Manfred Ertel
„Hört die Kurve …!“
Vom Ende eines Fußball-Traums – ein ganz persönliches HSV-Lesebuch
VERLAG DIE WERKSTATT
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Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH
ISBN 978-3-7307-0299-4
Inhalt
Vorwort
Die Herausforderung
Der Virus
Der Putsch
Der Anfang
Der Wechsel
Die Fahne
Die Nachfolger
Die deutsch-deutsche Annäherung
Die Steuerlüge
Der Triumph
Der Meistertrainer
Das Jahr 1987
Der Maulwurf
Die Fernsehmacher
Der Gönner
Das Derby
Der Anfang vom Ende
Der Rücktritt
Das Aus
Epilog
Meine ganz persönliche HSV-Chronik
Über den Autor
Vorwort
Wenn eine große Liebe nach fünfzig Jahren oder mehr endet, dann kann man vielleicht Schluss machen, aber nicht einfach so. Zu viele schöne Momente sind normalerweise Teil einer solchen Beziehung, zu groß sind aber auch Schmerz und Verlust, wenn es dann doch vorbei ist. Was läge also näher, als sich noch einmal zu erinnern, an gute und an schlechte Zeiten.
Der Hamburger Sport-Verein, kurz HSV, war mein Klub so lange ich denken kann. Die Beziehung hat einen Knacks bekommen. Im normalen Leben würde man sagen: Wir leben getrennt, aber wir sind noch nicht geschieden. Ob es je wieder eine Chance gibt, zueinander zu finden, ist offen. Denn für mich ist die Beziehungskrise nicht nur das Ende einer großen Leidenschaft, es ist auch die Enttäuschung über das Scheitern einer faszinierenden Idee: das Aus für den Fußball, wie ich mit ihm groß geworden und aufgewachsen bin, wie er von Hunderttausenden geliebt wurde, verkauft an den Kommerz, einfach so; als Neuauflage einer modernen Fassung von Brot und Spiele, als Event für jene, die zu zahlen bereit und in der Lage sind und die sich schon morgen, wenn es angesagter ist, für etwas anderes interessieren: für Basketball zum Beispiel, American Football oder Helene Fischer.
Herausgekommen ist nicht nur ein HSV-Buch, sondern eine sehr persönliche Bilanz über die schönste Nebensache der Welt. Sie zeigt, woran der moderne Fußball bei vielen von uns scheitert; bei denen, die unseren geliebten Ballsport am Ende doch bezahlen sollen. Und wie ein Traditionsverein unter dem Erfolgsdruck durch Eitelkeiten und Intrigen an den Rand des Abgrunds gerät. Sie zeigt aber auch, wie identitätsbildend und emotional Fußball immer noch sein kann, wenn man Fußball einfach nur Fußball sein lässt und ihn nicht zum seelenlosen Event verkommen lässt. Auf der Nordtribüne im Hamburger Volkspark haben die besten Fans immer gesungen „Hört die Kurve…!“, und manches Mal würde so mancher Verein wirklich gut daran tun.
Ach ja, um allen Besserwissern und „Hatern“, wie es neudeutsch heißt, zuvorzukommen: Die Geheimnisse und Vertraulichkeiten, die hier an die Öffentlichkeit getragen werden, sind sehr persönliche und private. Alle anderen Interna sind irgendwann irgendwo schon mal von irgendwem öffentlich gesagt, geschrieben oder durchgesteckt worden, von ehrenwerten Mitgliedern und/oder Maulwürfen. Sie wurden von vielen Beobachtern nur nicht zur Kenntnis genommen.
Ein besonderer Dank für Freundschaft, Loyalität, Unterstützung und Beratung geht an dieser Stelle an Ralf und Verena, Jan, Jojo, Ulli, Björn, Tamara und Christian, stellvertretend für viele Freunde und Mitstreiter in Fanklubs und bei den Ultras von Chosen Few; an meine Söhne Denny und Robin, die immer zu mir gehalten haben und mich manchmal im wahrsten Sinne des Wortes verteidigen mussten. Und natürlich an meine liebe Krista, die sich Sorgen um mich gemacht hat, als ich mich Hals über Kopf dem Profi-Fußball und seinen ungeschriebenen Regeln zum Fraß vorwarf, die aber alles mit großer Gelassenheit und grenzenloser Großzügigkeit ertragen hat: meine Wut, meine Wunden, meine Zeitverschwendung.
Es war trotz allem eine geile Zeit: Dankbar rückwärts!
Die Herausforderung
Fünfundvierzig Minuten für knapp achtzig Kilometer, das müsste doch eigentlich reichen? Ich sitze in meinem Zimmer in der Redaktion, im 11. Stock mit Blick über die historische Speicherstadt, und versuche mir einen Plan zu machen für diesen wichtigen Tag. Ich bin nervös. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich unter mir, wie der Strom der Hauptverkehrszeit die Innenstadt hochkriecht und sich durch die Hafen-City und den Deichtortunnel Richtung Elbbrücken schiebt.
Ich muss durch dieses Nadelöhr hindurch, auf die Autobahn, an Stillhorn vorbei. Es muss das wohl meistgehasste Stück Autobahn Deutschlands sein, wenn man mal die Münchner Strecke zum Brenner ausnimmt. Immer nur Baustellen, Tempolimit, Staus, Überlastung. Highway to hell. Nie ist auf etwas Verlass auf diesem Teilstück am Rande Hamburgs, zwischen Wohnsilos, Hafenindustrie und der alten Giftmüllkippe Georgswerder, wo man am liebsten umkehren würde, egal ob man aus der Stadt raus oder ob man rein will. Einfach nur weg. Nicht einmal auf den Verkehrsfunk kann man bauen, dass die Typen da schnell genug mitkriegen, was auf der Autobahn abgeht. Und zu spät zu kommen, ausgerechnet heute, das geht gar nicht, das wäre Blamage pur. Ich darf den Termin nicht vermasseln.
