst und Rösti gegessen und sich dann auf sein Zimmer im ersten Stock zurückgezogen. Durch die altmodischen Vorhänge konnte er auf einen Kreisverkehr und triste Wohn- und Geschäftshäuser neueren Datums blicken. Natürlich hatte er weder Zahnbürste noch Wäsche dabei, aber für einmal übernachten würde es auch ohne gehen. Er rief bei sich zu Hause an und hinterließ seinem Sohn eine Nachricht auf dem Beantworter. Vielleicht war Linus mit Studienkollegen unterwegs, noch an der ETH beim Tüfteln über irgendwelchen neuronalen Netzwerken, oder er saß sehr wohl zu Hause, am Fernseher oder Computer, mit Kopfhörern auf den Ohren, und würde erst später zufällig das rote Blinklicht am Telefon bemerken.
Anschließend wählte Felber die Nummer seiner Freundin Sara Costantino und gab ihr Bescheid, wo er sich aufhielt. Sie wiederum erzählte ihm von ihrem langen Tag an der Schule. Sie sei erst vor ein paar Minuten von einer zermürbenden Fachschaftssitzung in ihre Wohnung in Wollishofen zurückgekommen. Sara und Felber hatten noch getrennte Wohnungen. Felber lebte mit seinem Sohn im Kreis 6 am Fuße des Zürichbergs, seine Tochter war schon ausgezogen. Als Felber nun von den heutigen Ereignissen im Oberland berichtete, horchte Sara Costantino auf. Tatsächlich sagte ihr der Name Kerim Abidi etwas, einer ihrer Schüler habe neulich einen Vortrag über seine Architektur des Hura gehalten.
»Architektur des was?«
»Hura«, erklärte sie lachend, »ist arabisch und heißt ›frei‹. Die Hura-Architektur löst sich bewusst von konventionellen Formen und Strukturen.« Felber sah das windschiefe Haus von Abidi vor sich, während Sara erzählte. Er genoss den Klang ihrer Stimme, sah sie vor sich, wie sie es sich in weiter Yogahose bei klassischer Musik und dem leisen Plätschern eines Zimmerbrunnens auf einem Sessel in ihrer kleinen Wohnung gemütlich gemacht hatte, einen dampfenden Chai und ein Buch vor sich. Aber vielleicht saß sie auch in ihrer ganz gewöhnlichen Arbeitskleidung am Küchentisch und arbeitete für die Schule.
»Was machst du jetzt den ganzen Abend?«, fragte sie amüsiert.
»Unten mit den Einheimischen eine Krumme rauchen und über das Wetter in den Bergen reden.«
Nach dem Telefonat wirkte das Zimmer noch leerer. Er lag auf dem Bett und dachte über die Brandgeschichte nach. Irgendetwas passte nicht zusammen, und Bernet, dieser Dorfsheriff, nahm die Sache viel zu wenig ernst. Am liebsten hätte Felber jetzt gleich eine Suchaktion gestartet. Die Vorstellung, dass Abidi und sein Töchterchen möglicherweise die Nacht irgendwo draußen verbringen mussten, machte ihn ganz nervös.
Es war erst 20 Uhr, schlafen würde er noch nicht können. Felber schaltete den kleinen Fernsehapparat ein, doch es lief nichts, was ihn interessierte. Zu lesen gab es außer einer abgegriffenen Bibel auch nichts. Also beschloss er, nach unten zu gehen und zu schauen, was Dessertkarte und Schnapsbar des »Engel« versprachen.
Mittlerweile hatte sich die Gaststube gefüllt. An einem langen Tisch wurde ein Geburtstagsfest gefeiert, weiter hinten unterhielten sich einige Geschäftsleute mit einem Mann, der mit einem Bierglas an ihren Tisch getreten war. Der Lärmpegel hatte etwas Betäubendes, dennoch hörte Felber – auf solche Dinge geschult – heraus, dass der mit dem Bierglas sich nicht nur belanglos mit den Sitzenden unterhielt, sondern sich heftig mit ihnen stritt, wer weiß warum.