Robert McKee, Dialog
Robert McKee (geb. 1941 in Detroit) bietet, neben seiner Tätigkeit als Berater in Hollywood, Workshops für Drehbuch- und Romanautoren, Lyriker und Dramatiker, Dokumentarfilmer, Produzenten und Regisseure in der ganzen Welt an. Seine Schüler gewannen über 60 Oscars, 200 Emmys und viele weitere bedeutende Preise. McKee wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet.
Wie man seinen Figuren eine Stimme gibt
Ein Handbuch für Autoren
Aus dem Amerikanischen
von Tanja Handels
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Dialogue, The Art of Verbal Action for Page, Stage, Screen bei Hachette New York, USA.
All Rights Reserved.
© Two Arts, Inc. 2016
Deutsche Erstausgabe
© by Alexander Verlag Berlin 2018
Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin
www.alexander-verlag.com | info@alexander-verlag.com
Redaktion/Lektorat: Christin Heinrichs-Lauer
Dank an Ellinor Greinus und Anke Geidel
Satz und Layout: Antje Wewerka
Umschlag: Antje Wewerka
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-89581-482-2 (eBook)
Für Mia
Wenn sie spricht, lauscht mein Herz
Dank
Vorwort: Lob des Dialogs
Einführung
TEIL I: DIE KUNST DES DIALOGS
Kapitel 1: Ausführliche Definition des Dialogbegriffs
Dramatischer Dialog
Narrativer Dialog
Dialog in den wichtigsten Medien
Dialog auf der Bühne
Dialog auf Leinwand und Bildschirm
Dialog im Buch
Indirekter Dialog
Kapitel 2: Die drei Funktionen von Dialogen
Exposition
Charakterisierung
Aktion
Kapitel 3: Ausdruck I: Inhalt
Das Gesagte
Das Ungesagte
Das Unsagbare
Aktion vs. Aktivität
Text und Subtext
Kapitel 4: Ausdruck II: Form
Der Konflikt-Komplex
Dialog auf der Bühne
Dialog im Film
Dialog im Fernsehen
Dialog in der Prosa
Kapitel 5: Ausdruck III: Technik
Bildhafte Sprache
Nonverbale Sprache
Misch-Techniken
Zeilen-Design
Ökonomie
Die Pause
Plädoyer für das Schweigen
TEIL II: FEHLER UND IHRE BEHEBUNG
Einführung: Sechs Aufgaben des Dialogs
Kapitel 6: Glaubwürdigkeitsfehler
Unglaubwürdigkeit
Leeres Sprechen
Übertrieben emotionales Sprechen
Überinformiertes Sprechen
Übertrieben reflektiertes Sprechen
Ausreden anstelle von Motivation
Melodrama
Kapitel 7: Sprach-Fehler
Klischees
Figurenneutrale Sprache
Prahlerische Sprache
Öde Sprache
Lieber konkret als abstrakt
Lieber vertraut als exotisch
Lieber kurze als lange Wörter
Lieber direkte Sätze als ausladende Formulierungen
Lieber eine aktive als eine passive Stimme
Lieber kurze als lange Äußerungen
Lieber ausdrucksvolle als nachgeahmte Sprache
Weg mit dem Ballast!
Kapitel 8: Inhaltliche Fehler
Überexplizites Schreiben (Writing on-the-nose)
Der monologische Trugschluss
Der Duolog
Der Trialog
Kapitel 9: Design-Fehler
Wiederholung
Missglückte Textzeilen
Missglückte Szenen
Zersplitterte Szenen
Die Paraphrase-Falle
TEIL III: DIALOGENTWICKLUNG
Kapitel 10: Figurenspezifischer Dialog
Die beiden Talente
Vokabular und Charakterisierung
Das Prinzip der kreativen Beschränkung
Ausdrucksweise und Charakterisierung
Das Prinzip des figurenspezifischen Dialogs
Kultur und Charakterisierung
Kapitel 11: Vier Fallstudien
Julius Cäsar
Out of Sight
30 Rock
Sideways
TEIL IV: DIALOG-DESIGN
Kapitel 12: Story | Szene | Dialog
Das auslösende Ereignis
Story-Werte
Der Wunsch-Komplex
Antagonistische Kräfte
Aktions-Rückgrat
Weiterentwicklung der Story
Wendepunkte
Weiterentwicklung der Szene
Der Beat
Fünf Verhaltensschritte
Einführung zu den sieben Fallstudien
Kapitel 13: Ausgewogener Konflikt (Die Sopranos)
Kapitel 14: Komischer Konflikt
Frasier
Technik komischer Dialoge
Kapitel 15: Asymmetrischer Konflikt (Eine Rosine in der Sonne)
Kapitel 16: Indirekter Konflikt (Der große Gatsby)
Dialog vs. Beschreibung in Prosatexten
Wendepunkt/Höhepunkt der Szene
Kapitel 17: Reflexiver Konflikt
Einführung ins Ich
Reflexiver Konflikt
Fräulein Else
Das Museum der Unschuld
Kapitel 18: Minimalkonflikt
Einleitung: Das Gleichgewicht von Text und Subtext
Lost in Translation
Kapitel 19: Das Handwerk meistern
Zuhören
Figurales Schreiben
Schlüsselfragen
Zum Abschluss
Anmerkungen
Register
Jeder Autor braucht seinen Zirkel aus Vertrauten, die erste Entwürfe lesen, erkenntnisreiche Anmerkungen machen und nicht zulassen, dass Freundschaft die Kritik entschärft. Ich bin Carol Tambor, Bassim El-Wakil, James McCabe, Joel Bernstein, Paul McKee, Mia Kim, Marcia Friedman, Steven Pressfield und Patrick McGrath zu großem Dank verpflichtet.
Wir sprechen.
Mehr als jede andere Eigenschaft ist das Sprechen Ausdruck unserer Menschlichkeit. Wir flüstern mit unseren Liebsten, verfluchen unsere Feinde, streiten mit dem Klempner, loben den Hund, schwören beim Grab unserer Mutter. Zwischenmenschliche Beziehungen sind im Grunde nichts als endlose Gespräche über, um und aufgrund von Verwicklungen, die uns den Alltag erhellen oder vergällen. Direkte Gespräche mit Verwandten und Freunden können sich über Jahrzehnte erstrecken, während Selbstgespräche ohnehin nie abreißen: Ein schuldgeplagtes Gewissen schimpft auf die gewissenlosen Wünsche, die Dummheit macht sich über die Weisheit lustig, die Hoffnung tröstet die Verzweiflung, die Spontaneität verspottet die Vorsicht, und der Geist amüsiert sich darüber, wie die inneren Stimmen unseres besten und schlimmsten Ichs bis zum letzten Atemzug miteinander streiten.
