Wenn alte Wellen singen

Wassergeschichten aus dem Mittelalter

1. Auflage | 2016

ISBN 978-3-943531-42-8 (Kindle)

ISBN 978-3-943531-41-1 (Print-Ausgabe)

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat | Korrektorat: Sandra Mies | Julia Annina Jorges | Jana Hoffhenke | Isabella Benz

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung, Illustration: Detlef Klewer

www.burgenweltverlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 – Hochwasser | C.M. Dynrberg

2 – Goldene Tagträume | Tina Skupin

3 – Das leise Singen des Meeres | Sophia Schönhals

4 – Glücksbringer | Sabine Frambach

5 – Meereswolf | Anna Eichenbach

6 – White Ship | Claudia Wahnschaffe

7 – Still ruht der Fluss | Kathrin Pohl

8 – Das Lied der Sirenen | Leonie Halter

9 – Die Seele des Flusses | Julia Annina Jorges

10 – Wasser zu Feuer | Regine D. Ritter

11 – Elßlin | Elisabeth Schwaha

12 – Das Ende einer Sehnsucht | Corinne Hocke

13 – Tödliche Gastfreundschaft | Manuela Schörghofer

14 – Das leise Klirren des Dolches | Erik Huyoff

15 – Die Isarnixe | Marielle Bodenheimer

16 – Eisgang | Nina Casement

Lesetipps

Vorwort der Herausgeberinnen

Isabella Benz ist eine Wasserratte durch und durch. Unweit eines Freibades aufgewachsen, war Schwimmen schon immer der Sport, für den sie sich in der Schule am meisten begeistern konnte, und vielleicht ist auch ihr Sternzeichen »Fische« ein Vorbote für ihre Verbindung zu diesem Naturelement.

Für Michèle-Christin Jehs war das Wasser immer Bestandteil ihrer Kindheit. Aufgewachsen in der Nähe eines Moorsees, waren schwimmen im Sommer, Eislaufen im Winter und verträumte Spaziergänge im Moor und am Ufer des Sees in der Zeit dazwischen ihr liebster Zeitvertreib.

Nach »Gesänge aus Dunklen Zeiten« ist dies die zweite Anthologie, die wir beide unter der Regie des Burgenwelt Verlages herausgeben. Schon während der Auswertung der Kurzgeschichten zum Vorgänger war uns klar, dass wir es nicht bei der einen Anthologie bewenden lassen würden. Auch das Thema fand sich schnell: Wasser sollte das verbindende Element in der nächsten Anthologie sein.

Wasser ist die Grundlage allen Lebens. Wasser trägt und ermöglicht es, weite Distanzen deutlich kürzer zurückzulegen als zu Fuß. Klares Wasser schmeckt köstlich. Und warmes Wasser streichelt die Sinne und tut der Seele gut.

Wasser kann jedoch auch furchtbar gefährlich, ja, tödlich sein. Hochwässer zerstören die Felder und rauben den Menschen im schlimmsten Fall ihr Dach über dem Kopf. Zu Wellen aufgetürmt reißt das Wasser Schiffe in seine unendliche Tiefe. Und eisigkaltes Wasser lässt Menschen erfrieren.

All diesen vielen Gesichtern des Wassers waren wir bei unserer Ausschreibung auf der Spur. Die Einsendungen enttäuschten uns nicht. Dennoch versuchten wir bei unserer Auswahl die größtmögliche Vielfalt und Besonderheit unter den Geschichten aufzuspüren. Jeder Autor und jede Autorin, die nun in dieser Anthologie vertreten sind, haben dem Wasser mit Worten Klang und Farbe verliehen auf eine Art und Weise, die uns in ihren Bann gezogen hat.

Als Herausgeberinnen wünschen wir Ihnen nun viel Spaß mit den vorliegenden Kurzgeschichten und hoffen, dass sie Ihnen genauso viel Lesevergnügen bereiten wie uns.

Isabella Benz & Michèle-Christin Jehs

Hochwasser

C.M. Dyrnberg

***

Die Leichen lagen auf dem Feld, als warteten sie darauf, geerntet zu werden. Sieben Tage hatte das Hochwasser in den Fluren rund um das Kloster gestanden. Am Pfingstsonntag war der Fluss gegen Abend über seine Ufer getreten und hatte das Umland lautlos überschwemmt, die Wege überspült und sich in die Stuben der Bauernhöfe ergossen. In der achten Nacht kroch die dunkle, dreckige Brühe schließlich in das Flussbett zurück, hinterließ Schlamm und zerstörte Äcker – und gab drei Tote frei. Drei Leichen, die auf dem klostereigenen Feld südlich der Anhöhe unserer Abtei wie verstreute Getreidegarben liegengeblieben waren.

Wir entdeckten sie in aller Frühe nach dem Morgengebet, während des Rundganges, der uns einen Überblick über die drohenden Ernteverluste verschaffen sollte: kleine, unförmige Erhebungen, die aus der Ferne an Steine oder morsch gewordene Brückenteile erinnerten. Erst als wir näher an sie herantraten, erkannten wir, dass es sich um menschliche Körper handelte, verkrustet mit stinkendem Morast, in gekrümmter Haltung, wahrscheinlich die Leiber von Frauen, sicher aber war ich mir in diesem Punkt nicht.

Unsere Worte versiegten. Stumm standen wir zwischen den grausigen Funden wie Verlorene in einem Labyrinth. Der Prior fand als Erster seine Stimme wieder. Erst vor eineinhalb Jahren hatte ihn der Bischof in unser entlegenes Kloster gesandt, um den Posten des Stellvertreters zu besetzen. Er war, wie man so sagte, in der Welt herumgekommen und hatte an angesehenen Universitäten studiert, an diesem Morgen aber wich auch aus seinem Gesicht alles Weltmännische.

