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Gerlinde Michel

Fremdsehen

edition 8

Gerlinde Michel

Fremdsehen

Roman

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Verlag und Autorin danken der Burgergemeinde Bern und einer Frau aus Zürich, die anonym bleiben möchte, herzlich für den Beitrag an dieses Buch.

Besuchen Sie uns im Internet: Informationen zu unseren Büchern und AutorInnen sowie Rezensionen und Veranstaltungshinweise finden Sie unter www.edition8.ch

Die edition 8 wird im Rahmen des Konzepts zur Verlagsförderung in der Schweiz vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2016–2018 unterstützt.

Bibliografische Informationen der Deutschen National-Bibliothek sind im Internet abrufbar unter http://dnb.ddb.de.

September 2018, 1. Auflage, © bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat und Typografie: Katja Schurter; Korrektorat: Verena Stettler; Umschlag: Silsersee (um 1920). Pastellbild von Andreas Juon (1895–1991). Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal.

Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, Fax +41/(0)44 273 03 02, info@edition8.ch

ISBN 978-3-85990-355-5

Life is what happens while we are planning something else.

Leben ist, was geschieht, während wir etwas anderes planen.

Henry Miller

Für meine Siebenbürger Verwandten

Louisa

Louisa ist ausgestiegen und lässt Konstantin alleine suchen. Sie verspürt wenig Lust, sich sein Geschimpfe anzuhören, bis er den besten aller Parkplätze gefunden hat – im Schatten, nicht zu weit entfernt von der Aussichtsplattform und vom Restaurant, beidseitig genügend Raum zum Aus- und Einsteigen. Mit ihren Vorschlägen würde sie höchstens seine Ungeduld vertiefen. Wie wenn er unter Strom stünde. Beim zweiten gewagten Überholmanöver warf sie ihm Fahrlässigkeit vor, danach nahm er sich zusammen und fuhr langsamer. Spürt er den Föhn?

Die Sonne blendet und Louisa hebt die Hand über die Augen. Ein warmer Windstoss wirft ihr das Haar ins Gesicht. Die Berge, der See voller Schaumkrönchen – alles zum Greifen nahe, und dazu dieses Licht! Der Frühsommer vibriert. Herumzustehen und auf Konstantin zu warten hält sie nicht mehr aus. Sie steigt die Stufen zur Plattform hinunter und setzt sich auf die sonnenwarme Mauer. Er wird sie finden.

Die Farbe des aufgewühlten Sees erinnert Louisa an das Blau Fra Angelicos – als ob es sich heimlich über die Alpen hierher gestohlen hätte. Ihre Augen wandern über die Bergflanken. Weiss heben sich die Gipfel vom Himmel ab, ihr Gleissen schmerzt auf der Netzhaut. Louisa kneift die Lider zusammen, bis die Wimpern alles Grün, Blau, Grau und Weiss zu einem Farbenbrei verrühren. Die Landschaft wird zu einem abstrakten Gemälde: Die Formen, der Horizont, alle Konturen lösen sich auf und werden zu etwas Neuem. Nahes und Fernes tauschen die Plätze. Die Netzhaut als Leinwand. Doch Abstraktion beim Malen ist anders, sie ist gewollt, erschaffen, Ergebnis eines schöpferischen Prozesses und nicht das Produkt optischer Verfremdung durch den Filter getuschter Wimpern. Sie denkt an die Bergbilder This Amstegs, zu dessen Vernissage sie unterwegs sind. Gekonnt balancieren sie zwischen naturalistischer Darstellung und Abstraktion. Sie freut sich darauf, seine neusten Werke zu sehen.

Konstantins Hand berührt ihre Schulter, sie hat ihn nicht kommen hören.

- Verrückt, wie der Föhn alles vergrössert!

Und schon hat er die Kamera vor dem Gesicht und würde am liebsten auf die Mauer klettern. Er gibt acht, dass ihm niemand ins Bild läuft und dass nicht zu viel Himmel das Gleichgewicht stört. Dabei nimmt er sich kaum Zeit, die Landschaft richtig anzuschauen. Wie auf der Überfahrt nach Bornholm im letzten Sommer, als sie die Sonne und das Wiegen der Fähre auskostete und sich still amüsierte, weil Konstantin pausenlos am Fotografieren war – Wasser, Wellen, Ufer, einen Leuchtturm, das Schiffskamin: die Welt durch die Linse. Wie damals geniesst sie die Sonnenwärme auf der Haut, den Blick ins Weite, die Windstösse im Haar.

Konstantin ist weitergegangen und unterhält sich mit zwei jungen Leuten. Er reicht dem Mann seine Kamera, kommt zu ihr zurück und lässt sich auf der Mauer nieder.

- Ein Foto, sagt er, von uns, und legt den Arm um ihre Schultern. Also gut, warum nicht, denkt Louisa, halten wir doch diesen Tag fest, und uns als Paar, jetzt wieder in harmonischer Stimmung, für die Nachwelt, für die Enkel, falls wir je welche haben. Wie ist mein Haar? Sie ordnet die zerzausten Locken, schiebt mit der Sonnenbrille Strähnen aus der Stirn. Der junge Mann hat sich mit der Kamera vor sie hingestellt. Louisa schaut zu Konstantin und dann in die Linse, sie lächelt.