Im Lauf der Jahrzehnte kann so ein dauerhafter Redefluss den Worten ihre Bedeutung nehmen, und wenn die Bedeutung weggeschwemmt wird, verflacht unser Dasein. Aber was die Zeit verwässert, das verdichtet die Story.
Autoren* bündeln Bedeutung, indem sie zunächst das Banale, das Kleinteilige, die ständigen Wiederholungen des Alltagsgeredes beseitigen. Anschließend bauen sie ihre Erzählungen auf eine Krise komplexer, konfliktreicher Wünsche hin auf. Unter Druck füllen sich Worte mit Assoziationen und Nuancen. Die Äußerungen einer Figur im Angesicht eines Konflikts verströmen die Bedeutung, die sich hinter ihren Worten verbirgt. Ein ausdrucksvoller Dialog bekommt eine Durchlässigkeit, die es Lesern wie Zuschauern ermöglicht, in der Stille hinter den Augen einer Figur die Schatten ihrer Gedanken und Gefühle zu erkennen.
Gutes Schreiben macht Zuschauer und Leser zu regelrechten Hellsehern. Ein dramatischer Dialog hat die Kraft, zwei Bereiche miteinander zu verbinden, die in den Worten ungesagt bleiben: das Innenleben einer Figur und das Innenleben ihrer Leser/Zuschauer. Wie bei einem Funksender schaltet ein Unterbewusstsein auf die Frequenz des anderen, und unser Instinkt nimmt den inneren Aufruhr der Figur wahr. Der Literaturwissenschaftler Kenneth Burke hat das einmal so formuliert, dass Storys für uns das Rüstzeug seien, in der Welt zu leben, im intimen Austausch mit anderen, vor allem aber im intimen Austausch mit uns selbst.
Diese Kraft verleihen uns Autoren, und zwar in einer Reihe von Einzelschritten: Zunächst einmal erschaffen sie jene Metaphern der menschlichen Natur, die wir »Figuren« nennen. Dann dringen sie in die Psyche dieser Figuren vor, um bewusste Bedürfnisse und unbewusste Wünsche freizulegen, Sehnsüchte, die das innere wie das äußere Ich antreiben. Gewappnet mit diesen Einblicken, lassen sie die dringendsten Wünsche ihrer Figuren im Brennpunkt eines Konflikts aufeinanderprallen. Szene für Szene verknüpfen sie die Aktionen und Reaktionen ihrer Figuren zu Wandlungen, Wendepunkten. Im letzten Schritt lassen sie ihre Figuren sprechen, allerdings nicht in Form repetitiver Alltagsmonotonie, sondern in der Beinahe-Poesie, die wir als Dialog kennen. Wie Alchemisten brauen und formen sie ihre Mixtur aus Figur, Konflikt und Wandel, um sie schließlich mit Dialogen zu verzieren und aus dem wertlosen Metall des Daseins das glänzende Gold einer Geschichte, einer Story, zu gewinnen.
Einmal ausgesprochen, tragen Dialoge uns auf Wellen der Wahrnehmung und des konkreten Inhalts dahin, die vom Gesagten über das Ungesagte bis hin zum Unsagbaren nachschwingen. Das Gesagte besteht aus den Ideen und Empfindungen, die eine Figur anderen gegenüber äußert; das Ungesagte besteht aus den Gedanken und Gefühlen, die die Figur mit ihrer inneren Stimme äußert, allerdings nur sich selbst gegenüber; das Unsagbare schließlich sind die unbewussten Triebe und Wünsche, die eine Figur nicht einmal vor sich selbst in Worte fassen kann, weil sie stumm sind und jenseits der Wahrnehmung liegen.
Egal, wie aufwendig die Inszenierung eines Theaterstücks auch ist, wie lebendig die Schilderung eines Romans und wie opulent die Kameraführung eines Films: Die tiefgreifende Komplexität, die Ironie und das »Innere« der Story werden durch die Figurenrede geformt. Ohne ausdrucksvolle Dialoge verlieren die Geschehnisse an Tiefe, die Figuren werden eindimensional, die Story verflacht. Mehr als jede andere Charakterisierungstechnik (Geschlecht, Alter, Kleidung, Gesellschaftsschicht) haben Dialoge die Kraft, Storys durch die vielschichtigen Sedimente des Lebens ans Licht zu holen und eine bloß komplizierte Erzählung ins volle Spektrum der Komplexität zu erheben.
Merken Sie sich auch immer Ihre Lieblingssätze, so wie ich? Ich glaube, wir lernen Dialogpassagen nicht nur deshalb auswendig, weil beim Zitieren das lebendige Wort-Bild, das sie malen, immer wieder neu entsteht, sondern auch, weil wir im Widerhall der Gedanken einer Figur unsere eigenen hören:
»Und morgen und dann morgen und dann morgen,
So kriecht’s im Schleicheschritt von Tag zu Tag
Zur letzten Silbe hin im Lebensbuch;
Und alles Gestern hat nur Narrn geleuchtet
Beim Gang zu Dreck und Tod.«1
Macbeth im gleichnamigen Shakespeare-Stück
»Von allen Spelunken dieser Welt muss sie ausgerechnet in meine kommen.«2
Rick in Casablanca
»Schlingernd halt ich auf dich zu, o Wal, der du alles vernichtest und doch nichts besiegst; bis zum Letzten ring ich mit dir, aus dem Herzen der Hölle stech ich nach dir, dem Hass zuliebe spei ich meinen letzten Hauch nach dir!«3
Ahab in Moby Dick
»Nicht, dass dagegen was zu sagen wäre.«
Jerry in Seinfeld
So wie diese vier Figuren hat auch jeder und jede von uns schon das Brennen der Ironie ertragen müssen, die blitzartige Einsicht in das, was die Welt uns angetan hat, oder – schlimmer noch – was wir uns selbst angetan haben, diesen zweischneidigen Moment, wenn das Leben sich auf unsere Kosten amüsiert und wir gar nicht mehr wissen, ob wir lachen oder leiden sollen. Aber wie sollten wir die köstlichen Geschmacklosigkeiten solcher Ironie angemessen würdigen, wenn die Schriftsteller sie nicht für uns mit Worten würzen würden? Wie sollten wir all die Paradoxien in Erinnerung behalten, ohne die Gedächtnisstütze von Dialogen?
Ich liebe die Kunst des Dialogs in all ihren Variationen. Diese Zuneigung hat mich bewogen, das vorliegende Buch zu schreiben und dem krönenden Akt beim Entwickeln einer Story auf den Grund zu gehen: wie man seinen Figuren eine Stimme gibt.
* Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden meist die männliche Form verwendet, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. (Anm. d. Red.)
