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Miguel Serrano

 

Meine Begegnungen mit

C.G. Jung

und

Hermann Hesse

 

in visionärer Schau

 

 

DAIMON

VERLAG

 

Aus dem Englischen übersetzt von Alice Maurer.

Übersetzung des Vorworts von Eliane Mayer.

Titel der englischen Ausgabe «C.G. Jung and Hermann Hesse. A Record of Two Friendships». Routledge & Kegan Paul Ltd., London.

Titel der spanischen Originalausgabe: «El Círculo Hermético de Hermann Hesse a C.G. Jung». © Copyright Miguel Serrano 1966

 

Die Genehmigung zur Veröffentlichung der Briefe, Aquarelle und Gedichte von Hermann Hesse wurde freundlicherweise von Frau Ninon Hesse erteilt.

Die Briefe C.G. Jungs vom 31.3. und 14.9.1960 einschließlich der handschriftlichen Reproduktionen werden mit dem Einverständnis der Erbengemeinschaft C.G. Jung wiedergegeben.

Die Briefe C.G. Jungs vom 14.1. und 16.6.1960 werden mit dem Einverständnis der Walter Verlag AG, Solothurn wiedergegeben.

 

Die wiedergegebenen Gespräche wurden vom Autor frei aus der Erinnerung aufgezeichnet.

 

 

ISBN 978-3-85630-911-4

 

© Copyright 2020, 1997 Daimon Verlag, CH-8840 Einsiedeln

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Inhalt

Vorwort

Hermann Hesse

Demian

Abraxas

Narziß, Goldmund und Siddhartha

Städte und Jahre

Piktors Verwandlungen

Ein Morgen

Meister Djü-dschi

Ein Brief

Die letzte Begegnung

Sonntag, 7. Mai 1961

Letzte Botschaften

Ich verlasse Indien

Der Baum

Goldmunds Statue

Ein Traum

Die Bremgarten-Feier

Auszug aus zwei Briefen

C.G. Jung

In der Antarktis

Erste Begegnung mit Dr. Jung

5. Mai 1959 – Zweite Begegnung

Magische Hochzeit

Begegnung mit Frau Dr. Jolande Jacobi

Dr. Jung schreibt ein Vorwort zu meinem Buch

Begegnung mit Arnold Toynbee

Jungs letzter Brief an mich

Der Text der Briefe

Neue Begegnung

Die Septem Sermones ad Mortuos

Der Abschied

Ein Morgen in Indien

Ein Traum

Jung kehrt zurück, um mich in seinem Haus willkommen zu heißen

Ein Mythus unserer Zeit

Schlußbetrachtung

Verzeichnis der aufgeführten Werke

 

Hermann Hesse und der Autor in Montagnola

 

 

Verzeichnis der Bilder

 

Hermann Hesse und der Autor in Montagnola

Hermann Hesses Handschrift auf einer Seite aus dem Manuskript von Piktors Verwandlungen

Titelseite zu Piktors Verwandlungen,
mit einer Widmung Hesses für den Autor

Eine Illustration Hermann Hesses aus Piktors Verwandlungen

Hesses Grab in Montagnola

C.G. Jung in Küsnacht, 1960

Die erste und die letzte Seite des Briefes von C.G. Jung

C.G. Jung in seinem Büro

Eingangstür des Hauses in Küsnacht

 

Vorwort

 