- Noch eine, zur Sicherheit, sagt der Mann. Das junge Paar trägt Bergschuhe, die Frau hat das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der Föhn weht ihr lose Strähnen ins Gesicht. Louisa spürt den Druck von Konstantins Arm im Rücken, wieder lächelt sie in die Kamera. Auch letzthin bat er einen wildfremden Passanten, ein Foto von ihnen zu machen, auf dem Weg zum Restaurant, wo sie Marthas Masterdiplom feiern wollten. Martha führte ihren neuen Mantel vor, seit Tagen ihr ganzer Stolz, und Gheorghe machte sich darüber lustig: Kitsch, Neobarock, wo bleibt dein angeblich so guter Geschmack, Schwes. Einen Moment lang sah Martha aus, als wolle sie ihm eine kleben. Die zornige kleine Schwester von früher: rotes Gesicht, zusammengekniffene Augen und die Händchen zu Fäusten geballt. Wie unreif sich die Kinder noch immer benehmen, obwohl sie längst erwachsen sind.

Der Junge redet auf seine Freundin ein und fasst dabei ihren Oberarm. Er mag um die dreissig sein. Mit seinen feinen Gesichtszügen erinnert er Louisa an den jungen David Bowie. Die beiden setzen sich auf die Mauer, doch irgendwie passt nicht zu seiner Zartheit, wie er jetzt den Arm um ihre Schulter legt und sie an sich zieht – eine Spur zu gebieterisch, zu fordernd. Die junge Frau streckt die Beine von sich und lehnt den Kopf an seine Schulter. Die Bewegung wirkt gezwungen, ein bisschen nach guter Miene zum bösen Spiel. Beide lächeln jetzt in die Kamera. Trotzdem sind sie ein schönes Paar, denkt Louisa, zumindest visuell passen sie gut zusammen.

Eine Biene hat sich auf ihrer Hand niedergelassen, die Hinterbeine dick von Pollen. Bei einem blühenden Busch am Ende der Terrasse bläst sie das Insekt vom Handrücken. Es kriecht in einen Blütenkelch, taucht wieder auf und sucht eine neue Futterquelle. Eine Weile verfolgt Louisa es mit den Augen. Die Honigbienen werden immer seltener, hat sie gelesen, wegen einer Milbe, wegen zu viel Chemie auf den Feldern. Oder ist dies eine Wildbiene? Sie schaut zu Konstantin. Die Fotos scheinen geschossen, der junge Mann faltet eine Landkarte zusammen und hebt die Hand in ihre Richtung. Sie winkt zurück und sieht dem Paar nach, wie es Hand in Hand die Treppe zum Parkplatz hochläuft.

Tatsächlich stemmt jetzt Konstantin sein ganzes Gewicht auf die Umfassungsmauer. Seine Füsse haben kaum Platz auf der schmalen Oberfläche, doch er wendet sich hin und her, auf der Suche nach dem perfekten Bildausschnitt. Unter ihm fällt das Gelände steil hinunter bis zum See. Louisa geht zu ihm.

- Stürz bloss nicht ab, sagt sie und legt die Hand an seinen Oberschenkel.

 

Cyrill

Sie wollte vorbeifahren, sie sei zu müde und wolle nach Hause. Hör Sophie, es dauert nicht lange, hielt er entgegen, und die Aussicht ist wirklich toll. Kurz danach bog er von der Strasse ab und fand problemlos einen freien Parkplatz. Wie Sophie jetzt vor ihm die Treppenstufen hinunterfüsselt, Trotz im aufgerichteten Rücken, dieses Quäntchen Borstigkeit, das ihn gleichzeitig irritiert und anzieht, kommt sie ihm kein bisschen müde vor. Auch lief sie fast immer voraus, den Berg hinauf und wieder hinunter, und das keineswegs langsam. Er hätte es nie zugegeben, aber manchmal musste er sich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten. Dazu das elende Scheuern des Wanderschuhs an seiner Ferse. Ihre Müdigkeit ist doch eine Ausrede. Warum will sie nicht?

Ihm gefällt dieser Ort, und er hält immer an, wenn er vorbeikommt, was ohnehin selten geschieht, und trinkt dann vielleicht einen Kaffee im Restaurant. Weil er vor langer Zeit mit seinem Vater einmal hier Rast machte? Höchstens sechs oder sieben kann er gewesen sein, an die Aussicht erinnert er sich nicht. Aber an das Glas mit Sirup, das ihm eine Serviertochter vorsetzte, und an das rote Trinkröhrchen mit Knick. Vater trank bestimmt ein Bier, obwohl sie im Auto unterwegs waren, in Vaters Buckelvolvo mit den hellen Ledersitzen. Sobald man die Autotüre öffnete, roch es wunderbar nach Leder. Nach all den Jahren kann er sich den Geruch noch immer vorstellen. Sein Vater trank häufig ein Bier, wenn sie unterwegs waren. Manchmal durfte Cyrill den Schaum ablecken, er schmeckte bitter, und Vater lachte über seine Grimasse. Sie waren oft unterwegs, fuhren über Pässe und durch Tunnels, als Ingenieur liebte sein Vater Strassen, Haarnadelkurven, Brücken. Cyrill erinnert sich, dass Mama, er, und Mamas damaliger Freund einmal hier anhielten, es war auf der Rückreise aus Ferien im Tessin. Dem Sirupalter war er damals endgültig entwachsen, und Vater wohnte schon länger nicht mehr bei ihnen.