Teil I: Die Kunst des Dialogs erweitert die Definition des Dialogbegriffs auf grundlegende Weise und vervielfacht seine Einsatzmöglichkeiten. Die Kapitel 2 bis 5 betrachten Funktionen, Inhalt, Form und Technik der Figurenrede in den vier wichtigsten Story-Medien.
Teil II: Fehler und ihre Behebung deckt Mängel auf, von Unglaubwürdigkeiten und Klischees bis hin zum überexpliziten Schreiben und zur Wiederholung, erforscht ihre Ursachen und verordnet die nötigen Heilmittel. Um die diversen Techniken der Dialoggestaltung besser zu illustrieren, zitiere ich Beispiele aus Romanen, Theaterstücken, Kino- und Fernsehfilmen.
Teil III: Dialogentwicklung widmet sich dem letzten Schritt beim Schreiben – dem Finden der Worte, die den Text erschaffen. Wenn wir von Autoren sagen, sie hätten ein »gutes Ohr für Dialoge«, dann meinen wir damit, dass sie figurenspezifisch schreiben können. Jede Figur spricht mit einer Syntax, einem Rhythmus, einem Grundton und vor allem einer Wortwahl, die niemand außer ihr so verwenden würde. Im Idealfall ist sie ein wandelndes Lexikon ihres ureigenen Wortschatzes. Originelle Dialoge haben ihren Ursprung also immer im Vokabular.
Um die Kraft figurenspezifischer Rede zu illustrieren, betrachten wir einige Szenen aus Shakespeares Stück Julius Cäsar, Elmore Leonards Roman Out of Sight, Tina Feys Fernsehserie 30 Rock sowie dem Film Sideways von Alexander Payne und Jim Taylor.
Teil IV: Dialog-Design beginnt mit einer Analyse der einzelnen Bausteine bei der Gestaltung von Storys und Szenen. Kapitel 12 zeigt, wie sich diese Formen auf die Äußerungen der Figuren auswirken. Darauf folgen sechs Fallstudien auf Grundlage verschiedenster Szenen: ein ausgewogener Konflikt aus der Serie Die Sopranos, ein komischer Konflikt aus der Comedy-Serie Frasier, ein asymmetrischer Konflikt aus dem Theaterstück Eine Rosine in der Sonne, ein indirekter Konflikt aus dem Roman Der große Gatsby, reflexive Konflikte aus den Prosatexten Fräulein Else und Das Museum der Unschuld sowie ein Minimalkonflikt aus dem Film Lost in Translation.
Mit dieser Vorgehensweise betrachten wir die beiden Hauptprinzipien wirkungsvoller Dialoge: Erstens erzeugt jede Äußerung in einem Dialog eine Aktion bzw. Reaktion, die die Szene voranbringt. Zweitens finden diese Aktionen ihren Ausdruck zwar in der äußeren Verhaltensweise des Redens, die eigentliche Aktion der Figur entspringt aber unsichtbar aus dem Subtext.
Als eine Art Navigationssystem für Schreibende möchte das vorliegende Buch den Anfängern eine Anleitung sein und den Verwirrten neue Wege weisen. Falls Sie sich erst kürzlich in diese Kunstform vorgewagt haben und glauben, in einer kreativen Sackgasse zu stecken, führt das Buch Sie auf den richtigen Pfad zum Erfolg; haben Sie das Schreiben schon zum Beruf gemacht und vielleicht ein wenig die Orientierung verloren, bringt das Buch Sie sicher zurück nach Hause.
Dialog: Jedes Wort, das eine Figur zu einer anderen sagt.
Traditionell wird ein Dialog als Gespräch zwischen Figuren definiert. Ich glaube allerdings, dass man für eine umfassende, tiefgehende Analyse zum Thema Dialog erst einmal einen Schritt zurück machen und mit dem weitestmöglichen Blick auf das Erzählen an sich beginnen muss. Aus dieser Perspektive fällt mir als Erstes auf, dass sich Figurenrede auf drei klar unterscheidbaren Schienen bewegt: mit anderen reden, mit sich selbst reden und mit den Lesern/Zuschauern reden.
Diese drei Arten des Redens fasse ich unter dem Begriff »Dialog« zusammen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens, weil Autoren ihre Rollen immer mit einer einzigartigen, figurenspezifischen Stimme personalisieren müssen, die sich im Text äußert, unabhängig davon, wann, wo und mit wem die betreffende Figur gerade spricht. Und zweitens, weil alles Reden, ob nun stumm oder verbal, ob im Kopf gedacht oder in die Welt hinaus gerufen, immer die nach außen gerichtete Umsetzung einer inneren Aktion ist. Alles Sprechen reagiert auf ein Bedürfnis, verfolgt einen Zweck und führt eine Aktion durch. So scheinbar vage und leichthin eine Äußerung auch sein mag, keine Figur spricht jemals grundlos, ohne ein Anliegen, mit jemanden, nicht einmal mit sich selbst. Darum müssen Schreibende jede Zeile ihrer Figurenrede mit einem Wunsch, einer Absicht und einer Aktion unterlegen. Aus dieser Aktion wird dann die sprachliche Taktik, die wir »Dialog« nennen.
Sehen wir uns die drei Dialog-Schienen einmal genauer an.
1. Mit anderen reden: Der korrekte Ausdruck für ein Gespräch mit zwei Beteiligten lautet Zwiegespräch (oder Duolog in meiner Terminologie). Drei Figuren im Gespräch miteinander bilden einen Trialog. Das Gespräch einer zwölfköpfigen Familie, die sich an Thanksgiving zusammenfindet, könnte man als Multilog bezeichnen, wenn es diesen Begriff gäbe.
2. Mit sich selbst reden: Drehbuchautoren verlangen nur selten Selbstgespräche von ihren Figuren, Bühnenautoren dafür umso häufiger. Was Prosaautoren angeht, so ist das innere Gespräch Gehalt und Grundlage ihrer Kunst. Prosa hat die Macht, in den Kopf der Figuren einzudringen und ihren inneren Konflikt auf die Gedankenlandschaft zu projizieren. Jedes Mal, wenn Autoren ihre Story aus der Ich- oder Du-Perspektive erzählen, gehört diese Stimme einer Figur. Prosa ist daher oft erfüllt von reflexiven Selbstgesprächen, die man als Leser sozusagen mithört.
3. Mit Lesern/Zuschauern reden. Im Theater erlauben die Konventionen des Monologs und des Beiseitesprechens den Figuren, sich direkt an das Publikum zu wenden und vertraulich mit ihm zu reden. In Film und Fernsehen platziert die Konvention diese Figur meist außerhalb des Bildes und lässt sie als Voiceover sprechen, hin und wieder wird die Figur aber auch veranlasst, sich direkt in die Kamera zu wenden. In der Prosa ist das der Kern der Ich-Erzählung: Eine Figur erzählt den Lesern ihre Geschichte, ihre Story.