Mit nostalgischen Gefühlen lese ich wieder durch die Seiten dieses Buches. Wieviele Jahre und Ausgaben – zwanzig alleine in den USA? – in allen europäischen Sprachen, auf holländisch, griechisch, ja sogar persisch und japanisch, liegen dazwischen? Wieviele Jahre sind seit jenem Abenteuer der Seele vergangen? Sicherlich hatte mein Leben etwas Magisches, durfte ich doch zehn Jahre in Montagnola verbringen, in der alten Casa Camuzzi, die einst auch Heim von Hermann Hesse war. Ein Herrschaftshaus, gebaut im barocken St. Petersburger Stil von einem der Architekten des Goldenen Hügels, mit all seinen zu den Alpengipfeln und dem Luganersee ausgerichteten Balkonen und Terrassen, und der Sicht auf den Garten von Klingsor. Es war das Ziel vieler Pilger aus Ost und West, die im Gepäck eine Ausgabe von Der hermetische Kreis mit sich führten, in deutscher, öfters aber noch in englischer Sprache. Sie alle wiederholten Schritt für Schritt die Pilgerreise, die ich vor mehr als zwanzig Jahren gemacht hatte. Und plötzlich, ohne es zu ahnen, sahen sie sich dem Verfasser dieser Seiten gegenüber, der ihr Führer wurde, sie an seinen Tisch setzte, ihnen Wein zu trinken gab und Unterkunft anbot, genau so, wie es Hesse vor vielen Jahren mit mir gemacht hatte, einem damals jungen Pilger, der vom Südpolarkreis kam, mit nicht viel mehr als einem ersten, gerade veröffentlichten Buch als Empfehlungsschreiben: Weder über Meer, noch über Land.

Inzwischen waren viele Dinge geschehen. Die Straßen in Montagnola waren längst asphaltiert, und die Pilger, die auf ihnen gingen, waren auch anders. Fast alle hatten Hermann Hesse durch eine selbstsüchtige Propaganda für einen verfälschten Hinduismus kennengelernt, oder durch die Drogenkultur. Ich versuchte, ihnen klar zu machen, daß Hermann Hesse anders war, daß man ihn benutzt und verfälscht hatte. Natürlich wußte ich, daß mein Unterfangen nicht sehr erfolgreich sein konnte und ich nur wenige Leute retten konnte, bevor sich eine ganze Generation in den Abgrund stürzte. Die Erinnerung an Ninon Hesse, der Ehefrau des Autors, gab mir Kraft für meine Bemühungen. Allerdings hatte sie mir in unserem letzten Interview gestanden, daß sie etwas den Mut zum Weiterkämpfen gegen die Verfälschung von Hesse verloren hatte. Sie erzählte mir, daß Leute einer kanadischen Fernsehanstalt sie besucht und gebeten hatten, ein Drehbuch zu Der Steppenwolf zu schreiben. Sie hatte abgelehnt, weil Hesse in seinem Testament ausdrücklich dagegen war, daß seine Werke verfilmt würden. Ninon hatte auch Schwierigkeiten mit den Kindern des Autors. Zu Hesses Lebzeiten wurden seine Anweisungen getreu befolgt, dies änderte sich aber nach seinem Tode.

Eines Tages in Montagnola besuchte mich der Sohn von Hermann Hesse, Heiner, in Begleitung einiger nordamerikanischer Filmemacher, darunter auch derjenige, der Ulysses von James Joyce verfilmt hatte. Heiner Hesse hatte ihnen die Erlaubnis gegeben, Der Steppenwolf zu verfilmen. Sie wollten meine Meinung dazu hören. Ich fragte Heiner nach dem Testament seines Vaters und erinnerte mich an die Worte von Ninon. Er wußte von dieser Verfügung, erklärte mir aber, es gäbe eine Klausel, die sagte: „Wenn eines seiner Kinder sich in einer finanziellen Notlage befände, könne die Zustimmung zu einem Filmprojekt gegeben werden“. Ich fragte ihn, ob er sich in einer solchen Lage befände. Er verneinte dies und meinte dazu, er würde es machen, „um der Jugend zu helfen“. Sie gaben mir das Drehbuch und baten mich nach einigen Tagen um meine Meinung.

Ich las das Buch und fand, zu meiner Überraschung, längere Textpassagen, in denen der Hauptdarsteller von Der Steppenwolf das Nazitum verschmäht, die in der Originalausgabe gar nicht vorhanden waren. Ich wies in unserer nächsten Begegnung darauf hin, und erinnerte mich mit Entsetzen an die Antwort: „Diese Textstellen sind notwendig, weil das nordamerikanische Publikum im kulturellen Gepäck von Hermann Hesse die gleiche Tradition sieht, die das Nazitum in Deutschland begründete.“ Das war erschreckend. Selbstverständlich lehnte ich diese Fälschung wie überhaupt das ganze Filmprojekt ab. Aber selbstverständlich wurde der Film, nachdem eine Zahlung von US $ 70 000 an Heiner Hesse erfolgt war, gemacht. Er war ein absoluter Reinfall.