»Laufe zurück ins Kloster«, sagte er zu mir gewandt. »Benachrichtige den Abt! Sofort!«

Ich selbst, der ich hier das Wort zu führen und mir die längst vergangenen Geschehnisse in Erinnerung zu rufen habe, war ein Bauernjunge aus der Gegend und zur damaligen Zeit noch Novize. Ich tat wie befohlen, lief den schmalen Weg hinauf zur Abtei und weiter in die Gemächer des Abtes, wo er wie so oft mit dem Braumeister zusammensaß.

Im Verlauf der Amtszeit des Abtes war unser ärmlicher Konvent zu einer blühenden Klosterbrauerei gediehen. Was in früheren Zeiten bloße Leidenschaft einer Handvoll Mönche gewesen war, diente nun als Haupteinkommensquelle, ja hatte der Abtei zu Reichtum verholfen. Von einer seiner wenigen Reisen hatte der Abt die Idee mitgebracht, dem Biersud Hopfen beizumengen, ein Getreide, das bis dahin lediglich als Heilkraut zur Beruhigung der Nerven sowie gegen Magenbeschwerden Verwendung gefunden hatte. Schon die ersten Versuche überzeugten geschmacklich, und bald waren die in der Bierbrauerei sonst üblichen Gewürze wie Lavendel, Lorbeer oder Gagelkraut zur Gänze aus dem klostereigenen Rezept getilgt. Mittlerweile war das schmackhafte Bier im gesamten Bistum bekannt; fässerweise brachten wir das herbe Gesöff in die Städte, wo es uns die reichen Herren regelrecht aus den Händen rissen, und die wenigen eigenen Felder unserer Abtei reichten längst nicht mehr aus, die Produktion zu stemmen. Das Kloster fraß Hopfen wie ein vielköpfiges Ungeheuer, und so verwunderte es nicht, dass die Grundherren im Umkreis allesamt längst auf Hopfenanbau umgestiegen waren. Im Einklang mit der klösterlichen Gemeinschaft kamen auch sie zu Vermögen – und dennoch hätten wir jeden Monat weit mehr von unserem Bier verkaufen können, als wir zu liefern imstande waren. Das Hochwasser war für uns demnach eine reine Katastrophe und entsprechend schlecht war die Stimmung des Abtes.

»Was willst du?«, fuhr er mich an.

Ich setzte ihn über unseren Fund in Kenntnis und erwartete, dass er erst sein Gespräch zu Ende führen, erst noch über anstehende Lieferungen, Vorbestellungen oder Verfeinerungen des Gärprozesses sprechen wollen würde – aber weit gefehlt: Sogleich sprang er auf und eilte mit mir gemeinsam aus den Klostermauern hinab zu jenem Feld, wo die Mitbrüder warteten. Als wir zum Stehen kamen, rang der Abt um Atem. Das schnelle Gehen war ihm ob seiner Leibesfülle nicht gut bekommen.

»Drei?«, wiederholte er keuchend, nachdem sein Stellvertreter die fieberhaft vorgebrachten Ausführungen beendet hatte.

»Drei«, bestätigte der Prior und zeigte mit seinem Finger auf die nicht weit von uns entfernten Funde. Der Abt nickte mehrmals, dann jedoch versank er in grimmiges, stirnrunzelndes Schweigen, wie wir es auch ohne seinen Beistand zusammengebracht hatten. Wir mochten mehrere Minuten so dagestanden haben, still betend und grübelnd, bis schließlich einer der jüngeren Brüder, an dessen Namen ich mich nicht mehr zu erinnern vermag – wie ich ohnehin viele Geschehnisse dieser Tage aus meinem Gedächtnis verbannt habe –, einen Vorschlag kundtat:

»Wir könnten«, sagte er leise, »die Bauern flussaufwärts befragen. Vielleicht wissen sie, wer die Toten sind, vielleicht …«

»Die Bauern befragen?« Die Stimme des Priors klang weder aufgebracht noch spöttisch, vielmehr unnachsichtig dozierend, als würde er einen Gedankengang in seine Einzelteile zerschneiden. »Was soll das bringen? Im besten Fall kennen wir dann die Namen dieser Unglücklichen. Haben wir jedoch wirklich verstanden, was hier geschehen ist, wenn wir wissen, dass diese hier Maria und jener dort Franz hieß?«

Entweder war der Prior hinsichtlich der Geschlechter der Toten zu einem anderen Urteil als ich gekommen, oder er hatte noch nicht genau genug hingesehen, jedenfalls schien er eine Antwort zu fordern, als glaubte er, der junge Mönch würde ein theologisches Streitgespräch mit ihm beginnen wollen. Wie nicht anders zu erwarten verstummte dieser jedoch bloß errötend und senkte den Kopf.

»Mir scheint«, wandte sich der aus seiner Versunkenheit erwachte Abt an seinen Stellvertreter, »Ihr wollt uns etwas mitteilen?«

Der Prior drehte sich zu dem Fragenden um. Für einige Augenblicke schien er seine Gedanken zu sammeln.