Es ist 12.45 Uhr an diesem sonnigen Tag im Mai 2013, als ich mich aus meinem Büro drücke und möglichst unbemerkt mit dem Fahrstuhl abseile. Es muss ja niemand sehen, dass ich mir den Nachmittag frei nehme für die wichtigste Nebensache der Welt. Schließlich will ich gleich den neuen Sportchef für meinen Verein casten, oder zumindest einen der aussichtsreichsten Bewerber für diesen Posten. Er ist wichtig für die sportliche Entwicklung des Vereins. Wie wichtig, das haben wir leidvoll erfahren in den zurückliegenden Jahren, als wir viel zu oft und viel zu lange ohne einen (guten) Sportchef auskommen mussten.
Ich komme besser durch als befürchtet. Die Elbbrücken liegen schon hinter mir, als ich im Kopf wieder und wieder die Stichworte durchgehe. Ich bin aufgeregt wie beim ersten Mal. Und irgendwie ist es das ja auch. Seit rund vier Monaten bin ich nun in meinem neuen Amt, an der Spitze des Aufsichtsrates. Der muss laut Klubsatzung den Vorstand kontrollieren. Aber vor allem muss er die Mitglieder des Vorstands vorher auch aussuchen und einstellen. Und gegebenenfalls wieder feuern. Jetzt bin ich also dran. Ein neuer Sportchef muss gefunden werden. Jemand, der den Profifußball beim HSV sportlich führt und neu justiert. So hat es die Mehrheit von uns gewollt. Und natürlich nicht irgendeinen. Sondern jemanden, der uns endlich wieder dahin bringt, wo wir hingehören, zumindest gefühlt. Und das ist Europa. Und ich soll heute den ersten Schritt dazu machen.
Plötzlich ganz vorn
Ist es wirklich das, was ich immer gewollt habe? Nach über 40 Jahren in der Kurve, immer mittendrin statt nur irgendwie dabei. Und nun auf einmal vorneweg. Nicht mehr nur unterwegs für meinen Lieblingsverein, nicht länger nur ehrenamtlicher Autor für das Mitgliedermagazin Supporters News oder Moderator unseres Fan-TV. Nicht weiter nur ein „Aktivist“ im Vereinsleben, zuletzt als Kontrolleur im Aufsichtsrat. Nein, jetzt bin ich dessen Vorsitzender und muss Verantwortung übernehmen.
Nicht Kommerz um jeden Preis, sondern die Tradition pflegen und die soziale Verantwortung des Vereins stärken.
Gute Freunde hatten mich gewarnt und mir dann doch zugeredet. „Wir haben das immer gewollt, jetzt musst du springen“, haben sie gesagt und mich gleichzeitig mit Sorgen überschüttet: „Aber pass auf dich auf.“ Das passt heute besonders gut. „Wer sich zu dicht ans Feuer wagt, verbrennt sich leicht“, hatte ein anderer mir mitgegeben, „die machen dich kaputt“. Einer meiner besten Kumpel war am deutlichsten: „Kannst du das? Traust du dir das zu? Willst du das riskieren? Sie werden dich jagen“, hatte er gesagt und das auch so gemeint. Und zwar in dieser Reihenfolge. Doch dann hatte er nachgeschoben: „Aber wir sind ein Mitgliederverein, und wir wollten das so, wir wollten Verantwortung übernehmen, du auch.“ Ein konditioniertes Ja nennt man das wohl.
Und ich, was wollte ich eigentlich? Fußball – das war mein Leben, und der HSV war es ganz besonders. Schon von Kindesbeinen an.
Dann waren wir irgendwann angetreten, ein paar Freunde und ich, zusammen mit Gleichgesinnten, den Verein zu verändern, unseren Verein ein Stück mehr zu „unserem“ Verein zu machen. Nicht Kommerz um jeden Preis, sondern die Tradition pflegen und die soziale Verantwortung des Vereins in Hamburg und der Region stärken. Nicht mehr so kalt und aseptisch wie unter der alten Führung von Bernd Hoffmann, als unsere Vertreter sogar auf DFB- und DFL-Tagungen isoliert herumstanden.
Kein Verein als „Marke“, ein Verein zum Anfassen, Gernhaben und Mitmachen schwebte uns vor. Nicht Mitglieder und Fans als Konsumenten und lästige Beigabe verstehen, sondern sie mitnehmen, einbinden, ihre Potenziale nutzen. Den Präsidenten nicht wie einen Patriarchen über das Vereinsreich schalten und walten lassen, sondern penibel kontrollieren. Wir wollten das, und wir können das.
Kontrolle der Mächtigen in Politik und Wirtschaft – als Journalist für das wohl wichtigste politische Nachrichtenmagazin des Landes war es für mich zur Berufung geworden. Warum also die nicht auch für mein zweites Leben nutzen, für meine Fußballideale? Auch andere Freunde brachten gute Voraussetzungen mit, vielleicht keine großen Namen, aber die nötigen Qualitäten und das Herz an der rechten Stelle.
Jetzt konnten wir den nächsten Schritt machen. Kann man so eine Chance wirklich an sich vorbeiziehen lassen, wenn man etwas bewegen und mitgestalten, etwas verändern will? Und ist es nicht auch ein bisschen Wunschtraum, den man sich selbst nach all diesen Jahren verwirklichen kann? Und will?
