VOLLER FREUD
OHNE ZEIT
Das Paul Gerhardt-Lesebuch
Herausgegeben von Konrad Klek
Mit Illustrationen von Verena Herbst
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© 2018 by edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Texte von Gerhard Schöne: © Gerhard Schöne / BuschFunk Berlin- CD
Ich bin ein Gast auf Erden
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Gestaltung: Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH · Frankfurt am Main, Berta Mattern Druck und Bindung: GRASPO CZ a.s., Zlín
ISBN 978-3-96038-143-3
www.eva-leipzig.de
Cover
Titel
Impressum
Konrad Klek
Vorwort
GLAUBENSLIEDER
Margot Käßmann
Paul Gerhardt ist aktuell!
Ich singe dir mit Herz und Mund
Ich preise dich und singe
Du, meine Seele, singe
Eckart von Hirschhausen
Du meine Seele, singe
Geh aus, mein Herz, und suche Freud
Ulrich Grober
Eine spirituelle Ressource – meine Erfahrungen mit Paul Gerhardts „Sommergesang“
Gerhard Schöne
Geh aus, mein Herz, und suche Freud
Schwing dich auf zu deinem Gott
Auf den Nebel folgt die Sonne
Stephan Krawczyk
Danke, Paul!
Ist Gott für mich, so trete
Heinrich Bedford-Strohm
Das Gefühl großer Dankbarkeit
Ich hab in Gottes Herz und Sinn
Warum sollt ich mich denn grämen?
Gerhard Schöne
Nicht so traurig, nicht so sehr
Nicht so traurig, nicht so sehr
Geduld ist euch vonnöten
Befiehl du deine Wege
Barmherzger Vater, höchster Gott
Mein herzer Vater, weint ihr noch
Ich bin ein Gast auf Erden
Gerhard Schöne
Ich bin ein Gast auf Erden
Nun danket all und bringet Ehr
Manfred Stolpe
Der geplagte Mutmacher
Gott lob! Nun ist erschollen
Sollt ich meinem Gott nicht singen?
Gregor Gysi
Entdeckung im evangelischen Kindergarten
LIEDER ZUM KIRCHENJAHR
Wie soll ich dich empfangen
Schaut, schaut, was ist für Wunder dar?
Wir singen dir, Immanuel
Fröhlich soll mein Herze springen
Gerhard Schöne
Ich steh an deiner Krippen hier
Ich steh an deiner Krippen hier
Reinhard Mawick
Schatz meiner Seele
O Welt, sieh hier dein Leben
O Haupt voll Blut und Wunden
Nun freut euch hier und überall
Auf, auf, mein Herz, mit Freuden
Zeuch ein zu deinen Toren
Gott Vater sende deinen Geist
LIEDER ZUM TAGESLAUF
Lobet den Herren alle, die ihn ehren
Die güldne Sonne voll Freud und Wonne
Der Tag mit seinem Lichte
Nun ruhen alle Wälder
Sibylle Lewitscharoff
Paul Gerhardt – ein großer Dichter
Weiterführende Literatur
Ein „Lesebuch“ zu einem Liederdichter, also mit Liedern ohne Noten, wie kann das passen? Bei Paul Gerhardt (1607-1676) passt das sehr gut. Auch wenn vielen Christenmenschen bei bestimmten Liedversen gleich eine bestimmte Melodie in den Sinn kommt – Paul Gerhardts Lieder sind gerade auch Lieder zum Lesen, zum Nachsinnen, zum Meditieren. Meistens über viele Strophen, die man kaum jemals am Stück singen könnte, entfaltet der Dichter einen Gedanken, eine Grundfrage des Glaubens, ein biblisches Wort oder ein Thema des Kirchenjahres. Gerade beim Lesen entwickeln die Worte von Strophe zu Strophe einen Sog, nehmen uns hinein in die Bewegungen des Glaubens, nehmen uns mit in die Tiefen von Leiderfahrung, Anfechtung und Beklemmung in dieser Zeit, führen uns aber umso gewisser auch wieder heraus und öffnen uns den Himmel „voller Freud, ohne Zeit“.