»Ich habe meine Novizenjahre in einem Kloster an der Donau verbracht«, begann er. »Dort werden jeden Frühling Leichen angeschwemmt. Die Bauern verscharren sie meist sogleich entlang des Ufers. Sie gehen davon aus, dass sich diese Verdammten freiwillig in die Fluten stürzten. Und Todsündern bleibt die Feier eines christlichen Begräbnisses ja verwehrt. Bei einem Toten dürften auch wir von einem Selbstmörder ausgehen. Hier aber liegen drei auf unserem Feld. Drei Tote auf einen Streich! Und darüber hinaus sehen diese drei, so viel ich zu erkennen vermag, nicht aus wie die Wasserleichen, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekommen habe. Die wenige Haut, die wir sehen können, ist nicht aufgebläht.«

»Ich sehe nur Dreck«, unterbrach ihn der Abt.

»Ich zeige Euch, was ich meine«, antwortete der Prior, der während des Erzählens an einen der Leichname herangetreten war. Der Klostervorsteher jedoch winkte ab.

»Nein«, sagte er barsch. »Sagt mir lieber, worauf Ihr hinauswollt.«

»Worauf ich hinauswill? Der Fluss hat die Toten fast direkt vor unser Tor gelegt. Durch die Natur aber spricht Gott selbst zu uns, sie ist neben der Bibel das zweite Buch, in dem wir sein Wort erfahren dürfen. Daher liegt die Frage nahe, ob diese Toten nicht ein Zeichen sind.« Ich erinnere mich, dass seine Worte durchaus Eindruck machten. Mancher in der Runde nickte, der Abt aber sah ihn unumwunden an.

»Ich vermag dem Gedankengang zwar zu folgen«, antwortete er, »aber ich verstehe noch immer nicht, wozu Ihr uns ratet.«

»Wir müssen die Toten selbstverständlich untersuchen«, gab der Prior zurück.

»Untersuchen?« Die Stimme des Abtes überschlug sich.

»Ja, untersuchen. Wenn es sich um ein Signum Gottes handelt, dürfen wir die Toten nicht im Boden verscharren, als würde es sich bei ihnen um namenlose Selbstmörder handeln!«

Während des Schweigens, das auf diesen Vorschlag folgte, blickten die Oberhäupter des Klosters in unsere kleine Runde. Ich selbst erlaubte mir nicht aufzusehen. Dann murrte der Abt etwas Unverständliches, das wenig freundlich klang, zuckte aber zugleich mit den Schultern.

»Von mir aus«, sagte er schließlich, die Worte hervorpressend, als hätte er solche Zahnschmerzen, dass es ihm widerstrebte, den Mund weiter zu öffnen als unbedingt notwendig. »Untersucht sie und erstattet mir heute Abend Bericht. Wenn Ihr nicht findet, wonach auch immer Ihr sucht, werden die Unglücklichen morgen in den Fluss geworfen. Soll das Wasser sich um sie kümmern.« Im Gehen wandte er sich noch einmal seinem Stellvertreter zu: »Und stört unter keinen Umständen das Klosterleben mit Euren Untersuchungen! Wenn Ihr die Toten schon in unsere Mauern bringen müsst, dann schafft sie in den hintersten Raum des Kellergewölbes, dort, wo die leeren Fässer lagern. Von denen ja viele in diesem Zustand verbleiben werden, ob dieses verdammten Hochwassers«, setzte er hinzu.

---

In meiner linken Hand hielt ich die Fackel, in meiner rechten den Kübel mit Wasser; der Prior selbst hatte die Bürste. Außer uns befand sich niemand hier unten – niemand zumindest, der am Leben gewesen wäre. Vor uns, auf dem kalten Boden zwischen Reihen von Fässern, lagen im zuckenden Schein der Flamme die drei Toten. Der Prior nickte, als wollte er sich selbst Mut zusprechen und murmelte ein kurzes Gebet, bevor er begann, den getrockneten Schlamm von den Körpern zu schrubben. Immer wieder tauchte er die Bürste in den Kübel, um kraftvoll und doch behutsam den Schmutz zu entfernen. Ich wagte nicht, zu fragen, wonach genau er denn suchte. Still stand ich da und sah seinem Tun zu. Als er den gröbsten Dreck beseitigt hatte, erkannten wir, dass es sich tatsächlich ausnahmslos um Frauen handelte, gekleidet in einfache, bäuerliche Gewänder, keine älter als fünfzehn Jahre. Der Prior hielt inne und blickte auf zur Decke. Dann bekreuzigte er sich seufzend ein weiteres Mal und ging dazu über, die Kleider der Toten zu entfernen. Er zog sie nicht aus, nein, er krempelte ihre zerrissenen Ärmel hinauf, um die Arme zu begutachten, er hob die Gewänder und besah sich ihre Bäuche und Beine, er drehte sie zur Seite, um ihre Rücken zu mustern. Zum Schluss wagte er einen kurzen Blick auf ihre Brüste. Einzelheiten möchte ich an dieser Stelle aussparen, und doch muss ich zu Papier bringen, dass mir das Prozedere nicht einerlei war. Auch wenn es sich um die Körper von Toten handelte, auch wenn die Augen der Frauen starr und leer in jene Ferne blickten, die uns Lebenden unbekannt bleibt, so muss ich doch die Verwirrung eingestehen, die ich bei alldem empfand.

Ich wollte wegsehen – konnte es aber nicht.

»Nichts«, sagte der Prior, nachdem er seine Untersuchungen beendet hatte. »Zumindest nichts, das ich erkennen würde.« Er ließ die Bürste in den Kübel fallen, lehnte sich gegen eines der Fässer und rieb sich die Augen. »Weder die Wundmale Christi noch Male des Teufels.«

»Ist das nicht … ist das nicht gut?«, getraute ich mich zu fragen.