Jetzt sitze ich im Auto Richtung Süden und bin auf dem besten Weg, etwas zu bewegen, mitzugestalten. Von möglichen Problemen habe ich noch keinen blassen Schimmer. Ich verlasse mich auf uns. Der neue Aufsichtsrat ist gut zusammengestellt. Verschiedene Qualifikationen und Werdegänge ergänzen sich. Wir haben Finanzexperten und Controller dabei, Unternehmenslenker und Juristen, Fans und frühere HSV-Präsidenten. Und bis hierhin ging ja auch alles ziemlich glatt, noch. Einige von den „Alten“ hat-ten von sich aus das Handtuch geworfen und auf eine erneute Kandidatur verzichtet, den meisten weine ich keine Träne hinterher. Außer vielleicht Alexander Otto. Im Sommer des Vorjahres, als Ernst-Otto Rieckhoff zurücktreten musste, hatte ich viel Kraft darauf verwendet, Otto zu überzeugen, zumindest für eine Übergangszeit bis zur nächsten Mitgliederversammlung den Vorsitz zu übernehmen. Es ging wirklich um Überzeugen, überreden lässt sich so einer wie er nicht. Otto hat als Unternehmenschef und Firmengründer fast alles erreicht, er muss sich nichts mehr beweisen.
Es ging auch darum, ein Stück Vertrauenskultur zurückzugewinnen, für den Verein, für den Aufsichtsrat, für uns. Und dafür war Alexander Otto, Prototyp eines hanseatischen Kaufmanns und sozial engagierten Millionärs, genau der Richtige: erfolgreich und auf Konsens ausgerichtet, kommunikativ und bereit zur Team-Arbeit.
Das war nicht selbstverständlich an der Vereinsspitze. Und das hatte ich in meinen ersten zwei Jahren im Rat schmerzlich erfahren müssen. Hinter den Kulissen, da war bisweilen mehr los als bei unserer Mannschaft auf dem Rasen. Befürchtet hatte ich das immer. Nun, wo ich selbst hin und wieder mal den Vorhang lüften konnte, hatte ich Gewissheit.
Anfangs verstand ich zum Beispiel nicht, warum einer meiner Vorgänger, Ernst-Otto Rieckhoff, im Verein den Spitznamen „Sonnenkönig“ weghatte.
Ältere Mitglieder, die lange dabei waren, länger als ich, kolportierten den Ruf genüsslich und keineswegs ironisch. Inzwischen wusste ich, warum: Um den Sonnenkönig herum standen alle anderen im Schatten, zumindest offenbar für ihn selbst. Das war angeblich schon bei seinem früheren Arbeitgeber, einem Mineralölkonzern, so, erzählten zumindest die Alten. „Lass mich mal machen“, das waren Rieckhoffs liebste Worte, als ich an seine Seite rückte. Das galt für Abfindungsgespräche mit Ex-Vorständen und -Sportchefs ebenso wie für Vertragsverhandlungen mit neuen Kandidaten. Dazu traf man sich auch gern mal im noblen Fischrestaurant am Hafen. „Ich mach das schon“, war sein Lieblingssatz. Er hätte auch sagen können: Friss oder stirb. Denn was er mir als Stellvertreter damit abverlangte, und auch den anderen Räten, waren absolutes Vertrauen und totale Loyalität. Und Unterordnung. Gerade das sollte es in einem Mitgliederverein aber eigentlich nicht geben. Und auf eitle Machtspielchen alternder Männer hatte ich so überhaupt keinen Bock.
Trotzdem war es bis zur Mitgliederversammlung im Juni 2012 zwischen uns ganz gut gegangen. Wir waren in der abgelaufenen Saison nur 15. geworden. Das lag weit hinter unserem Anspruch, wieder einmal. Es gab einiges zu besprechen, glaubte ich. Sportlich. Aber manche im Klub hatten ganz andere Probleme. Rieckhoff und Horst Becker, sein Vorgänger, wollten einen anderen Verein. Sie warben zum Beispiel für eine Verkleinerung des Aufsichtsrates und die Einführung der Briefwahl. Beides hoch umstritten im Verein. Und beides erkennbar ohne Mehrheit. Sie sprachen von mehr Demokratie bei wichtigen Entscheidungen, ihre Gegner befürchteten genau das Gegenteil: mehr Manipulationen und die Ausgrenzung von Mitgliedern und Fan-Interessen. Von erfolgreicherem Fußball war keine Rede.
Um den Sonnenkönig herum standen alle anderen im Schatten.
An Rieckhoffs und Beckers Seite gesellte sich unter anderem unser Medizin-Professor im Aufsichtsrat. Eigentlich ein Fan von Rot-Weiss Essen, später Schalke 04. Mit seinem Wechsel nach Hamburg hatte er auf einmal sein Herz für den HSV entdeckt, zumindest für das Ehrenamt und damit für den gesellschaftlichen Rahmen, den er sich offenkundig davon versprach. Er hatte selten Zeit für unsere Sitzungen, aber er wusste fortan alles besser, was gut für den HSV sei. Vereinsdemokratie gehörte nicht dazu.
Natürlich konnte man über Vorschläge zur Reform der Vereinsstrukturen durchaus nachdenken und streiten. Es gab etliche Mitglieder, vor allem unter den Fans, die irgendwo weit weg in Deutschland zu Hause waren, die zum Beispiel einer Fernwahl in der Theorie etwas abgewinnen konnten. Nur: Wie praktisch umsetzen und zugleich Manipulationen in der Anonymität des Internets ausschließen? Außerdem leben 75 Prozent unserer Mitglieder in und um Hamburg herum. Wir sind der Hamburger Sport-Verein, unser Vereinsleben findet nun mal in Hamburg statt. Und Mitgliederversammlungen sind das höchste Vereinsorgan und Beschlussgremium, nicht nur in Fußballvereinen. Wir debattierten die Vorschläge deshalb auch innerhalb unseres Gremiums heftig, manchmal sogar konstruktiv. Aber der Vorstoß auf der Mitgliederversammlung im Juni 2012 kam aus dem Hinterhalt. Und mit der Ruhe war’s endgültig vorbei.