Etymologisch geht das Wort »Dialog« auf zwei griechische Wortteile zurück: diá- in der Bedeutung »durch« und légein, das sich auf das »Sprechen« bezieht. Würde man beides direkt übersetzen, ergäbe sich das zusammengesetzte Substantiv »Durch-Sprechen« – eine Aktion, die durch Worte – im Gegensatz zu Taten – erfolgt. Jeder Satz, den eine Figur spricht, ob nun laut zu anderen oder leise zu sich, ist, in den Worten von J. L. Austin, ein Sprechakt: Worte, die eine Aktion durchführen.4
Etwas sagen heißt also etwas tun, und deshalb habe ich meine Neudefinition des Dialogbegriffs dahingehend erweitert, dass er jedes einzelne Wort, das eine Figur zu sich selbst, zu anderen oder zu den Lesern/Zuschauern sagt, als Aktion benennt, die ein Bedürfnis oder einen Wunsch befriedigt. In allen drei Fällen agiert die Figur verbal (im Gegensatz zu physisch), sobald sie spricht, und jede dieser Aktionen durch Sprechen bringt die Szene, in der sie auftritt, von einem Beat zum nächsten, während sie gleichzeitig die Figur dynamisch vorantreibt, sie der Erfüllung ihres Herzenswunsches näher bringt (positiv) oder weiter davon wegführt (negativ). Dialog als Aktion, das ist auch das Grundprinzip dieses Buches.
Dialoge können auf zweierlei Arten agieren: dramatisch oder narrativ.
Dramatisch meint hier szenisch gestaltet. Ob sein Grundton nun komisch oder tragisch ist, ein dramatischer Dialog spielt die Äußerungen zwischen zwei Figuren hin und her, die einen Konflikt austragen. Jede Äußerung beinhaltet eine Aktion mit einer konkreten Intention und ruft irgendwo in der Szene eine Reaktion hervor.
Das gilt auch für Szenen mit nur einer Figur. Wenn jemand sagt: »Ich bin sauer auf mich«, wer ist dann sauer auf wen? So, wie man sich im Spiegel sieht, kann man sich auch in der eigenen Vorstellung sehen. Um mit sich selbst streiten zu können, erschafft der Geist ein zweites Ich und redet mit ihm, als handelte es sich um jemand anderen. Der innere Dialog einer Figur wird zur dynamisch-dramatischen Szene zwischen zwei zerstrittenen Ichs ein und derselben Person, von denen eines den Streit vielleicht gewinnen wird, vielleicht aber auch nicht. Streng genommen ist also jeder Monolog in Wahrheit ein Dialog. Sobald eine Figur spricht, spricht sie immer mit jemand anderem, und sei es nur eine andere Seite ihrer selbst.
Narrativ bedeutet außerhalb der Szene gesprochen. In solchen Fällen verschwindet die sogenannte vierte Wand des Realismus, und die Figur tritt aus dem dramatischen Ablauf der Story heraus. Auch hier sind narrative Reden streng genommen keine Monologe, sondern Dialoge, in denen die Figur die verbale Aktion vornimmt, sich direkt an die Leser, Zuschauer oder an sich selbst zu wenden.
Was den zugrundeliegenden Wunsch betrifft, so möchte ein Ich-Erzähler in einem Prosatext oder eine Figur, die von der Bühne oder Leinwand herunter erzählt, ihre Leser/Zuschauer vielleicht einfach nur auf den aktuellen Stand der Ereignisse bringen und ihre Neugier auf Künftiges wecken. Womöglich nutzt sie den narrativen Dialog also nur dafür, dieses schlichte Vorhaben umzusetzen.
In einer komplexeren Situation könnte die Figur ihre Worte beispielsweise nutzen, um die Leser/Zuschauer dazu zu bewegen, ihre früheren Missetaten zu verzeihen, und sie gleichzeitig dahingehend zu beeinflussen, dass sie die Feinde der Figur ebenfalls aus ihrem voreingenommenen Blickwinkel, ihrem Point of View (POV), sehen. Den möglichen Wünschen, die eine Figur von Story zu Story zur Aktion anregen, und der Taktik, die sie jeweils einsetzt, wenn sie zu den Lesern/Zuschauern spricht, scheinen keine Grenzen gesetzt.
Das Gleiche gilt für eine Figur, die sich nach innen wendet, um ein Gespräch mit sich selbst zu führen. Damit kann sie jeden beliebigen Zweck verfolgen: eine Erinnerung aus reiner Freude noch einmal durchleben, sich den Kopf zerbrechen, ob sie auf die Zuneigung eines geliebten Menschen wirklich bauen kann, die eigene Hoffnung schüren, indem sie sich ein künftiges Leben ausmalt etc. – während ihre Gedanken Vergangenheit, Gegenwart und jede mögliche Zukunft, erdacht oder real, durchstreifen.
Um zu zeigen, wie derselbe Inhalt in drei verschiedenen Dialogformen ausgedrückt werden kann, möchte ich mit einer Passage aus dem Roman Doktor Glas arbeiten, der 1905 von dem schwedischen Schriftsteller Hjalmar Söderberg verfasst wurde.
Das Buch hat die Form eines Tagebuchs, das vom Titelhelden selbst geführt wird. Ein reales Tagebuch zeichnet die heimlichen Gespräche auf, die Tagebuchschreibende mit sich selbst führen; folglich muss auch ein fiktives Tagebuch so geschrieben sein, dass die Leser das Gefühl bekommen, sie könnten den heimlichen inneren Dialog irgendwie mithören.
In Söderbergs Roman will Doktor Glas eine seiner Patientinnen, die er insgeheim liebt, vor ihrem sexuell gewalttätigen Ehemann retten. Tag für Tag wägt er im Geiste die moralischen Argumente ab, die für oder gegen einen Mord an dem Mann sprechen; in endlosen Albträumen setzt er seine Mordabsicht um. (Und im weiteren Verlauf des Buches vergiftet er den Ehemann tatsächlich.) In einem Eintrag, der vom 7. August datiert ist, erwacht er schweißgebadet aus einem solchen Albtraum. Hören wir einmal in den weitschweifigen narrativen Dialog hinein, mit dem Glas sich selbst einzureden versucht, sein grässlicher Traum sei keine Prophezeiung:
»Träume sind Schäume.« … Ich kenne dich, alte Spruchweisheit. Und das meiste, was man träumt, ist tatsächlich keinen Gedanken wert – Fragmente von dem, was man erlebt hat, oft das Belangloseste und Dümmste, was das Bewusstsein nicht für wert befunden hat, in sich aufzunehmen, was aber trotzdem in irgendeiner Rumpelkammer des Gehirns sein eigenes Schattendasein führt. Es gibt aber auch andere Träume. Ich weiß noch, wie ich einmal als Junge einen ganzen Nachmittag lang über einem geometrischen Problem gebrütet habe und zu Bett gehen musste, ohne es gelöst zu haben: Im Schlaf arbeitete das Gehirn selbstständig weiter und gab mir im Traum die Lösung. Und sie war richtig. Es gibt auch Träume, die sind wie Blasen aus der Tiefe, wenn ich es recht bedenke: Manches Mal hat mich ein Traum etwas über mich selbst gelehrt. Manches Mal hat der Traum mir Wünsche offenbart, die ich nicht wünschen wollte, Begierden, die ich bei Tageslicht verleugnete.