»Wenn die Toten keine Zeichen aufweisen«, antwortete er, »sind die Toten selbst das Zeichen. Und damit sind wir so klug wie zuvor.« Er wirkte niedergeschlagen und betrübt, vielleicht war er bloß müde. »Drei Tote vor einem Kloster«, wiederholte er leise, mehr zu sich selbst. »Angeschwemmt von einem Fluss …« Die restlichen Worte gingen in unverständliches Gemurmel über, aus dem ich lediglich einzelne Begriffe herauszuhören vermochte: Hochwasser. Natur. Das zweite Buch. Es klang, als erinnerte er sich an Vorlesungen und einstmals studierte Bücher, von denen er sich nun Rat erhoffte – und in der Tat richtete er sich plötzlich auf.

»Komm’ mit«, sagte er, wie von einem plötzlichen Einfall beflügelt. Als ich ihn auf das anstehende gemeinsame Gebet in der Kapelle hinwies, machte er eine wegwerfende Handbewegung und meinte, ich dürfe auf sein Geheiß hin fernbleiben. Ich folgte ihm in die Bibliothek, die im Gegensatz zum übrigen Kloster mit dem Erfolg der Brauerei nicht gewachsen war, sondern noch immer wie die einer ärmlichen Provinzabtei aussah. Ihr Bücherbestand passte in einen einzigen, nicht besonders großen Raum. Im Gegensatz zu mir schien sich der Prior mit der Anordnung der Schriften bestens auszukennen. Zielstrebig schritt er auf eines der hinteren Regale zu, entnahm sorgfältig mehrere in Schweinsleder eingebundene Blätterstöße und legte sie nebeneinander auf den Pulttisch, der in der Mitte des Zimmers stand.

»Halte die Kerze nahe ans Papier. Leuchte stets dort hin, wo sich mein Finger befindet, aber sei vorsichtig«, ordnete er an.

So begann er zu lesen, sein Finger flog über die Zeilen, und ich musste wohl mit offenem Mund dagestanden haben, denn nach einigen Seiten fragte er mich, worüber ich denn so erstaunt sei.

»Ich habe noch nie jemanden so schnell lesen sehen«, lautete meine ehrliche Antwort.

»Ich weiß, wonach ich suche«, antwortete er knapp, »und nach diesen Worten halte ich Ausschau.«

Ich nickte, als hätte ich verstanden, obwohl mir diese Methode völlig unbekannt war. Wenn ich las, so reihte ich die Buchstaben zu einem Wort und die Worte zu Sätzen, und diese Sätze wiederholte ich, nachdem ich sie gelesen hatte, damit ich mir ihren Sinn vergegenwärtigte. Für dieses Vorgehen war ich von meinen Lehrern als Naturtalent gepriesen worden! Was dieser Mann hier tat, schien mir mit Lesen hingegen nichts zu tun zu haben. Aber wie auch immer er es bewerkstelligte … es bereitete ihm sichtliches Vergnügen, wie ich an den wohlig-heiteren Lauten erkannte, die er von Zeit zu Zeit ausstieß. Derart in seine Lektüre – oder wie immer seine Tätigkeit zu nennen war – versunken, bemerkte er nicht einmal, als die Tür aufging und der Abt plötzlich im Raum stand.

»Wir haben Euch bei der Andacht vermisst«, sagte er in scharfem Ton, und obwohl er wohl uns beide meinte, sah er nur in meine Richtung. Der Prior fuhr herum und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, doch der Abt fuhr unbeirrt fort: »Ihr habt die Leichen gewaschen, habe ich gehört. Und nun sitzt Ihr hier in der Bibliothek und studiert. Darf ich daraus schließen, dass Ihr nichts gefunden habt? Können wir die Toten also endlich aus dem Kloster schaffen?«

»Doch, doch, ich habe durchaus etwas gefunden«, antwortete der Prior, dem der spöttische Tonfall seines Gegenübers offenbar entging. Er stand auf und deutete auf die Papiere, die vor ihm auf dem Pult lagen. »Es ist nicht zum ersten Mal geschehen«, erläuterte er. »Die Chroniken berichten wiederholt von Leichenfunden nach einem Hochwasser. Der Fluss tritt zwar nur selten für längere Zeit über seine Ufer, aber immer hinterlässt er dabei tote Körper. Vor sechzehn Jahren fand man zwei Frauen, vor über zwanzig Jahren ebenfalls zwei. Dann eine, davor wieder zwei.« Der Prior schüttelte seinen Kopf, als könne er immer noch nicht glauben, wovon die Chroniken erzählten. Plötzlich sah er den Abt an. »Seid Ihr nicht damals schon hier gewesen?«, fragte er. »Ihr müsstet Euch doch eigentlich erinnern: Auch Euer Vorgänger fand nach einem Hochwasser zwei tote Frauen auf den Feldern.«

Der Körper des Abtes erstarrte. Er strich sich mit der linken Hand über die Wangen, als würde er einen Bart kraulen, wie ich es schon einige Male bei ihm beobachtet hatte, wenn er sich Zeit für eine Antwort verschaffen wollte.

»Ja«, sagte er leise. »Ja, nun erinnere ich mich wieder. Ich war damals noch ein junger Mönch. Das alles ist lange her. Kein Wunder, dass ich es vergessen hatte. Ich frage mich aber, was der Ausflug in die Geschichte uns nützen soll?«

»Aber das ist doch eine erstaunliche Zufälligkeit, meint Ihr nicht?« Der Prior blieb beharrlich.