Unerwartete Attacke
Die Versammlung läuft bereits seit Stunden, als Rieckhoff noch einmal am Rednerpult steht. Es geht jetzt um die Verkleinerung des Aufsichtsrats. Es ist heiß, vielleicht zu heiß, nur ein laues Lüftchen weht durchs Stadion. Die Mitglieder erwachen aus ihrer Lethargie, unser Vorsitzender sonnt sich in seiner Rolle. Er spricht zu den Mitgliedern auf der Tribüne, meint aber uns, seine Kollegen, die ihm im Weg stehen, als er den Aufsichtsrat auf einmal zum Rücktritt auffordert. Wir sollen freiwillig unsere Ämter niederlegen, verlangt er, um Platz zu machen für eine Reform. Seine Reform, die Amputation des Rates, für die es gar keine Mehrheit gibt. Noch jedenfalls nicht.
Die Rücktrittsforderung ist ein Paukenschlag, ein Schuss aus der Deckung, ein Putsch. Ohne jede Vorankündigung. Mit uns Aufsichtsräten, zumindest mit der Mehrheit und erst recht mit mir als seinem ersten Stellvertreter, hatte er vorher nicht darüber gesprochen. „Manfred, wir sind enger beieinander, als du manchmal glaubst“, das sagte er zwar häufiger zu mir, wenn er Nähe suchte und Unterstützung brauchte. „Wir ziehen am selben Strang.“ Nur: In welche Richtung, das wollte er offenbar allein bestimmen.
Ich bekomme endlich auch das Wort und bin sprachlos. „Vertrauensbruch“, fällt mir als Erstes ein, ich werfe ihm vor, einen wohlkalkulierten Alleingang ohne Absprache und ohne Mehrheit geplant zu haben, einem hinterhältigen Umsturzversuch gleich. Ich leiere noch einmal meine Argumente gegen eine Verkleinerung herunter. Neu sind die nicht. Denn natürlich zielt Rieckhoffs Versuch nur darauf, Leute wie mich, Fans und einfache Mitglieder, von Macht und Einfluss fernzuhalten. Und vor allem, uns keinen Einblick zu gewähren. Ich hatte das mehrfach zum Thema gemacht.
Ich gebe mir Mühe, die Form zu wahren und meine Empörung in diplomatische Worte zu kleiden.
Kollegen und Mitglieder auf den Sitzen der Tribüne sind weniger zimperlich. Sie schimpfen und rufen dazwischen. Aber natürlich hat Rieckhoff auch Unterstützer, die ebenso heftig auszuteilen wissen. Da ist er wieder, der gespaltene Verein, die Medien haben ihr Thema. Die Wut auf Rieckhoff ist groß, die Unterstützung für seine Idee nicht. Er bekommt nicht die nötige Mehrheit, noch nicht.
Am nächsten Tag tritt er zurück, das sagt er mir am Telefon. Ob’s ehrlich gemeint ist? Ich denke ja, jedenfalls kommt die Botschaft bei mir so an.
„Den Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden finde ich konsequent und logisch“, antworte ich ihm, als er mich im Büro anruft: „Du hast unser Vertrauen gebrochen. Aber einfaches Mitglied im Aufsichtsrat kannst du meiner Meinung nach bleiben. Jeder macht mal Fehler, jeder hat einen zweiten Versuch gut.“
Was für ein kapitaler Irrtum von mir. Ich habe sicher einige Fehler gemacht in meiner Amtszeit, das war wohl einer meiner größten. Ich dachte, es geht doch nur noch um ein paar Monate bis zur Nachwahl des halben Rates im Januar, bei der er ohnehin keine Chancen mehr haben würde. Aber ich hatte ihn unterschätzt. Denn von nun an arbeitete er gegen mich, gegen uns, gegen alles, was ihm nicht passte. Daran änderte auch nichts, dass es mir und anderen gelang, Alexander Otto tatsächlich für die Übergangszeit als Vorsitzenden zu gewinnen. Für ein gutes halbes Jahr, vom Sommer 2012 bis zur teilweisen Neuwahl des Aufsichtsrates auf der Mitgliederversammlung im Januar 2013. Immerhin.
Konspiratives Warm-up
Ich bin schon von der Autobahn runter und gut in der Zeit, als mir das alles noch einmal durch den Kopf geht, im Zeitraffer, tack, tack, tack, wie unsere Stadionuhr. Das Dino-Barometer, das bis auf die Sekunde anzeigt, wie lange wir als einziger Bundesligaklub inzwischen ununterbrochen in der Liga sind. In einem kleinen Heide-Hotel wenige Kilometer vor Soltau will ich den möglichen Sportdirektor treffen, konspirativ, weil wir die Medien nicht zu früh wild machen wollen. Die haben sowieso ihre eigene Agenda. Magath, Hrubesch, von Heesen, am liebsten sollen alle zusammen kommen, immer das gleiche Lied. Die Alten sollen es richten, zurück in die Zukunft. In Blogs und groß aufgemachten Artikeln versuchen uns die selbst ernannten HSV-Experten mit Gerüchten zu manipulieren. Und wir wollen das nicht zulassen. Erfolgreiche Vergangenheit lässt sich nicht einfach wie durch eine Zeitmaschine wiederbeleben.
Im kleinen Kreis haben wir uns Gedanken über ein Anforderungsprofil für unseren Neuen gemacht, der Vorsitzende des Rates, seine beiden Stellvertreter und der Sprecher des Finanzausschusses. Bloß nichts durchsickern lassen, das ist unser Ziel, es gibt im Verein seit Jahren eh schon Indiskretionen genug. Deshalb haben wir den Kreis bewusst klein gehalten und uns dafür das Mandat der Kollegen geholt. Wir haben notwendige Qualifikationsmerkmale diskutiert und Präferenzen formuliert. Wir haben Namen aufgerufen und wieder verworfen. Am Ende blieben drei Kandidaten übrig. Und ich bekam den Auftrag, mit allen dreien Vorgespräche zu führen, um Möglichkeiten und Bereitschaften zu erkunden.