Wie plastisch die Landschaft in diesem Licht wirkt. Sicher wegen des Föhns. Gestern Abend der Föhnsturm in den Bergen – von einer Sekunde zur nächsten fiel er ein wie eine wütende Armee, tobte die ganze Nacht um die Hütte, und beim Aufbruch heute Vormittag riss er ihnen fast die Rucksäcke aus den Händen. Der Hüttenwartin flog ein Handtuch davon und gleich darauf ein zweites, bevor sie sie an der Wäscheleine festklammern konnte. Hier weht der Wind schwächer. Sophie kauert am Boden, sie nestelt an ihrem Schuh, und bis sie den Bändel neu verknotet, kann er rasch ein paar Fotos machen. Sophie, wie sie an ihrem Schuh zerrt und es ihr die Haare über die Wangen wirbelt, schnell, bevor sie ihn bemerkt und das Gesicht wegdreht wie so oft. Er zoomt ihr Profil heran und drückt ab, drei, vier Mal, sogar ihre gebogenen Wimpern wird man erkennen, trotz der Haarsträhnen davor. Sie richtet sich auf und schaut sich um. Er geht zu ihr, legt den Arm um sie und hält sie einen Moment lang fest. Sie lehnt sich gegen ihn, er riecht Schweiss und schmeckt das Salz auf ihrer Haut.

Ein Mann spricht sie an, ein Riese. Ob er so freundlich wäre, ein Foto zu machen? Mit der Hand weist er zu einer Frau in violetter Bluse, die auf der Umfassungsmauer sitzt. Cyrill erkennt die Kamera, die er ihm entgegenhält, sofort. Damit kenne ich mich aus, lacht er, zeigt auf seine eigene. Der Riese lacht auch, dann gebe es ja kein Problem. Cyrill wartet, bis der Fremde sich neben die Frau gesetzt hat und beide in die Kamera lächeln. Er zoomt das Paar heran, drückt ein paarmal ab. Dann bittet er den Riesen um dasselbe, und der tut, als habe er nichts anderes erwartet. Nur, dass Sophie jetzt wieder mit ihrem Theater anfängt und sich abwendet.

- Komm schon, Schatz, wir sind fast nie miteinander auf einem Foto!

Wollte er wirklich diesen flehenden Ton anschlagen? Wie ein demütiger Bittsteller hat er geklungen. Eigentlich nervt ihn Sophies Verhalten, ihre Abneigung gegen Kameras. Sie sei nicht fotogen, behauptet sie. Zum Glück setzt sie sich doch hin. Er legt die Panasonic auf die Mauer neben sich und umfasst Sophies Schultern, jetzt lehnt sie sogar den Kopf an seinen Hals. Der Riese drückt ab, kommt zu ihnen und will wissen, welche Bergtour sie in den Beinen haben. Die Wanderkarte steckt in der Hemdtasche, Cyrill faltet sie auseinander und fährt mit dem Finger dem Maderanertal entlang. Hier, da, dort. Der Hüne ist wirklich interessiert, er legt die Kamera hin und hilft, die Karte vor den Windstössen festzuhalten. Weit hinten im Tal gebe es ein altes Berghotel, ob sie das vielleicht gesehen hätten. Cyrill fällt auf, dass er mit leicht fremdländischem Akzent spricht, etwas Weiches, Melodiöses schwingt in seiner Intonation und passt seltsamerweise zur massigen Gestalt. Er könnte aus Russland stammen, denkt Cyrill beim Zusammenfalten der Karte. Sascha, der irgendwo bei Sankt Petersburg aufgewachsen ist und mit ihm arbeitet, klingt ähnlich.

Eine Weile schon zupft Sophie an seinem Hemd, komm endlich. Cyrill nimmt die Kamera von der Mauer. Er verabschiedet sich und winkt der Frau zu, die weiter drüben steht. Aus der Distanz sieht sie viel jünger aus, fast so jung wie Mama und ebenso elegant, bloss fülliger. Auch Mama hat einen Rotton im Haar und schlanke Fesseln über hohen Absätzen. Sie könnten Schwestern sein, wenn Mama eine Schwester hätte. Er fasst Sophies Hand, und sie rast die Stufen hoch, so schnell, dass er kaum mitkommt.