»Selbstmörder oder Unfallopfer«, antwortete der Abt kühl. »Der Fluss macht hier eine Biegung und schwemmt eben vieles an.«

»Ehrwürdiger Abt, erlaubt mir zu widersprechen«, sagte der Prior. »Leichen vor einem Klostertor? Regelmäßig mit dem Hochwasser? Stets Frauenleichen. Und nun sogar drei Tote? Das kann kein Zufall sein.«

»Heute Morgen erst habt Ihr einen Mitbruder zu Recht darauf hingewiesen, dass wir keine Bauern befragen sollten, um den Willen Gottes zu verstehen, und nun befragt Ihr selbst irgendwelche Chroniken?«, gab der Abt zurück. »Werdet Ihr so schnell Euren eigenen Überzeugungen untreu?«

Der Prior sog hörbar die Luft ein. »Mir scheint es bislang nicht gelungen zu sein, Euch klarzumachen, worum es mir geht«, sagte er nachdenklich, und ich war unschlüssig, ob er die Kunst der Diplomatie ausübte, die einen stets den Fehler bei sich selbst suchen ließ, oder ob er es tatsächlich ernst meinte. »Die Zeichen für den drohenden Untergang und den Neubeginn im Herrn sind in der Natur allgegenwärtig: Erdbeben zerstören Dörfer, Seen trocknen von einem Tag auf den anderen aus, Flüsse treten über ihre Ufer, Geröll donnert von den hässlichen Bergen zu Tale, Schwärme von Heuschrecken fallen über das Getreide her, das Gift der Schlangen wird immer tödlicher, die Zähne der Bären noch reißender. Wohin wir auch blicken in der Natur, überall zeigen sich Fäulnis und Verdammnis. Manche glauben zwar immer noch, in der Natur würde sich die Güte Gottes zeigen, ich jedoch halte dies für einen überkommenen Irrweg: Die Natur ist eine natura lapsa, eine gefallene und verdammte Natur, sie ist nicht nur faulig, sie wird mit jedem Tag schlechter. Gott zeigt uns in ihr die kommende Apokalypse, und wir sind dazu aufgerufen, seine Zeichen zu sammeln und zu deuten. Wir müssen daher unverzüglich dem Bischof schreiben und ihn über unsere Entdeckung in Kenntnis setzen.«

»Dem Bischof schreiben?«, gab der Abt zurück.

»Selbstverständlich«, bestätigte der Prior. »Er muss wissen, was in seinem Bistum geschieht: Ein Fluss, der immer wieder Tote vor das Tor eines Klosters spült! Seit über hundert Jahren! Vielleicht gibt es unter der Sonne kein eindeutigeres Zeichen für das kommende Weltenende als dieses hier vor unseren Augen!«

Der Abt blickte ihn eisig an. Dann trat er raschen Schrittes zur Tür, schloss sie und befahl dem Prior in schroffem Ton, sich zu setzen.

»Wie bitte?«

»Ihr sollt Euch setzen und mir zuhören«, bellte der Abt.

Der Prior tat wie ihm geheißen.

Während der Abt langsam auf und ab ging, fragte er: »Was würde geschehen, wenn wir tatsächlich dem Bischof schrieben?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Ich kann es Euch sagen: Der Bischof würde eine Kommission einsetzen, Theologen würden bei uns einfallen, sich auf unseren Fund stürzen und in stundenlangen Sitzungen mit Feuereifer über die Toten und über all die großen Fragen diskutieren. Und wir? Wir hätten keine ruhige Minute mehr!« Die Worte waren wie ein Schwall aus ihm gekommen, schnell und fast ohne Atem zu holen. Nun hielt er in seinem Hin- und Hergehen inne und nickte in Richtung des Priors. »Ich weiß, dass Euch dies gefallen würde, immerhin habt Ihr bei den Großen gelernt, immerhin versteht Ihr Euch auf das Geschäft der Theologie, wir hier aber lieben unsere Beschaulichkeit und Ruhe zur Verrichtung unseres Tagwerks. Manche Theologen, die Euch in Bologna oder Paris unterrichtet haben, mögen über uns Provinzmönche, die wir kaum schreiben können, spotten, ich aber sage Euch, dass auch die Brüder hier ihren Dienst an Gott tun.«

»Daran zweifle ich keineswegs«, warf der Prior ein. »Aber die Sache muss doch untersucht werden. Wenn es Euch um die Produktion geht, so mache ich mich erbötig, die Nachricht zum Bischof zu bringen. Ich bin für das Bierbrauen wahrlich kein großer Verlust und könnte unverzüglich in die Stadt abreisen. Ihr wisst, ich bin mit dem Bischof bekannt. Ich könnte ihn bitten, dafür zu sorgen, dass die Tagesabläufe des Klosters bei der Untersuchung keinen Schaden nehmen.«

Der Abt schnaubte verächtlich.

»Gewiss«, sagte er bleiern. »Ihr seid mit dem Bischof bekannt. Wie könnte ich das vergessen?« Er überlegte einige Augenblicke, dann richtete er seinen Blick auf mich.

»Vielleicht sollte unser junger Novize gehen?«, fragte der Prior.

Ich hätte schwören können, der Abt wäre kurz davor gewesen zu nicken, doch dann schüttelte er den Kopf.

»Nein«, sagte er bestimmt. »Er soll bleiben und hören, was ich Euch erzähle.« Der Abt unterbrach seine Rede und wandte sich von uns ab. Als er sich wieder umdrehte, war sein Gesicht ausdruckslos. »Ihr wollt also zum Bischof gehen«, stellte er fest. »Ihr wollt die Sache untersuchen lassen, und so wie die Dinge liegen, werde ich Euch nicht daran hindern können. Immerhin hat er selbst Euch hier als Prior eingesetzt, immerhin steht Ihr mehr in seinen Diensten als in meinen.«

Der Prior wollte aufspringen, etwas erwidern, doch sofort wies ihn der Abt mit einem »Schweigt!« zurecht.