Diese Wünsche und Begierden habe ich dann im helllichten Sonnenschein gewogen und geprüft. Aber selten vertrugen sie das Licht, und meistens habe ich sie in die finstere Tiefe zurückgestoßen, wo sie hingehörten. In den Träumen der Nacht kehrten sie dann zuweilen wieder, doch ich habe sie erkannt und sie auch im Traum höhnisch belächelt, bis sie jeden Anspruch aufgaben, emporzusteigen und im Licht der Wirklichkeit zu leben.5
Gleich in der ersten Zeile erwähnt Glas ein Sprichwort, das ihm durch den Kopf geht, als hätte dieser Gedanke seinen ganz eigenen Kopf. Dann wendet er sich der Auseinandersetzung mit seiner schweigenden, dunklen, unmoralischen Seite zu, einem Ich, in dem die Mordlust brodelt. Im letzten Satz schließlich glaubt er, sein besseres Ich habe die Auseinandersetzung gewonnen – zumindest für den Augenblick. Beachten Sie auch, wie die Sätze die ausufernde, sich stetig steigernde Form von Grübeleien annehmen.
Jetzt nehmen wir einmal an, Söderberg hätte diese Passage als narrativen Dialog geschrieben, mit dem sich Doktor Glas direkt an die Leser wendet. Um beim Schreiben die Stimme zu finden, mit der Doktor Glas zu anderen Menschen spricht, könnte Söderberg ihm den herrischen Ton gegeben haben, den Ärzte oft einsetzen, wenn sie ihren Patienten etwas verordnen. Die Sätze könnten kürzer sein und mehr Imperative verwenden. Anweisungen, Verbote und Einschränkungen könnten dazu dienen, den Überlegungen einen schärferen Drall zu verleihen:
»Träume sind Schäume.« Das Sprichwort haben Sie sicher schon gehört. Glauben Sie es bloß nicht. Das meiste, was man träumt, ist tatsächlich keinen Gedanken wert. Diese Fragmente von dem, was man erlebt hat, sind die dummen, belanglosen Dinge, die das Bewusstsein nicht für wert befindet. Trotzdem, in irgendeiner Rumpelkammer des Gehirns führen sie noch ihr eigenes Schattendasein. Das ist ungesund. Aber manche Träume sind auch ganz nützlich. Als Junge habe ich einmal einen ganzen Nachmittag lang über einem geometrischen Problem gebrütet. Ich musste zu Bett gehen, ohne es gelöst zu haben. Aber im Schlaf arbeitete das Gehirn weiter, und ein Traum gab mir die Lösung. Es gibt auch gefährliche Träume, die wie Blasen aus der Tiefe aufsteigen. Wenn man es wagt, über sie nachzudenken, ist das, als würde man etwas über sich selbst aus ihnen lernen – einen Wunsch, den man sich gar nicht wünschen wollte, Begierden, die man niemals laut äußern würde. Aber glauben Sie denen bloß nicht. Wenn Sie sie erst einmal wiegen und prüfen, halten diese Träume dem helllichten Sonnenschein nicht stand. Also tun Sie einfach, was jeder gesunde Mensch tun würde. Stoßen Sie sie in die finstere Tiefe zurück, wo sie hingehören. Und wenn sie Sie nachts doch wieder quälen, lachen Sie sie aus, bis sie jeden Anspruch aufgeben, Teil Ihrer Wirklichkeit zu werden.
Als dritte Option könnte sich Söderberg, der auch Theaterstücke schrieb, vielleicht entschlossen haben, seine Ideen für die Bühne dramatisch zu gestalten. Er könnte seinen Doktor auf zwei Figuren verteilt haben: Glas und Markel. Der Journalist Markel ist im Roman Glas’ bester Freund. In einem Theaterstück könnte er die moralisch aufrechte Seite des Arztes verkörpern, während Glas selbst die gequälte Seite spielt, die in Versuchung ist, den Mord zu begehen.
Im Subtext der nachstehenden Szene sucht Glas Hilfe bei Markel, um sich von seinen beängstigenden Träumen zu befreien. Markel spürt das und beantwortet die Fragen des Doktors daher mit moralisch positiven Aussagen. Der Text behält die Bildsprache des Romans bei (tatsächlich unterstützt das Theater bildhafte Sprache sogar enorm), verändert das Zeilen-Design aber von geschlossen zu offen, um den Schauspielern den Einsatz zu erleichtern. (Zur Analyse des Zeilen-Desgins vgl. Sie auch Kapitel 5.)
Glas und Markel sitzen im Café. Während es draußen langsam dunkel wird, trinken sie nach dem Abendessen ihren Brandy.
GLAS: Kennen Sie eigentlich das Sprichwort »Träume sind Schäume«?
MARKEL: Ja, das hat meine Großmutter immer gesagt, aber in Wirklichkeit sind doch die meisten Träume nur Fragmente des Tages, die es nicht wert sind, dass man sie behält.
GLAS: So wertlos sie auch sind, in irgendeiner Rumpelkammer des Gehirns führen sie doch ihr Schattendasein weiter.
MARKEL: In Ihrem Gehirn vielleicht, Doktor, nicht in meinem.
GLAS: Aber glauben Sie denn nicht, dass Träume uns auch Einsichten bringen können?
MARKEL: Manchmal vielleicht. Als Junge habe ich einmal einen ganzen Nachmittag lang über einem geometrischen Problem gebrütet. Als ich zu Bett gehen musste, war es noch nicht gelöst. Aber im Schlaf arbeitete mein Gehirn weiter, und ein Traum gab mir die Lösung. Am nächsten Morgen habe ich sie nachgeprüft, und ob Sie’s glauben oder nicht, sie war richtig.
GLAS: Nein, ich meinte eher etwas Verborgenes, Einsichten in sich selbst, Blasen, die aus der Tiefe aufsteigen, dunkle Begierden, die man beim Frühstück niemals zu äußern wagen würde.
MARKEL: Wenn ich solche Träume hätte, und ich will nicht behaupten, dass ich sie jemals hatte, dann würde ich sie in die finstere Tiefe zurückstoßen, wo sie hingehören.
GLAS: Und was, wenn die Begierden Nacht für Nacht zurückkehrten?