Dieses mit Illustrationen augenfreundliche Lesebuch lädt ein zum Lieder Lesen, vor- und rückwärts, mal diese, mal jene Strophe, zum Aufspüren inhaltlicher Zusammenhänge bei Worten, die bisher ein Eigenleben geführt haben – als persönliche Lieblingsstrophe oder als Choralsatz in einem Werk Johann Sebastian Bachs. Auch Entdeckungen sind möglich – von Liedstrophen, die in den Gesangbüchern ausgelassen sind, nicht nur im neuen katholischen Gotteslob (GL), das zwar mehr Paul Gerhardt-Lieder enthält als das alte, aber stets in erheblich gekürzten Versionen. Auch das Evangelische Gesangbuch (EG) verschweigt manche Kostbarkeit. Ein Kriterium der Liedauswahl für dieses Lesebuch war die Ergänzungsbedürftigkeit der Gesangbuchlieder. So kommt etwa die herrliche große „Oster-Story“ Nun freut euch hier und überall mit ihren 36 Strophen zum Zug, von denen in der Regel nur vier in Gesangbüchern stehen. Entdeckungen ermöglichen natürlich auch die hier aufgenommenen Lieder, die nicht (mehr) im kirchlichen Gebrauch sind. Auf annäherndes Gleichgewicht zwischen bekannten und unbekannten Liedern ist geachtet.
Obwohl Paul Gerhardts Lieder aus einer Zeit stammen, deren katastrophale Lebensverhältnisse (im Gefolge des 30jährigen Krieges) uns Gott sei Dank sehr fern sind und deren Denk- und Sprechweisen in der Verarbeitung von Lebensproblemen „vormodern“ sind, haben diese Lieder ihre Sprachkraft zu allen folgenden Zeiten bewährt und sind auch heute „aktuell“. Davon zeugen die Beiträge von Persönlichkeiten unserer Tage, welche auf je individuelle Weise Stellung beziehen und Paul Gerhardts Lieder leuchten lassen für unsere Zeit. Das Spektrum der Beitragenden ist bewusst weit angelegt. Es reicht vom „Insider“-Blick des EKD-Ratsvorsitzenden über den sozusagen neutralen Fachblick der Literatin bis zum nicht-christlichen Linken-Politiker. Im selben Medium des Liedes, konkret als „Parodie“ von Vorlagen, agiert Liedermacher Gerhard Schöne, was in Aufnahme wie Kontrastsetzung ein besonders schönes Zeugnis dafür ist, dass Paul Gerhardts Lieder leben. Die Anordnung der Texte möchte auch zum Vor- und Rückwärtslesen zwischen Original und Parodie, bzw. Stellungnahme motivieren.
Einige der Beitragenden nehmen sehr kundig Bezug auf Details von Paul Gerhardts Biografie, so dass sich hier weitere Ausführungen dazu erübrigen. Die Lieder sind und bleiben ansprechend, unabhängig von der Kenntnis ihrer Entstehungssituation, die nur bei ganz wenigen Texten präzise zu eruieren ist. Und Paul Gerhardt bleibt der bedeutendste deutsche Kirchenlied-Dichter, auch wenn wir über manche Phasen seines Lebens – z.B. die etwa 14 Jahre in Wittenberg – kaum etwas wissen und es keine Anhaltspunkte dafür gibt, warum er in seiner letzten Lebensphase in Lübben wohl gar nicht mehr gedichtet hat.
Präzise Daten sind allerdings die Druckausgaben seiner Lieder. Das vom Berliner Nikolaikantor Johann Crüger (1598-1662) edierte Gesangbuch Praxis pietatis melica (PPM) ist deren Tor zur Öffentlichkeit. In der Gesangbuchausgabe von 1647 erscheinen erstmals 18 Paul Gerhardt-Lieder, in der Ausgabe von 1653 sind es bereits 82, die zehnte und letzte von Crüger betreute Auflage 1661 enthält noch sechs weitere. Crügers Nachfolger Johann Georg Ebeling (1637-1676) veröffentlicht fünf Jahre später unter dem Titel Geistliche Andachten (GA) eine drucktechnisch aufwändige Werkausgabe des Dichters allein mit nun 120 Liedern im vierstimmigen Vokalsatz mit zwei Violin-Oberstimmen. Sie erscheint sukzessive in 10 Heften à 12 Liedern und liegt im Sommer 1667 komplett vor. Derzeit wird eine kritische Werkausgabe aller verfügbaren Paul Gerhardt-Texte nach heutigen wissenschaftlichen Standards erarbeitet, die in einigen Jahren, sicher zum nächsten Gerhardt-Jubiläum 2026 (350. Todestag) vorliegen wird.