 

Konstantin

Warum ist der Parkplatz so voll, dass man keinen vernünftigen Platz mehr findet? Das Wochenende hat noch nicht mal richtig begonnen, und bereits scheint keiner mehr zu arbeiten. Ist die ganze Schweiz auf Vergnügungsfahrt? Thurgau, Luzern, Uri, Appenzell, Zürich, dort drüben einer aus Genf, und all die Deutschen. Ohne einen Schattenplatz wird das Auto wie ein Backofen sein, wenn wir zurückkommen. Zum Glück gibt’s die Klimaanlage. Und anstellen werde ich sie, auch wenn Louisa meckert, es genüge das Fenster zu öffnen, kühlen sei unnötig und verbrauche zu viel Energie. Du willst wohl, dass sich deine Schminke verflüssigt und in alle Falten läuft, gebe ich dann zurück. Garantiert klappt sie sofort den Spiegel aus der Sonnenblende und beginnt, an sich herumzutupfen. Frauen, Frauen.

Wie spät ist es? Noch fast zwei Stunden, bis es anfängt. Vor dem Weiterfahren können wir in aller Ruhe einen Kaffee trinken. Hoffentlich schaffen es Grauwiler und Schuler an die Vernissage. Ein bisschen Zeit neben den Ansprachen und dem Händeschütteln wird wohl übrigbleiben, damit ich ihnen die Entwürfe zeigen kann. Eigentlich sollte This Amsteg auch dabei sein, der Wettbewerb interessiert ihn bestimmt. Ich werde ihn fragen.

Soll ich die Kamera mitnehmen? Warum nicht. Klo? Hm, später. Warm ist es, das Jackett hätte ich ruhig im Auto lassen können.

Louisa hat tatsächlich nicht zu viel versprochen. Speziell, dieses Licht. Föhn, natürlich, fast erkennt man die Grashalme auf der anderen Seeseite und jeden einzelnen Ziegel auf den Dächern. Mit den Schaumkrönchen auf den Wellen gibt das ein paar tolle Gegenlichtaufnahmen.

Dort vorne sitzt Louisa. Wie rot ihre Haare leuchten. Ist mir im Auto gar nicht aufgefallen. War sie schon wieder beim Coiffeur?

Der Rotstock zuerst. Bekomme ich ihn mit dem Weitwinkel samt See ins Bild? Knapp, doch es geht. Jetzt die Schneefelder und Felszacken herbeigezoomt, den Gipfel daneben, keine Ahnung, wie er heisst, und weiter rechts, dort irgendwo muss das Rütli sein, heute mal ohne die Fahnenschwinger. Und nun den See herangeholt. Wie ein abstraktes Gemälde sieht die Oberfläche aus, wenn ich sie herbeizoome, weisse Schaumspitzen, tiefdunkle neben hellen Schlieren, türkisblaue Flecken. Erinnert ein bisschen an Monets Seerosen.

Wann bewegen sich diese Jungen endlich aus dem Bild? Und was tut die Blonde am Boden? Eigentlich könnte ich auf das Mäuerchen steigen, so bekäme ich den Bildausschnitt besser hin, ohne Vordergrund und Weitwinkel. Verdammt hoher Schritt hinauf. Das lasse ich besser bleiben. In den Fitnessclub wäre auch wieder mal etwas. Aber wenn überhaupt, dann regelmässig, und dazu fehlt mir die Zeit. Und wenn ich ehrlich bin, vor allem die Lust. Nur schon die Vorstellung, ich müsste auf einem Rad strampeln oder irgendwelche Gewichte hochdrücken, verdirbt mir den Tag.

Louisas violette Bluse vor dem Blau und Grün, dazu mein weisses Hemd, farblich wäre das perfekt. Es ergäbe ein perfektes Paarfoto. Paarfotos sind zuweilen eine gute Idee, um die Frauen und ihre Eitelkeit zufriedenzustellen. Und zur Prävention. Oder als Ablasshandlung? Ileana – ist sie schon im Paradiso? Zu früh, kaum vor sieben, acht Uhr.

Ich könnte den jungen Mann bitten, Louisa und mich zu knipsen.

Netter Kerl, mit guten Manieren. Er erinnert mich an einen Filmstar – an wen nur? Ich muss nachher Louisa fragen, sie hat das besser im Kopf. Und das Mädchen ist hübscher, als ich zuerst dachte, gebräunte Schwedinnenhaut, lange gute Beine, sogar in den klobigen Schuhen. Wie sieht sie wohl erst in Shorts und Highheels aus. Natürlich, Louisa muss die Haare richten, das gehört zu jedem Fototermin, alle Frauen müssen rasch in den Spiegel schauen und die Lippen nachziehen und weiss Gott was noch alles. Jetzt den Arm um ihre Schultern. Wie gut sie heute wieder riecht. Was fummelt sie mit der Sonnenbrille? Endlich Smile. Wäre ich der Junge, würde ich mich jetzt ebenfalls ablichten lassen, bei diesem Licht, und mit seiner hübschen Freundin.