Aber wie sondiert man unerkannt, unter den Augen der Öffentlichkeit bzw. den Blicken einer gierigen Journalisten-Meute, die Tag für Tag Spalten und Seiten füllen muss, und das nicht nur, wenn es wirklich etwas zu berichten gibt? Und die dabei zum Teil ganz eigene Interessen verfolgt. Ich bin Journalist mit langer investigativer Erfahrung und nicht doof. Ich weiß, wie man Geheimnisse oder vertrauliche Abreden aufbohrt. Und auch, wie man das am besten verhindern kann. Regel Nummer eins: Nicht darüber reden, Treffen nicht in Hamburg, nicht auffallen, keine Dritten hinzuziehen, jeden offiziellen Charakter vermeiden.
Er ist auf dem Markt, hat sich von seinem letzten Arbeitgeber getrennt, sein Renommee ist gut.
Mit dem Finger auf der Landkarte entschied ich mich für das kleine Konferenz-Hotel am Rande der Heide, auf halbem Weg zwischen meinem Gast und mir. Ich reservierte als Privatmann eine Suite, bestellte belegte Brötchen und Softdrinks aufs Zimmer und war guten Mutes: Passt.
Jetzt bin ich wenige Kilometer vor dem Ziel. Für die schöne Landschaft, die in warme Frühsommersonne getaucht ist, habe ich keinen Blick. Fachwerkhäuser fliegen vorbei, gemütliche Dorfkrüge, kleine Wäldchen, Wiesen- und Knicklandschaften, wie in eine watteweiche Traumwelt gegossen. Kein wirkliches Interesse, heute geht es nur um Fußball. Der Verkehr ist spärlich, nur wenige Autos sind um diese Zeit unterwegs, die Wahl scheint passend gewesen zu sein. So abgelegen von der pulsierenden Großstadt, was soll da schon passieren? Der Schock kommt auf dem Parkplatz: Der ist voll besetzt. Lauter Hamburger Kennzeichen. Na klar, Konferenzhotel vor den Toren der eigenen Stadt, einer Handels- und Wirtschaftsmetropole, wie blöd kann man eigentlich sein? Immerhin liegt die von mir gebuchte Suite im anderen Flügel des Hotels, abseits von den Tagungsräumen. Und als mein Gast endlich auf den Hof fährt, kann ich ihn ohne großes Aufsehen durch einen Nebeneingang ins Haus lotsen.
Im Zimmer sitzen wir wie bei einem Blind Date, zwei Kerle beim ersten Warm-up, wie im schlechten Film. Er ist auf dem Markt, hat sich von seinem letzten Arbeitgeber getrennt, sein Renommee ist gut. Die Chemie zwischen uns auch, das Gespräch läuft schnell in angenehme Bahnen, ohne dass wir uns lange wie zwei Boxer abtasten. Wir reden über Fußball, natürlich, über seinen Ex-Verein, meinen Klub und unsere Visionen. Und wir suchen nach gemeinsamen Schnittmengen, wie man in der Politik sagt.
Wir haben als Verein wenig Geld, wollen auf die Jugend setzen, einen Neuanfang finden, mit jungen Spielern aus der Region, sage ich. Hamburger Nachwuchsspieler wie Kruse, Harnik, Sam sollen nicht immer nur bei anderen Vereinen ihren Durchbruch schaffen, sondern am liebsten auch mal bei uns.
„Die Qualität von Spielern wie Bruma, Mancienne, Sala muss man auch in Deutschland bekommen können“, ist seine Antwort. Und: „Habt ihr einen wie Daniel Schwaab überhaupt auf dem Zettel?“
Haben wir. Oder besser gesagt: Hatten wir. Ein Transfer wäre finanziell machbar gewesen. Doch der Abwehrmann von Bayer Leverkusen war unseren sportlich Verantwortlichen nicht gut genug, er ging später zum VfB Stuttgart. Aber die konzeptionellen Ideen des Kandidaten, sie scheinen etliche Gemeinsamkeiten mit unseren Vorstellungen zu haben.
Das Gespräch erreicht den Punkt, an dem die Worte besonders offen sein müssen. „Wie steht’s mit der Presse?“, frage ich: „Es heißt, Sie hätten ein gestörtes Verhältnis zu den Medien“, vor allem zum selbst ernannten Zentralorgan mit den vier großen Buchstaben. „Ich mache alles mit, lasse aber nicht alles mit mir machen,“ lautet seine Antwort.
Passt, der Mann gefällt mir. Viel zu oft sucht der Fußball den Schulterschluss mit den Massenmedien, die plumpe Kumpanei, auch in Hamburg. Viel zu sehr wird über Bande gespielt: Hilfst du mir, helf’ ich dir. Je größer die Schlagzeilen, desto besser das Gegengeschäft für den Informanten. Das ist vielleicht gut für die Auflage und die Wertschätzung des Maulwurfs bei einzelnen Journalisten, meist aber nicht für den Verein.
Alles gut, denke ich. Noch schnell die Gretchenfrage: Was wollen Sie verdienen? Ich frage ganz direkt, ohne lange herumzueiern. Er zögert nur kurz.
Zurück auf der Autobahn bin ich zufrieden mit mir. Und mit ihm. Fast schon ein bisschen euphorisch. So einfach hatte ich es mir nicht vorgestellt. Gute Leute müssen also nicht zwangsläufig auch Arschlöcher sein. Das könnte was werden. Ich bin mit meinen Gedanken weit weg, als ich mich wieder Stillhorn nähere. Und dann sehe ich es: Bremslichter. Stau. Highway to hell. Am liebsten würde ich umdrehen, bloß weg.