»Wir alle wissen, dass Ihr nach eineinhalb Jahren bei uns noch immer ein Fremdkörper seid. Ihr wärt lieber in einem anderen Kloster, das ist kein Geheimnis. Macht Euch also nicht der Sünde schuldig, indem Ihr mir ins Gesicht lügt!«

Der Prior erhob keinen Einspruch, sondern blieb stumm auf dem Studierhocker vor dem Pult sitzen.

»Ihr wollt also wissen, was es mit den Toten auf dem Feld auf sich hat«, fuhr der Abt fort. »Ich kann es Euch darlegen … Es sind Opfergaben. Jungfrauen, nach altem Brauch. Es sind Opfer«, wiederholte er. »Die Bauern werfen sie in das Hochwasser, weil sie glauben, damit den Fluss zu besänftigen.«

»Opfergaben?«, echote der Prior fassungslos. »Menschenopfer? Obwohl sie Christen sind?«

Der Abt nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet.

»Das mag Euch absurd erscheinen«, sagte er, »die Ihr an den Universitäten über den rechten Glauben an Christus doziert und dabei nie mit einfachen Gläubigen in Berührung kommt. Ihr sitzt an Euren Pulten und denkt Euch die Welt zurecht. Hier aber, im Leben abseits Eurer Hörsäle und Seminarräume, glauben die Menschen in vielen abgelegenen Landstrichen und Tälern noch an Dinge, die Ihr für längst ausgemerzt erachtet. Und wer kann es ihnen verübeln? Sie haben seit Hunderten von Jahren daran geglaubt, vielleicht seit Jahrtausenden. Warum sollten sie damit aufhören? Nur weil wir hier ein Kloster errichtet haben?« Wieder schnaubte er. »Ihr sagtet zuvor, der Fluss trete nur selten über seine Ufer. Das stimmt. Und die Bauern schreiben sich diese Tatsache selbst zu. Während die Donau, wie Ihr berichtet habt, jedes Jahr ihr Umland flutet, kommt es hier bei uns nur alle paar Jahrzehnte zu einem Hochwasser. Und warum? Weil wir dem Fluss geben, wonach er verlangt, sagen die Bauern.«

»Ihr redet von getauften Christen«, stammelte der Prior.

»Natürlich sind sie getauft«, gab der Abt zurück. »Aber die Taufe verändert einen Menschen nicht, sie legt sich vielmehr wie ein Mantel um die Seele.«

»Aber wenn das alles stimmt«, sagte der Prior, der sich bereits wieder fing, »wenn das alles stimmt, müssen wir erst recht zum Bischof. Wir müssen ihm erzählen, was hier in seinem Bistum geschieht. Wir müssen in die Bauernstuben gehen und die Barbarei endgültig austreiben!«

»Ja, das müssen wir«, sagte der Abt ruhig. »Aber dies alles braucht Zeit. Das gelingt nicht von heute auf morgen.«

»Ihr sprecht von getauften Christen, die andere getaufte Christen im Wasser ertränken, weil sie einem alten Mythos huldigen«, warf der Prior empört ein. »Wenn dies nicht von heute auf morgen geändert gehört, was dann? Es ist unsere Pflicht …«

»Warum glaubt Ihr, seid Ihr hier?«, unterbrach ihn der Abt. Die unerwartet schneidende Frage ließ den Prior verstummen. Verwirrt sackte er auf dem Schemel zusammen und blickte fragend zu dem Abt auf.

»Ich verstehe nicht.«

»Auch das kann ich Euch sagen: Ihr seid hier, weil dieses Kloster in naher Zukunft eines der reichsten des Bistums und darüber hinaus sein wird. Das Hopfenbier verwandelt die Kargheit von einst in Glanz und Prunk. Der Bischof hat dies längst verstanden. Das ist der Grund, warum er einen seiner Männer hier haben will. Wenn ich einmal nicht mehr bin, wird er alles tun, damit Ihr mein Nachfolger werdet. Es ist für einen Kirchenfürsten in der Tat kein Schaden, wenn reiche Klöster mit Getreuen besetzt sind.« Für einen kurzen Moment legte sich ein bitteres Lächeln auf das Gesicht des Abtes. »Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, Euch klarzumachen, was ich Euch sagen möchte«, imitierte er die Redewendung des Priors von zuvor. »Solange hier Bier gebraut wird, sprudeln auch in der Schatulle des Bischofs die Einnahmen. Und Geld kann ein Bischof, der prachtvolle Kirchen zum Lob der Allmächtigkeit Gottes erbauen lässt, nie zu viel haben. Glaubt Ihr ernsthaft, er würde sich mit jenen Grundherren und deren Bauern anlegen, auf deren Hopfen wir angewiesen sind? Die Herren dieser Gegend entstammen selbst freien Bauerngeschlechtern, sie glauben entweder an die Jungfrauenopfer oder mischen sich in die alten Rituale ihrer Bauern nicht ein, solange die Ernteerträge stimmen. Glaubt Ihr, der Bischof würde einen offenen Konflikt beginnen, den er nur verlieren kann, wenn doch alle zufrieden sind, auch er selbst? Ihr dürft eines nicht vergessen: Andere Klöster mögen eigene Äcker besitzen; wir hier aber haben aus dem Nichts etwas erschaffen, wir sind aus ein paar kümmerlichen Morgen Land emporgestiegen – wir brauchen diese Bauern, brauchen ihre Felder.«

Der Prior war während der letzten Worte des Abtes aufgestanden. In seinem Gesicht zeichnete sich ein Zorn ab, wie ich ihn nie zuvor an ihm gesehen hatte.