MARKEL: Dann würde ich davon träumen, wie ich sie verspotte und sie mir aus den Gedanken lache.
Alle drei Versionen enthalten im Wesentlichen denselben Inhalt, doch wenn das Gesagte die Richtung wechselt, von »zu sich selbst gesagt« über »zum Leser gesagt« bis hin »zu einer anderen Figur gesagt«, verändert auch die Sprache auf radikale Weise ihre Form, ihren Stil, ihre Tonalität und ihre »Textur«. Die drei grundlegenden Dialogformen erfordern drei scharf voneinander abgesetzte Schreibstile.
Jeder Dialog, ob dramatisch oder narrativ, spielt in der gewaltigen Symphonie der Story mit, doch Instrumentierung und Arrangements variieren beträchtlich, je nachdem, ob es sich um ein Buch, die Bühne oder die Leinwand bzw. den Bildschirm handelt. Aus diesem Grund übt auch das Medium, das Autoren sich wählen, einen großen Einfluss auf die Komposition des Dialogs, seinen Umfang und seine Qualität aus.
Das Theater beispielsweise ist ein vorwiegend akustisches Medium. Es hält die Zuschauer dazu an, aufmerksamer zuzuhören als zuzusehen. Entsprechend stellt die Bühne die Stimme über das Bild.
Beim Kino ist es umgekehrt. Film ist vor allem ein visuelles Medium. Es hält die Zuschauer dazu an, aufmerksamer zuzusehen als zuzuhören. Aus diesem Grund stellen Drehbücher das Bild über die Stimme.
Die Fernsehästhetik bewegt sich zwischen Theater und Kino. Drehbücher für Fernsehfilme behandeln Bild und Stimme ausgewogen, laden uns zu etwa gleichen Teilen zum Zusehen und Zuhören ein.
Prosa ist ein mentales Medium. Während die Storys, die auf Bühne und Leinwand aufgeführt werden, die Augen und Ohren der Zuschauer direkt erreichen, nimmt die Literatur den indirekten Weg über den Geist ihrer Leser. Diese müssen zunächst die Sprache interpretieren, sich dann die beschriebenen Anblicke und Geräusche vorstellen (wobei jede Leserin und jeder Leser eine eigene Vorstellung hat) und sich schließlich erlauben, auf das Vorgestellte zu reagieren. Mehr noch: Da für literarische Figuren keine Schauspieler nötig sind, steht es ihren Autoren frei, so viel oder so wenig Dialog zu verwenden und ihn so dramatisch oder narrativ zu gestalten, wie sie es jeweils für richtig halten.
Schauen wir uns einmal an, wie ein Story-Medium den Dialog formt.
Bei allen vier großen Story-Medien ist die Szene die Grundeinheit der Erzählstruktur. Im Theater wird der allergrößte Teil der Sprechstücke in dramatischem Dialog umgesetzt, der von Figuren in Szenen mit anderen Figuren aufgeführt wird.
Auch das Einpersonenstück ist da keine Ausnahme. Wenn eine einsame Figur auf der Bühne auf- und abgeht, kreiert sie dabei Szenen aus dramatischen inneren Dialogen, indem sie sich gewissermaßen zweiteilt und ihre verfeindeten Ichs aufeinander loslässt. Wenn sie sich zurücklehnt und ihren Gedanken freien Lauf lässt, stellen sich ihre Erinnerungen, Fantasien und Ansichten am besten als innere Aktionen dar, die von einem Wunsch geleitet sind und einem bestimmten Zweck dienen. So passiv und ziellos solche Grübeleien oberflächlich betrachtet auch wirken mögen, in Wahrheit sind sie doch dramatische Dialoge, in einer Szene von einer konfliktbeladenen Figur geäußert, die mit sich selbst darum ringt, sich zu verstehen, die Vergangenheit zu vergessen, sich von einer Lüge zu überzeugen – oder was Theaterautoren sonst noch an inneren Aktionen einfällt. Samuel Becketts Das letzte Band kann als brillantes Beispiel für einen dramatischen Dialog in einem Einpersonenstück dienen.
Gemäß einer uralten Theaterkonvention dürfen Bühnenautoren auch den narrativen Dialog einsetzen und ihre Figuren aus dem Szenenfluss heraustreten und sich ans Publikum wenden lassen, entweder in einem Monolog oder, wenn es nur ganz kurz ist, in einem Beiseitesprechen.6 Oft wird dabei ein Geständnis gemacht, ein Geheimnis enthüllt oder aber die wahren Gedanken, Gefühle oder Vorhaben einer Figur, die sie den anderen Figuren gegenüber nicht äußern kann. Die qualvollen Selbstanklagen von Tom Wingfield in Tennessee Williams’ Glasmenagerie sind ein Beispiel dafür.
In Ein-Personen-Inszenierungen wie Das Jahr magischen Denkens, Mark Twain Tonight! und I Am My Own Wife wird aus dem Monolog ein ganzes Stück. Solche Werke sind oft Bühnenadaptionen von Biographien oder Autobiographien, und die Schauspieler spielen darin beispielsweise eine bekannte Zeitgenossin (Joan Didion) oder eine historische Persönlichkeit (Mark Twain). Im Lauf des Abends können sie dabei alle drei Formen der Figurenrede einsetzen. Meistens aber lassen sie das Publikum in narrativem Dialog an ihrer Geschichte teilhaben. Hin und wieder stellen sie auch andere Figuren dar oder spielen Szenen aus der Vergangenheit in dramatischen Dialogen nach.
Die heutige Standup-Comedy fand ihre Form, als sich die Komiker vom bloßen Witzeerzählen ab- und dem narrativen Dialog zuwandten. Standup-Comedians müssen entweder eine Figur erfinden (wie Stephen Colbert) oder eine selektive, typisierte Version ihrer selbst auf die Bühne bringen (wie Louis C. K.), denn kein Mensch kann als genau die Person auf die Bühne kommen, als die er am Morgen aufgestanden ist. Ein Auftritt erfordert eine Kunstfigur.
Auf der Bühne kann sich die Grenze zwischen dramatischem und narrativem Dialog auch verschieben, je nachdem, wie die Schauspieler ihre Rolle interpretieren. Wenn Hamlet beispielsweise seine weitere Existenz in Frage stellt, richtet er die Äußerung »Sein oder Nichtsein« dann an das Publikum oder an sich selbst? Die Entscheidung liegt beim Schauspieler.
In Fällen, bei denen die Story eines Theaterstücks eine große Zahl von Figuren über mehrere Jahrzehnte hinweg umfasst, platzieren Dramatiker mitunter einen Erzähler am Bühnenrand. Diese Nicht-Figuren können alle möglichen Aufgaben erfüllen: Sie übernehmen die historische Exposition, führen andere Figuren ein oder begleiten die Handlung kontrapunktisch mit Ideen oder Interpretationen, die sich in den Szenen nicht direkt darstellen lassen.