Der Virus
Wann mich der Virus befiel, das ist nicht mehr genau auszumachen. Es muss irgendwann Ende 1959 oder Anfang 1960 gewesen sein. Das legendäre Tor von Uwe Seeler im Qualifikationsspiel zur Deutschen Meisterschaft gegen Westfalia Herne im Juni 1960 jedenfalls, als er nach einer Flanke, halb unter Nationaltorwart Hans Tilkowski auf dem Boden liegend, den herabfallenden Ball per Fallrückzieher ins Tor schießt, ist fest in meinem Kopf. Und zwar schon in bewegten Bildern. Aus den Anfängen des Fernsehens.
Dass es mich richtig erwischt hatte, muss meinen Eltern spätestens am 25. Juni 1960 klar geworden sein. Es war ein Sonnabend, und es war ziemlich warm, alle Augenzeugen sprachen hinterher von schwüler Hitze im Frankfurter Waldstadion. Die ganze Stadt schwitzte Fußball, wahrscheinlich das ganze Land, aber um das zu bemerken, war ich noch zu klein.
Ich besetzte früh am Nachmittag einen Sessel in unserem Wohnzimmer und stellte zufrieden fest, dass mein Vater nicht etwa schlief, wie so oft nach seinen Nachtschichten. In unserer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung plus Küche – das Klo mussten wir mit der Vermieterin teilen – war das durchaus von Bedeutung. Denn unser Wohnraum war zugleich das Schlafzimmer der Eltern. Zum Schlafen wurde der Wohnzimmertisch vor den mächtigen Schrank geschoben und die Couch zum Bett aufgeklappt. Für den Fernsehsessel war dann kein Platz mehr und für Kinder schon gar nicht. „Ab in dein Zimmer“, hieß es dann. Das war ein gut 1,50 Meter schmaler, etwa drei Meter langer und spitz zulaufender Schlauch mit zwei Türen. Nur mit Hilfe eines Wandklappbettes bot er überhaupt etwas Platz und wurde dem Anspruch „Zimmer“ zumindest halbwegs gerecht.
Neben den Sessel stellte ich die Miniaturausgabe eines Fahnenmastes auf den Wohnzimmertisch, 30 Zentimeter hoch vom Fuß bis zur Spitze. An einem dünnen Band konnte man einen kleinen Wimpel mit der HSVRaute hissen und notfalls auch auf Halbmast setzen. Aber das war ja nicht vorgesehen. Zehn Zentimeter lang war der Wimpel vielleicht, so wie man ihn damals an einer kleinen Sprungfeder auf das vordere Schutzblech von Fahrrädern oder Ballonrollern montieren konnte.
Das Endspiel: Ein Anfang
Nervös wartete ich auf den Anpfiff. Der HSV spielte gegen den 1. FC Köln um die Deutsche Meisterschaft. Der große Favorit mit den Nationalspielern Hans Schäfer, Georg Stollenwerk, Karl-Heinz Schnellinger, Helmut Rahn, Leo Wilden, Karl-Heinz Thielen und wie sie alle hießen. Gegen den HSV mit Deutschlands neuem Idol Uwe Seeler, mit Klaus Stürmer und Gert „Charly“ Dörfel. Aber sonst? Zwei Endspiele hatten die Hamburger zuletzt verloren, 1957 und 1958, dazu noch das Pokalfinale 1956, jetzt versuchten sie es mit einer neuen, stark verjüngten Truppe, die vor allem eines auszeichnete: Elf Hamburger standen da auf dem Platz.
Ich kauerte vor dem Fernseher, der Bildschirm war klein, das Bild damals noch schwarz-weiß. Das Zeitalter der bewegten Bilder hatte eigentlich gerade erst angefangen. Zum Massenmedium war Fernsehen erst im Oktober 1957 geworden, rund eine Million Geräte standen damals in deutschen Haushalten, wir waren nicht dabei. Wir konnten uns eine Fernsehtruhe erst sehr viel später leisten, immerhin noch rechtzeitig zum Endspiel. Die WM in Schweden 1958 mit den berühmten Schlachtgesängen „Heja Sverige“ und Uwe Seelers Feuertaufe bei einem großen internationalen Turnier hatte für mich noch vor dem Radiogerät stattgefunden, das Ohr immer dicht am Lautsprecher neben dem legendären grünen Auge des Röhrengeräts.
Mein Vater mochte Fußball, aber nicht den HSV.
Kurz vor dem Anpfiff kam mein Vater dazu. „Was soll das denn?“ Er zeigte auf meinen HSV-Wimpel mit der Raute, als traute er seinen Augen nicht: „So’n Tinnef! Nützt sowieso nix!“ Immerhin verbot er mir den Aufzug nicht. 1:0 für mich.
Mein Vater mochte Fußball, aber nicht den HSV. Nicht dass er eine Zecke war. Aber wenn er zu größeren Spielen ging, dann zu den Braunweißen vom FC St. Pauli. Dem ewigen Konkurrenten in der Stadt. Wunstorf, Porges, Osterhoff, das war seine Welt. Hinter dem Tor am Millerntor stand er dann, stritt mit Zuschauern, die nicht seiner Meinung waren, und pflaumte, wenn’s nicht lief, abwechselnd den eigenen Torwart und notfalls auch den Schiedsrichter an. „Du Gurke“, brüllte er mal Harry Wunstorf zu, dem legendären Keeper der Paulianer, „mit der Mütze musst du den holen“.