Eine neue Erkenntnis der Paul Gerhardt-Forschung sei hier allerdings benannt, da sie sich auf den unbestrittenen „Hit“ aller seiner Lieder bezieht – Geh aus, mein Herz, und such Freud. In diesem Lied konnte Günter Balders in Strophe 11 als „Anagramm“ den Namen „Doc. Johann Sigismund Elsholtz“ (1623-1688) identifizieren. Dieser wurde 1653 mit einer Arbeit zur Anatomie des menschlichen Körpers in Padua promoviert. Er war aber auch ein ausgewiesener Gartenkenner und wurde dann 1656 Vorsteher des Berliner (Cöllner) kurfürstlichen „Lustgartens“. Susanne Weichenhan hat nun kürzlich, in der Festschrift für Christian Bunners (Berlin 2016), minutiös erhoben, wie die spezifischen Motive des Liedes, namentlich Narziss und Tulipan, auf die höfische Tulpenkultur in Berlin Bezug nehmen und einerseits dem Herrscherlob dienen, andererseits den indirekten Widmungsträger – wohl aus Anlass seiner Promotion – als exemplarisches Ich des Liedes integrieren. Auch wenn Paul Gerhardt das eben 1653 erstmals publizierte Lied während des Pfarrdienstes in Mittenwalde gedichtet hat, ist sein spezifischer Horizont also die höfische Gartenkultur des Berliner Kurfürsten. Er blieb nach Berlin orientiert, auch im Blick auf die dort ansässige Familie seiner zukünftigen Ehefrau. – Gleichwohl bleibt dieser Gesang ebenso ein „Sommer=Lied“ für alle, die fern von höfischer Gartenpracht leben und sich überall an der Lebendigkeit von Gottes Natur ergötzen.
Der Herausgeber dankt, auch im Namen der Paul-Gerhardt-Gesellschaft, dem Verlag für die Initiative zu diesem Buch und namentlich Frau Annegret Grimm für die Redaktionsarbeit. Ein besonderer Dank geht an die „Zwischentext“-Beitragenden. Ihr Zeugnis kann für alle Leserinnen und Leser Ansporn sein, Paul Gerhardts Segensspuren im eigenen Leben aufzuspüren.
Paul Gerhardt – ein großer Dichter, der ein so schweres Leben hatte und gleichzeitig so viel Glaubenszuversicht verbreitet hat. Viele hat er beeinflusst: kleine Leute vor Ort in ihren oft so bedrückenden Verhältnissen, aber auch die so genannten Großen: Johann Sebastian Bach, Thomas Mann, Günther Grass, Gabriele Wohmann. Friedrich Zeller hat ihn einmal den „gewaltigste(n) Tröster der evangelischen Christenheit überhaupt“ genannt. Paul Gerhardt ist nach Martin Luther der bedeutendste Liederdichter der Protestanten. Seine Verse gehören in den deutschen evangelischen Gesangbüchern zu den am häufigsten erscheinenden Texten. Aber auch in der katholischen Kirche werden seine Lieder gesungen, ja in aller Welt finden sich seine Lieder.
In seiner Einleitung zur Ausgabe der Lieder und Gedichte Paul Gerhardts von 1957 schreibt Eberhard von Cranach-Sichart, jeder Konfirmand müsse sechs bis acht Lieder Gerhardts aufzählen können, viele wüssten sie ja ohnehin aus ihrer Schulzeit noch auswendig. Da müssen wir leider sagen, hat sich nicht nur in unserer Kirche in den vergangenen 50 Jahren die Einstellung zum Auswendiglernen deutlich verändert! Aber auch heute ist wichtig, in schwieriger Zeit Worte eines anderen zu kennen, die trösten, wenn es dir selbst die Sprache verschlägt. Deshalb plädiere ich dafür, dass jedes Kind eine Art Mindestration an orientierenden Texten mit auf den Lebensweg bekommt. Kinder und Jugendliche brauchen zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit eine umfassende Bildung, zu der auch Wertevermittlung, Herzensbildung, kulturelle und religiöse Bildung gehören. Viele von ihnen wissen heute ja oft nicht einmal, dass sie sich an Gott wenden dürfen in Lied und Gebet. Ich wünsche jedem Menschen ein Paul Gerhardt-Lied, das ihn auf dem Lebensweg begleitet, in guten wie in schweren Tagen.