Schon wieder Gedankenübertragung. Passiert mir dauernd. Ich denke etwas, nicht mal das Nächstliegende, irgendwas, und schon spricht es das Gegenüber aus. Mit Louisa passiert es mindestens dreimal pro Woche. Kein Wunder, nach 33 Jahren. Oder 34? Das frage ich sie besser nicht. Klar, sage ich dem Jungen, mach ich gerne. Aber zuerst muss der sein Mädel herumkriegen. Was hat die Kleine bloss? Wie die beharrlich zur Seite schaut. Fotophobie? Zickig, zu wenig zugeritten. Endlich, seine Kamera bekommen, und jetzt legt die Blonde sogar den Kopf an des Knaben Schulter, sie hat wohl ein schlechtes Gewissen nach dem Getue. Fit sehen sie aus, wie sie da sitzen, braungebrannt und die muskulösen Beine vorgestreckt.

Welchen Berg habt ihr bestiegen, erkundige ich mich beim Jungen, und er zupft sogleich eine 25’000er-Karte aus dem Hemd. Der Föhn zerrt am Papier, ich lege die Kamera ab und halte die eine Seite fest. Maderanertal, Windgällen, Hüfifirn, sein Finger fährt den Höhenkurven entlang. In diesem Tal war ich noch nie. Von einem alten Berghotel habe ich gehört, schützenswert, schöne Lage, gute Bausubstanz, aber mieser Allgemeinzustand. Der Junge weiss nichts darüber, das Mädchen sowieso nicht, es zappelt bloss herum und will gehen.

Der Arsch der Blonden ist auch nicht schlecht, wie sie jetzt die Stufen hochrennt und der Stoff über ihren Pobacken spannt. Wo habe ich die Kamera hingelegt? Hier, auf die Mauer. Soll ich nicht doch hinaufklettern, jetzt, wo die Schatten auf der anderen Seeseite noch blauer schimmern?

Du-te dracului, die verdammten paar Kilos zu viel. Louisa hat Recht, ich sollte abnehmen. Uff – geschafft. Fantastisch, dieser Blick fast senkrecht hinunter aufs Wasser. Die Beine etwas auseinander, sicherer Stand, und noch einmal den Weitwinkelausschnitt vom See hoch zu den Bergspitzen, dazu das Farbenspiel auf den Wellen einfangen – da spüre ich Louisas warme Hand an meinem Bein, und sie sagt tatsächlich: Stürz bloss nicht ab.

 

Sophie

Eigentlich habe ich nichts gegen Aussichtspunkte. Aber weshalb will er schon wieder anhalten, kaum sind wir losgefahren? Es sei schön dort, und das wolle er mir zeigen. Nach zwei Tagen mit ich weiss nicht wie vielen schönen Ausblicken. Ich möchte heim, und ich sage es ihm. Muss ich mich anpassen, ihm zuliebe? Oft lässt er mir die Wahl und scheint sogar zufrieden, wenn ich entscheide. Doch manchmal bekommt er diesen harten Blick, seine Augenbrauen erstarren zu Strichen, und er lässt nicht mehr von dem ab, was er sich in den Kopf gesetzt hat. Wie damals mit den Fotos. Wie jetzt. Da kann ich hundertmal sagen, ich wolle nicht, ich sei müde.

Am Anfang hätte ich ihn nie für stur gehalten, mit seiner eleganten Art, gelenkig wie ein Tänzer, mit seinem feinen Gesicht und den zarten Händen. Jetzt weiss ich, dass er auch anders sein kann, als er aussieht. Eigentlich gehört Sturheit für mich ins Dorf, zu Vater und Daniel und den Dorfjungen. Nicht zu Cyrill. Ich würde es niemandem sagen, auch nicht Myriam, selbst wenn sie mir alles Mögliche von ihrem Adrian erzählt – aber manchmal nervt mich das an Cyrill. Genau jetzt nervt es höllisch.

Schalte ich vielleicht auf stur? Es ist schön mit ihm, und trotzdem möchte ich nach Hause. Weg sein von seinen forschenden Blicken, den stummen Fragen, ob es mir auch gut geht, ob es mir gefällt. Ob er alles richtig mache. Ob ich dasselbe fühle wie er. Die Bergtour war toll, der Aufstieg, die Blumenteppiche überall, die Trollblumen, Anemonen, die Frühlingsenziane mit ihrem leuchtenden Sternenblau, in der Nacht das Tosen des Föhns, als wir uns im Massenlager aneinander festhielten und gar nicht so sicher waren, ob nicht plötzlich das Dach davonfliegt. Und erst nach einer Ewigkeit einschlafen konnten. Heute der Abstieg, die Gämsen in den Geröllhalden, am Schluss das gekühlte Bier. Auch wenn ich ein paar Mal den Eindruck bekam, dass Cyrill nicht so fit ist, wie er vorgibt. Etwas zu oft fragte er, ist es nicht zu viel für dich, der Aufstieg, der Abstieg, der schwere Rucksack? Natürlich sagte ich nichts, ich wollte ihn nicht beleidigen. Auch jetzt will ich ihn nicht kränken. Ich möchte einfach nach zwei Tagen wieder mal allein sein. Unter die Dusche, etwas trinken, einen Salat essen, eine Weile lesen, Musik hören, einschlafen. Keine Fragen mehr, und keine Antworten geben müssen.