Und dem Schiedsrichter, der am Millerntor damals praktisch durch die Kurve zu den Umkleidekabinen musste, sagte er auch gern, was er von ihm hielt: „Pfeifenheini“. Mit dem HSV hatte mein Vater nichts am Hut. „Lackaffen“ waren das für ihn, warum, das hat sich für mich nie so recht erschlossen. Er hielt die Rothosen für Geldheinis und St. Pauli wohl für einen Arbeiterverein, der besser zu ihm passte.
Mein Vater war ein herzensguter Kerl, ich mochte ihn sehr. Aber manchmal war er mir peinlich, vor allem beim Fußball. Ich musste, wenn meine Mutter arbeitete, als Kleiner oft mit ans Millerntor zu den Zecken, wie sich die Pauli-Fans heute ironisch selbst nennen. Sonntagvormittags ging er mit mir dann auf die Grandplätze im Viertel, den unterklassigen Vereinen beim Kicken zuschauen und mit anderen Besuchern schnacken. Das war Fußball in seiner reinsten Art. Danach ging’s zum Frühschoppen in die Kneipe. Er drei kleine Bier, ich ’ne Limo und ’ne Dauerbrezel, bis das Mittagessen fertig war.
Bei meinen eigenen Spielen hatte ich ihm früh Stadionverbot erteilt. Ich spielte, seit ich neun war, in Barmbek beim SC Adler 25, der später mit Uhlenhorst Hertha zu UH-Adler fusionierte. Heute spielen die in der Bezirksliga, das ist im Hamburger Fußball die 7. Spielklasse. Erst viel später ging ich zum SC Sperber Hamburg, der damals zweitklassig spielte. Ich kam so viel rum in der Stadt, lernte Hamburg aus der Sicht von Grandplätzen und Rasenfeldern kennen, bis in die entlegensten Ecken, an der Landesgrenze. Meist war ich Mittelläufer oder Halbstürmer, später Libero, weil ich ein gutes Stellungsspiel hatte und am Ball ganz gut war, mit präzisem Schuss und Passspiel, aber zu langsam für großes Tempo. Manchmal spielte ich auch im Tor, und das ebenfalls ziemlich ordentlich. Ich konnte gut fangen und war mutig genug, mich auch „zu schmeißen“. So nannte man das im Hamburger Straßenjargon der 1960er Jahre, wenn Torhüter auch auf Grand ohne Rücksicht auf Schrammen und Wunden nach den Bällen hechteten.
Mein Vater stand anfangs meist neben unserem Tor, kommandierte die Abwehr, schimpfte mit dem Trainer oder dem Schiedsrichter und, wenn das nicht half, auch mit mir oder meinen Mitspielern. Er konnte es einfach nicht lassen. „Schläfst du?“, oder „Decken, du Döspaddel, der steht doch ganz frei“, rief er dazwischen – Wichser und Hurensohn waren offenbar noch nicht erfunden. Mir war damals schon das unangenehm, ich schämte mich oft dafür. Ich erinnere mich noch wie heute: Wir spielten auf dem Sportplatz Birkenau, ein trister Acker hinter der Kunsthochschule. Wir in Weiß-Rot, den Vereinsfarben von Adler, unser Gegner Hanseat in schwarzen Hosen und weinroten Hemden, 1. Schüler.
Ich weiß nicht mehr, ob es schlecht lief für uns, schlechter als normal. Auf jeden Fall versuchte mein Vater unsere Abwehr bei einer Ecke für den Gegner mit lauten Anweisungen umzudirigieren. „Kurze Ecke, jeder seinen Mann! Hört auf zu pennen“, brüllte er. „Geh weg“, sagte ich zu ihm, „ich will das nicht mehr hören. Ich will nicht, dass du weiter zuguckst.“ Und das Überraschendste: Von dem Tag an kam er nie wieder.
So wie dieser Tag mein Verhältnis zu meinem Vater veränderte, so veränderte jener 25. Juni 1960 mein Verhältnis zum Fußball. Der HSV gewann nach 0:1-Rückstand mit 3:2, Uwe Seeler schoss zwei Tore, den Siegtreffer, der eigentlich Klaus Stürmer gehörte, drückte er in der 88. Minute praktisch nur noch über die Linie. Stürmer hatte zuvor nach einer Flanke Torwart Fritz Ewert überlupft. Mein Wimpel wehte am Topp.
Ein Bild prägte sich mir damals so ein, dass es bis heute auf meiner inneren Festplatte eingebrannt ist: Uwe Seeler auf den Schultern jubelnder Fans auf dem Rasen des Waldstadions, in dunklem Hemd und weißer Hose. Das Trikot war blau, schlicht und schmucklos, nur die Raute auf der Brust. Natürlich konnte man die Farbe auf dem Bildschirm nicht erkennen, das Farbfernsehen brauchte noch über sieben Jahre.
Hamburg war im Ausnahmezustand. Am nächsten Tag, als die Mannschaft mit dem ehrwürdigen TEE, rot und gelb, am Dammtor-Bahnhof ankam, sollen 20.000 Menschen entlang der Rothenbaumchaussee Spalier gestanden haben. Die Spieler fuhren in offenen VW-Käfern zum Stadion am Rothenbaum mitten in der Stadt, wo der HSV damals zu Hause war. Hier bejubelten noch einmal gut 30.000 Menschen den neuen Meister, andere Quellen sprechen von insgesamt 100.000 begeisterten Fans zum Empfang. Ich saß vor dem Fernseher, ich war noch zu klein und durfte nicht dabei sein, mein Vater hatte es verboten. Aber der Virus, der Virus hatte mich angesteckt.
Meine Tage definierten sich jetzt immer mehr nach meinem Verein.