Vielleicht ist unsere Zeit, in der die Überzeugung, dass der Mensch alles im Griff habe, wankt, eine Chance, Paul Gerhardt neu zu entdecken. Es gibt eine neue Nachdenklichkeit: Mit welcher Orientierung leben wir in Zeiten ökonomischer Verunsicherung? Welche Grundhaltung geben wir unseren Kindern weiter? Wie begegnen wir der Herausforderung durch den Islam? In welche Wertegemeinschaft wollen wir Zuwanderer integrieren? Ich bin überzeugt, der christliche Glaube, an dem Generationen vor uns Halt gefunden haben, gibt auch uns und unseren Kindern Orientierung.
Diese Orientierung vermitteln zuallererst die biblischen Texte, aber auch die Lieder und Texte unserer Väter und Mütter im Glauben. Durch sie entdecken wir neu die Bedeutung der Würde jedes Menschen als Ebenbild Gottes, den Trost, der aus der Leidenserfahrung Jesu Christi stammt, und die Hoffnung auf die Auferstehung. Wir dürfen den Erzählfaden nicht abreißen lassen, der von Generation zu Generation geknüpft wurde, und wir sollten die Lieder nicht verklingen lassen, die seit Jahrhunderten Menschen Kraft und Halt geben.
Die Spiritualität der Kirche der Reformation war von Anfang an durch das Singen und die Lieder mit geprägt. Das müssen wir heute in Erinnerung rufen. Nicht nur die Bibel und das Beten kennen viele Menschen in unserem Land nicht mehr, sie haben auch das Singen verlernt. „Das Jaulen der Trauerklöße“ hat das Magazin „Spiegel“ vor einigen Jahren getitelt und beschrieben, wie die Deutschen das Singen verlernt haben. Inzwischen ist messbar, dass sich die Stimmbänder der jungen Generation verändern, weil sie nicht mehr singen. Was für ein Verlust ist das! Wie kann ein Lied auf den Lippen trösten, wenn es mir die Sprache verschlägt. Und wie kann ich im Singen jubeln, wenn ich mich freue! Paul Gerhardt zeigt uns: Es gilt, die Schönheit der Welt zu sehen! Hinschauen, wahrnehmen und loben! Die Glucke führt ihr Völklein aus – eine Kleinigkeit, ja, aber was für ein Glück, das zu beobachten! Schau an der schönen Gärten Zier – das ist eine Aufforderung, die Schöpfung wahrzunehmen, sich daran zu freuen.
Viele Menschen sehen gar nicht mehr hin, kommen gar nicht auf den Gedanken, den Schöpfer zu loben, und kennen kein Lied, das sie mit Inbrunst singen könnten. Und doch erlebe ich in manchem Festgottesdienst, wie geradezu die Freude wächst, wenn ein Lied gemeinsam gesungen wird, es den Gottesdienstraum füllt und nachklingt auf dem Weg zurück in den Alltag der Welt. Wie viele Menschen haben Trost in Liedern gefunden! Paul Gerhardt drängt uns geradezu, das Singen wieder zu entdecken und auch die Schönheit der Natur, für die wir unserem Schöpfer danken können.
Etliche Lieder von Paul Gerhardt habe ich selbst als Kind sozusagen beim Kochen gelernt. Beispielsweise Du meine Seele singe schmetterte meine Großmutter gerne in der Küche. Oder auch Lobet den Herren, alle die ihn ehren (fürchten). Wenn ich diese Texte lese und höre, kommt mir sofort die Melodie in den Kopf, manches Mal auch die Erinnerung an unsere Küche, an die Großmutter, wie sie Gulasch kocht oder Rouladen, wie wir Gänsesülze fabriziert haben. Letzteres war wahrhaftig ein großer Akt und dauerte lange genug, selbst für Ich singe dir mit Herz und Mund, alle 18 Strophen.
Zum Einschlafen habe ich meinen Kindern oft Nun ruhen alle Wälder vorgesungen. Sie mochten besonders die Strophe Breit aus die Flügel beide, die ja auch ein schönes Abendgebet für Kinder ist. Vor allem die letzte Zeile dies Kind soll unverletzet sein ist für Eltern wie Kinder wunderbar. Oder: als Klaus von Bismarck an einem schönen Maitag in Hamburg beerdigt wurde, haben wir auf dem Weg von der Kirche zum Friedhof alle fünfzehn Strophen von Geh aus mein Herz und suche Freud gesungen. Und das passte! Das Lob der Schöpfung, die Bäume stehen voller Laub, aber eben auch die Rede von der letzten Reis.