Einige Beispiele: In Donald Halls Stück An Evening’s Frost (die Lebensgeschichte des Dichters Robert Frost) und Erwin Piscators epochaler Bühnenadaption von Tolstois Krieg und Frieden präsentieren die Erzählerfiguren auf der Bühne dem Publikum ein gottgleiches Wissen über Geschichtliches und die Figuren des Stücks, sie haben aber keinerlei persönliche Wünsche. Sie stehen über der Handlung, vereinfachen die Narration. Im Gegensatz dazu vermischen sich die Funktionen bei Thornton Wilders Erzählerfigur in Unsere kleine Stadt, dem sogenannten Spielleiter. Er übernimmt die Exposition und beeinflusst die Haltung des Publikums, hin und wieder begibt er sich aber auch in die dramatischen Szenen hinein und übernimmt eine kleine Rolle darin.
Wie beim Theater besteht auch der Löwenanteil der Gespräche in Film und Fernsehen aus dramatischen Dialogen, die als Rolle und im realen Agieren vor der Kamera oder – im Animationsfilm – aus dem Off eingesprochen werden.
Film- und Fernsehfiguren können ihre Dialoge auf zweierlei Weisen narrativ gestalten: entweder als Voiceover aus dem Off, das über die Bilder gelegt wird, oder als Monolog direkt in die Kamera.
Figuren, die aus dem Off von sich selbst erzählen, gehören seit den Anfängen des Tonfilms zum Inventar. Manchmal sprechen sie mit ruhiger, logischer und vertrauenswürdiger Stimme (How I Met Your Mother), manchmal zetern sie auch einfach hysterisch, irrational und unglaubwürdig los (Pi – System im Chaos). Manchmal geben sie verwirrenden Ereignissen einen Sinn (Memento), und manchmal bilden sie den Kontrapunkt zum Geschehen (The Big Lebowski). Einige Figuren offenbaren im dramatischen Dialog mit ihrem inneren Ich schmerzhaft ehrliche Gedanken (Adaption), andere verstecken ihr geheimes Ich hinter Ausreden und Rechtfertigungen (A Clockwork Orange), und wieder andere kommentieren ihre Zwangslage mit geistreichen Bemerkungen (My Name Is Earl).
Wenn eine Figur direkt in die Kamera schaut und uns etwas Geheimes, Persönliches zuflüstert, ist das meistens eine eigennützige Taktik, um uns auf ihre Seite zu ziehen (House of Cards). Seit Bob Hope wenden sich Comedians mit kurzen Sätzen und Blicken zur Kamera, um den Witz zu verstärken (It’s Garry Shandling’s Show). Und Woody Allen, der Größte von allen, setzt narrativen Dialog sowohl aus dem Off als auch vor der Kamera ein, um sich unsere Empathie zu sichern und Gags anzustacheln (Der Stadtneurotiker).
In Licht im Winter von Ingmar Bergman schickt eine Frau (gespielt von Ingrid Thulin) ihrem ehemaligen Liebhaber (Gunnar Björnstrand) einen Brief, in dem sie über seine Feigheit spricht und seine Unfähigkeit, sie zu lieben. Als der Mann zu lesen beginnt, schneidet Bergman auf das Gesicht der Frau in Nahaufnahme, und sie spricht den Brief, den Blick dabei direkt in die Kamera gerichtet, sechs Minuten lang. Bergmans subjektive Kameraführung führt uns direkt in die Fantasie des Ex-Liebhabers, so dass wir uns mit ihm und seinem Leiden identifizieren können, während er seine einstige Geliebte sprechen sieht und hört; zugleich lässt Ingrid Thulins Spiel mit der Kamera die intime Vertrautheit der beiden wieder aufflackern.
In Filmen wie Barry Lyndon, Die fabelhafte Welt der Amélie und Y Tu Mamá También – Lust for Life stellen Erzählerfiguren (Sir Michael Hordern, André Dussollier bzw. Daniel Giménez Cacho), die mit sonorer, wortgewandter Stimme aus dem Off erzählen und nicht zur Handlung gehören, die Verbindung zwischen einzelnen Episoden her, liefern die Exposition und bilden einen Kontrapunkt zum Handlungsverlauf.
Kontrapunktisches Erzählen bringt Ideen und Einsichten von außen in die fiktive Welt ein, um der Handlung mehr Dimension und Tiefe zu verleihen. So kann ein Erzähler einer Komödie tragisches Gewicht geben oder eine Tragödie mit Komik auflockern, er kann Illusionen mit Realität und Realität mit Fantastereien durchsetzen, seine Kommentare spielen die Welt der Politik gegen das Reich des Privaten aus oder umgekehrt. Oft genug bewahren die ironischen Beobachtungen dieser Nicht-Figuren einen Film davor, ins Sentimentale abzugleiten, indem sie die Gefühlsduselei der Figuren untergraben. Tom Jones – Zwischen Bett und Galgen ist ein Beispiel dafür.
Storys, die auf Bühne, Leinwand oder Bildschirm dargestellt werden, bewegen sich in den physischen Medien Luft und Licht und gelangen über die Sinne – Hören und Sehen – schließlich in den Geist. Storys, die in Prosa dargestellt werden, bewegen sich im mentalen Medium der Sprache, um in der Fantasie ihrer Leser zum Leben zu erwachen. Und da die Fantasie sehr viel komplexer, facettenreicher und vielschichtiger ist als die Sinne, hat die Literatur auch vielfältigere und flexiblere Dialogtechniken zu bieten als Theater, Fernsehen oder Kino.
Storys in Prosa können entweder von einer Figur aus der Handlung heraus erzählt werden oder aber von einer Erzählinstanz, die außerhalb der Story steht. Diese schlichte Unterteilung wird allerdings durch die drei POVs (Point of View) verkompliziert, die in der Literatur zur Auswahl stehen: Ich-Erzählung, Du-Erzählung, Erzählung in der 3. Person.
Ich-Erzählung: In einer Ich-Erzählung berichtet eine Figur, die selbst Gegenstand der Geschichte ist, dem Leser in der »Ich«-Form von Ereignissen, an die sie sich erinnert. Sie kann diese Ereignisse beschreiben oder sie dramatisch als Abfolge von Szenen präsentieren, in denen sie direkte Gespräche mit anderen Figuren führt. Sie kann sich aber auch nach innen wenden und mit sich selbst reden. Ist das der Fall, so folgen ihr die Leser dorthin und belauschen sozusagen ihr Selbstgespräch.