Trotzdem hat er jetzt auf diesem Parkplatz angehalten. Ich bin sauer auf ihn und laufe voraus, an fetten Leuten mit Hüten und Handtaschen vorbei, sie sehen aus, als könnten sie sich kaum drei Meter vom Auto wegbewegen. Aber nach ein paar Schritten muss ich zugeben, dass mich der Ausblick fasziniert. Das Licht, die Landschaft, die Farben, alles scheint zu explodieren. Und die Schatten am anderen Seeufer leuchten in einem wunderbaren Blau – fast wie das Blau von Delphinium ›Blue Nile‹, ganz zuinnerst in den Blüten.

Soll ich es Cyrill sagen, damit er mein Schmollen vergisst? Wo ist er überhaupt? Beinahe stolpere ich über meinen losen Schuhbändel, aber während ich ihn neu verknote, entdecke ich Cyrill hinter mir, die Kamera vor dem Gesicht. Die wächst eines Tages noch an dir an, habe ich ihm gesagt. Endlos schoss er gestern und heute Fotos, meistens mit mir im Vordergrund. Alles wollte er festhalten, und fast jeden Moment. Abendelang wird er jetzt die Fotos sortieren, bearbeiten, auf Facebook stellen. Auch von einem Album hat er etwas gesagt – das ist alles okay. Nur mit den anderen Fotos darf er nichts machen. Damit er das begriff, musste ich ihn anschreien. So heftig war ich noch nie, seit wir zusammen sind. Richtig schlimm war es. Er war beleidigt, den ganzen Abend, und auch mir ging es schlecht.

Kann er meine Gedanken lesen? Warum steht er plötzlich da und zieht mich an sich? Ich rieche sein verschwitztes Hemd, seine Haut, und sofort spüre ich dieses Fliessen in meinem Bauch –

Schon vorhin ist mir der Riese aufgefallen. Was will er von uns? Wie ein Künstler sieht er aus, aus der Stirne gestrichenes graues Haar, grosse Nase, ein wenig erinnert er mich an Gérard Depardieu, als der noch nicht so fett und versoffen war. Cyrill und er lachen, jetzt setzt sich Depardieu neben eine Frau in Violett. Sie war früher einmal richtig schön, das sieht man trotz dem etwas verquollenen Gesicht. Für ihr Alter sind ihre Haare erstaunlich rot, und so hohe Absätze zu tragen würde ich mich nie getrauen. Acht, neun Zentimeter? Cyrill sähe es gern, du mit deinen schönen Beinen, sagt er immer, aber höher als fünf Zentimeter habe ich noch nie gewagt. Cyrill will unbedingt wissen, warum nicht. Keine Ahnung. Irgendwie hätte ich das Gefühl, etwas Unpassendes zu tun. Komisch, ich weiss. Aber das behalte ich für mich.

Depardieu will uns unbedingt knipsen, und natürlich ist Cyrill begeistert. Nein, muss das sein, verschwitzt wie ich bin, und mit Haaren, die an der Stirne kleben? Cyrill hat gefühlte zweihundert Fotos von mir gemacht und fleht um ein Paarfoto! Ausserdem muss ich aufs Klo. Ich protestiere, dann sehe ich verletzten Stolz in seinen Augen. Soll ich nachgeben? Ich liebe Cyrill. Und er liebt mich. Trotzdem finde ich, dass er meine Schulter nicht so hart anzufassen brauchte. Depardieu wartet, und so übertreibe ich ein wenig, lehne sogar den Kopf an Cyrills Schulter und hebe die Mundwinkel, dann sind alle zufrieden. Und ich kann endlich auf die Toilette.

Was soll das, Depardieu interessiert sich für unsere Wanderung, obwohl er total unsportlich aussieht? Er hilft sogar, die Wanderkarte vor dem Wind zu retten. Jedes Detail interessiert ihn, meine Blase drückt, und Cyrill tut, als bemerke er meine Not nicht.

Ich bin drauf und dran, einfach zu gehen, da faltet er endlich die Karte zusammen. Die rothaarige Frau sieht auch beim Stehen in den Highheels gut aus. Soll ich es doch mal mit höheren Hacken versuchen? Vielleicht die blauen Wildlederpumps? Cyrill packt meine Hand. Ich habe Lust, die Treppe hochzustürmen und renne einfach los, auch wenn ich ihn hinter mir herziehen muss. Er kann ja loslassen, wenn es ihm nicht passt.

 

Cyrill

Cyrill stellt die Dusche ab und reibt sich trocken. Die Stelle an der rechten Ferse ist bis aufs Blut aufgescheuert. Nur etwas Salbe darüber, mit einem Pflaster wartet er besser. An der Luft verheilen Wunden am schnellsten, hat ihm Mama beigebracht. Ein bisschen Stolz ist erlaubt, denn vor Sophie hat er sich nichts von seinem Schmerz anmerken lassen. In schlimmen Momenten musste er sich zwingen, nicht offensichtlich zu hinken.