»Wenn Ihr glaubt«, sprach er langsam, »der Bischof würde des schnöden Mammons wegen dabei zusehen, wie in seinem Bistum Menschen geopfert werden, so kennt Ihr ihn schlecht.« Seine Stimme zitterte vor Wut. »Ich gebe zu, mich oft gefragt zu haben, warum ich ausgerechnet hier meinen Dienst an Gott versehen muss. Eben habt Ihr mich selbst darauf hingewiesen, ich sei als Getreuer des Bischofs hier. Und eines weiß ich mit Sicherheit, nämlich, dass ich ihn über all dies informieren werde.«

Die beiden Männer standen sich im schwachen Schein der wertvollen Kerze aus Bienenwachs, die ich immer noch in Händen hielt, auf Schrittweite gegenüber. Jeder hielt dem Blick des anderen stand. Eine fast greifbare Spannung erfüllte den kümmerlichen Raum bis in den letzten Winkel.

Noch heute ist mir, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen, bis der Abt plötzlich »gut«, sagte, »gut, gut, gut. Wenn Ihr unbedingt wollt, informiert den Bischof, aber Ihr werdet sehen, dass er meine Einschätzung der Lage teilt. Er wird Euch sagen, was ich Euch gesagt habe. Ich werde heute Abend noch ein Schreiben aufsetzen. Ihr reist morgen früh ab. Der Novize wird Euch begleiten.«

---

Und so geschah es. Wir brachen am Morgen auf und folgten schweigend dem schmalen Weg hinab zu den Feldern, vorbei an den Stellen, wo wir die Toten – die Opfergaben – gefunden hatten. Ein zäher Frühnebel bedeckte die Senke. In der Luft lag der Geruch des angeschwemmten Morasts und Unrats. Wir hielten uns gen Norden und schwenkten erst nach einer guten Stunde zum Fluss hin ein, in Richtung der alten Brücke, die vor langer Zeit an einer schmalen Stelle des Gewässers errichtet worden war und die wir auf unserem langen Weg in die Stadt queren mussten. Als wir den Fluss schließlich zu Gesicht bekamen, zeigte er sich uns immer noch als reißender, über die Ufer tretender Strom. Die Wassermassen drängten fast lautlos und doch rasend hinab ins südliche Land und trugen allerlei Geäst an uns vorbei. Es war mir, als könnte der Fluss jederzeit seine Macht erneut erheben und alles um sich herum begraben. Das Naturschauspiel rang uns Andacht ab. Anders kann ich mir nicht erklären, warum unsere Schritte beim Überqueren der Brücke stetig langsamer wurden. Wie gefesselt hielt der Prior seinen Blick auf das leise Toben unter uns gerichtet.

»Seht!«, rief ich plötzlich aus und deutete hinab. »Seht nur!«

»Wo? Was siehst du?«, fragte er. Als er, meinem Fingerzeig folgend, über das Geländer spähte, trat ich von hinten an ihn heran.

»Dort!«, rief ich.

Rasch bückte ich mich und umfasste seine Fußgelenke mit beiden Händen. Ich sagte es ja: Ich war ein Bauernbub aus der Region und als solcher mit ihren Bräuchen vertraut. Vielleicht war dies der Grund gewesen, warum die Wahl des Abtes auf mich fiel. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog ich die Beine des vor mir stehenden Mannes empor, als würde ich einen mittelschweren Stein hochheben. Es kostete mich kaum Mühe. Mit einem gellenden Schrei kippte der Prior über die Brüstung nach vorn – und ich ließ los. Er fiel und tauchte mit einem Geräusch, das ich mir lauter vorgestellt hatte, in das reißende Gewässer. Kein Platschen, kein Spritzen. Sein Körper wurde von der dunklen Brühe verschluckt, als hätten die gierigen Wasser nur auf ihn gewartet. Alles, was ich noch von ihm zu sehen bekam, waren seine Hände, die für einen kurzen Moment wild um sich schlugen – dann wurde sein Leib von der treibenden Kraft des Flusses in die Tiefe und Ferne gezogen.

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ÜBER DEN AUTOR

C.M. Dyrnberg ist im Bereich Philosophie der Mensch-Natur-Beziehung tätig und schreibt nur nebenbei. Seine literarischen Vorlieben liegen im Bereich Science Fiction und Dystopie.

Goldene Tagträume

Tina Skupin

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Die Sorgen trieben Jaskva weit vor Tagesanbruch von ihrem Schlaflager. Sie wusch sich das Gesicht, flocht ihr blondes Haar zu einem Zopf, zog sich ihr Kleid über und befestigte ihre Schlüssel, die sie wie jede Hausherrin des Nordens stets am Gürtel trug.

Der Getreidesack hing schlaff neben dem Mahlstein und Jaskva ging hinaus, um einen neuen zu holen. Ihr verstorbener Ehemann Ragnar hatte das Vorratshaus auf Stelzen errichtet, um Mäuse und Ratten abzuhalten.