Das völlige Fehlen von Scham und Respekt der Nordamerikaner und der Medien, ihre Kulturlosigkeit, brachte sie dazu, die Verbindung eines deutschen – sehr deutschen sogar! – Schriftstellers zu den Wurzeln seiner Nationalität trennen zu wollen, um ihn nach ihrem eigenen Gutdünken zu benützen, ihn als Objekt zu benützen für die große Verschwörung der „weltweiten Aufdekkung“, um es so zu formulieren, die alsdann begann und sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit über den ganzen Planeten ausbreitete. Dazu verhalf zweifellos die allgemeine Unkultur, die von den USA aus propagiert und unterstützt wurde.

Zu dieser Zeit hatte mein Buch Der hermetische Kreis einen gewissen Ruhm erlangt und wurde vor allem von Jugendlichen, Leuten aus dem Universitätskreis, Psychiatern und Jungianern gelesen. Dies ging so weit, daß die Psychiatrische Gesellschaft von Australien mir eine vom Präsidenten und allen Mitgliedern unterzeichnete Glückwunschkarte schickte. Während einiger Jahre fanden in Montagnola oder unmittelbarer Nähe, von den Amerikanern unterstützte Symposien statt, an denen Universitätsprofessoren aus Europa und Amerika teilnahmen. Auch ich wurde eingeladen und durfte zwei Referate halten, eines über Nietzsche und die ewige Rückkehr – das später als Buch mit demselben Titel erschien. Ich hatte dieses Referat auch in Spanisch gehalten, an einer höheren Schule in Madrid und am Institut für spanische Kultur in Madrid und Barcelona, sowie an chilenischen Universitäten. Das zweite Referat trug den Titel Die Umwandlung von Hermann Hesse in den USA.

In diesem Referat verfocht ich weiterhin, daß Hesse in seinem tiefsten Gedankengut verfälscht und als ein Bohemier, ein Hippie, dargestellt worden war, als Anhänger der Drogenkultur, pazifistischer Vagabund (er war übrigens wirklich Pazifist), der die Freiheit über Disziplin und Lehrbuch stellt, und auf subtile Art Homosexualität andeutet, oder, wenn bevorzugt, Bisexualität. Ich wies nachdrücklich darauf hin, daß Hesse nicht verstanden werden kann, wenn man ihn von den Wurzeln der literarischen Tradition der deutschen Romantik trennt, von der Kette mit Novalis, Hölderlin, Kleist und von Nietzsche selbst, den er so sehr bewundert hatte. Hesse war die letzte Blume der deutschen Romantik und dem philosophischen Gedankengut, das mit Schopenhauer und Goethe selbst (einem Bewunderer von Shakunthala) die große Reise des Begreifens in Richtung Osten antrat. (Hermann Hesse hatte eine außergewöhnliche Studie über die deutsche Romantik geschrieben, die leider verschwunden und heute völlig unbekannt ist.) Unter dem Einfluß von C.G. Jung, bei dem er sich einer Psychoanalyse unterzog, verfiel er völlig dem germanisch-alchemistischen Traum der Androgyne – was das Gegenteil von Homosexualität ist –, dessen Sehnen nach Einheit und der Vereinigung der Gegensätze, der Einheit mit dem Selbst von Nietzsche, dem inneren Homo, dem coelo, Demian, geliebt und bewundert von Sinclair, d.h. von Hesse. Sein intimstes Ich. Narziß und Goldmund. In der deutschen Originalausgabe von Der Steppenwolf heißt die weibliche Darstellerin Hermina, das ist die weibliche Form von Hermann. Dies ist dasselbe alchemisch-tantrische Spiel wie in Mozarts Zauberflöte: Pamino und Pamina. Hermann Hesse versank, wieviele andere Deutsche der großen Tradition, in der Musik von Mozart und Bach.

Man hat versucht, Hesse zu einem Produkt der Konsumgesellschaft zu machen, durch ihn die Riten und Rechtgläubigkeit derselben verbreiten zu lassen. Er wurde fest in die unheimliche Strömung des Kali Yuga eingefügt. Aber jener junge Chilene, der viele Jahre zuvor durch die staubigen Straßen von Montagnola ging, und später als Botschafter seines Landes nach Indien zurückkehrte, war auf der Suche nach dem anderen, dem echten, Hesse; wie er auch auf der Suche nach dem authentischen Indien war: demjenigen der Ewigen, der Geliebten, der Unsterblichen.