Wenn in der Adventszeit Wie soll ich dich empfangen angestimmt wird, dann wird auch Advent in meinem Herzen, ein Vorbereiten auf diese besondere Ankunft beginnt. Als „Meister christlicher Lebenskunst“ hat Reinhard Deichgräber treffend unseren Dichter bezeichnet.
Doch sind diese 139 Lieder und Gedichte (dazu kommen 15 lateinische Gedichte) Texte für unsere Zeit? Ist die moderne Welt des 21. Jahrhunderts nicht unendlich weit entfernt von den Lebenserfahrungen Paul Gerhardts?
In unseren Tagen ist viel von Spiritualität die Rede, ja, Spiritualität ist zum Modebegriff geworden. Da wird fernöstliche religiöse Erfahrung in den westlichen Alltag mit hineingenommen, aber durchaus auch christliches Schweigen neu entdeckt und als Stärkung erfahren. Bei Paul Gerhardt ist Spiritualität eine Lebenshaltung, die geprägt ist von tiefem Gottvertrauen. Wenn wir seine Verse lesen, seine Lieder singen, ist diese einzigartige Mischung aus biblischer Erdung, poetischer Gabe und seelsorglichem Charakter erkennbar. Und ich denke, das berührt uns bis heute.
Paul Gerhardt hat es wie kein anderer Liederdichter vermocht, den Blick für die Schönheit, aber auch für das Leiden, die Lebensfreude und die Trauer beisammen zu halten. Nehmen wir ein Trostlied wie Befiehl du deine Wege. Ich kann nicht zählen, auf wie vielen Beerdigungen das mit der Gemeinde gesungen wurde. Und ich habe oft erlebt, dass Menschen mich hinterher gebeten haben, ihnen den Text zu geben. Sie wussten nicht, dass er im Gesangbuch steht, das ist sicher schade. Ihr Interesse zeigt, wie sie auch heute etwas an diesen Worten berührt hat. Auch mir geht das bis heute so: Der Wolken Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann – was für ein wunderbarer Gedanke, eine Ermutigung, dass es auch in schwierigen Zeiten mit Gottes Hilfe weitergehen wird!
Offensichtlich war Paul Gerhardt ein bescheidener, ja zurückhaltender Mensch. Er hat sich nie nach vorn gedrängt, hat aber auch wacker seinen Mann gestanden ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile, als es um das lutherische Bekenntnis ging. Auch war er kein sehr weltläufiger Mann. Sein Leben hat ihn nie über Kursachsen und Kurbrandenburg hinausgeführt. Gräfenhainichen, Grimma, Wittenberg, Berlin, Mittenwalde und Lübben – das war sein Aktionsradius. Ich finde das bemerkenswert. Es zeigt doch, dass wir in unserem Lebensumfeld Erfahrungen machen können, die so existenziell sind, dass sie überall verstanden werden. Seine Lieder werden in Afrika, Asien und Lateinamerika gesungen. Wenn heute damit geprahlt wird, wo Menschen schon überall waren, heißt das bei Weitem nicht, dass sie tiefe, existenzielle Erfahrungen gemacht haben. Die kann ich auch vor Ort durchleben.
Und solche Erfahrungen hat Paul Gerhardt in Fülle gemacht. Beide Eltern starben früh und ließen vier Vollwaisen zurück, Paul Gerhardt war damals 14. Etwa zeitgleich brach der Dreißigjährige Krieg aus, wie Inge Mager schreibt, „die traurige Begleitmusik seines weiteren Lebens“. Er studiert lange, verdient sich als Privatlehrer etwas dazu, interessiert sich für Poesie. Im Jahr 1651, als 44-Jähriger erst, wird er in der Berliner Nikolaikirche ordiniert und heiratet vier Jahre später Anna Maria Berthold. Die 1656 geborene Tochter Maria Elisabeth stirbt im Folgejahr. Vom tiefen Schmerz der Eltern zeugt bis heute eine Gedenktafel in der Moritzkirche in Mittenwalde. Von den vier Kindern, die bis 1664 geboren werden, überlebt nur Paul Friedrich. Der Verlust der Kinder spiegelt sich immer wieder in Gerhardts Liedern. Im Jahr 1657 wird Gerhardt an die St. Nikolaikirche in Berlin berufen. In den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Reformierten und Lutheranern nimmt er eine kompromisslose lutherische Haltung ein, die schließlich zu seiner Amtsenthebung führt. Schließlich geht er 1668 außer Landes, als Archidiakon (leitender Pfarrer) nach Lübben in Sachsen.