Dieses Jahr wären wohl selbst sie hungrig geblieben, dachte Jaskva, den kaum zur Hälfte gefüllten Vorratsraum betrachtend. Dabei hatte der Winter noch nicht einmal begonnen. Bevor Jaskva düsteren Gedanken nachhängen konnte, griff sie nach einem Sack. Zurück ins große Langhaus und den Sack neben den Mahlstein gepackt. Die Magd würde ihn später dort finden. Nun das Feuer anzünden, so wie jeden Tag. Und dann …

Jaskvas Blick fiel auf das Schlaflager, wo immer noch ihre Familie lag – ihr Sohn, ihre Schwester und ihre Mutter. Das vergangene Jahr hatte harte Furchen um den Mund der alten Frau gegraben. Jaskva erinnerte sich an ihren gestrigen Streit, den letzten in einer langen Reihe, und ihr Blick glitt weiter zu Airik, ihrem Sohn. Im flackernden Schein der Flammen konnte sie jede Sommersprosse erkennen, jedes Haar und jede Rippe. Wie mager er war! Jaskva spürte die Angst wie eine eisige Klaue um ihr Herz. Sie wandte sich abrupt ab, weckte die Mägde und den Knecht und gab ihre Anweisungen. Dann verließ sie das Haus, um fischen zu gehen.

Der erste Schimmer der Dämmerung zeigte sich über der Ostsee, als Jaskva nach draußen trat. Nebelfetzen waberten zwischen den Gebäuden, krochen die Außenwände der Langhäuser und der Vorratsschuppen hinauf. In der Sonne würde sich der Dunst später schnell verflüchtigen. Jaskvas Hof lag am Ende des Dorfes, und sie musste an den anderen acht Höfen vorbei, um zum Bootsanleger zu gelangen. Jaskva ging sehr aufrecht und mit festem Schritt, ihr Ziel vor Augen. Als Oberhaupt ihrer Sippe, durfte sie keine Schwäche zeigen. Es gab genug Leute, die hinter ihrem Rücken tuschelten, eine Frau solle keine Sippe anführen, und man sollte die Gesetze von Gotland übernehmen, wo Frauen von der Erbfolge ausgeschlossen waren. Jaskva streckte ihr Kinn vor und straffte sich. Als wäre ihr Schicksal nicht schwer genug, musste sie sich auch noch mit solchen Anfeindungen herumschlagen!

Zu Jaskvas Rechten erklang ein Kratzen. Was war das? Ein Angreifer? Oder schlimmer noch: ein böser Geist? Hatte sie etwa eines der Opfer vergessen? Schnell ging Jaskva ihre Ernte und Erträge durch, und errechnete den Anteil, der den Göttern und Geistern zustand. Nein, sie hatte alle Forderungen erfüllt. Ansonsten hätten die Vorräte über den Winter gereicht, dachte sie mit einem Anflug von Wut. Auch den Vätten und Näckarn, den Haus- und Wassergeistern, hatte sie ein Schälchen Milch und ein Stück Brot auf die Schwelle gestellt, so wie es die Sitte gebot. Doch hier, so nah an Wasser und Wald, kamen auch jene wilden Geister hin, die sich mit Milch nicht zufrieden gaben, sondern nach dem Leben und der Wärme der Menschen gierten.

Erneut ertönte das Geräusch und im nächsten Augenblick sah Jaskva eine Bewegung. Hier am Meer lag der Nebel dicht über dem Land und sie konnte zunächst nur einen menschengroßen Umriss erkennen, der auf sie zuwankte. Oh mächtiger Thor! War dies ein Wiedergänger, der keine Ruhe in seinem Grab gefunden hatte und nun die Lebenden heimsuchte?

Das Wesen trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Ein plötzlicher Windstoß trieb den Nebel für einen Augenblick auseinander und Jaskva erkannte das Gesicht von Engmar, ihrem Schwager. Beinahe hätte sie aufgelacht. Was für Streiche ihr Geist ihr wieder einmal spielte!

»Sei gegrüßt, Schwägerin«, begrüßte sie der Mann mit seiner dunklen Stimme und trat näher. Jaskva kannte ihn und seinen Bruder seit ihrer Mädchenzeit: der starke, aufbrausende Ragnar und der ruhige, kräftige Engmar. Engmar bewegte sich auf seinen Krücken beinahe so behende wie ein gesunder Mann, sein Oberkörper gekräftigt vom ständigen Gebrauch der Krücken. Der Norden war kalt und hart; nur die Stärksten überlebten und in ihrer Gesellschaft war eigentlich kein Platz für Krüppel, doch Engmar machte sich auf tausenderlei Arten nützlich und bemühte sich, niemandem zur Last zu fallen. Wenn eine Kuh kalbte oder ein Kind krank wurde, rief man Engmar, um zu beruhigen und mit Hand anzulegen. Und alle liebten seine Schnitzereien.

Auch jetzt hatte er wieder ein Stück Holz in der Hand.

»Was schnitzt du?«, fragte Jaskva interessiert. Engmar öffnete seine Hand. Darin hielt er ein winziges Langboot. Jaskva konnte die Kanten der einzelnen Hölzer erkennen, den winzigen Mast, und am Heck … Jaskvas Lächeln erstarb, als sie den runenverzierten Drachenkopf erblickte. Die Drachenköpfe setzte ihr Volk an ihre Boote, wenn sie auf Raubfang, auf Viking gingen. Solch einen Kopf hatte das Boot getragen, das Ragnar bestiegen hatte. Und von dem er nie zurückgekehrt war.

»Das sieht wunderschön aus«, sagte Jaskva und meinte es so.

Engmar streckte es ihr entgegen. »Ich schenke es dir.«

Jaskva zuckte zurück. »Du bist zu großmütig mit deinen Schätzen, Schwager. Ein solches Boot wäre eines Königs würdig.«