Ich-Erzähler sind immer auch als Figuren an der Story beteiligt und daher unzuverlässige Zeugen des Lebens, das um sie herum stattfindet, sie können das Geschehen nicht in seiner Gesamtheit überblicken und sind häufig alles andere als objektiv, weil sie ihre unausgesprochenen oder unbewussten Wünsche verfolgen. Aus diesem Grund kann die Glaubwürdigkeit von Ich-Erzählern ein breites Spektrum von ehrlich bis trügerisch abdecken.
Zudem sind Ich-Erzähler häufig sehr viel mehr auf sich selbst konzentriert als auf andere, so dass ihre inneren Aktionen, ihre Selbstbeobachtungen und Grübeleien die Buchseiten dominieren. Auf das Innenleben anderer Figuren lässt sich folglich nur aus den Vermutungen des Ich-Erzählers schließen oder aus Andeutungen, die sich den Lesern zwischen den Zeilen offenbaren.
Ein allwissender Ich-Erzähler mit übermenschlicher Einsicht in die Gedanken und Gefühle anderer Figuren kommt nur höchst selten zum Einsatz. So viel Dünkel erfordert eine außergewöhnliche Begründung. So ist in Alice Sebolds Roman In meinem Himmel die Ich-Erzählerin der Geist eines ermordeten Mädchens, das aus seiner jenseitigen Perspektive auf die Welt hinuntersieht und in die Herzen seiner Angehörigen blicken kann, die mit dem Verlust zu kämpfen haben.
Ich-Erzähler können selbst die Protagonisten der Story sein (wie Tony Webster in Julian Barnes’ Vom Ende einer Geschichte), sie können Vertraute der Protagonisten sein (wie Dr. Watson für Sherlock Holmes), sie können jedoch auch eine Gruppe sein, die in der ersten Person Plural spricht (Die Selbstmord-Schwestern von Jeffrey Eugenides), oder aber distanzierte Beobachter (so wie der namenlose Erzähler in Joseph Conrads Herz der Finsternis).
Erzählung in der 3. Person: Bei einer Erzählung in der 3. Person führt eine Erzählinstanz die Leser durch die Ereignisse. Oft verfügt diese Instanz über einen tiefen Einblick in die Gedanken und Gefühle sämtlicher Figuren. Obwohl das erzählende Bewusstsein selbst keine Figur ist, kann es doch mit starken moralischen oder anderweitigen Ansichten über die fiktive Welt und deren Gesellschaft aufwarten. Trotzdem wahrt es traditionell den Abstand, indem es von den Figuren als »er«, »sie« und »sie« im Plural spricht.
Da es sich bei dieser Erzählinstanz in der 3. Person nicht um eine Figur handelt, ist ihr Bericht kein Dialog. Es handelt sich aber auch nicht um die niedergeschriebene Stimme der Autorin oder des Autors. Niemand, nicht einmal der wortgewandteste Talkshow-Gast, geht mit der Stimme einer Erzählinstanz in der 3. Person durchs Leben.
Eine solche Nicht-Figur kann mitfühlender oder weniger mitfühlend sein als ihr Verfasser, politischer oder unpolitischer, aufmerksamer oder weniger aufmerksam, moralischer oder unmoralischer. In jedem Fall erfinden Prosaautoren auch für ihre Erzählinstanz eine linguistische Form, so, wie sie jeder ihrer Figuren eine Stimme geben, denn sie wissen, dass die Leser diese Erzählinstanz als wesens- und dialogfreie erzählerische Konvention akzeptieren, so wie sich auch das Publikum in Film und Fernsehen bzw. im Theater bereitwillig den Erzählerfiguren am Bühnenrand oder aus dem Off überlässt.
Die Sprache, die eine solche Instanz verwendet, kann zutiefst ausdrucksvoll sein, und es ist durchaus möglich, dass die Leser ihr im Geiste lauschen, als wäre sie eine konkrete Stimme. Das ist sie aber nicht. Nur Figuren haben echte Stimmen. Was wir als »Stimme« dieser Erzählinstanz bezeichnen, ist schlicht und einfach der literarische Stil eines Autors oder einer Autorin. Deswegen empfinden Leser auch weder Empathie für diese Stimme noch Neugier auf das Schicksal des dahinterstehenden Bewusstseins.
Durch Konventionen, die noch älter sind als Homer, wissen die Leser, dass ein Autor oder eine Autorin diese Nicht-Figur einzig zu dem Zweck erschaffen hat, die Handlung in eine Sprache zu kleiden, der die Leserschaft folgen kann. Würde die Instanz hingegen plötzlich als »Ich« von sich sprechen, dann würde aus der Nicht-Figur eine echte Figur und aus der Handlung eine Ich-Erzählung.
Das Wissensspektrum einer Erzählinstanz reicht von allwissend bis hin zu eingeschränkt, ihr Urteilsvermögen von moralisch neutral bis hin zu kritisch; sie kann im Geist ihrer Leser ganz offensichtlich oder versteckter präsent sein, ihre Glaubwürdigkeit bewegt sich zwischen ehrlich und trügerisch (Letzteres allerdings nur sehr selten). Im Spiel mit diesen Dimensionen können Prosaautoren ihre Erzählinstanz mit verschiedenen Abstufungen der Objektivität bzw. Subjektivität ausstatten, von ironisch-distanziert bis zu tiefgreifend beteiligt.
Die objektive Erzählinstanz (die wir auch als verborgene oder neutrale Erzählinstanz bezeichnen könnten) zeigt mehr als sie sagt. Sie beobachtet, analysiert aber nicht. Wie ein Zuschauer im Theater des Lebens lehnt dieses erzählende Bewusstsein sich gemütlich zurück, dringt nie in die inneren Bereiche vor, beschreibt weder die Gedanken noch die Gefühle der Figuren. Berühmte Beispiele dafür sind Ernest Hemingways Kurzgeschichten, unter anderem Hügel wie weiße Elefanten und Schnee auf dem Kilimandscharo. Mitte des 20. Jahrhunderts führte der französische Nouveau Roman die Technik in Werken wie Die Jalousie von Alain Robbe-Grillet bis an ihre äußersten Grenzen.
Die subjektive Erzählinstanz dringt bis ins Innenleben vor und kann auch zwischen den Gedanken und Gefühlen mehrerer Figuren hin und her wechseln. Häufig beschränken sich Autoren allerdings auf das Innenleben des Protagonisten oder der Protagonistin der jeweiligen Erzählung. Mitunter weist diese Instanz gewisse Ähnlichkeiten mit der Ich-Erzählung auf, wahrt aber den Abstand durch Verwendung der Personalpronomen »er« und »sie« statt »ich«.
In George R. R. Martins Lied von Eis und Feuer-Reihe nimmt beispielsweise jedes Kapitel einen anderen Handlungsstrang auf und beschränkt sich dabei auf den POV des jeweiligen Protagonisten.
Die Korrekturen