Und diesen begegne ich noch immer in diesem Buch.

 

Miguel Serrano

Valparaiso, Chile

Juni 1991

 

Hermann Hesse

Am 22. Januar 1961 besuchte ich Hermann Hesse in seinem Heim in Montagnola. Wir saßen am Mittagstisch. Vor den Fenstern wirbelten Schneeflocken, doch war der Himmel in der Ferne bereits wieder hell und klar. Ich wandte meine Blicke von der Landschaft ab und begegnete den hellen blauen Augen von Hesse, der mir gegenüber am anderen Tischende saß.

«Wie kommt es nur, daß ich hier bin?» fragte ich, meine Worte langsam und sorgfältig wählend. «Wie ist es möglich, daß gerade ich, der von so weither kommt, das Glück hat, an Ihrem Tisch sitzen zu dürfen?»

Hesse schwieg, umspielt vom winterlichen Licht; dann sagte er: «Es geschieht nichts durch bloßen Zufall. Nur die richtigen Gäste kommen hierher. Wir sind vom Hermetischen Zirkel umschlossen.»

 

Hermann Hesses Handschrift auf einer Seite aus dem Manuskript von Piktors Verwandlungen

 

Demian

Ungefähr im Jahr 1945 las ich Hesse zum erstenmal. Seine Bücher waren zu jener Zeit noch fast unbekannt in Chile, sie wurden nur von einem kleinen Kreis von Lesern geschätzt und verstohlen diskutiert. Als Hesse den Nobelpreis für Literatur erhielt, begann man seine Werke in viele Sprachen zu übersetzen. Trotzdem wurden sie nur in wenigen Ländern mit Enthusiasmus begrüßt; die englisch sprechende Welt zum Beispiel empfindet ihn als schwerfällig und langweilig. Dies ist auch der Grund, warum es noch keine englische Ausgabe seiner Gesammelten Werke gibt. Ich brauchte einst Tage, um eines seiner meist gelesenen Bücher in London aufzutreiben: ich wollte es einem Freunde schenken, der in der Literatur sehr bewandert war, Hesse aber nicht kannte. Hingegen wird er in den spanisch sprechenden Ländern von vielen immer und immer wieder gelesen. Für die jungen Spanier und Südamerikaner ist Hesse eine Art Prophet. Ein mexikanischer Maler schenkte mir die farbige Photographie eines Bildes, auf dem er den Magister Musicae und Josef Knecht – aus Hesses Glasperlenspiel – dargestellt hatte. Der Lehrer sitzt am Klavier, und der junge Knecht begleitet ihn auf der Violine. Das Buch hatte dem Mexikaner einen so großen Eindruck gemacht, daß er das Bild malte und es Hesse als Geschenk sandte. Ich verstehe und teile diese Begeisterung. Ich würde auch heute noch um die halbe Welt reisen, um ein für mich wichtiges Buch zu finden, und ich bringe den Autoren, denen ich etwas Wesentliches zu verdanken habe, tiefe Bewunderung entgegen. Ich kann die heutige Jugend nicht verstehen, die sich mit dem begnügt, was man ihr an Büchern gibt, ohne selber danach zu suchen oder Begeisterung dafür aufzubringen. Ich würde lieber auf das Essen verzichten als auf Bücher. Übrigens habe ich mir nur selten Bücher ausgeliehen; mein Wunsch ging stets dahin, sie ganz zu besitzen, um Stunden und Tage in ihrer Gesellschaft verbringen zu können. So wie die Menschen, haben wohl auch Bücher ihr eigenes Schicksal. Sie kommen zu den Menschen, die sie erwarten, und sie kommen im richtigen Moment. Sie sind aus etwas Lebendigem entstanden, und ihre Ausstrahlung bleibt noch lange nach dem Tod ihres Verfassers erhalten.