Was wäre denn gewesen, wenn sie es bemerkt hätte? Hätte sie ihn verspottet? Bemitleidet? Fürchtet er, sie sei ihm trotz des Altersunterschieds überlegen? Worin überlegen?

Er antwortet seinem Spiegelbild mit einer Grimasse, legt die Stirne in schräge Falten und verzieht den Mund zu einer Acht. Sorgfältig kämmt er das feuchte Haar aus der Stirne und zupft es in Form. Die Gesichtshaut ist gerötet, etwas Lotion einmassieren tut bestimmt gut. Eigentlich hätte Sophie bei ihm übernachten sollen. Beim Italiener oder Thailänder hätten sie etwas zu essen geholt, eine Flasche Rotwein geöffnet und später miteinander geschlafen. Im Massenlager lag nichts drin ausser ein bisschen Kuscheln. Aber Sophie wollte nicht bleiben. Es habe nichts mit ihm zu tun. Zu müde, zu – was eigentlich? Und morgen müsse sie arbeiten, im Gegensatz zu ihm.

Heute war sie ziemlich eigensinnig, vor allem beim Aussichtspunkt. Launisch. Sie hat eine launische Seite. Gefällt ihm das?

Er wickelt das Badetuch um die Hüften und geht in die Küche. In der Gemüseschublade liegt ein halber Eisbergsalat, im Tiefkühlfach eine Pizza, das Datum ist abgelaufen. Daran ist noch keiner gestorben. Eine angebrochene Flasche Salice Salento steht auf der Kombination, ein bisschen viel für ihn allein, nach dem anstrengenden Tag. Falls er danach noch fit ist, kann er die Fotos sichten und mit dem Bearbeiten beginnen. Er schiebt die Pizza in den vorgeheizten Ofen, wechselt im Schlafzimmer in Hose und Hemd.

Eine ganze Menge Fotos hat sich angesammelt, der Strip mit Sophie, das Frühlingsfest im Altersheim, kleinere Dinge zwischendurch, die Wanderung gestern und heute. Er liebt das Bearbeiten von Fotos. Beim Experimentieren vergisst er, wie die Zeit vergeht. Endlos variiert er Helligkeit, Kontrast und Schatten oder verfremdet versuchsweise die Farben. Im letzten Jahr stellte er eine Serie Fotos im Foyer und im Speisesaal aus, Bäume in Fremdfarben, rot, violett, königsblau. Kaum eine der Bewohnerinnen nahm wahr, dass der Wandschmuck gewechselt hatte, und von den Besuchern äussert sich sowieso niemand. Immerhin kommentierten ein paar Kolleginnen die Ausstellung, den meisten gefielen die Bilder.

Mit einem zusammengelegten Geschirrtuch holt er das heisse Blech aus dem Ofen, giesst Fertigsauce über den Salat. Noch das Weinglas und das gewürzte Olivenöl. Er stellt den Fernseher an, zappt durch die Programme und bleibt bei einem Beitrag über Umweltschäden in China hängen. Kohlekraftwerke, Smog, zehntausend neu immatrikulierte Autos jede Woche, Gesetze, die niemand vollzieht, Massen auf der Suche nach Arbeit in den Städten. Grau wälzt sich der Yangtze durch eine Schlucht, im Nebel oder Smog Schemen von Hochhäusern über den Fluten. Vaters letzte Ansichtskarte kam aus China – war es vor drei oder vor vier Jahren? Seither hatten sie kaum Kontakt miteinander. Sein Vater, gefragter Strassenbauingenieur auf Vortragstour in chinesischen Städten, Experte für urbanes Verkehrsmanagement. Und er selbst hat es zum Altenpfleger gebracht, nach misslungenen Anläufen als Polygraph, Grafikassistent und Webdesigner. Die Eintrittsprüfung zum Vorkurs an der Kunsthochschule bestand er nicht, einzig die Ausbildung zum Altenpfleger schloss er ab. Eine Übergangslösung, erklärte er allen, damit er wenigstens mal ein Papier habe.

Cyrill füllt Wein nach, trinkt und beisst in ein Stück knusprigen Rand. Wird er mit vierzig noch immer Alzheimerpatienten füttern, die vergessen haben, wo sich ihr Mund befindet, und dafür sorgen, dass Frau Albrecht oder Frau Stüssi ihre zehn Tabletten täglich hinunterschlucken statt ins Klo zu werfen? Und mit fünfzig? Sechzig? Seine Zukunft, eingehüllt im Nebel, im Smog, wie der Tiananmen in Peking. Cyrill greift nach der Fernbedienung, zappt weg aus China. Eine Politsendung lässt ihn kalt, auf den Krimi hat er keine Lust. Soll er Sophie anrufen, fragen, wie es ihr geht? Zugeben, dass er sich langweilt ohne sie? Er schaut aus dem Fenster, stellt sich Sophie nackt unter der Dusche vor, ihr Haar wie Wasserpflanzen zwischen den Schulterblättern, die Haut über den Hüftknochen zarte Seide. Seine Kopfhaut kribbelt. Wenigstens ihre Fotos hat er.