Meine Karriere als Fan begann. Meine Tage definierten sich jetzt immer mehr nach meinem Verein. Ich stand stundenlang bei Wind und Wetter vor dem Eisentor des Platzes am Rothenbaum und wartete vor und nach dem Training auf die Spieler, um sie Autogramme in meine Alben schreiben zu lassen. Ich lungerte da mit einigen Freunden rum, die häufig auch Konkurrenten waren. Wir kämpften um jede einzelne Unterschrift. Wir hatten immer neue Fotos, Mannschaftsbilder, Spielszenen, Porträts, ich auch. Nie hatte ich genug. Nach dem Training, wenn die Spieler über die Straße zum Vereinslokal auf der anderen Seite mussten, versuchte ich mit ihnen durch den Nebeneingang zu schlüpfen. Was kaum einmal gelang.
Hinter der Haupttribüne gab es einen kleinen Bolzplatz aus Sand. Eines Nachmittags war kein Training. Alle wussten das offenbar, außer mir, der wie immer vor dem Tor stand, und Gert Dörfel. „Charly“ riefen sie ihn, weil er so viel Quatsch machte und manchmal nicht gerade den tiefen Teller erfunden zu haben schien. Dörfel war immer ein bisschen anders, und er war neidisch auf Uwe Seeler, den „Bomber“, auf Jürgen Werner, den Intellektuellen, auf Klaus Stürmer, das gut aussehende Talent. Aber er war ein klasse Linksaußen, wie wir ihn in Deutschland selten hatten. Ein Flankengott und torgefährlich dazu. Dörfel, Seeler, Tor – so hieß es damals oft nach seinen Flankenläufen.
Jetzt stand er wie vergessen auf dem Bolzplatz, auf dem sie sich sonst warm machten, und schoss lustlos den Ball gegen die Tribünenwand aus Holz, dass es nur so schepperte, noch mal und noch mal. Ich traute mich aufs Gelände, was eigentlich streng verboten war („Eltern haften für ihre Kinder“). Und Charly rief: „Ey, Lütter, hol ma’ den Ball, man“, als einer versprang, „mach mal ’n beten to“.
So ging das eine Weile, Charly bolzte, und ich machte den Balljungen. Ich empfand das durchaus als Ehre. Wer von den anderen konnte so eine Geschichte schon erzählen? Als Dank bekam ich Autogramme und eine ganz persönliche Widmung für meine neueste Errungenschaft, ein Sortiment von Schwarz-Weiß-Fotos der aktuellen Nationalspieler, zu denen Dörfel damals gehörte. Das Album mit den Fotos steht noch heute bei mir im Regal.
Dörfel, Seeler, Tor.
Es dauerte noch ein Jahr, bis meine Mutter mich im Sommer, rechtzeitig vor meinem Geburtstag, eines Tages fragte: „Was wünschst du dir? Hast du schon einen Wunschzettel geschrieben?“ Die Frage war lieb gemeint, aber ziemlich rhetorisch. Denn geschenkt wurde damals vor allem „etwas Nützliches“, wie meine Mutter gern sagte.
Meine Eltern mussten ihr Geld zusammenhalten, mein Vater war einfacher Hafenarbeiter, meine Mutter verdiente etwas durch Putzen bei einem Augenarzt dazu. Wenn ich mir also einen roten Pullover oder „Nicki“ wünschte, weil alle so einen hatten, bekam ich schon mal einen blauen. „Ist doch auch schön. Und viel praktischer“, hieß es dann, gemeint war natürlich „billiger“. Ich verfluchte meine Eltern manchmal dafür.
Im Sommer 1961 war alles anders. Ich hatte ein neues Leben und brauchte nichts „Nützliches“. Ich brauchte eine HSV-Fahne. „Andere Wünsche habe ich nicht“, verkündete ich. Was sollte daran so schwer sein? Andere hatten ja schließlich auch eine.
Tatsächlich war das gar nicht so einfach, selbst wenn man gewollt hätte. HSV-Flaggen gab es bei Fahnen-Fleck und sonst nirgends, zumindest in meiner kleinen Welt. Fan-Shops waren noch nicht erfunden, andere Bezugsquellen gab es nicht. Eine Größe hatte Fahnen-Fleck vorrätig, das hatte ich gecheckt. 50 mal 78 Zentimeter, aus festem Baumwolltuch und mit aufgenähter Raute, kostete rund 40 Mark. Es gab wohl auch eine größere, aber die war sowieso nicht drin. Schon die kleine war meinen Eltern, na klar, zu teuer. „Kommt nicht in Frage, für so’n Tinnef“ – die Ansage war hamburgisch und glasklar: Unsinn. Meine Taktik war aber auch glasklar: Ich wollte nichts anderes, um keinen Preis. Die Fahne. Oder nichts. Natürlich bekam ich dann doch Geschenke, aber halt irgendwelche, die meine Mutter sich ausgedacht hatte und praktisch waren, der Tag war jedenfalls im Eimer.
Zu solchen Kraftproben kam es noch zweimal, dann hatte ich mich durchgesetzt. Zu Weihnachten war meine Ansage ebenso deutlich: „Eine HSV-Flagge, sonst nichts.“ Und ebenso zum nächsten Geburtstag. Als dieser Machtkampf am darauf folgenden Weihnachtsfest schon wieder nach hinten loszugehen schien, griff mein Vater triumphierend in einen toten Winkel zwischen unserem schweren, dunkelbraunen Wohnzimmerschrank und der Wand. Und da stand sie: an einem schwarzen Stiel mit goldener Spitze. Es war Heiligabend 1962, und es war ein Wunder geschehen. Ich hatte meine erste HSV-Fahne.
Es gibt sie noch heute. Jetzt liegt sie verstaubt im Schlafzimmer im toten Winkel. Mit den Unterschriften der Kumpels, mit denen ich zusammen den Europacup-Sieg 1977 in Amsterdam gesehen hatte. Aber ohne goldene Spitze.