Mein erstes Hesse-Buch war Demian. Es hat mich außerordentlich beeindruckt und mit einer Kraft erfüllt, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte. Ich las es in spanischer Übersetzung; wahrscheinlich wies diese manche Fehler auf. Und doch spürte ich den von diesem Werk ausgehenden Zauber und seine Stärke. Hesse schrieb es in jungen Jahren, als er in Baden, im Hotel Verenahof, wohnte; und er hat sich mit solcher Intensität darauf konzentriert, daß es nach vielen Jahren noch immer lebendig und wirkungsvoll ist.

Wie viele Menschenleben hat Demian beeinflußt! Zweifellos haben Hunderte versucht, sich seine Kraft und Heiterkeit zu eigen zu machen. Nach der Lektüre dieses Buches pflegte ich stundenlang durch die Straßen meiner Heimatstadt zu wandern, durchdrungen vom Gefühl, neu geboren und Träger eines Zeichens oder einer Botschaft zu sein. Nicht nur für mich, sondern für ganze Generationen war Hesse mehr als nur ein Schriftsteller oder Dichter. Die Magie seines Werkes berührt Regionen, in die sonst nur das Religiöse vordringt. Den nachhaltigsten Eindruck machte mir außer Demian Die Morgenlandfahrt, die Tagebuchblätter, Siddhartha, Das Glasperlenspiel, Der Steppenwolf sowie Narziß und Goldmund.

Demian ist im Grunde kein Mensch an sich, da er von Sinclair, der die Geschichte erzählt, niemals getrennt ist. Demian ist Sinclair, sein wesentlicher Kern, ein archetypischer Held, wie er in der Tiefe von uns allen lebt. Anders ausgedrückt: Demian stellt das unwandelbare, unberührbare Selbst dar. Durch ihn versucht Hesse den magischen Gehalt des Daseins darzulegen. Es ist Demian, der dem jungen Sinclair die erlösende Erkenntnis vermittelt, daß eine Vielfalt von Wesen in ihm lebt. Er hilft ihm, das Chaos und die Gefahren der Pubertätsjahre zu überwinden. Gewiß sind manche unter uns solch starken, jungen Männern – wie Demian einer ist – begegnet, und haben ihnen Respekt und Bewunderung gezollt. Im Grunde genommen haben wir alle einen Demian in uns. Am Schluß des Buches tritt Demian im Feldlazarett an Sinclairs Bett, küßt ihn und sagt: «Höre, mein Kleiner, solltest du mich je wieder benötigen, dann erwarte nicht, daß ich in aller Öffentlichkeit, zu Pferde oder per Bahn, erscheine. Finde mich in dir selbst.» Das hat Hesse in einer Zeit größter persönlicher Angst, während des Krieges, geschrieben. Auch er mußte Demian in sich selbst finden.

Natürlich ist diese Botschaft im Buch nicht so offenkundig ausgesprochen, eher ist sie auf magische Art und Weise angedeutet. Eine symbolische Wahrheit kann ja sowieso nur intuitiv verstanden werden. Wenn sie aber Gestalt annimmt, erhellt sie das ganze Wesen des betreffenden Menschen. Darum konnte ich damals die Straßen meiner Heimatstadt im Bewußtsein durchziehen, daß ein Neues in mein Leben getreten sei.

 

Abraxas

Das Leben enthält nicht nur Licht, sondern auch Schatten; aber wir möchten dieser Tatsache am liebsten aus dem Wege gehen. Stets richtet sich unser Streben nur auf das Licht und die hohen Gipfel. Von Kindheit an vermittelt uns die religiöse und akademische Erziehung Werte, die lediglich einer idealen Welt entsprechen. Die Schattenseiten des wirklichen Lebens werden ignoriert, und das abendländische Christentum gibt uns keine Deutung dafür. Die jungen Menschen der westlichen Welt sind deshalb nicht darauf vorbereitet, sich mit dem Nebeneinander von Licht und Schatten – die gemeinsam erst das Leben ausmachen – auseinanderzusetzen. Wie sollen sie da die Tatsachen des Lebens mit den ihnen vermittelten absoluten Werten in Übereinstimmung bringen können? Die Glieder der Kette, die das Leben mit den universalen Symbolen verbinden sollte, sind entzwei gegangen, der Zerfall setzt ein.