Geschirr und Glas sind im Geschirrspüler verstaut, die Salatschüssel gespült, der Tisch abgewischt. Er klappt das iBook auf, stöpselt das Verbindungskabel in die Kamera und wartet. Der Balken zeigt das Ende des Ladevorgangs an, er öffnet das Programm und klickt auf das letzte Foto. Ein Mäuerchen, ein Paar, sitzend, er im weissen Hemd, sie in violetter Bluse, darüber flammend rotes Haar. Cyrill starrt, verständnislos. Er klickt das Bild davor an. Dasselbe Paar, die Frau mit geschlossenen Augen. Davor wieder das Paar, sie sehen sich an, lächeln. Ein Gefühl wie kalter Schleim steigt aus Cyrills Magen hoch, zieht seine Kehle zusammen.

Dann begreift auch sein Gehirn.

 

Konstantin

Kaum hat mir eine grauhaarige Dame mit Brille das obligate Glas Weisswein angeboten, entdecke ich Schuler und Grauwiler, die sich durch das Vernissagenvolk zu mir drängen. Ein kollegiales Schulterklopfen für Schuler, einen ordentlichen Händedruck für Grauwiler, wie es sich für den Bauherrn gehört. Nach ein bisschen Smalltalk über den Föhn und den Stau auf der Autobahn klopfe ich auf meine Tasche.

- Erlenau?, fragt Grauwiler und hebt die Augenbrauen. Eine Sekunde lang geniesse ich seine schlecht versteckte Neugier.

- Bevor ich die Katze aus dem Sack lasse, sollte ich mich ein bisschen dem Künstler-Zirkus widmen, sage ich und zeige mit dem Kinn in Richtung Menschenmenge. Das bin ich Louisa schuldig. Aber schaut euch inzwischen die Bilder an. This ist meiner Meinung nach ein starker Kandidat für den Wettbewerb.

Ich mische mich unter die Leute. Künstlerinnen, Maler, Bildhauer, Journalistinnen, und mitten unter ihnen Louisa, die wieder einmal fast alle kennt. Ein Küsschen hier, eine Umarmung da, das ist Leila, darf ich dir Konstantin vorstellen, und ich lächle, schüttle Hände und halte das Glas in der Linken. Für eine Vernissage ist der Wein ausnehmend gut – ein Pinot Grigio aus dem Veneto? Die Frauen sind herausgeputzt, und ich verspüre leisen Stolz, dass Louisa praktisch allen in Sachen Aussehen das Wasser reichen kann, auch den Jüngeren und Schlankeren. Eine Parfumschwade weht vorbei, und ich weiss nicht wie – schon erscheint in meiner Fantasie Ileana zwischen den Leuten, auf hohen Plateauschuhen, im schwarzen Mini, den Reissverschluss der Lederjacke tief hinuntergezogen. Wäre sie hier, würde sie jetzt bestimmt das Kinn hochwerfen und ihr Haar auf dem Hinterkopf zusammenfassen.

Ich zwinkere die Vision weg und beobachte, wie unbeholfen sich This Amsteg durch den ganzen Trubel bewegt. Er wird es nie lernen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und sich dabei wohl zu fühlen, so wie ich und Louisa. Dabei braucht er sich nicht zu verstecken – seine Werke sind wirklich gut. Grossformatige Bergbilder, mit Gneisstaub, Lehm, zerriebener Holzkohle, gemörserter Erde als Pigmente auf der groben Leinwand. Die Bilder atmen nichts Heimattümelndes oder Patriotisches, wie es Bergansichten so oft tun, sondern sind von einer eigenen und rauen Kraft.

Louisa ist mit mir einverstanden. Wir stehen vor einer Leinwand, darauf die schwindelnde Vertikale eines Granitturms, und Louisa meint, This sei wohl ein bisschen bei Hodler und Tapiès in die Schule gegangen. Aber wir alle lernen von unseren Vorbildern, sagt sie, und This’ Gemälde schwebten gekonnt zwischen Repräsentation und Abstraktion. Abstraktion, ihr Lieblingsthema seit Wochen, ihr Lieblingskampf, ihr Lieblingskrampf. Das Wort kann ich inzwischen fast nicht mehr hören, doch ich halte besser den Mund. Louisa umarmt This, gratuliert ihm zur Ausstellung, und ich klopfe ihm auf die Schulter.

Endlich. Der Präsident der Kunstgesellschaft klettert auf einen Stuhl – die Gelegenheit, mich zum Buffet zu verziehen. Mein Magen knurrt schon lange. Die Kunstgesellschaft hat sich nicht lumpen lassen. Es locken mit Frischkäse gefüllte Chilischoten, Hummusküchlein, marinierter Lachs und Crevettenspiesse, alles schmeckt vorzüglich, und der Wein ohnehin.