Im Orient, vor allem in Indien, ist es ganz anders. Eine alte, auf der Natur selbst gründende Zivilisation kennt einen Kosmos vielgestaltiger Götter. Das erlaubt es dem östlichen Menschen, das Vorhandensein von Licht und Schatten, von Gut und Böse, zu akzeptieren. Für ihn gibt es nichts Absolutes: wenn dadurch Gott entwaffnet wird, so auch der Teufel. Der Preis für ein solches Verständnis ist ein der Natur zu entrichtender Tribut. Folglich ist der Hindu weniger individualisiert als der westliche Mensch. Er ist lediglich etwas mehr als ein Bestandteil der Natur, ein Element der Kollektivseele.

Das Problem, dem sich der abendländische Christ gegenübergestellt sieht, lautet: kann er das Nebeneinander von Licht und Schatten, von Gott und Teufel annehmen, ohne gleichzeitig seine Individualität zu verlieren? Dazu ist es nötig, daß er den Gott entdeckt, der schon vor dem inkarnierten Christus «christlich» war und der auch nach ihm fortbesteht und wirkt. Der «Erlöser von Atlantis», einst offen und auch heute noch unter den tiefen Wassern unserer Zivilisation wirksam, würde einer solchen Gottheit entsprechen. Oder Abraxas, der Gott und Teufel in sich vereint. Als ich Demian las, begegnete ich zum erstenmal dem Namen Abraxas. Ich hatte aber seine Existenz bereits in meiner Kindheit geahnt. Im Herzen der Cordilleren hatte ich seine Gegenwart gespürt, und sie sprach zu mir aus den unermeßlichen Tiefen des Pazifischen Ozeans, der sich gegen unsere Küste wälzt. Dieses ignis fatuus und die in ihm lodernden Flammen des Himmels und der Hölle flackerten noch im Schaum seiner Wellen.

Abraxas ist ein Gott der Gnostiker und existierte schon lange vor Christus. Er kann mit dem atlantischen Christus verglichen werden und war den Ureinwohnern Amerikas, auch den Indianern meiner Heimat, unter anderen Namen bekannt.

Hermann Hesse spricht in folgenden Worten von ihm:

 

… Blicken Sie ins Feuer, blicken Sie in die Wolken, und sobald die Ahnungen kommen und Stimmen in Ihrer Seele anfangen zu sprechen, dann überlassen Sie sich ihnen und fragen Sie ja nicht erst, ob das wohl auch dem Herrn Lehrer oder dem Herrn Papa oder irgendeinem lieben Gott passe oder lieb sei! Damit verdirbt man sich. Damit kommt man auf den Bürgersteig und wird ein Fossil. Lieber Sinclair, unser Gott heißt Abraxas, und er ist Gott und ist Satan, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich. Abraxas hat gegen keinen Ihrer Gedanken, gegen keinen Ihrer Träume etwas einzuwenden. Vergessen Sie das nie. Aber er verläßt Sie, wenn Sie einmal tadellos und normal geworden sind. Dann verläßt er Sie und sucht sich einen neuen Topf, um seine Gedanken drin zu kochen.

 

Das neuzeitliche Christentum und, ganz allgemein, die westliche Welt befinden sich in einem Zustand der Krise, und die noch offenen Wege sind alles andere als anziehend. Weder wünschen wir eine jener apokalyptischen Katastrophen herbei, wie sie die Geschichte der Vergangenheit kennt, noch wollen wir den Weg des Orients gehen, der den Menschen gering achtet und ein unweigerliches Absinken unseres Lebensstandards zur Folge hätte. Die einzige uns offenstehende Möglichkeit ist wahrscheinlich Abraxas, d.h. die Projektion unserer Seele sowohl auf das Außen wie auf das Innen, auf das Licht und auf die tiefen Schatten in uns, in der Hoffnung, daß wir in einer Verbindung der beiden dem reinen Archetypus begegnen werden. Dieser wäre das authentische Bild des in uns wohnenden Gottes, der – wie Atlantis – unter den Wassern unseres Bewußtseins begraben liegt. Abraxas würde demnach auch den ganzen, vollständigen Menschen meinen.